Was will die AfD? - Justus Bender - E-Book

Was will die AfD? E-Book

Justus Bender

3,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie sähe Deutschland aus, wenn die AfD an der Macht wäre?

Es gibt kaum einen Journalisten, der die AfD und ihr Umfeld so gut kennt wie Justus Bender. Der für die Partei zuständige Politikredakteur der FAZ begleitet sie seit 2013 mit investigativen Recherchen zu innerparteilichen Querelen und radikalen Tendenzen. Er beschreibt das Spitzenpersonal der Partei und damit zugleich die wichtigsten Repräsentanten der verschiedenen Flügel und Strömungen – ihre Positionen, ihre Machtkämpfe. Vor allem aber untersucht er, wie diese Partei unser Land verändert.

Der Aufstieg der AfD verändert nicht nur die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland – er droht das Land zu spalten, und die traditionellen Parteien suchen verzweifelt nach einer Antwort, um den Siegeszug zu stoppen. Justus Bender, politischer Redakteur der FAZ, begleitet die AfD seit ihrer Gründung 2013 mit investigativen Recherchen, er führte Hunderte Interviews mit ranghohen Funktionären der Partei, er kennt alle relevanten Akteure aus zahllosen persönlichen Begegnungen. In diesem Buch zeichnet er ein Porträt der Partei aus nächster Nähe: Was will die AfD? eigentlich und wie sähe Deutschland aus, wenn sie an der Macht wäre? Zudem analysiert Bender, warum bisher alle Strategien zur Bekämpfung der AfD gescheitert sind und wie man vorgehen muss, um sich in der Konfrontation mit dieser Partei und ihrem Gedankengut zu behaupten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 303

Bewertungen
3,0 (14 Bewertungen)
4
1
4
1
4
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Es gibt kaum einen Journalisten, der die AfD und ihr Umfeld so gut kennt wie Justus Bender. Der für die Partei zuständige Politikredakteur der FAZ begleitet sie seit 2013 mit investigativen Recherchen zu innerparteilichen Querelen und radikalen Tendenzen. Er beschreibt das Spitzenpersonal der Partei und damit zugleich die wichtigsten Repräsentanten der verschiedenen Flügel und Strömungen – ihre Positionen, ihre Machtkämpfe, ihre Zukunftsaussichten. Vor allem aber untersucht er, wie diese Partei unser Land verändert.

Zum Autor

Justus Bender, geboren 1981, hat Philosophie und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Bis 2010 war er Autor der Wochenzeitung DIE ZEIT und Redakteur von ZEIT CAMPUS. Im Jahr 2010 arbeitete er mehrere Monate als Fellow des Arthur F. Burns-Programms für den Boston Globe in den USA. Seit 2011 ist er Politischer Redakteur bei der FAZ, wo er für die AfD und den Themenbereich Rechtsextremismus zuständig ist. 2015 wurde Justus Bender von der Landesregierung von Sachsen-Anhalt mit dem Journalistenpreis »Rechtsextremismus im Spiegel der Medien« ausgezeichnet.

Justus Bender

Was will die AfD?

Eine Partei verändert Deutschland

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © 2017 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Satz: Ditta Ahmadi, Berlin ISBN 978-3-641-20716-8 V002

Inhalt

Der Rhododendron-Effekt

Platonische Triebe

Warum die AfD die Demokratie gefährdet – obwohl ihre Mitglieder glauben, eine Tyrannei zu bekämpfen

Das Recht des Lauteren

Wie in der AfD immer die Radikalen gewinnen – und warum das keine Verschwörung einzelner Funktionäre ist

Schmetterlinge im Bauch

Wie die Vordenker der AfD den Populismus verteidigen – und welches Deutschland sie dabei im Sinn haben

Der große Graben

Warum es in der Partei keine Flügelkämpfe mehr gibt – und worum es bei den ständigen Querelen wirklich geht

Konterrevolution

Was die AfD wirklich will – und wie Deutschland aussähe, wenn sie an der Macht wäre

Mathematik der Niederlage

Weshalb so viele Strategien gegen die AfD wirkungslos bleiben – und vor welchen Fragen die Funktionäre wirklich Angst haben

Der Rhododendron-Effekt

Manchmal, wenn ich AfD-Mitgliedern meinen Namen sage, verändert sich ihre Körperhaltung. Einmal stand ich im Getümmel eines Parteitages und sagte einem AfD-Mitglied, ich sei Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er fragte: »Aber Sie sind nicht Justus Bender, oder?« Ich zuckte mit den Schultern. »Doch«, sagte ich. Da zog er seine zur Begrüßung ausgestreckte Hand wieder zurück und murmelte etwas über einen Artikel von mir. Einmal sagte ich einem Funktionär, dass ein anderer Amtsträger nicht mit mir reden wolle, weil er mich offensichtlich nicht leiden könne. Der Funktionär sagte nur: »Das kann ich verstehen.« Es gibt Parteivertreter, die aus Prinzip jedes Gespräch mit mir ablehnen. Sie gehen nicht ans Telefon, wenn sie meine Nummer auf ihrem Display sehen. Sie laufen an mir vorbei, wenn ich ihnen begegne, sie blockieren mich auf Twitter. Wenn sie doch das Wort an mich richten, dann meist um eine subtile Beleidigung auszusprechen. Ein früheres Landesvorstandsmitglied schrieb einmal, ich hätte ein »ausdrucksloses Milchgesicht«, weil ihm ein Artikel nicht gefallen hatte. Das fand ich als Beobachtung nicht unoriginell. Einmal schrieb ich, eine Parteivorsitzende habe gegen einen Parteibeschluss verstoßen. Die Parteivorsitzende antwortete, ich sei offenbar nicht in der Lage, den Parteibeschluss richtig zu deuten – nämlich so, dass kein Verstoß von ihr vorliege. Und dann sagte sie: »Sie tun mir leid, Herr Bender.« Wohl nach dem Motto: weil ich so erbärmlich sei. Für den Umgang zwischen Politikern und Journalisten ist das ein ungewöhnlicher Tonfall. Ich bedankte mich und sagte, dass ich auf ihr Mitleid gehofft hatte. In Wirklichkeit fiel mir auf, dass einem in der AfD von allen Spielarten der Ablehnung besonders oft die der Häme begegnet.

In sozialen Netzwerken nennen mich AfD-Mitglieder einen »Hetzer«, einen Vertreter der »Holznasenpresse«, einen »Ideologen« – oder schlicht »doof«, »verlogen«, »retardiert« und »skurril«, »peinlich«. Ein Leser schrieb mir einmal eine E-Mail, in der Betreffzeile stand »Bender und die AfD«. Der komplette Inhalt lautete: »Was für eine bescheuerte Schreibe. Sind bei Euch denn wirklich nur noch Vollidioten beschäftigt. Kleine, verschissene, ideologisch linksverklemmte Wichser? Traurig, was aus den meisten deutschen Zeitungen geworden ist. Aber die Schrumpfung der Auflage wird automatisch dafür sorgen, dass solche Kerle arbeitslos werden.« Der Leserbrief kam nach einem Leitartikel, in dem ich gewarnt hatte, dass ein Populismus leicht in einen Autoritarismus kippen kann. Nichts an diesem Leitartikel war »links« oder »rechts«, ich war einfach nur am Erhalt unserer repräsentativen pluralistischen Demokratie interessiert. Diesen Leser aber schien der Autoritarismus-Vorwurf so zu empören, dass er mir autoritär die Arbeitslosigkeit wünschte, weil ich eine Meinung geäußert hatte, die nicht seine war. Das sprach dann für sich.

Es gibt Tausende Leserkommentare unter meinen Artikeln, in denen ich beschimpft werde. Nicht mein Artikel, sondern ich. Manche duzen mich, einfach so. Einmal verweigerte mir ein Landesvorsitzender die Akkreditierung für einen Fraktionskongress, obwohl die Presse im Allgemeinen zugelassen war. Er schrieb mir eine E-Mail: »Fange (sic!) Sie an, diferenziert (sic!) zu berichten, anstatt Gülle auszukippen.« Einige Male wurde im Bundesvorstand der AfD wegen meiner Zeitungsartikel gestritten. Die einen Funktionäre wollten von den anderen wissen, wer Interna weitergegeben hatte. Warum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus vertraulichen E-Mails oder Telefonkonferenzen zitiert wurde. Natürlich sagte niemand etwas. Einmal schrieb ein Landesvorsitzender einen ganzen Artikel in einer Parteizeitschrift über die These, ich sei so was wie ein manipulativer Hetzer. Ein anderes Mal reagierte ein Parteivorsitzender auf einen Artikel mit Anwaltsbriefen und einer Unterlassungsaufforderung. Oft schon gab es Beschwerden über mich aus der AfD. Meistens ging es in diesen Beschwerden um meine Arbeitshypothese, es handele sich bei der AfD um eine rechtspopulistische Partei mit radikalen Strömungen. Mehr nicht. Im Rückblick war das keine gewagte These. Für AfD-Politiker aber galt schon das damals als eine unerhörte Verdrehung der »Tatsachen«. Wäre ich nicht Politikredakteur einer bürgerlichen Tageszeitung, sondern ein linksradikaler Blogger der Antifaschistischen Aktion, ich wüsste eigentlich nicht, wie manche AfD-Mitglieder ihre Rhetorik mir gegenüber noch steigern könnten.

Natürlich ist es nicht immer so. Manchmal lache ich auch mit AfD-Funktionären. Gründe gibt es genug. Es gibt einen, der kann den dröhnenden Singsang des thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke gut nachmachen, wenn dieser in Erfurt auf Kundgebungen irgendetwas in sein Mikrofon brüllt, das selbst AfD-Mitglieder schaudern lässt. Es gibt Funktionäre, die sind mir als Menschen sympathisch. Was manche sagen, wenn alle Mikrofone ausgeschaltet sind, ist bisweilen sehr kritisch. Sie beschimpfen andere Funktionäre als Rechtsradikale oder wagen die Prophezeiung, dass die Partei schon in naher Zukunft an sich selbst scheitern wird. Sie sprechen auch über Banales, über Eitelkeiten in der Partei, über Karrieristen und Opportunisten, über Affären zwischen Mitgliedern, über die kleinen Geschichten, die überall entstehen, wenn Menschen aufeinandertreffen. Mit ihnen lässt sich wunderbar quatschen. Wenn ich auf Parteitage gehe, winken mir manche Landesvorsitzende schon von Weitem zu und begrüßen mich freundlich. Wir sprechen dann ohne gegenseitige Vorwürfe, wie zwei Beobachter, die sich für die gleiche Sache interessieren. So ist es ja auch.

Manche AfD-Funktionäre wissen nicht viel mehr über die Partei als das, was ein Zeitungsleser von außen erfährt. Weder können sie ihre Partei nach Belieben steuern, noch wissen sie mit Sicherheit, in welche Richtung sie sich entwickeln wird. Manchmal stelle ich mir die Parteiführung der AfD deshalb wie Hollywood-Schauspieler aus den fünfziger Jahren vor, die in Autos über den Sunset Boulevard fahren. In Wirklichkeit fahren sie aber gar nicht über den Sunset Boulevard. Das sind nur Straßenszenen, die auf eine Leinwand hinter der Heckscheibe projiziert werden. Und das Lenkrad, das sie mal nach links, mal nach rechts drehen, ist in Wirklichkeit nur eine Attrappe. Sie sind Darsteller, die es ihrem Publikum recht machen wollen, Menschen also, die man sich gut als Autofahrer vorstellen kann. Wo das Auto aber hinfährt, das bestimmen andere, im Fall der AfD sind das die Parteimitglieder, zumindest jenes Zehntel, das auf die Parteitage geht. Entsprechend harmlos sind manche dieser Statisten. Solange niemand »Action« ruft, kann ich mich mit ihnen in großer Entspanntheit unterhalten. Von interessiertem Beobachter zu interessiertem Beobachter sozusagen. Das können nette Unterhaltungen sein.

Wenn mich jemand fragt, wie die AfD so ist, weiß ich manchmal nicht, was ich erzählen soll. Die bösen oder die netten Anekdoten. Am besten erzähle ich immer die ganze Geschichte.

Mittlerweile habe ich viele Stunden auf Parteitagen der AfD verbracht. Am Anfang, in den Jahren 2013 und 2014, war ich manchmal der einzige Journalist. Da waren keine Übertragungswagen oder Tribünen für Live-Schalten nach Berlin. Es gab Klappstühle und geschmierte Stullen. Mitglieder brachten selbstgebackenen Kuchen mit. Die AfD hatte manchmal Turnhallen gemietet, in denen die Basketballkörbe für ein Wochenende an die Wand geklappt waren. Unter den Stühlen der Mitglieder sah man die Linien eines Spielfeldes. Manche saßen im Strafraum, andere an der Mittellinie oder im Aus. Einziges Schmuckstück im Saal war der Bildschirmschoner eines Laptops, dessen Monitor an die Saalwand projiziert wurde. Er zeigte lilafarbene Rhododendron-Blüten. Damals waren diese Blumen oft zu sehen bei der AfD, überall diese Blüten, ich weiß nicht, warum. Heute frage ich mich, wer unter den damaligen Mitgliedern ein Rhododendron-Liebhaber gewesen sein mag. Das Blumendekor wirkt im Rückblick wie ein Menetekel. Es war ja nichts Rechtsradikales an diesem Rhododendron. Es war einfach nur bezeichnend, bei der AfD auf eine Rhododendron-Blüte zu starren, während Deutschland über den Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei diskutierte. Der Rhododendron ist, in seiner völligen Bedeutungslosigkeit, für mich im Rückblick eines unter vielen Zeichen, dass viele in der AfD am Anfang gar nicht wussten, welche Dynamik sie mit ihrer Parteigründung in Gang gesetzt hatten. Worum es wirklich ging. Sie wollten sich ein bisschen engagieren, die Älteren wollten in ihrem Ruhestand etwas Politik machen, anstatt im Garten den Rhododendron zu pflegen und Fotos von ihm zu machen. Gewachsen ist daraus etwas viel Größeres.

Ich bin daran nicht unschuldig. Damit meine ich nicht mich speziell, sondern alle Journalisten, die Medien. Dass damals überhaupt ein Redakteur auf einem Klappstuhl in einer Turnhalle saß, um über Rhododendron-Blüten nachzudenken, sagt viel aus – nämlich dass es einen Hype gab, von dem die AfD profitierte. Eigentlich war sie doch gar nicht wichtig, diese neue Kleinpartei. Ständig werden in Deutschland neue Parteien gegründet, es waren viele Dutzend seit Entstehung der Bundesrepublik. Wer kennt das Gefühl nicht, in einer Wahlkabine zu stehen und über die Abkürzungen skurriler Kleinstparteien zu schmunzeln. Die AfD hätte sich einreihen können in die Liste anderer. »Die Violetten – für spirituelle Politik« etwa, die »Humanwirtschaftspartei« oder die »Autofahrer- und Volksinteressenpartei« (AViP). Dass heute niemand mehr den Namen »Alternative für Deutschland« (AfD) für albern hält, hat viel mit der Häufigkeit zu tun, mit der die Partei in den Medien vorkam. Es ist eine große Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Medien, denen aus der AfD stets der Vorwurf gemacht wurde, ihr zu schaden, vielleicht größeren Anteil an ihrem Erfolg hatten als die Programmarbeit der Parteimitglieder. Einmal stand ich auf einem Parteitag mit einer AfD-Funktionärin zusammen. Sie sagte, die Presse versuche, ihre Partei zu vernichten, tatsächlich aber profitiere die AfD von jedem kritischen Artikel. Ich antwortete ihr, dass sie Journalisten folglich für sehr ungeschickt halten müsse. Sie wollen die AfD vernichten, helfen ihr aber und sind nicht Medienprofis genug, um das zu bemerken? Es stimmt, die meisten Journalisten wählen wahrscheinlich nicht die AfD. Das haben sie mit 80 bis 90 Prozent aller Deutschen gemeinsam. Sie wählen aber auch andere Parteien nicht, über die sie berichten, schließlich gibt es ein Dutzend Parteien und jeder Bürger hat nur zwei Kreuze. Der Druck, unter dem Journalisten stehen, ist ein ganz anderer. Sie müssen gute Geschichten finden. Neuigkeiten, spannende Themen. Und in dieser Hinsicht ist die AfD einfach unwiderstehlich.

Peter Münch ist ein Beispiel, warum das so ist. Münch ist heute Landesvorsitzender in Hessen, aber das war nicht immer so. Vor einiger Zeit hatte Münch alle seine Ämter in der Partei verloren, nachdem ich einen Artikel über ihn geschrieben hatte. Ihm drohte außerdem ein Parteiausschluss. Der Fall Münch ist ein gutes Beispiel, warum die AfD auf viele Journalisten wirkt wie ein Akrobat, der auf einem Drahtseil zwischen zwei Hochhäusern balanciert. Man kann nicht anders. Man muss hinschauen. Und man muss anderen davon erzählen, was man gesehen hat. Das Drama ist perfekt. Es geht sozusagen um Leben und Tod.

Münch ist so ein Balancekünstler. Als er auf einem Landesparteitag im November 2014 gewählt wurde, lief ich durch den Parteitagssaal und fragte Funktionäre, wer das sei, dieser Münch. »Ein ganz Rechter«, sagten mir viele. Einer, der »mal bei den Republikanern« war. »Ach«, dachte ich. Das war keine langweilige Information. Während alle Welt über die Frage nachdachte, wo die AfD politisch stehe, war der Umstand, dass ein früherer Republikaner zum Landesvorsitzenden gewählt wurde, ein wichtiges Indiz. Es war eine gute Geschichte. Der Leser konnte daraus etwas lernen. Einige Tage nach dem Parteitag passierte ein großer Zufall. Mein Telefon klingelte, ein früherer Landesvorsitzender der Republikaner in Hessen war am Apparat. Er wollte mir von der Vergangenheit des Peter Münch berichten. Solche Anrufe sind nicht ungewöhnlich. Es gibt immer jemanden, der einem anderen schaden will und deshalb Journalisten bei der Wahrheitsfindung hilft, weil ihm das Ergebnis nützt. Die Frage ist immer nur, warum es ihm nützt. Der Mann hatte nichts dagegen, als Quelle genannt zu werden. Es kam heraus, dass er keine gute Erinnerung an Münch hatte, es war noch eine Rechnung offen zwischen ihnen. Solche Informanten können gefährlich sein, sie erzählen einem nicht, was war oder ist, sondern wie sie es gerne sehen würden. Man muss solche Hinweise also genau prüfen. Dieser Mann aber beließ es nicht bei Erzählungen. Er schickte mir Dokumente, den Mitgliedsantrag von Münch bei den Republikanern, Briefköpfe, die belegten, welche Positionen Münch in der Partei gehabt hatte und so weiter. Münch war tatsächlich nicht irgendein Hinterbänkler bei den Republikanern gewesen. Er war ein prominenter Funktionsträger – zum Beispiel Fraktionsvorsitzender in der Stadtverordnetenversammlung von Bad Homburg und im Kreistag des Hochtaunuskreises. Das war noch nicht alles, Münch war auch Beisitzer im Landesvorstand, Kreisvorsitzender im Hochtaunuskreis und Spitzenkandidat bei der Kreistagswahl. Im Juni 1993 kandidierte Münch für den Landesvorsitz der Republikaner, wurde jedoch nicht gewählt. Kurz danach, nämlich am 29. Juni, erklärte Münch seinen Parteiaustritt. Er war also nicht irgendein Mitglied, sondern ein aktiver Politiker einer vom Verfassungsschutz zeitweise als rechtsextrem eingestuften Partei gewesen. Ob die AfD-Mitglieder in Hessen wohl wussten, wen sie da gewählt hatten? Ich fragte nach.

Die übrigen Landesvorstandsmitglieder waren überrascht. Es gefiel ihnen nicht. Unter einigen einfachen Parteimitgliedern aus dem gemäßigten Flügel, denen es am wenigsten gefiel, fand ich welche, die mir weitere Informationen beschaffen wollten. Sie schauten in Parteiunterlagen nach, ob Münch bei der Aufnahme in die AfD seine frühere Parteimitgliedschaft bei den Republikanern angegeben hatte, wie es die Parteisatzung verlangt. Sie fanden den Aufnahmeantrag aber nicht. Er war verschwunden. Es war alles ein bisschen mysteriös. Und man muss die Verästelungen dieser Miniaturausgabe einer politischen Affäre verstehen, um zu wissen, warum die AfD in den Medien so oft vorkommt. Es gibt wohl nichts Verlockenderes für einen Journalisten als ein Geheimnis, das scheibchenweise enthüllt wird.

Als Nächstes schickte mir Münch auf meine Bitte hin eine Kopie seines Aufnahmeantrags. Dort war seine Mitgliedschaft bei den Republikanern angegeben, es war nur unklar, wann er das Textfeld ausgefüllt hatte, damals oder erst nachdem er von meiner Recherche wusste. Auf einem parteiinternen Bewerbungsbogen vom Januar 2014 hatte Münch geschrieben, er sei nur von 1989 bis 1991 bei den Republikanern Mitglied gewesen. Das belegte immerhin etwas. Münch war also noch zu einem Zeitpunkt Fraktionsvorsitzender der Republikaner gewesen, als diese schon vom Verfassungsschutz beobachtet und als rechtsextrem eingestuft wurden. Damit hätte Münch nur nach einer Einzelfallentscheidung des Landesvorstandes in die AfD aufgenommen werden dürfen. War der hessische Landesvorsitzende der AfD also kein rechtmäßiges Parteimitglied? Hatte er die Mitglieder in einem Bewerbungsbogen falsch informiert? Als ich Münch anrief, berief er sich auf Erinnerungslücken und bestritt den Vorwurf, er habe gegen Regeln verstoßen. Er wisse gar nicht mehr sicher, ob er überhaupt Fraktionsvorsitzender der Republikaner gewesen sei. Das klang wie eine Schutzbehauptung. Wer würde sich nicht daran erinnern, ob er einmal Vorsitzender einer Fraktion war?

Aus der Sicht eines Journalisten war die Münch-Affäre hochinteressant. Sie sagte im Kleinen etwas aus über den großen Kampf, den die Funktionäre damals zu führen hatten. Münch war in dieser Geschichte der Rechtspopulist, andere im damaligen Landesvorstand waren die Bürgerlichen, denen es die Schamesröte ins Gesicht steigen ließ, gemeinsam mit einem früheren Fraktionsvorsitzenden der Republikaner in einem Gremium zu sitzen. Die Geschichte endete nur ganz anders als erwartet.

Noch im November 2014 beantragte der hessische Landesvorstand beim Landesschiedsgericht der Partei, Münch aller seiner Ämter zu entheben. Im März 2015 entsprach das Landesschiedsgericht dem Antrag. Ich besorgte mir den Wortlaut des Beschlusses. Die ehrenamtlichen Parteirichter schrieben in ihrem Urteil, der AfD sei nicht bekannt gewesen, dass Münch eine »nicht geringe Zahl herausgehobener Ämter« bei den Republikanern innegehabt oder angestrebt habe, und das zu einer Zeit, »in der diese Partei vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft und beobachtet worden war«. Die Richter zweifelten sogar an Münchs »vorbehaltlosem Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung«. Man sehe Münch als »maßgebliche Person eines Netzwerks, das es seit Gründung des Landesverbandes darauf anlegt, den Landesverband im Sinne eines völkisch-nationalistischen Politikentwurfs zu übernehmen«. Das waren harte Worte.

Ich habe mal nachgezählt. Damals habe ich fünf Artikel über Peter Münch geschrieben. Fünf Artikel über den Landesvorsitzenden einer Kleinpartei im überregionalen Politikteil einer großen Tageszeitung. Fünfmal ging es um die Frage, wann genau Münch seinen Austritt bei den Republikanern erklärt hatte und was irgendwelche Parteischiedsrichter, die in ihrer Freizeit von ihren Wohnzimmern aus über Ordnungsmaßnahmen entscheiden, wohl zur Causa Münch zu sagen hatten. Damals schienen diese fünf Artikel richtig. Es hat die Leser interessiert. Es war so, als sei der Fall Münch ein Teil vom großen Ganzen, als entscheide sich an seinem Fall, ob es den Gemäßigten in der AfD überhaupt gelingen würde, eine weitere Radikalisierung ihrer Partei zu verhindern. Deshalb hatte jede Schlagzeile über Münch ihre Berechtigung. Die Welt wäre aber auch keine andere gewesen, wenn nie je ein Wort über Münch geschrieben worden wäre. Warum? Weil Münch heute wieder Landesvorsitzender in Hessen ist. Er hatte nach seiner Amtsenthebung einfach noch mal kandidiert und war gewählt worden – diesmal in vollem Bewusstsein aller Mitglieder, dass sie einen früheren Spitzenfunktionär der Republikaner zu ihrem Landesvorsitzenden machten. So einfach kann das sein.

Für mich steht der Fall Münch für die Anziehungskraft, welche die AfD auf Journalisten ausübt. Genauso wie wegen Münch war die AfD auch wegen anderer Skandale in den Schlagzeilen. Nach jedem Skandal sagte meist irgendein AfD-Funktionär etwas Relativierendes über den Skandal. Also wurde noch mal berichtet. Danach war die AfD in den Schlagzeilen wegen der Empörung von Politikern anderer Parteien über die Relativierungen der AfD-Politiker. Und so weiter. Es gab auch immer Fernsehsendungen, die den Schlagabtausch der AfD-Politiker mit den anderen Politikern noch einmal nachstellten. Und es gab und gibt Internetforen, in denen von AfD-Mitgliedern über diese Fernsehsendungen geschimpft wird, was wiederum Medienjournalisten in die Lage versetzt, einen weiteren Skandal in der Medienfeindlichkeit der AfD-Anhänger zu erkennen. Die AfD ist die Erfindung eines politisch-medialen Perpetuum mobiles.

Manchmal bekomme ich das Gefühl, in einer unfreiwilligen Symbiose mit dieser Partei zu leben. Nicht weil ich eine ideologische Vereinnahmung befürchten muss, sondern gerade weil ich das normale Handwerk meines Berufs betreibe: das Tatsächliche hinter einer Inszenierung zu beschreiben. Immer öfter bemerke ich, dass AfD-Politiker auf eine Skandalisierung durch die Medien hoffen, um sich dann über diese Skandalisierung zu erregen. Zum Beispiel, wenn ein AfD-Politiker einen Parteivorsitzenden einer anderen rechtspopulistischen Partei aus dem europäischen Ausland trifft. In solchen Momenten sind alle AfD-Politiker für mich zu sprechen. Sie nehmen den Hörer schon beim ersten Klingeln ab. Nichts ist wertvoller für einen AfD-Politiker, als weitere Punkte im parteiinternen Wettstreit der Tabubrecher zu sammeln. Die öffentliche Empörung, vor der Politiker anderer Parteien sich fürchten, bedeutet für AfD-Politiker den Ritterschlag. Aus Sicht der Partei ist das keine dumme Strategie.

Was hätten AfD-Politiker schon zu erzählen, gäbe es nicht immer wieder diese Ungereimtheiten und Provokationen. Allein die rhetorischen Übertreibungen eines Björn Höcke haben Hunderte Stellungnahmen von AfD-Politikern möglich gemacht. Alle wurden beachtet, auch von mir. Ich schaute ganz genau hin. Wie weit distanzierte sich der eine, wie viel Sympathie äußerte der andere? Was bedeutet eine Billigung von Höckes nationalrevolutionärer Rhetorik für das Machtgefüge in der Partei?

Gäbe es solche Grundsatzfragen nicht, die AfD-Politiker müssten bei Marktplatzreden über Details der Target2-Salden sprechen oder dem Publikum das Asylgesetz erklären und wie sie es im Detail verändern wollen. Es wäre ziemlich lahm. Viele Passanten würden mit ihren Einkaufstüten in der Hand einfach weiterlaufen. Einige Monate später würden sie in der Wahlkabine lachen: AfD? Was soll das sein? Alternative für wen? Schon wieder so eine Spinnerpartei?

Auch der Drahtseiltänzer riskiert sein Leben nicht, weil er nichts Besseres zu tun hat an einem Samstagnachmittag. Er lebt von der Aufmerksamkeit, die seine Lebensgefahr bewirkt. Ganz real. Er verdient damit das Geld, mit dem er seine Miete bezahlt. Mit der AfD verhält es sich ähnlich. Die Schaulustigen nach ihren rhetorischen Karambolagen sind die Geschäftsgrundlage vieler Mandatsträger.

Platonische Triebe

Warum die AfD die Demokratie gefährdet – obwohl ihre Mitglieder glauben, eine Tyrannei zu bekämpfen

Ich denke viel über die AfD nach. Es ist mein Beruf. Ich lese abends Twitter-Nachrichten von AfD-Politikern, ich schaue mir Wahlkampfauftritte an, ich rufe manchmal AfD-Politiker an, nicht weil ich eine konkrete Frage habe, sondern einfach so, um über die Partei zu reden, um sie zu verstehen. So geht das seit Gründung der Partei, das ist eine lange Zeit, wenn man vor allem über ein Thema nachdenkt.

Mit den Jahren bekommt man ein Gefühl, welche Thesen über die AfD näher an der Wahrheit liegen als andere. Eine ganze Reihe von Erklärungsversuchen sehe ich im Rückblick kritisch. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass die AfD maßgeblich von evangelikalen Christen unterwandert wird. Es gibt sie, aber sie spielen machtpolitisch kaum eine Rolle. Ich glaube nicht, dass die NPD jemals eine nennenswerte Nähe zur AfD herstellen wird. Warum nicht? Weil die NPD meiner Meinung nach eine explizite Sehnsucht nach einer Diktatur hat. Die AfD hingegen will für die Befreiung von vermeintlichen Tyrannen wie der EZB, der Bundeskanzlerin und der »Lügenpresse« stehen. Dass die AfD für eine Befreiung stehen will, mag überraschen, aber es stimmt. Beide Parteien verfolgen in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand gegensätzliche Ziele. Wäre man ganz böse und hypothetisch, man müsste sagen, die NPD wäre die Partei, die sich gründet, wenn Deutschland unter einer AfD-Herrschaft in eine Katastrophe geschlittert wäre, um zu sagen: Es ist nicht alles schlecht gewesen, damals, im autoritären AfD-Deutschland. Die AfD-Mitglieder heute wollen aber keine Katastrophe für Deutschland, sie glauben daran, die Deutschen von einer Unterjochung zu befreien. In dieser Logik waren die deutschen Faschisten mindestens so diktatorisch wie das in der AfD verhasste Direktorium der Europäischen Zentralbank oder Bundeskanzlerin Angela Merkel. AfD-Mitglieder können in ihrem Weltbild also die NPD aus voller Überzeugung ablehnen und trotzdem Rechtspopulisten sein, das ist kein Widerspruch. Sie begehen in ihrer Wahrnehmung auch keinen logischen Bruch, wenn sie sich aus voller Überzeugung als Antifaschisten bezeichnen. Es wird meiner Meinung nach niemals eine Kooperation zwischen der AfD und der NPD geben.

Ich glaube auch nicht, dass die Gleichzeitigkeit, mit der solche Bewegungen weltweit an Einfluss gewinnen, etwas mit der Globalisierung, sozialen Spannungen oder dem Kapitalismus zu tun haben. Mancher weiße Amerikaner, der Donald Trump im Jahr 2016 im Präsidentschaftswahlkampf unterstützt hat, mag frustriert sein, weil seine Fabrik nach China verlagert wurde und er nun arbeitslos ist. Es mag auch sein, dass gewisse Bevölkerungsschichten in Deutschland – trotz einer wirtschaftlich stabilen Gesamtlage – eine ökonomische Stagnation erleben seit einigen Jahren. Vielleicht haben manche Anhänger von Marine Le Pen ein Problem mit einer globalisierten Welt, weil Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt oft mit den unteren Gesellschaftsschichten konkurrieren, also mit den Taxifahrern und Bauarbeitern, nicht mit den Chefärzten und Börsenmaklern. Mag sein. Ich kann mit der These, die Trumps, Le Pens, Kaszcynskis, Wilders und Petrys dieser Welt seien Vertreter von Globalisierungsverlierern, aber nichts anfangen, wenn ich einem AfD-Politiker wie Jörg Meuthen gegenübersitze und er mir erklärt, warum er Angst vor dem Islam hat, er, ein Wirtschaftsprofessor aus Baden-Württemberg. Oder Frauke Petry, eine promovierte Chemikerin, die mit Bestnoten in Großbritannien studiert hat. Meuthen und Petry sind keine Einzelfälle. Ich treffe auch in strukturschwachen Regionen von Ostdeutschland nicht überall frustrierte Hartz-IV-Empfänger bei der AfD. Etliche haben einen Beruf, durch den sie viel reisen konnten. Sie haben die Welt gesehen, mancher hat eine Ehefrau mit Migrationshintergrund – und es stört niemanden in der AfD. Sagen zumindest alle. Aber auch wenn das allen Intuitionen gegenüber einer rechtspopulistischen, einwanderungskritischen Partei widerspricht: Ich habe mittlerweile das Gefühl, es stört sie im Einzelfall wirklich nicht. Mit einer Angst vor der Globalisierung haben die Erfolge der AfD nichts zu tun. Ich würde den meisten AfD-Anhängern zutrauen, dass sie ökonomische Nachteile für die deutsche Volkswirtschaft in Kauf nehmen würden, um ihren Traum von einem souveränen Nationalstaat ohne supranationale Verbindlichkeiten und mit einem ethnisch und kulturell homogenen Volk zu verwirklichen. Wollte man die Motivation mancher AfD-Anhänger ökonomisch erklären, man müsste eher sagen, dass ein Mensch, der für sich wenig Perspektiven sieht, seinen Wert anders definiert. Als Mitglied eines großen, starken Volkes zum Beispiel. Oder als Vertreter eines überlegenen Kulturkreises. Er mag arbeitslos sein oder seine Träume im Leben nicht verwirklicht haben, aber immerhin ist er noch Deutscher. Mitglied eines großen Volkes also, einer der stärksten Volkswirtschaften des Planeten. Oder er ist Christ oder Abendländer. Sein Abendland hat vor 333 Jahren die Türken vor Wien geschlagen. Sein Abendland ist unbezwingbar und großartig, und er ist ein Teil davon. Er mag zwar selbst nur ein kleines Licht sein, aber sein Land baut die besten Autos der Welt und hat eine stolze Geschichte, deren nicht so stolze Phasen man doch nicht überbetonen solle. Mangelndes Vaterlandspathos in der Gesellschaft, der immer wiederkehrende Hinweis auf den Nationalsozialismus oder ein befürchtetes Nebeneinander verschiedener Kulturen in Deutschland würden einem solchen Menschen subjektiv einen Teil seines imaginierten Selbstwertgefühls nehmen. Wenn nicht einmal das Volk, dem er angehört, groß ist und stark, bliebe wenig übrig. Die psychologische Ursache solcher Haltungen mag also manchmal im Ökonomischen liegen. Das ändert aber nichts daran, dass die Haltung selbst das Gegenteil eines individuellen Besitzstandswahrertums ist. Wer in völkischem Pathos denkt und um die Großartigkeit seines Vaterlandes besorgt ist, der wird nicht durch Steuergeschenke oder staatliche Subventionen davon abgebracht werden. Ein verletztes Selbstwertgefühl lässt sich nicht mit Geld heilen. Eher schon mit einem Konkurrenzangebot, das einen Nationalstolz ermöglicht, ohne Minderheiten auszugrenzen.

Ich glaube auch nicht, dass die Partei im Kern eine libertäre Bewegung ist. Ich hatte das mal in einem Artikel geschrieben, irgendwann 2014. Der Begriff des Libertarismus beschreibt die Art und Weise, wie AfD-Anhänger gegen jede Form von Obrigkeit agieren: die Medien, die sogenannten Altparteien, die Verwaltung, die Kirchen. Darin gleichen sich Trump-Anhänger und Höcke-Sympathisanten. Aber der Begriff trifft es trotzdem nicht. Viele in der AfD wollen einen starken Staat, der ihre Interessen durchsetzt, eine autoritäre Volksherrschaft. Wer einen starken Staat will, ist sicher vieles, aber er ist kein Libertärer. Es gibt Libertäre in der AfD, aber sie sind eine Minderheit.

So geht das seit Jahren, ich verwerfe eine Theorie nach der anderen. Lange war ich ratlos. Seit einigen Monaten habe ich aber das Gefühl, dass es eine Antwort gibt. Das ist nach mehreren Jahren des Nachdenkens keine kleine Sache, jedenfalls für mich. Es ist eine Antwort, die das gesamte Phänomen der AfD in ihren Grundzügen erklären könnte. Eine Antwort, die das Selbstbild der AfD-Anhänger mit der Kritik ihrer Gegner versöhnen würde – und trotzdem oder gerade deshalb Kritik an der AfD ermöglicht. Eine Antwort, die zudem erklärt, warum auf der ganzen Welt eine besondere Sorte von Populisten derzeit an Bedeutung gewinnt. Und eine Antwort, deren Konsequenzen mich nicht weniger erschrecken, als es die manchmal zu hörende, naive These gewesen wäre, die AfD-Anhänger seien in Nadelstreifen gehüllte Nationalsozialisten, die durch eine Raum-Zeit-Anomalie in das 21. Jahrhundert teleportiert wurden, um das Werk eines »Vierten Reichs« zu vollenden.

Diese Antwort stammt nicht von mir. Ich habe sie zuerst in einem Artikel des New York Magazine gelesen, eine Zeitschrift, von der ich nicht ausgerechnet eine Erkenntnis über die AfD erwartet hätte. Der Artikel handelte auch nicht von der AfD, sondern von Donald Trump. Deutschland kam in ihm nicht vor. Geschrieben hatte ihn ein Autor namens Andrew Sullivan, und als ich die ersten Zeilen las, drehten sich alle Theorien in meinem Kopf einmal um ihre eigene Achse und setzten sich zu einem Gefüge zusammen, das zu passen schien wie die lange gesuchte Lösung für ein kompliziertes Rätsel. Sullivan brauchte dazu nur einen einzigen Namen zu erwähnen: Platon.

Platon ist einer der wichtigsten Philosophen der Menschheitsgeschichte. Er beschrieb die Grundsatzfragen seiner Disziplin in einer Genauigkeit, die es den Menschen in späteren Jahrtausenden unmöglich machte, sich nicht auf ihn zu beziehen. Die moderne Philosophie, sagen manche, bestehe eigentlich nur aus »Fußnoten zu Platon«. Im vierten Jahrhundert vor Christus verfasste Platon einen in zehn Bücher gegliederten Dialog: »Der Staat«. Es ist ein Text über das Ideal der Gerechtigkeit und über die Frage, in welcher Staatsform es wohl am ehesten verwirklicht werden würde. Denkt man im 21. Jahrhundert über die AfD nach, ist nur ein Kapitel darin von Bedeutung. Das Buch VIII, Abschnitt A, Kapitel 123, Untergliederung a. Diese Kapitelangaben stammen aus der manchmal etwas altertümlich klingenden Übersetzung aus dem Altgriechischen von Friedrich Schleiermacher aus den Jahren 1804 bis 1810. Der Titel des Abschnitts lautet: »Auflösung der Demokratie durch ihre Unersättlichkeit nach Freiheit«.

Es ist eine verstörende Lektüre. Nicht so sehr, weil Platon dort beschreibt, wie eine Demokratie scheitern kann. Sondern weil dieser Mann vor 2400 Jahren ein Szenario beschreibt, das schmerzhaft genau dem Zustand der Demokratie in der Bundesrepublik und der gesamten westlichen Hemisphäre entspricht. Das Buch ähnelt wie fast alle Schriften von Platon einem Theaterstück, in denen bärtige Männer unter Olivenbäumen sitzen und beim Blick über die Landschaft die letzten Fragen des Menschseins erörtern. Manchmal kommt ein Passant vorbeigelaufen. Der wird dann auch gefragt, was er von der Sache hält. Würde Platon heute leben, hätte er vermutlich eine Fernsehsendung, in der das Publikum mitdiskutieren darf.

In Kapitel 123 sind es Sokrates und Glaukon, die miteinander sprechen. Sokrates war der Lehrmeister Platons, in dessen Büchern ist er, wenn man so will, der Titelheld – ein bärtiger, barfüßiger Kauz, der nach eigener Aussage ein besonders hässliches Gesicht hatte und Passanten in der Athener Innenstadt in Gespräche verwickelte, die meistens das Ziel hatten, den Athenern ihre Ignoranz und ihm, Sokrates, große Weisheit nachzuweisen. Vor allem aber wollte Sokrates allen zeigen, dass sie, obwohl sie etwas zu wissen glaubten, in Wahrheit gar nichts wüssten. Und dass er, der weise Philosoph, immerhin wisse, dass er nichts wisse, und seinen Gesprächspartnern insofern meilenweit voraus sei. Abgesehen vom philosophischen Erkenntniswert seiner Worte war Sokrates wahrscheinlich kein besonders einfacher Gesprächspartner.

Nicht allen Athenern gefiel es, in dieser Form von diesem Mann angequatscht zu werden. Viele seiner Gesprächspartner waren laut Platon immerhin Politiker, Geschäftsleute, Schriftsteller, geachtete Bürger, die sich wahrscheinlich dachten, im Unterschied zu Sokrates etwas Wichtigeres mit ihrer Zeit anfangen zu können, als über Erkenntnistheorie zu reden. Der Grad an Unbeliebtheit, den Sokrates zu seinen Lebzeiten errungen haben muss, kann im Rückblick auch daran bemessen werden, dass er wegen etwas zum Tode verurteilt wurde, das man heute als Volksverhetzung bezeichnen würde. Damals hieß es »Verderbung der Jugend«. Dieser Sokrates spricht in Platons Buch also mit Glaukon. Auch der ist nicht irgendwer, sondern der Bruder von Platon. Es ist ein Gespräch unter Freunden.

Sokrates erklärt Glaukon, dass die Demokratie nur an einer Sache scheitern kann, und das ist – ausgerechnet – der Wille der Bürger, frei zu sein. Das ist das Überraschende, der Kern der Idee. »Wohlan denn, lieber Freund, welches ist wohl die Art, wie die Tyrannei entsteht?«, fragt Sokrates. »Denn dass sie sich aus der Demokratie abändert, ist wohl fast offenbar!«, sagt Sokrates. Glaukon sagt nur: »Offenbar.« Er bleibt öfters einsilbig; Sokrates zu widersprechen konnte ohnehin sehr mühselige Gespräche nach sich ziehen.

Was aber meint Sokrates? »Ich meine«, sagt er, »wenn einer demokratischen, nach Freiheit durstigen Stadt schlechte Mundschenken vorstehen und sie sich über die Gebühr in ihrem starken Wein berauscht: so wird sie ihre Obrigkeiten, wenn diese nicht ganz zahm sind und alle Freiheit gewähren, zur Strafe ziehen, indem sie ihnen schuld gibt, bösartig und oligarchisch zu sein«. An anderer Stelle sagt er: »So kommt denn natürlicherweise die Tyrannei aus keiner anderen Staatsverfassung zustande als aus der Demokratie, aus der übertriebensten Freiheit die strengste und wildeste Knechtschaft.« Mit anderen Worten: In einer Demokratie, in der die Bürger einen immer größeren Freiheitsdrang empfinden, wird sich dieser Freiheitsdrang irgendwann gegen alle Autoritäten wenden, gegen jede Form von Obrigkeit, die Gefolgschaft einfordert. Und die Bürger werden die Medien zum Beispiel als »Lügenpresse« und »Staatsfunk« bezeichnen, sie werden die etablierten Parteien als »Altparteien« beschimpfen, sie werden die großen Kirchen ablehnen, die Entscheidungen der Schulbehörden, der Baubehörden, die Europäische Kommission, die Nato, die Bundesregierung. Sie werden die Urteile der Verwaltungsgerichte anzweifeln, die Statistiken der Polizeibehörden, die Entscheidungen der Zentralbank, sie werden von Diktatur und Oligarchie sprechen und sie werden immer nur eines fordern: Freiheit von dieser unerträglichen Bevormundung. Viele rechtspopulistische Parteien tragen das Wort »Freiheit« sogar im Parteinamen.

Es liegt etwas Verworrenes darin, dass die rechtspopulistischen Bewegungen in den westlichen Demokratien so oft mit den Diktaturen der Vergangenheit in Verbindung gebracht werden. Verworren deshalb, weil eine Diktatur meist das Verbrechen am Ende einer Entwicklung ist, an deren Anfang möglicherweise eine ganz andere Absicht stand. In der AfD kann diese Nazivergleiche niemand verstehen, und es ist wichtig zu wissen, warum sie niemand versteht. Würde man einem Kind sagen, dass es seinem bösen Großvater sehr ähnlich sei, das Kind würde den Vorwurf als ungerecht bezeichnen, weil es doch bisher nichts Böses getan habe. Und das Kind hätte damit ein schwer zu widerlegendes Argument genannt. Wie soll man jemandem, der gegen Bevormundung und für die Freiheit zu kämpfen meint, erklären, dass er an der Errichtung eines neuen Autoritarismus arbeitet? Es wäre, als ob ein Kommunist Ende der vierziger Jahre von einer Deutschen Demokratischen Republik geträumt hätte als Antwort auf die grausame Diktatur des Faschismus. Hätte er damals geglaubt, dass eines Tages seine Vision als »Unrechtsregime« bezeichnet werden würde?

Beinahe sämtliche Mitglieder der AfD wollen keine Diktatur. Sie wollen Freiheit und Basisdemokratie. Sie wollen das wirklich. Zumindest glauben sie fest daran. Sie wollen auch die Freiheit für alle anderen. Auch für die muslimischen Frauen, die sie für unterdrückt halten. Deswegen verstehen sie die ganze Aufregung nicht. Sie wollen doch nur, dass sie selbst frei leben können – und alle anderen Menschen auch. Auch wer die AfD ablehnt, auch wer sie für den Untergang der modernen Demokratie verantwortlich macht, kann ihnen diese Überzeugung lassen, man muss nicht tun, als wäre sie nicht da. Man muss auch nicht auf AfD-Mitglieder einreden, dass sie in Wirklichkeit etwas anderes wollten, als sie tatsächlich zu wollen vorgeben. Man kann Menschen nicht vorschreiben, was sie wollen oder nicht; was jemand will, bestimmt und weiß nur er selbst. Das Problem, das die AfD für die freiheitliche Demokratie bedeutet, ist nicht ihre Ablehnung von Freiheit, im Gegenteil. Es ist, wenn man Platon folgt, ihr Freiheitsrausch, der autoritäre Züge annimmt. Würde Sokrates, wie ihn Platon beschreibt, heute barfuß an einem Wahlkampfstand der AfD in der Nürnberger Innenstadt vorbeilaufen, er würde vielleicht sagen: »Wenn ihr nur wüsstet, was passiert, wenn die Autoritäten, die ihr bekämpft, verschwunden sind – und eure Anführer regieren.« So weit die These. Platon muss sie aber erst noch etwas erläutern, bevor sie überzeugt, und er tut dies, wie stets, indem er seine Heldenfigur Sokrates sprechen lässt.