Was wir der Zukunft schulden - William MacAskill - E-Book

Was wir der Zukunft schulden E-Book

William MacAskill

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Beschreibung

Wie wir mit den richtigen Entscheidungen den Enkeln unserer Enkel ein Leben in Sicherheit und Glück ermöglichen

»Dieses Buch ist ein monumentales Ereignis.« Rutger Bregman


Der britische Philosoph und Aktivist Will MacAskill fordert ein radikal neues Denken beim Thema Nachhaltigkeit: Unser heutiges Handeln muss nicht nur die Konsequenzen für die nächsten Generationen miteinbeziehen, sondern auch die Folgen für die Menschheit in einer weit entfernten Zukunft. Es reicht nicht aus, den Klimawandel einzudämmen oder die nächste Pandemie zu verhindern. Wir müssen sicherstellen, dass sich die Menschheit nach einem Kollaps auch wieder erholt. Ein Manifest von enormer Sprengkraft – minutiös recherchiert und brillant geschrieben.

Mit zahlreichen Abbildungen und Grafiken.

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Seitenzahl: 583

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»Dieses Buch ist ein monumentales Ereignis.« Rutger Bregman

Der britische Philosoph und Aktivist William MacAskill fordert ein radikal neues Denken beim Thema Nachhaltigkeit: Unser heutiges Handeln muss nicht nur die Konsequenzen für die nächsten Generationen miteinbeziehen, sondern auch die Folgen für die Menschheit in einer weit entfernten Zukunft. Es reicht nicht aus, den Klimawandel einzudämmen oder die nächste Pandemie zu verhindern. Wir müssen sicherstellen, dass sich die Menschheit nach einem Kollaps auch wieder erholt. Ein Manifest von enormer Sprengkraft – minutiös recherchiert und brillant geschrieben.

William MacAskill, geboren 1987 in Glasgow, ist Professor für Philosophie an der Universität Oxford, Forscher am Global Priorities Institute in Oxford und Leiter der Forethought Foundation for Global Priorities Research. Er wurde mit 28 Jahren der weltweit jüngste Philosophieprofessor mit einer Anstellung auf Lebenszeit. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Ethik und der Moralphilosophie. MacAskill ist einer der Vordenker des Effektiven Altruismus und Mitgründer von Giving What We Can, 80,000 Hours und dem Centre for Effective Altruism. Er wurde 2017 von Forbes als Social Entrepreneur in die Liste der 30 Under 30 aufgenommen. Das World Economic Forum hat ihn außerdem als Young Global Shaper gewürdigt. MacAskill lebt in Oxford, England.

»William MacAskill ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Philosophen, und dies ist sein Opus Magnum.« Rutger Bregman

»Ein kühnes Buch, von großer Klarheit, Einsicht und Vorstellungskraft.«

Stephen Fry

»Ein optimistischer Blick in die Zukunft, der mich zu Tränen gerührt hat.«

Joseph Gordon-Levitt

Besuchen Sie uns auf www.siedler-verlag.de

William MacAskill

WAS WIR DER ZUKUNFT SCHULDEN

Warum wir jetzt darüber entscheiden, ob wir die nächste Million Jahre positiv beeinflussen – New-York-Times-Bestseller

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

Siedler

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel What We Owe the Future bei Basic Books (Hachette Book Group, New York).Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Cradle to Cradle Certified® ist eine eingetragene Marke des Cradle to Cradle Products Innovation Institute.

Copyright © 2022 by William MacAskill

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Fabian Bergmann

Umschlaggestaltung: total italic/Thierry Wijnberg

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31129-2V001

www.siedler-verlag.de

Meinen Eltern Mair und Robin und deren Eltern Ena und Tom und Daphne und Frank und …

Inhalt

TEIL I – Langfristig denken

Einleitung

Kapitel 1 Ein Plädoyer für langfristiges Denken

Kapitel 2 Wir können den Lauf der Geschichte beeinflussen

TEIL II – Kurskorrekturen

Kapitel 3 Moralischer Wandel

Kapitel 4 Wertestarre

TEIL III – Der Erhalt der Zivilisation

Kapitel 5 Aussterben

Kapitel 6 Kollaps

Kapitel 7 Stillstand

TEIL IV – Kommt das Ende der Welt?

Kapitel 8 Ist das Glück der Menschheit ein wertvolles Gut?

Kapitel 9 Wird die Zukunft gut oder schlecht?

TEIL V – Handeln

Kapitel 10 Was tun?

Aktualisiertes Nachwort zur deutschen Ausgabe 2023

Anhang

Dank

Weiterführende Informationen

Begrifflichkeiten

Tragweite, Dauer, Kontingenz (TDK)

Einwände gegen den Longtermism

Abbildungsnachweis und Quellen

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

TEIL I Langfristig denken

Einleitung

Stellen Sie sich vor, Sie leben das Leben jedes einzelnen Menschen, der jemals geboren wurde, und zwar nacheinander und in der Reihenfolge der Geburt.1 Ihr Leben beginnt vor rund 300000 Jahren in Afrika.2 Nachdem Sie am Ende dieses Lebens angelangt und gestorben sind, springen Sie in der Zeit zurück und werden als der zweite Mensch wiedergeboren, der kurz nach dem ersten zur Welt gekommen ist. Sobald Sie als dieser zweite Mensch gestorben sind, werden Sie als der dritte wiedergeboren, dann als der vierte und so weiter. Gut 100 Milliarden3 Leben später kommen Sie als der zuletzt geborene Mensch zur Welt. Ihr »Leben« ist also ein Nacheinander all dieser Leben.

Dabei lernen Sie die Geschichte ganz anders kennen, als sie in den meisten Geschichtsbüchern dargestellt wird. Berühmte Persönlichkeiten wie Kleopatra oder Napoleon nehmen nur einen winzigen Bruchteil Ihres Daseins ein. Der allergrößte Teil besteht aus den Leben ganz normaler Menschen und ihrer Alltagswirklichkeit – essen, arbeiten, gesellig sein, sich freuen, sich sorgen und beten.

Insgesamt kommen Sie so auf fast 4 Billionen Lebensjahre. Ein Zehntel dieser Zeit sind Sie Wildbeuter und 60 Prozent Bauer.4 Sie verbringen 20 Prozent Ihres Lebens mit Kindererziehung, 20 Prozent auf dem Acker und fast 2 Prozent mit religiösen Ritualen. Etwas mehr als 1 Prozent Ihrer Lebenszeit sind Sie an Malaria oder Pocken erkrankt. Sie haben 1,5 Milliarden Jahre lang Sex, und der Zeitraum, in dem Sie gerade ein Kind zur Welt bringen, dauert 250 Millionen Jahre. Außerdem trinken Sie 44 Billionen Tassen Kaffee.5

Sie lernen Grausamkeit und Güte von beiden Seiten kennen. Als Eroberer besetzen Sie Länder, und als Eroberte verlieren Sie Ihr Land. Sie spüren die Wut der Täter und das Leid der Opfer. Rund 10 Prozent Ihres Lebens halten Sie Sklaven, und etwa genauso lang sind Sie selbst versklavt.6

Aus erster Hand erleben Sie dabei, wie außergewöhnlich unser modernes Zeitalter ist. Aufgrund des dramatischen Bevölkerungswachstums findet ein Drittel Ihres Lebens in der Zeit nach dem Jahr 1200 statt und ein Viertel nach 1750. Ab diesem Zeitpunkt verändern sich Technik und Gesellschaft so schnell wie nie zuvor. Sie erfinden die Dampfmaschine, die Fabrik und den elektrischen Strom. Sie erleben die wissenschaftliche Revolution, die blutigsten Kriege der Geschichte7 und Umweltzerstörung in gewaltigem Ausmaß. Jedes Ihrer Leben wird immer länger, und Sie genießen einen Luxus, wie Sie ihn nicht einmal in Ihren früheren Leben als Königinnen und Kaiser kannten. 150 Jahre verbringen Sie im Weltall, und eine ganze Woche lang gehen Sie auf dem Mond spazieren. 15 Prozent Ihrer Lebenszeit entfallen auf Menschen, die heute noch am Leben sind.8

So sieht also Ihr bisheriges Leben aus, von der Geburt des Homo sapiens bis heute. Und nun stellen Sie sich weiter vor, dass Sie auch alle zukünftigen Leben erleben. Dann würde Ihr Leben gerade erst am Anfang stehen. Selbst wenn die Menschheit dieselbe Lebenserwartung hätte wie eine durchschnittliche Säugetierart (eine Million Jahre) und selbst wenn die Weltbevölkerung auf ein Zehntel ihrer heutigen Größe schrumpfen würde, hätten Sie jetzt noch 99,5 Prozent Ihres Lebens vor sich.9 Wenn man das auf eine normale menschliche Lebensspanne übertragen würde, wären Sie jetzt gerade einmal fünf Monate alt. Und falls die Menschheit länger überleben sollte als die übrigen Säugetierarten, falls sie viele Hundert Millionen Jahre überdauert, bis die Erde nicht mehr bewohnbar ist, oder sogar zig Billionen Jahre, bis der letzte Stern verglüht, dann wären Ihre bisherigen vier Billionen Lebensjahre nicht mehr als ein erstes Blinzeln nach der Geburt.10 Die Zukunft ist groß.

Wenn Sie wüssten, dass Sie diese vielen künftigen Leben wirklich noch leben würden, was täten Sie in der Gegenwart? Wie viel Kohlendioxid würden Sie in die Atmosphäre pusten? Wie viel würden Sie in Forschung und Bildung investieren? Wie gewissenhaft würden Sie mit neuer Technik umgehen, die Ihnen die Zukunft kaputt machen könnte? Wie viel Aufmerksamkeit würden Sie den langfristigen Folgen Ihres heutigen Verhaltens schenken?

Ich stelle Ihnen dieses Gedankenexperiment vor, weil Moral in erster Linie darauf basiert, dass wir uns in die Lage anderer Menschen hineinversetzen und ihre Interessen so behandeln, als wären es unsere eigenen. Wenn wir das auf die menschliche Geschichte übertragen, dann rückt die Zukunft in den Vordergrund, denn dort leben die meisten Menschen, und somit liegt dort auch fast das gesamte Potenzial für Freude und Leid.

In diesem Buch geht es um langfristiges Denken: den Gedanken, dass es die oberste moralische Priorität unserer Zeit ist, positiven Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Das langfristige Denken nimmt die Tatsache ernst, dass die Zukunft sehr groß sein kann und bei ihrer Gestaltung sehr viel auf dem Spiel steht. So seltsam das klingen mag: Wenn die Menschheit auch nur einen Bruchteil ihrer möglichen Lebenserwartung erreicht, dann sind wir ihre Urahnen: Wir leben ganz am Anfang der Geschichte, in der fernen Vergangenheit. Was wir heute tun, hat Einfluss auf unzählige künftige Menschenleben. Wir müssen also weise handeln.

In der neueren Philosophie gibt es eine ganze Denkschule, die sich mit dem langfristigen Denken beschäftigt: der Longtermism. Ich habe lange gebraucht, um mich damit anzufreunden. Es ist ein abstraktes Ideal und betrifft Generationen von Menschen, denen wir nie persönlich begegnen werden, weshalb es uns nicht mit derselben Intensität motivieren kann wie greifbare Probleme. Als Schüler habe ich Freiwilligenarbeit in Einrichtungen für Senioren und behinderte Menschen geleistet. Als Student hat mich die Armut in der Welt beschäftigt, und ich habe in einer Rehastation für Opfer von Kinderlähmung in Äthiopien gearbeitet. Als Doktorand habe ich überlegt, wie Menschen einander wirkungsvoller helfen können, und beschlossen, mindestens 10 Prozent meines Einkommens für gemeinnützige Einrichtungen zu spenden. Außerdem bin ich Mitgründer der Organisation Giving What We Can, die es Menschen ermöglicht, anderen auf genau diese Weise zu helfen.11

Die Wirkung dieser Aktivitäten war mit Händen greifbar. Doch der Gedanke, etwas zu tun, was unbekannten Menschen in der fernen Zukunft zugutekommt, ließ mich anfangs kalt. Als mir ein Kollege den Longtermism nahebringen wollte, reagierte ich spontan ablehnend. Es gibt genug wirkliche Probleme für wirkliche Menschen, dachte ich: Armut, fehlende Bildungsmöglichkeiten, ein Tod durch leicht vermeidbare Krankheiten. Darum sollten wir uns kümmern, sagte ich mir. Spekulationen über Dinge, die in der Zukunft eine Rolle spielen könnten oder eben auch nicht, lenken nur davon ab, die sind wie Science-Fiction.

Doch die Argumente für das langfristige Denken beschäftigten mich weiter. Sie gingen von einfachen Überlegungen aus: Künftige Menschen zählen aus moralischer Sicht genauso viel wie die heute lebenden; ihre Zahl könnte riesengroß und ihr Leben außergewöhnlich gut oder außergewöhnlich schlecht sein; und wir haben heute großen Einfluss auf die Welt, in der sie einmal leben werden.

Die entscheidende Frage war ganz praktischer Natur: Selbst wenn wir uns Gedanken um die Zukunft machen, was können wir denn konkret tun? Doch je mehr ich darüber erfuhr, welche wegweisenden Ereignisse in naher Zukunft eintreten könnten, umso ernster nahm ich den Gedanken, dass wir uns womöglich auf einen entscheidenden Moment der menschlichen Geschichte zubewegen. Die technische Entwicklung schafft neue Gefahren, eröffnet aber auch neue Möglichkeiten für die Menschheit, und es geht um nicht weniger als das Leben zukünftiger Generationen.

Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass das langfristige Schicksal der Menschheit zum Teil von den Entscheidungen abhängig ist, die wir heute treffen. Die Zukunft könnte ganz großartig sein: Wir könnten eine blühende und stabile Gesellschaft aufbauen, in der alle Menschen ein besseres Leben haben als wir heute. Genauso gut könnte die Zukunft aber auch voller Leid sein und von Tyrannen beherrscht werden, die ihre Ideologie mittels Überwachungstechnik und Künstlicher Intelligenz für alle Zeiten zementieren – oder wir könnten sogar gleich von Künstlichen Intelligenzen beherrscht werden, die die Macht an sich reißen, statt zum Wohl der Menschen beizutragen. Oder vielleicht hat die Menschheit auch überhaupt keine Zukunft, vielleicht löschen wir uns mit biologischen Waffen aus oder entfesseln einen Atomkrieg, der die gesamte Zivilisation in den Abgrund reißt.

Andererseits können wir einiges tun, um die Zukunft in bessere Bahnen zu lenken. Eine wunderbare Zukunft wird wahrscheinlicher, wenn wir die Leitwerte unserer Gesellschaften korrigieren und die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz sorgfältig steuern. Wir können dafür sorgen, dass die Menschheit überhaupt eine Zukunft hat, indem wir den Bau und Einsatz neuer Massenvernichtungswaffen verhindern und den Frieden zwischen den Großmächten der Welt sichern. Das sind große Aufgaben, und wie wir sie angehen, hat weitreichende Folgen.

Also habe ich meine Prioritäten überdacht. Auch wenn mir noch nicht klar war, was langfristiges Denken genau bedeutet, habe ich den Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit verschoben und zwei Organisationen gegründet, die sich der Erforschung dieser Fragen widmen: das Global Priorities Institute an der Universität Oxford und die Stiftung Forethought Foundation. Ausgehend von meinen Erkenntnissen und Erfahrungen, versuche ich in diesem Buch, die Argumente für das langfristige Denken so darzustellen, wie sie mich selbst vor einem Jahrzehnt überzeugt hätten.

Auf den folgenden Seiten verwende ich drei wiederkehrende Metaphern. Die erste ist das Bild der Menschheit als leichtsinnige Jugendliche. Als Teenager haben wir den größten Teil unseres Lebens noch vor uns, doch die Entscheidungen, die wir in diesem Alter treffen, prägen möglicherweise unser gesamtes restliches Dasein. Bei der Wahl einer Ausbildung und eines Berufs und bei der Abwägung von Risiken, sollten wir uns nicht am kurzfristigen Kick orientieren, sondern auch daran, dass wir unser Leben noch vor uns haben.

Die zweite Metapher ist das Bild der Geschichte als geschmolzenes Glas. Die heutige Gesellschaft ist noch geschmeidig und lässt sich in viele Formen bringen. Aber irgendwann kühlt das Glas ab und wird immer zäher, bis es sich gar nicht mehr gestalten lässt. Dann kann das Resultat schön oder missraten sein, oder das Glas könnte auch einfach zerbrechen. Es hängt alles davon an, was wir mit ihm anstellen, solange es noch heiß ist.

Die dritte Metapher vergleicht den Weg in die langfristige Zukunft der Menschheit mit einer gefahrvollen Expedition ins Unbekannte. Wenn wir heute versuchen, eine bessere Zukunft zu gestalten, dann wissen wir nicht genau, welche Gefahren auf uns zukommen werden oder wohin die Reise überhaupt geht – trotzdem können wir uns auf sie vorbereiten: die vor uns liegende Landschaft erkunden, sicherstellen, dass die Expedition gut ausgerüstet und geplant ist, und uns gegen die Gefahren wappnen, die wir schon heute absehen können.

Dieses Buch nimmt sich einiges vor. Ich plädiere nicht nur für das langfristige Denken, sondern mache mir auch Gedanken, was das genau bedeutet. Dazu stütze ich mich auf ein ganzes Team von Beratern und Forschungsassistenten. Wo immer ich mich über mein Spezialgebiet, die Moralphilosophie, hinauswage, habe ich mich von Anfang bis Ende von Fachleuten beraten lassen. Daher ist es im Grunde gar nicht »mein« Buch, sondern eine Mannschaftsleistung – das Ergebnis einer zehnjährigen Vollzeitbeschäftigung, bei der fast zwei Jahre auf die Überprüfung von Fakten entfielen.

Für diejenigen, die sich eingehender mit den hier behandelten Themen beschäftigen wollen, habe ich auf der Webseite www.whatweowethefuture.com weiterführendes Material zusammengestellt, darunter auch die Forschungsberichte, die ich im Rahmen meiner Recherche in Auftrag gegeben hatte. Doch so umfangreich diese Arbeit war, glaube ich dennoch, dass wir gerade mal an der Oberfläche des langfristigen Denkens gekratzt haben und es noch sehr viel zu lernen gibt.

Wenn ich richtigliege, tragen wir eine große Verantwortung. Im Vergleich zu all den Menschen, die nach uns kommen werden, sind wir nur eine winzige Minderheit. Und doch haben wir die gesamte Zukunft der Menschheit in der Hand. Die Ethik hat es nur selten mit derartigen Maßstäben zu tun. Wir benötigen eine moralische Weltsicht, die sich darüber im Klaren ist, was auf dem Spiel steht.

Wenn wir weise Entscheidungen treffen, können wir unseren Beitrag dazu leisten, die Menschheit auf den richtigen Kurs zu führen. Dann werden unsere Ururenkel auf uns zurückblicken und uns danken, weil sie wissen, dass wir alles in unserer Macht Stehende getan haben, um ihnen eine gerechte und schöne Welt zu hinterlassen.

KAPITEL 1 Ein Plädoyer für langfristiges Denken

Die schweigenden Milliarden

Künftige Menschen zählen. Es wird möglicherweise sehr viele von ihnen geben. Und wir können einen Beitrag dazu leisten, dass sie gut leben.

Das ist in aller Kürze das Plädoyer für langfristiges Denken. Die Prämissen sind einfach und nicht besonders strittig. Doch wenn wir sie ernst nehmen, wäre das nicht weniger als eine moralische Revolution – mit weitreichenden Folgen für das Denken und Handeln von Aktivisten, Forscherinnen, Politikern, uns allen.

Künftige Menschen zählen, doch wir rechnen sie nur selten mit ein. Sie können nicht wählen und haben keine Lobby, deshalb haben Politiker keinen Anreiz, sie mit einzubeziehen. Ebenso wenig sind sie auf dem Markt anzutreffen, und deshalb können sie auch nicht mit uns verhandeln. Und sie sind nicht in der Lage, ihren Interessen Gehör zu verschaffen: Sie können nicht twittern, keine Zeitungsartikel schreiben und nicht auf die Straße gehen. Sie sind rechtlos.

Soziale Bewegungen der Vergangenheit, zum Beispiel die Bürgerrechts- oder die Frauenbewegung, hatten das Ziel, benachteiligten Gruppen innerhalb der Gesellschaft zu mehr Anerkennung und Einfluss zu verhelfen. Das langfristige Denken weitet diese Ideale aus. Zwar können wir künftigen Menschen keine echte politische Mitsprache geben, doch sie zumindest mitdenken. Wenn wir die Tyrannei der Gegenwart über die Zukunft überwinden, können wir Treuhänder werden und zum Aufbau einer blühenden Welt für künftige Generationen beitragen. Das ist von größter Bedeutung. Lassen Sie mich erklären, warum.

Künftige Menschen zählen

Dass künftige Menschen zählen, ist eigentlich selbstverständlich. Künftige Menschen sind schließlich Menschen. Sie werden auf dieser Erde leben. Sie haben Hoffnungen und Ängste, Freuden und Sorgen, genau wie wir. Der einzige Unterschied ist, dass sie noch nicht da sind.

Um zu verstehen, warum es tatsächlich selbstverständlich ist, sie mit zu berücksichtigen, stellen Sie sich vor, dass Ihnen während einer Wanderung eine Glasflasche herunterfällt und zerbricht. Wenn Sie die Scherben nicht aufsammeln, könnte sich später ein Kind daran verletzen.1 Spielt es bei Ihrer Entscheidung, die Scherben einzusammeln oder nicht, eine Rolle, wann sich dieses Kind verletzen wird? Spielt es eine Rolle, ob es in einer Woche, einem Jahrzehnt oder einem Jahrhundert passiert? Nein. Leid ist Leid, egal wann.

Oder nehmen wir an, eine Seuche bedroht eine Stadt und könnte Tausende das Leben kosten. Sie haben es in der Hand, sie aufzuhalten. Müssen Sie dazu wissen, wann die Seuche ausbricht? Ist das wichtig? Nein. Den drohenden Schaden abzuwenden und Leid und Tod zu vermeiden, sind an sich wichtige Anliegen.

Das trifft auch auf die schönen Dinge des Lebens zu. Denken Sie an etwas, das Ihnen Freude bereitet, vielleicht Musik oder Sport. Und nun stellen Sie sich andere vor, denen das genauso viel bedeutet wie Ihnen. Hat die Freude dieser Menschen weniger Bedeutung, wenn sie in der Zukunft leben? Nehmen wir an, Sie könnten ihnen Tickets für ein Konzert ihrer Lieblingsband oder ein Spiel ihrer Fußballmannschaft schenken. Wenn Sie vor der Entscheidung stehen, ob Sie das Ticket kaufen und ihnen zuschicken, müssen Sie dann wissen, zu welcher Uhrzeit es ankommt?

Und nun stellen Sie sich auch noch vor, was Menschen in der Zukunft denken, wenn sie auf uns zurückblicken, während wir solche Fragen erörtern. Sie würden hören, wie einige von uns behaupten, dass künftige Menschen keine Bedeutung haben. Dabei sehen sie einander an und schauen sich in ihrem eigenen Leben um. Was ist anders? Was weniger wirklich? Welche Sichtweise in unserer Debatte würde ihnen offensichtlicher und aufgeklärter vorkommen? Welche kurzsichtiger und provinzieller?

Mit der zeitlichen Entfernung verhält es sich ganz ähnlich wie mit der räumlichen. Menschen zählen, auch wenn sie viele Tausend Kilometer entfernt leben. Und genauso zählen sie, wenn sie viele Tausend Jahre entfernt leben. In beiden Fällen ist es einfach, sie für unwirklich zu halten, nur weil sie weit weg sind, aber damit verwechseln wir die Grenzen unseres Horizonts mit den Grenzen der Welt. So wie die Welt nicht an unserer Haustür oder der Landesgrenze endet, so endet sie auch nicht mit der nächsten oder übernächsten Generation.

All das sagt uns der gesunde Menschenverstand. Ein Weisheitsspruch lautet: Eine Gesellschaft blüht auf, wenn alte Menschen Bäume pflanzen, in deren Schatten sie niemals sitzen werden.2 Wenn wir radioaktiven Müll entsorgen, sagen wir schließlich auch nicht: »Was kümmert es mich, wenn das Zeug in ein paar Hundert Jahren jemanden vergiftet?« Und wer sich wegen des Klimawandels und der Umweltzerstörung Gedanken macht, tut dies auch nicht ausschließlich für die heute lebenden Menschen. Wir bauen Museen und legen Parks unter anderem deshalb an, weil wir hoffen, dass auch künftige Generationen noch ihre Freude daran haben werden; wir investieren in Bildungseinrichtungen und langfristige Forschungsprogramme; wir erhalten Gemälde, Traditionen und Sprachen; wir schützen schöne Orte. In vielen Fällen unterscheiden wir nicht zwischen Anliegen für die Gegenwart und die Zukunft – es geht um beide.

Die Sorge für künftige Generationen gilt in verschiedenen geistigen Traditionen als Selbstverständlichkeit. Die Gayanashagowa, die jahrhundertealte mündliche Verfassung der Irokesenliga, des Bündnisses der fünf großen Irokesenstämme, formuliert das besonders eindringlich. Sie fordert die Oberhäupter der Irokesen auf, »nicht nur die heutigen, sondern auch die künftigen Generationen immer im Blick zu haben«.3 Oren Lyons, das geistliche Oberhaupt der Onondaga und Seneca, spricht vom »Prinzip der siebten Generation«, wenn er sagt: »Wir treffen jede Entscheidung so, dass sie auch dem Wohl der siebten Generation zugutekommt, und fragen: Wird das der siebten Generation nutzen?«4

Doch wenn wir uns im Klaren darüber sind, dass künftige Menschen zählen, dann müssen wir uns fragen, wie stark wir ihre Interessen gewichten wollen. Gibt es Gründe, den heute lebenden Menschen größere Bedeutung beizumessen?

Ich glaube, ja, und zwar aus zwei Gründen. Erstens aufgrund unserer Voreingenommenheit. Wir haben eine besondere Beziehung zu vielen Menschen in der Gegenwart; Angehörige, Freunde und Mitbürger stehen uns näher als die Menschen der Zukunft. Es ist selbstverständlich, dass wir den Menschen, die uns persönlich am Herzen liegen, ganz besonderes Gewicht geben.

Der zweite Grund ist die Gegenseitigkeit. Wenn Sie nicht gerade Einsiedler sind, dann haben Sie im Laufe Ihres Lebens einen direkten Nutzen von den Handlungen vieler Menschen – Lehrer, Ladenbesitzer, Ingenieure, Steuerzahler und so weiter. Wenn uns jemand etwas Gutes tut, dann haben wir einen Anlass, es zu erwidern. Aber künftige Menschen können uns nicht in demselben Sinne etwas Gutes tun wie unsere Zeitgenossen.5

Besondere Beziehungen und Gegenseitigkeit sind also wichtige Kriterien. Doch sie ändern nichts an meiner Argumentation. Ich verlange gar nicht, dass wir die Interessen der heutigen und der künftigen Menschen immer und überall gleich gewichten müssen. Ich verlange nur, dass die künftigen ein spürbares Gewicht erhalten. Wenn wir uns mehr um unsere eigenen Kinder kümmern als um andere, bedeutet das schließlich auch nicht, dass wir alle anderen Kinder vergessen. Und wenn wir stärker für die Interessen unserer Zeitgenossen eintreten, bedeutet das folglich nicht, dass wir die Interessen unserer Nachkommen ignorieren.

Noch ein Beispiel. Stellen Sie sich vor, wir entdecken eines Tages Atlantis, eine gewaltige Zivilisation auf dem Meeresgrund. Wir werden uns bewusst, dass viele unserer Aktivitäten Auswirkungen auf das Leben der Bewohner von Atlantis haben. Wenn wir unseren Müll ins Meer kippen, vergiften wir sie, und wenn eines unserer Schiffe sinkt, verwenden sie es als Altmetall. Wir haben keine besondere Beziehung zu den Bewohnern von Atlantis, und wir schulden ihnen auch nichts für irgendetwas Gutes, das sie uns gebracht hätten. Trotzdem sollten wir uns ernsthaft darüber Gedanken machen, inwieweit sie von unseren Handlungen betroffen sind.

Die Zukunft der Menschheit ist wie Atlantis. Auch sie ist ein großes, unentdecktes Land.6 Ob es aufblüht oder untergeht, hängt in erheblichem Maße davon ab, was wir heute tun.

Die Zukunft ist groß

Es sei noch einmal gesagt: Dass künftige Menschen zählen, ist selbstverständlich. Genau wie es aus moralischer Sicht selbstverständlich ist, dass eine große Zahl von Menschen zählt. Wenn Sie bei einem Hausbrand die Wahl haben, ein Menschenleben zu retten oder zehn, dann sollten sie die zehn retten. Wenn Sie 100 oder 1000 Kranke heilen können, sollten Sie 1000 heilen. Dieser Aspekt spielt deshalb eine Rolle, weil die Zahl der künftigen Menschen riesengroß sein könnte.

Sehen Sie sich dazu die Geschichte der Menschheit an. Angehörige der Gattung Homo gibt es seit über 2,5 Millionen Jahren.7 Unsere Spezies Homo sapiens ist etwa 300000 Jahre alt. Die Landwirtschaft kam vor etwa 12000 Jahren auf, die ersten Städte wurden vor 6000 Jahren erbaut, die industrielle Revolution begann vor 250 Jahren, und die vielen Veränderungen, die die Menschheit seither erlebt hat – der Übergang vom Pferdefuhrwerk über das Auto zur Weltraumfahrt, vom Blutegel zur Organtransplantation, vom Abakus zum Supercomputer – erfolgte im Laufe von nur drei Lebensspannen.8

Grafik 1.1 Die Geschichte des Homo sapiens.

Grafik 1.2 Die potenzielle Zukunft der Zivilisation, wenn die Menschheit dieselbe Lebensspanne wie eine durchschnittliche Säugetierart hat.

Wie lange wird es unsere Spezies noch geben? Das wissen wir natürlich nicht. Aber wir können Schätzungen anstellen, bei denen wir unserer eigenen Ungewissheit Rechnung tragen, was die Ungewissheit, ob wir nicht unseren eigenen Untergang verursachen werden, mit einschließt.

Um die möglichen Dimensionen der Zukunft zu veranschaulichen, nehmen wir einmal an, dass wir uns so lange halten wie eine durchschnittliche Säugetierart – also etwa eine Million Jahre.9 Nehmen wir weiter an, dass die Menschheit ihre aktuelle Größe beibehält. In diesem Fall würde es in Zukunft insgesamt noch 80 Billionen Menschen geben – 10000-mal so viele, wie heute auf der Erde leben.

Natürlich kann die Zukunft ganz unterschiedliche Wege nehmen. Wenn wir unser eigenes Aussterben verschulden, dann könnten die Menschheit eine deutlich kürzere Lebensspanne haben als andere Säugetiere. Sie könnte aber auch sehr viel länger überleben. Im Gegensatz zu anderen Tieren haben wir hoch entwickelte Werkzeuge, mit denen wir uns an ganz unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen können; mithilfe des abstrakten Denkens sind wir in der Lage, komplexe, langfristig angelegte Pläne zu fassen, um mit neuen Situationen umzugehen; und dank unserer gemeinsamen Kultur können wir in Gruppen zusammenleben, die Millionen Individuen umfassen. Mithilfe dieser Instrumente können wir etwas gegen die Gefahr des Aussterbens unternehmen – etwas, das andere Säugetiere nicht vermögen.10

Das hat Folgen für die Lebenserwartung der Menschheit. Die Zivilisation könnte eine sehr kurze Zukunft haben und nur noch ein paar Jahrhunderte bestehen. Die Zukunft könnte aber auch extrem lang sein. Die Erde selbst ist noch für viele Hundert Millionen Jahre bewohnbar. Wenn wir so lange überleben und die Weltbevölkerung in den kommenden Jahrhunderten konstant bleibt, dann könnten für die Zukunft auf jeden heute lebenden eine Million künftige Menschen kommen. Und wenn die Menschheit tatsächlich zu den Sternen aufbrechen sollte, werden die Dimensionen buchstäblich astronomisch. Die Sonne wird weitere 5 Milliarden Jahre lang scheinen, die letzten konventionellen Sterne werden in einer Billion Jahre entstehen, und aufgrund eines kleinen, aber steten Stroms von Kollisionen zwischen braunen Zwergen wird es in einer Quintillion Jahre noch ein paar Sterne geben.11

Grafik 1.3 Wie lange die Erde theoretisch bewohnbar ist, hängt von der zunehmenden Helligkeit der Sonne ab. Es herrscht beträchtliche Ungewissheit darüber, wie groß dieses Zeitfenster ist: Schätzungen reichen von 500 Millionen bis 1,3 Milliarden Jahren.

Die Möglichkeit, dass unsere Zivilisation so lange Bestand hat, gäbe der Menschheit eine schier unvorstellbare Lebenserwartung. Bei einer 10-prozentigen Wahrscheinlichkeit, die kommenden 500 Millionen Jahre zu überleben, bis die Erde unbewohnbar würde, hätten wir eine Lebenserwartung von 50 Millionen Jahren; bei einer 1-prozentigen Wahrscheinlichkeit, bis zur Geburt der letzten Sterne zu überleben, hätten wir eine Lebenserwartung von über 10 Milliarden Jahren.12

Aber es geht nicht nur um die Lebenserwartung der Menschheit, sondern auch darum, wie viele Menschen es insgesamt geben wird. Daher müssen wir fragen: Wie viele Menschen werden zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft am Leben sein?

Die Menschheit könnte künftig viel größer oder viel kleiner sein als heute. Wenn sie kleiner ist, dann kann sie höchstens um 8 Milliarden kleiner sein, denn so viele Menschen gibt es heute. Aber wenn sie größer ist, kann sie um ein Vielfaches größer sein. Heute leben bereits mehr als 1000-mal so viele Menschen wie zur Zeit der Jäger und Sammler. Wenn die Bevölkerungsdichte auf unserem Planeten so groß wäre wie die der Niederlande – ein Landwirtschaftsexportland –, dann würden 70 Milliarden Menschen gleichzeitig auf der Erde leben.13 Das mag unrealistisch klingen, doch eine Weltbevölkerung von 8 Milliarden wäre prähistorischen Jägern und Sammlern oder einem der ersten Bauern sicherlich auch sehr unrealistisch vorgekommen.

Die Menschheit könnte noch einmal dramatisch wachsen, wenn wir eines Tages zu fernen Planeten aufbrechen sollten. Unsere Sonne produziert das Milliardenfache dessen an Energie, was hier auf der Erde ankommt, in unserer Galaxie gibt es zig Milliarden Sonnen, und darüber hinaus stehen uns Milliarden von Galaxien offen.14 Es könnte also durchaus sein, dass es in der fernen Zukunft deutlich mehr Menschen gibt als heute.

Wie viele? Genaue Schätzungen sind weder möglich noch nötig. Wie man es auch dreht und wendet, die Zahlen sind astronomisch.

Sehen Sie sich zur Veranschaulichung die folgende Grafik an. Jede Figur steht für 10 Milliarden Menschen. Bis heute haben rund 100 Milliarden Menschen auf der Erde gelebt. Diese früheren Menschen sind in der Grafik als zehn Figuren dargestellt. Heute leben 8 Milliarden Menschen auf der Erde, die ich auf zehn aufrunde und als eine Figur darstelle:

Aber nun zur Zukunft. Nehmen wir nur einmal an, die Erdbevölkerung bleibt konstant und die Menschheit hat noch 500 Millionen Jahre vor sich. Das sind die Menschen der Zukunft:

Wenn wir das bildlich vor uns sehen, wird uns allmählich klar, um wie viele Leben es hier geht. Und dabei habe ich die Darstellung noch zusammengefasst. Wenn ich alle Figuren hier abbilden wollte, dann müsste ich 20000 Seiten füllen – fast 100-mal so viel, wie dieses Buch hat. Jede einzelne Figur steht für 10 Milliarden Leben, und jedes dieser Leben kann erfüllt oder elend sein.

In der Einleitung habe ich die Menschheit von heute mit leichtsinnigen Jugendlichen verglichen: Sie haben den größten Teil ihres Lebens noch vor sich, und die Entscheidungen, die dessen Rest betreffen, sind von kolossaler Bedeutung. Doch der Vergleich hinkt. Teenager können mehr oder weniger absehen, wie viele Jahre sie noch vor sich haben. Die Lebenserwartung der Menschheit können wir dagegen nicht abschätzen. Wir sind eher wie Jugendliche, die vielleicht in ein paar Monaten durch eigenes Verschulden zu Tode kommen, andernfalls aber noch ein paar Jahrtausende leben könnten. Wenn Sie in dieser Situation wären, würden Sie sich dann nicht ernsthaft über das lange Leben Gedanken machen, das Sie möglicherweise noch vor sich haben? Oder wäre Ihnen das egal?

Die Dimensionen sind wahrhaft schwindelerregend. Wenn wir im Alltag von »langfristigem Denken« sprechen, meinen wir meist nicht mehr als ein paar Jahre oder Jahrzehnte. Doch selbst wenn wir von einem niedrigen Schätzwert für die Lebenserwartung der Menschheit ausgehen, wäre das so, als würden unsere Teenager nur an morgen, aber nicht an übermorgen denken.

Der Gedanke an die Zukunft der Menschheit mag uns überfordern – doch wenn uns wirklich etwas an künftigen Generationen liegt und wenn wir erkennen, dass es sich um Menschen aus Fleisch und Blut handelt, die genauso Freude und Leid empfinden wie wir, dann haben wir die Pflicht, uns zu überlegen, wie wir mit der Welt umgehen, in der sie leben werden.

Der Wert der Zukunft

Die Zukunft könnte immens sein. Sie könnte auch sehr gut sein – oder aber sehr schlecht.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie gut, sollten wir uns ansehen, welche Fortschritte die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten gemacht hat. Vor 200 Jahren betrug die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen weniger als dreißig Jahre; heute sind es 73.15 Damals lebten mehr als 80 Prozent der Menschen in extremer Armut; heute sind es weniger als 10 Prozent.16 Damals konnten nur rund 10 Prozent der Erwachsenen lesen, heute sind es 85 Prozent.17

Gemeinsam haben wir die Fähigkeit, diese positiven Entwicklungen fortzusetzen und etwas gegen negative Entwicklungen wie die massiven Treibhausemissionen und das Leid der Massentierhaltung zu unternehmen. Wir können eine Welt aufbauen, in der alle so leben wie heutzutage die zufriedensten Menschen in den reichsten Ländern – eine Welt, in der niemand unter Armut leidet, alle Zugang zu medizinischer Versorgung haben und möglichst nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden.

Aber wir können noch mehr erreichen – viel mehr sogar. Das Beste von heute sagt nichts darüber aus, was in Zukunft noch alles möglich sein könnte. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie kämen aus einer reichen Familie im England des Jahres 1700. Sie haben Zugang zur besten Ernährung, den teuersten Ärzten und allen damals verfügbaren Luxusgütern. Trotzdem können Sie leicht an Pocken, Syphilis oder Typhus sterben. Wenn Sie eine Operation benötigen oder Zahnschmerzen haben, ist die Behandlung qualvoll und birgt das Risiko einer Infektion. Wenn Sie in London leben, ist Ihre Atemluft 17-mal so stark verschmutzt wie heute.18 Selbst auf der Insel dauern Reisen viele Tage, und der Rest der Welt liegt in schier unerreichbarer Ferne. Wenn Sie sich von der Warte des 17. Jahrhunderts aus eine Zukunft vorstellen, in der es allen Menschen so gut geht wie Ihnen, wird Ihnen vieles gar nicht in den Sinn kommen, was Ihr Leben heute besser macht, zum Beispiel elektrischer Strom, Anästhesie, Antibiotika und Fernreisen.

Aber nicht nur die technische Entwicklung hat das Leben der Menschen verbessert, sondern auch die der Werte. Im Jahr 1700 konnten Frauen nicht studieren, und es gab keine Frauenbewegung.19Homosexuelle waren nicht in der Lage, ihre Beziehungen offen zu leben, selbst wenn sie noch so reich waren, denn die sogenannte Sodomie konnte mit dem Tod bestraft werden.20 Auf dem Höhepunkt der Sklaverei Ende des 18. Jahrhunderts lebte ein beträchtlicher Teil der Menschheit in Knechtschaft; heute ist es nur 1 Prozent.21 Im Jahr 1700 lebte niemand in einer Demokratie, heute ist es mehr als die Hälfte aller Menschen.22

Vieles von dem, was wir seit 1700 erreicht haben, war damals kaum vorhersehbar. Dabei sind seither gerade mal drei Jahrhunderte vergangen. Und wie gesagt, die Menschheit könnte allein auf der Erde noch ein paar Millionen Jahre überleben. Wenn wir unsere Vorstellung ihres Potenzials auf eine starre Version der Welt von heute reduzieren, unterschätzen wir die mögliche Lebensqualität der Zukunft vielleicht ganz erheblich.

Denken Sie an die besten Momente Ihres Lebens – Augenblicke der Freude und Schönheit, voller Energie, in denen Sie verliebt sind, sich einen Lebenstraum verwirklichen oder ein Aha-Erlebnis haben. Diese Momente sind ein Beleg für das, was möglich ist: Wir wissen, dass das Leben mindestens so gut sein kann wie in diesen Augenblicken. Aber sie zeigen uns auch eine Richtung, in die unser Leben sich bewegen kann und in die wir vielleicht noch gehen wollen. Wenn Ihre besten Tage Hunderte Male besser sein können als Ihr Alltag, dann können die besten Tage der Menschen in der Zukunft vielleicht noch einmal Hunderte Male besser sein als Ihre besten Tage heute.

Ich behaupte nicht, dass diese wunderbare Zukunft wahrscheinlich ist. »Utopie« bedeutet wörtlich »Nicht-Ort«, und der Weg von hier zu einer idealen Zukunft ist extrem ungewiss. Trotzdem ist eine wunderbare Zukunft kein leerer Traum. Ein besseres Wort wäre »Eutopie« oder »schöner Ort« – und das ist etwas, das wir anstreben können. Das ist eine Zukunft, die unsere Nachkommen mit ausreichend Geduld und Weisheit tatsächlich zu erreichen vermögen – vorausgesetzt, wir ebnen ihnen den Weg.

Aber die Zukunft könnte nicht nur schön sein, sondern auch schrecklich. Dazu müssen wir uns nur einige der negativen Entwicklungen der Vergangenheit ansehen und uns eine Zukunft vorstellen, die von ihnen beherrscht wird. Erinnern wir uns zum Beispiel, dass England und Frankreich die Leibeigenschaft schon Ende des 12. Jahrhunderts fast völlig abgeschafft hatten, nur um dann im Kolonialzeitalter zu Sklavenhändlernationen zu werden.23 Oder dass Mitte des 20. Jahrhunderts einstige Demokratien zu totalitären Staaten wurden. Oder dass wir unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu verwenden, um Atombomben und Tiermastbetriebe zu bauen.

Nicht nur die Eutopie ist eine reale Möglichkeit, sondern auch die Dystopie. In der Zukunft könnte ein totalitäres Regime die ganze Welt beherrschen, die Lebensqualität von heute könnte lediglich eine schwache Erinnerung an ein früheres Goldenes Zeitalter sein, oder ein Dritter Weltkrieg könnte die Zivilisation vollkommen ausgelöscht haben. Wie wunderbar oder schrecklich die Zukunft wird, hängt auch von uns ab.

Nicht nur Klimawandel

Selbst wenn Sie annehmen, dass die Zukunft immens und wichtig ist, könnten Sie Ihre Zweifel haben, ob Sie sie wirklich in positiver Weise beeinflussen können. Ich würde Ihnen zustimmen: Es kann sehr schwierig sein, sich die langfristigen Auswirkungen unserer Entscheidungen vorzustellen. Dabei kommen viele Erwägungen ins Spiel, und dass wir sie verstehen, ist erst der Anfang. Mit diesem Buch möchte ich daher keine konkreten Handlungsanweisungen geben, sondern vor allem weitere Überlegungen und Forschungen in dieser Richtung anstoßen. Aber die Zukunft ist so wichtig, dass wir zumindest versuchen sollten herauszufinden, wie wir sie in eine positive Richtung lenken können. Und es gibt bereits einige Dinge, die wir über sie aussagen können.

Wenn wir in die Vergangenheit blicken, finden wir nur wenige Menschen, die ganz gezielt langfristig etwas bewegen wollten. Doch es gibt sie, und einige waren dabei erstaunlich erfolgreich. Dichter sind ein gutes Beispiel. William Shakespeare schreibt in einem seiner Sonette, mit seiner Kunst könne er die Schönheit eines jungen Mannes, den er bewundert, für alle Zeit bewahren:24

Dein ew’ger Sommer doch soll nie verrinnen,

Wenn du in meinem Lied unsterblich bist!

Solange Menschen atmen, Augen sehn,

Lebt mein Gesang und schützt dich vor Vergehn!25

Das Sonett wurden in den 1590er-Jahren geschrieben, geht jedoch auf eine viel ältere Tradition zurück.26 Im Jahr 23 v. Chr. begann der römische Dichter Horaz seine letzte Ode mit den folgenden Zeilen:27

Dauerhafter als Erz schuf ich ein Ehrenmal,

Über Königspaläst’ und Pyramid’ erhöht,

Das kein modernder Guß, kein ungezähmter Nord

Auszutilgen vermag, noch ungezählter

Jahre Reih’ und hinabrollender Zeiten Flucht.

Nicht ganz werd’ ich vergehn, und ein erklecklich Teil

Meiner meidet die Gruft.28

Das sind große Worte, doch vielleicht hatten diese Dichter tatsächlich Erfolg mit dem Versuch, unsterblich zu werden. Immerhin haben sie viele Jahrhunderte überdauert und erfreuen sich in unseren Tagen wachsender Beliebtheit: Shakespeare wird heute von mehr Menschen gelesen als zu seiner Zeit und Horaz womöglich auch. Und solange irgendjemand bereit ist, ihre Gedichte zu erhalten und weiterzugeben, werden sie weiterleben.

Auch andere Autoren haben sich erfolgreich um langfristige Wirkung bemüht. Thukydides schrieb sein Geschichtswerk über den Peloponnesischen Krieg im 5. Jahrhundert vor Christus.29 Viele sehen in ihm den ersten Historiker des Westens, der versuchte, die Geschehnisse wahrheitsgetreu aufzuzeichnen und ihre Ursachen zu analysieren.30 Er war überzeugt, dass er die Wahrheit schilderte, und schrieb seine Geschichte bewusst so, dass ihr Einfluss bis weit in die Zukunft reichte:

Wenn aber diejenigen dies Werk nützlich finden, welche die geschehenen Dinge kennen lernen wollen, wie sie wirklich waren und wie auch die Zukunft so immer auf dieselbe oder auf ähnliche Weise wiederholen wird, weil es eben die menschliche Natur so mit sich bringt, wo wird das genug sein. Es ist mehr geschrieben, um ein Besitztum für alle Zeiten zu sein, und buhlt nicht als Redeprunkstück dem Augenblick zu gefallen.31

Der Einfluss von Thukydides reicht bis in die Gegenwart. An den US-Militärakademien von West Point und Annapolis ist sein Werk noch heute Pflichtlektüre.32 In seinem Bestseller Destined for War ging der Politikwissenschaftler Graham Allison 2017 der Frage nach, ob China und die Vereinigten Staaten der »Falle des Thukydides« entkommen können, und analysiert das Verhältnis der beiden Staaten so wie Thukydides das von Athen und Sparta. Soweit wir wissen, war Thukydides der erste Mensch, der auf eine langfristige Wirkung zielte und damit erfolgreich war.

Ein jüngeres Beispiel sind die Gründerväter der Vereinigten Staaten. Die Verfassung ihres Landes ist fast 250 Jahre alt und weitgehend unverändert geblieben. Ihre Niederschrift war von langfristiger Bedeutung, und viele ihrer Autoren waren sich dessen bewusst. So schrieb zum Beispiel John Adams, der zweite Präsident der Vereinigten Staaten: »Die Institutionen, die wir heute in Amerika ins Leben rufen, werden auch in tausenden von Jahren nicht ganz verschwunden sein. Es ist daher von äußerster Wichtigkeit, es richtig anzugehen. Wenn wir einen falschen Anfang machen, dann werden sie nie mehr, oder nur durch einen Glücksfall, auf den rechten Weg zurückfinden.«33

Benjamin Franklin war derart überzeugt vom Wohlergehen und der Langlebigkeit der Vereinigten Staaten, dass ein französischer Mathematiker 1784 eine freundliche Satire auf ihn schrieb: Wenn Franklin so überzeugt sei, dann solle er doch sein Geld so anlegen, dass es in einigen Jahrhunderten sozialen Projekten zugutekommen werde, die von den bis dahin angehäuften Zinsen profitierten.34 Der Gedanke gefiel Franklin, weshalb er 1790 je 1000 Dollar (was einem heutigen Wert von rund 135000 Dollar entspricht) für die Städte Boston und Philadelphia anlegte: Drei Viertel der Erträge sollten in einhundert Jahren ausgezahlt werden, der Rest nach zweihundert. Als die Gelder 1990 verteilt wurden, bekam Boston fast 5 Millionen Dollar und Philadelphia 2,3 Millionen.35

Die Gründerväter der Vereinigten Staaten wiederum bedienten sich bei Ideen, die fast zwei Jahrtausende zuvor formuliert worden waren. Der Gedanke der Gewaltenteilung ging auf John Locke und Baron de Montesquieu zurück, die sich ihrerseits von Polybius’ Beschreibungen des römischen Regierungssystems aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert inspirieren ließen.36 Einige der amerikanischen Verfassungsväter hatten Polybius auch selbst gelesen.37

Wir Heutigen müssen gar nicht so einflussreich sein wie Thukydides oder Franklin, um mit unseren Handlungen Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Wir tun es andauernd. Wir fahren mit dem Auto. Wir steigen ins Flugzeug. Und dabei produzieren wir Treibhausgase, die langfristige Auswirkungen haben. Es wird viele Hunderttausend Jahre dauern, bis die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre durch natürliche Prozesse auf vorindustrielle Werte zurückgeht.38 Das sind Dimensionen, die wir sonst nur mit radioaktiven Abfällen in Verbindung bringen.39 Mit dem Unterschied, dass wir beim Atommüll die Lagerung gründlich planen, während wir die Abgase unserer fossilen Brennstoffe einfach in die Luft pusten.40

In einigen Fällen schwächen sich die geophysischen Folgen der Erderwärmung im Laufe der Zeit nicht etwa ab, sondern sie werden immer extremer.41 Der Weltklimarat geht davon aus, dass bei dem aktuell wahrscheinlichsten Szenario der allmählichen Emissionensenkungen der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um einen Dreiviertelmeter ansteigt.42 Aber das Wasser pegelt sich im Jahr 2100 nicht einfach ein, sondern es steigt weiter an. In tausend Jahren wäre der Meeresspiegel zehn bis zwanzig Meter über dem heutigen Niveau.43 Hanoi, Schanghai, Kalkutta, Tokio und New York City wären weitgehend in den Fluten versunken.44

Die Klimawandel demonstriert, wie langfristig unsere Handlungen von heute wirken können. Aber er zeigt auch, dass langfristiges Handeln die Interessen der heute lebenden Menschen nicht ignorieren muss. Wir können die Zukunft in eine positive Richtung lenken und gleichzeitig die Lebensqualität der Gegenwart verbessern.

Die Umstellung auf saubere Energien nutzt schon heute unserer Gesundheit. Fossile Brennstoffen verschmutzen die Luft mit Feinstaub, der Lungenkrebs, Herzprobleme und Atemwegserkrankungen verursachen kann.45 Heute sterben pro Jahr rund 3,6 Millionen Menschen vorzeitig.46 Selbst in der Europäischen Union, wo die Atemluft im Verhältnis noch am saubersten ist, kostet die Luftverschmutzung jeden Einwohner im Durchschnitt ein Lebensjahr.47

Grafik 1.4 Todesfälle pro Terawattstunde des erzeugten Stroms nach Energieträger; darunter fallen Tode durch Unfälle und Luftverschmutzung, nicht aber durch Klimawandel. Die Zahlen zu Atomenergie beinhalten die Reaktorunfälle von Tschernobyl und Fukushima; die Spanne resultiert aus unterschiedlichen Schätzungen zu den langfristigen Auswirkungen von schwach radioaktiver Strahlung. Mehr dazu finden Sie auf www.whatweowethefuture.com/notes. Schätzungen zu anderen Energieträgern stammen aus Europa.

Die Dekarbonisierung – der Umstieg von fossilen Brennstoffen auf saubere Energieträger – kommt daher nicht nur langfristig dem Klima zugute, sondern auch kurzfristig der Gesundheit aller Menschen. Allein dieser gesundheitliche Nutzen rechtfertigt schon den schnellen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen.48

Die Dekarbonisierung ist demnach ein Gewinn für alle, denn sie verbessert die Lebensqualität auf kurze und auf lange Sicht. Die Förderung sauberer Energiequellen wie Sonne, Wind, Kernfusion und so weiter ist aber auch in anderer Hinsicht ein Gewinn. Weil sie die Energieproduktion verbilligt, hebt sie den Lebensstandard in armen Ländern. Weil sie die fossilen Brennstoffe im Boden lässt, verringert sie die Gefahr eines endgültigen Zusammenbruchs der Zivilisation, die ich in Kapitel 6 erörtern werde. Und weil sie den technischen Fortschritt voranbringt, verringert sie das Risiko einer langfristigen Stagnation, auf die ich in Kapitel 7 eingehe. Ein mehrfacher Gewinn also.

Außerdem wird durch die Dekarbonisierung das langfristige Denken bestätigt. Die Erschließung sauberer Energiequellen bringt so viele Vorteile, und es gibt auf diesem Gebiet noch so viel zu tun, dass man sie als Maßstab für andere langfristige Aktivitäten verwenden kann. Damit liegt die Latte sehr hoch.

Aber das ist nicht die einzige Möglichkeit, Einfluss auf die weiter entfernte Zukunft zu nehmen. Der Rest dieses Buchs zeigt systematisch, wo und wie wir die Zukunft positiv beeinflussen können und dass moralischer Wandel, der weise Umgang mit Künstlicher Intelligenz, die Verhinderung von Pandemien und die Vermeidung technischer Stagnation mindestens ebenso wichtig sind, auch wenn sie oft übersehen werden.

Unser Moment in der Geschichte

Der Gedanke, dass wir Einfluss auf die weit entfernte Zukunft nehmen könnten und dabei so viel auf dem Spiel steht, könnte Ihnen verrückt vorkommen. So ging es zumindest mir.49

Doch die Verrücktheit des langfristigen Denkens hat nichts mit seinem moralischen Ausgangspunkt zu tun, sondern damit, dass wir in einer außergewöhnlichen historischen Epoche leben.50

Wir leben in einer Ära ungewöhnlicher Umwälzungen. Dazu müssen wir uns nur das weltweite Wirtschaftswachstum ansehen, das in den letzten Jahrzehnten bei durchschnittlich 3 Prozent im Jahr lag.51 Das ist historisch ohne jedes Beispiel. Während der ersten 290000 Jahre der Menschheitsgeschichte war das globale Wirtschaftswachstum pro Jahr nahe null, im Zeitalter der Landwirtschaft stieg es auf 0,1 Prozent, und erst seit Beginn der industriellen Revolution hat es an Fahrt aufgenommen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten wuchs die Weltwirtschaft um mehr als 2 Prozent pro Jahr. Anders ausgedrückt: Um 12000 v. Chr. brauchte die Weltwirtschaft viele Jahrhunderte, um ihr Volumen zu verdoppeln. Für die letzte Verdoppelung waren dagegen gerade mal 19 Jahre nötig.52 Doch nicht nur die Wirtschaft legt ein historisch einmaliges Tempo vor, sondern auch unser Energieverbrauch, unsere Treibhausemissionen, die Veränderung der Landnutzung, der wissenschaftliche Fortschritt und möglicherweise auch der moralische Wandel.53

Wir wissen also, dass die Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit eine außergewöhnliche Epoche ist. Aber sie ist es auch im Vergleich zur Zukunft. Die Veränderungen können nicht mit diesem Tempo weitergehen, selbst dann nicht, wenn wir die Energiegewinnung von fossilen Energieträgern befreien oder zu den Sternen aufbrechen. Sehen wir uns nur einmal an, was passieren würde, wenn die Wirtschaft jährlich weiterhin um nur 2 Prozent pro Jahr wachsen würde.54 Bei diesem Tempo wäre die Wirtschaft in 10000 Jahren 1086-mal so groß wie heute, das heißt, sie müsste das 100-Billionen-Billionen-Billionen-Billionen-Billionen-Billionen-Billionen-Fache dessen produzieren, was sie heute produziert. Im Umkreis von 10000 Lichtjahren um die Erde gibt es weniger als 1067 Atome.55 Wenn die Wirtschaft also noch 10000 Jahre lang mit dem heutigen Tempo wachsen würde, dann müsste sie für jedes Atom, auf das sie theoretisch Zugriff hat, das 10-Millionen-Billionen-Fache des heutigen Wertes produzieren. Wir können zwar nicht in die Zukunft blicken, doch das scheint unmöglich.56

Grafik 1.5 Wirtschaftsleistung seit Beginn unserer Zeitrechnung.

Die Menschheit könnte noch Millionen oder gar Milliarden Jahre überdauern. Aber die heutigen Wachstumsraten lassen sich nur ein paar Jahrtausende lang aufrechterhalten. Und allein das bedeutet, dass wir in einem außergewöhnlichen Kapitel der Menschheitsgeschichte leben. Verglichen mit der Vergangenheit und der Zukunft, erleben wir in diesen Jahrzehnten wirtschaftliche und technische Veränderungen in außergewöhnlichem Umfang. Und einige dieser Veränderungen – die Erfindung des Verbrennungsmotors, der Atombombe, von Krankheitserregern aus dem Reagenzglas und der Künstlichen Intelligenz – könnten gewaltige Auswirkungen für die gesamte Zukunft der Menschheit haben.

Doch nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderungen macht die Gegenwart zu einer außergewöhnlichen Zeit. Wir sind auch so intensiv miteinander vernetzt wie nie zuvor.57 50000 Jahre lang lebte die Menschheit zersplittert in kleinen Gruppen, und die Menschen in Afrika, Europa, Asien oder Australien hatten schlicht keine Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren.58 Zwischen 100 v. Chr. und 150 n. Chr. lebten jeweils etwa 30 Prozent der Weltbevölkerung im Römischen Reich und im Chinesischen Han-Reich, doch die beiden wussten kaum etwas voneinander.59 Selbst innerhalb eines Reichs hatten die Menschen nur sehr begrenzte Möglichkeiten, über weitere Entfernungen miteinander in Austausch zu treten.

Sollten wir in Zukunft zu den Sternen aufbrechen, wird sich die Menschheit ein weiteres Mal aufsplittern. Unsere Milchstraße ist wie ein Inselreich, in der unendlichen Leere des kalten Weltraums liegen verstreut einige winzige Punkte der Wärme. Wenn unsere Galaxie so groß wäre wie die Erde, dann hätte unser Sonnensystem einen Durchmesser von zehn Zentimetern und wäre einige Hundert Meter von seinem nächsten Nachbarn entfernt. Die Kommunikation zwischen Galaxien würde Hunderttausende von Jahren benötigen, und selbst zwischen einer einfachen Frage und ihrer Antwort zwischen uns und dem nächstgelegenen Sonnensystem würden fast neun Jahre vergehen.60

Wenn sich die Menschheit weit genug ausbreitet und lange genug überlebt, könnte die Kommunikation zwischen den verschiedenen Teilen der Zivilisation irgendwann unmöglich werden. Das Universum besteht aus Millionen Galaxiengruppen.61 Unsere eigene firmiert unter der einfachen Bezeichnung »lokale Gruppe«. Die Galaxien innerhalb einer Gruppe liegen so dicht beieinander, dass sie von der Schwerkraft für immer zusammengehalten werden.62 Doch mit der weiteren Ausdehnung des Weltalls werden die Gruppen irgendwann auseinandergerissen werden. In 150 Milliarden Jahren werden sie so weit voneinander entfernt sein, dass nicht einmal mehr das Licht von einer Gruppe zur anderen gelangt.63

Da wir in einer derart außergewöhnlichen Zeit leben, haben wir außergewöhnliche Möglichkeiten, die Zukunft zu gestalten. Nur wenige Menschen werden je eine solche Gelegenheit bekommen, etwas Positives zu bewirken. Angesichts der raschen Umwälzungen in Technik, Gesellschaft und Umwelt haben wir größeren Einfluss darauf, wo die wichtigsten Veränderungen stattfinden und wie sie aussehen werden, etwa bei Technologien, die negative Werte zementieren oder unser Überleben in Gefahr bringen. Aufgrund der aktuellen Vereinigung der menschlichen Zivilisation haben kleine Gruppen die Gelegenheit, Einfluss auf das Ganze zu nehmen. Neue Ideen bleiben nicht auf einen einzigen Kontinent beschränkt, sondern verbreiten sich um den gesamten Erdball, und zwar nicht innerhalb von Jahrhunderten, sondern in Sekundenschnelle.

Weil diese Veränderungen noch so frisch sind, haben sie uns aus dem Gleichgewicht gebracht: Die Gesellschaft hat sich noch nicht wieder gesetzt, und wir können noch Einfluss darauf nehmen, in welchem Zustand sie sich setzen wird. Stellen Sie sich einen riesigen Ball vor, der rasch über holprigen Untergrund rollt. Irgendwann wird er langsamer und bleibt in einer Vertiefung liegen. Die Zivilisation ist wie dieser Ball: Solange sie noch in Bewegung ist, reicht ein kleiner Stoß, um Einfluss darauf zu nehmen, in welche Richtung sie sich bewegt und wo sie schließlich zur Ruhe kommt.

KAPITEL 2 Wir können den Lauf der Geschichte beeinflussen

Wie die Vorgeschichte auf die Gegenwart wirkt

Seit Zehntausenden von Jahren treffen Menschen Entscheidungen, mit denen sie langfristig auf die Zukunft wirken. Warum gibt es zum Beispiel in Afrika deutlich mehr Großsäugetiere – Elefanten, Giraffen und so weiter – als auf den anderen Kontinenten?1 Man könnte nun vermuten, dass das der besonderen Umwelt Afrikas geschuldet ist, doch das wäre ein Irrtum. Vor 50000 Jahren gab es überall auf dem Planeten eine Fülle von großen Säugetieren.

Zum Beispiel die Glyptodonten, eine Familie von gürteltierähnlichen Pflanzenfressern, die viele Millionen Jahre lang in Südamerika heimisch war.2 Die größten Vertreter dieser Familie hatten die Dimensionen eines Kleinwagens.3 Sie trugen einen gewaltigen Panzer und einen Knochenhelm, und einige hatten keulenförmige und mit Stacheln bewehrte Schwänze.4 Sie sahen aus wie als Ritter verkleidete Riesenwasserschweine. Die Tiere starben vor 12000 Jahren aus.5

Ein anderes Beispiel ist das Megatherium, ein Riesenfaultier, das es in der Größe mit einem Elefanten aufnehmen konnte.6 Es starb vor 12 500 Jahren aus.7 Oder das Notiomastodon aus der Ordnung der Rüsseltiere, das vor 2 Millionen Jahren aufkam und vor 10000 Jahren ausstarb.8 Oder der Aenocyon dirus, der größte bekannte Vertreter der Familie der Hunde, der vor 13000 Jahren verschwand, nachdem seine pflanzenfressenden Beutetiere ausgestorben waren.9 All diese Arten lebten in Südamerika, genau wie viele andere, die es heute nicht mehr gibt.

Grafik 2.1 Einige ausgestorbene Riesensäugetiere im Größenvergleich mit dem modernen Menschen.

Die Ursachen für das Aussterben der Riesensäugetiere werden heftig diskutiert. Einige Wissenschaftler halten klimatische Veränderungen für den Hauptgrund, andere sehen den Menschen als Schuldigen, wieder andere eine Mischung aus Mensch und Klima.10 Meiner Ansicht nach hat es keinen Zweck zu leugnen, dass in den meisten Fällen der Mensch die Verantwortung trägt: Die meisten der Großsäugetierarten hatten bereits Dutzende ähnlicher Klimaschwankungen überlebt;11 kleinere Arten waren nicht annähernd so stark betroffen wie die großen,12 und das Aussterben dieser Arten fällt just mit der Ankunft des Menschen in ihrem Lebensraum zusammen.13 Der Klimawandel mag sein Scherflein beigetragen haben, doch den Ausschlag gab der Mensch, der die Tiere jagte und in ihre natürliche Umwelt eingriff. In Afrika entwickelten sich die Großsäugetiere dagegen gleichzeitig mit dem Menschen, weshalb sie sich dort besser auf das Raubtier Homo sapiens einstellen konnten.

Die Ausrottung dieser Riesensäugetiere veränderte die Welt auf unumkehrbare Weise, und verantwortlich war der Mensch mit seiner damals noch sehr primitiven Technik. Zahlreiche einzigartige Spezies gingen für immer verloren. Doch der Homo sapiens machte nicht nur Riesenfaultieren und Hunden den Garaus, sondern wahrscheinlich auch seinen nächsten Verwandten, den Neandertalern und den Denisovanern, die offenbar im Konkurrenzkampf unterlagen und durch Vermischung im Homo sapiens aufgingen.14 Deshalb gibt es heute nur noch einen einzigen Vertreter der Gattung Homo und nicht wie einst mehrere.

Aber auch andere Entscheidungen unserer frühen Vorfahren hatten weitreichende Konsequenzen. Die ersten Bauern brannten zum Beispiel großflächig Wälder nieder, um ihre Felder anzulegen.15 Diese vorindustrielle Brandrodung hatte Folgen, die bis heute spürbar sind: Da sich das Kohlendioxid so lange in der Atmosphäre hält, trugen schon sie geringfügig zur Erwärmung des Planeten bei.16

Genau wie die Jahrtausende zurückliegenden Entscheidungen unserer Vorfahren die Gegenwart prägen, so beeinflussen wir mit unseren heutigen Entscheidungen die viele Jahrtausende entfernte Zukunft. Aber um die langfristige Sichtweise zu rechtfertigen, reicht es noch nicht aus, dass unsere Entscheidungen Auswirkungen auf die Zukunft haben – wir müssen diese Auswirkungen auch in ausreichenden Maße vorhersehen können. Dazu brauchen wir sie nicht in jeder Einzelheit abzusehen – das wäre ja auch unmöglich. Aber wenn wir die Zukunft lebenswerter machen wollen, dann müssen wir Maßnahmen identifizieren, die über sehr lange Zeiträume hinweg positiv nachwirken könnten.

Unsere frühen Vorfahren waren nicht in der Lage, ihren langfristigen Einfluss auf den Planeten vorherzusehen. Die Jäger wussten nicht, dass sie andere Tiere ausrotteten. Und die ersten Bauern hatten keine Ahnung, dass sie zur Erwärmung des Planeten beitrugen und was das bedeutete.

Aber wir Heutigen wissen es besser. Natürlich gibt es noch viele Zusammenhänge, die wir nicht verstehen, doch in den zurückliegenden Jahrhunderten haben wir eine Menge dazugelernt. Wenn die ersten Bauern über unser heutiges Wissen der Klimaphysik verfügt hätten, dann hätten sie eine Vorstellung von den geophysischen Folgen der Brandrodung gehabt; wenn die Wildbeuter über unsere ökologischen und evolutionsbiologischen Kenntnisse verfügt hätten, dann hätten sie verstanden, was die Ausrottung einer Art bedeutet und welcher Verlust damit einhergeht. Mit sorgfältiger Forschung und aller gebotenen Bescheidenheit können wir heute die Auswirkungen unseres Handelns über sehr lange Zeiträume hinweg vorhersehen.

In diesem Kapitel stelle ich ein Analyseinstrument vor, mit dessen Hilfe Sie die langfristige Bedeutung eines Ereignisses einschätzen können. Dieses Instrument wende ich in den folgenden Kapiteln zur Bewertung von Ereignissen an, die wir meiner Ansicht nach beeinflussen können, um die Zukunft besser und lebenswerter zu machen.

Wie wir die Zukunft einschätzen können

Stellen wir uns einen Zustand vor, den die Menschheit herbeiführen könnte, zum Beispiel die Nichtexistenz von Riesengürteltieren. Diesen neuen Zustand können wir anhand von drei Faktoren bewerten: Tragweite, Dauer und Kontingenz.17

Tragweiteist der durchschnittliche Wert, der durch einen bestimmten Zustand hergestellt wird. Um wie viel schlechter ist die Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt, weil es das Riesengürteltier nicht mehr gibt? Dazu müssen wir alle relevanten Aspekte des Aussterbens des Riesengürteltiers einbeziehen: den Verlust der Art für den Planeten; den Verlust für die Menschen, die den Panzer des Riesengürteltiers verwendeten und sein Fleisch verzehrten; und die Folgen für die Ökosysteme, in denen es lebte.

Die Dauereines Zustands ist der Zeitraum, über den dieser Zustand bestehen bleibt, nachdem er sich einmal eingestellt hat. Die Nichtexistenz des Riesengürteltiers ist von ungewöhnlich langer Dauer: Sie begann vor 12000 Jahren und wird bis zum Ende des Universums fortdauern18 – es sei denn, es sollte uns gelingen, die Art wieder zum Leben zu erwecken.

Mithilfe der Technik könnte das sogar möglich werden. Heute werden Anstrengungen unternommen, ausgestorbene Arten wie das Mammut wiederzubeleben, indem man Erbgut aus ihren Überresten entnimmt und in die Zellen moderner Verwandter wie der Elefanten implantiert.19 Doch selbst wenn diese Versuche gelingen sollten, würden sie nicht das ursprüngliche Tier wiederauferstehen lassen, sondern nur einen Hybriden hervorbringen: ein Wesen, das gewisse Ähnlichkeit mit dem ausgestorbenen Tier hätte, aber genetisch nicht identisch wäre. Sollten künftige Generationen versuchen, das Riesengürteltier zurückzubringen, stünden sie vor ähnlichen Herausforderungen.

Die dritte und letzte Dimension unseres Analyseinstruments ist die Kontingenz. Sie ist der subtilste Aspekt. »Kontingenz« ist ein philosophischer Begriff mit zahllosen Bedeutungen, aber ich verwende ihn hier im Sinne der »Nicht-Unvermeidlichkeit« oder »Situationsbedingtheit«. Die Kontingenz sagt etwas darüber aus, inwieweit ein bestimmter Zustand von einigen wenigen konkreten Umständen abhängig ist. Wenn etwas sehr kontingent ist, dann wäre diese Veränderung ohne ein bestimmtes Ereignis für sehr lange Zeit nicht eingetreten, wenn überhaupt. Die Existenz des Romans Jane Eyre ist zum Beispiel sehr kontingent: Wenn Charlotte Brontë ihn nicht geschrieben hätte, dann wäre exakt dieser Roman so nie von jemand anderem geschrieben worden, und es gäbe ihn heute nicht. Die Landwirtschaft ist dagegen weniger kontingent, denn sie entstand mehrmals und unabhängig voneinander an mehreren Orten.

Und wenn ein Zustand sehr nichtkontingent ist, wenn er also nicht sonderlich abhängig von bestimmten Umständen ist, dann wäre er früher oder später ohnehin eingetreten, auch ohne das Zutun von konkreten Menschen. Die Infinitesimalrechnung war beispielsweise nicht in hohem Maße kontingent, denn Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton entwickelten sie unabhängig voneinander im Abstand von nur wenigen Jahren. Wir dürfen die Kontingenz also nicht außer Acht lassen, denn wenn man eine Veränderung herbeiführt, die sich früher oder später ohnehin eingestellt hätte, hat man langfristig nichts bewegt.

Auch wenn wir nichts Genaues sagen können, würde ich vermuten, dass die Ausrottung der Riesengürteltiere nicht sonderlich kontingent war. Selbst wenn die Jäger damals das letzte Exemplar verschont hätten, hätten andere es vermutlich wenig später getötet. Um die Ausrottung der Riesengürteltiere zu verhindern, hätten diese Jäger eine Norm aufstellen müssen, die die Riesengürteltiere unter Schutz stellte, und ihre Nachfahren hätten diese Norm über Generationen hinweg bis heute weiterreichen und einhalten müssen. Das wäre zwar nicht unmöglich, doch in der Praxis recht schwierig gewesen.

Aus der Multiplikation von Tragweite, Dauer und Kontingenz ergibt sich der langfristige Wert einer bestimmten Handlung. Auf diese Weise können wir sehr einfach Vergleiche zwischen den langfristigen Auswirkungen von unterschiedlichen Handlungen anstellen. Wenn beispielsweise Handlung A zehnmal so dauerhaft ist wie Handlung B, aber Handlung B achtmal so weitreichend, dann wiegt Handlung A schwerer. Aufgrund des immensen möglichen Maßstabs der Zukunft – wir sprechen von Millionen, Milliarden oder vielleicht sogar Billionen von Jahren – sollten wir als Erstes fragen, welche Zustände am dauerhaftesten sind. Erst dann können wir über Tragweite und Kontingenz nachdenken.

Tabelle 2.1 Tragweite, Dauer und Kontingenz

Tragweite

Welcher durchschnittliche Wert wird geschaffen, wenn ein bestimmter Zustand herbeigeführt wird?

Dauer

Wie lange hält sich dieser Zustand, nachdem er herbeigeführt wurde?

Kontingenz

Hätte sich dieser Zustand auch von selbst eingestellt, und wenn ja, wie lange hätte es gedauert?

Mehr dazu finden Sie in Anhang 3.

Um zu sehen, wie wir diese Analyseinstrumente heute bei unserer Entscheidungsfindung einsetzen können, kehren wir zum Bild der Menschheit als leichtsinnige Teenager zurück. Wenn Sie sich Ihre eigene Jugend anschauen, welche Entscheidungen waren dann die wichtigsten? Vermutlich die dauerhaftesten, die in Ihrem bisherigen Leben nachwirken; die weitreichendsten, die ein besonderen Einfluss auf Ihr Wohlergehen hatten und haben; und die kontingentesten, mit denen Sie etwas bewirkt haben, das sich nicht irgendwann von selbst eingestellt hätte.

Einige der Entscheidungen aus meiner Jugend hatten keinerlei bleibende Folgen: Meine Freizeitpläne für ein Wochenende wirkten sich auf diese zwei Tage aus, hatten aber keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf meines Lebens. Andere Entscheidungen waren wenig kontingent. Wie die meisten Jugendlichen war ich besonders scharf auf »erste Male« – das erste Bier, der erste Sex. Aber diese Ereignisse wären früher oder später ohnehin eingetreten, und im Rückblick weiß ich, dass der genaue Zeitpunkt zweitrangig war. Und andere Ereignisse, die zwar dauerhaft und kontingent waren, hatten langfristig kaum Tragweite. So entschied ich mich zum Beispiel gegen eine Zahnspange, weil ich der Ansicht war, dass eine Zahnlücke Glück bringt. Die Lücke habe ich bis heute, aber soweit ich das beurteilen kann, hat sie sich nicht auf mein Glück ausgewirkt.

Andere Entscheidungen hatten dagegen großes Gewicht. Ich war auch so ein leichtsinniger Teenager und kletterte gern an Hausfassaden herum. Beim Abstieg von einem Hoteldach in Glasgow trat ich mal auf ein Oberlicht und brach ein. Zwar konnte ich mich auf Hüfthöhe noch abfangen, doch die Scherben zerschnitten mir die Seite. Meine inneren Organe blieben zum Glück verschont, doch wenn ich tiefer gefallen wäre oder die Scherben meinen Darm durchbohrt hätten, dann hätte das meinen Tod bedeuten können. Geblieben ist mir eine acht Zentimeter lange und fast anderthalb Zentimeter breite Narbe. Wäre dieser Abend mein letzter gewesen, wäre der ganze Rest meines Lebens ausgefallen. Meine Entscheidung, an Gebäuden zu klettern, hatte daher eine immense Tragweite und war eine der risikoreichsten (und dümmsten), die ich je getroffen habe.