Was wirkt in der Psychotherapie? - Bernhard Strauß - E-Book

Was wirkt in der Psychotherapie? E-Book

Bernhard Strauß

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Beschreibung

Dass Psychotherapie ein wirkungsvolles Angebot ist, um psychische und psychosoziale Probleme zu bearbeiten, das lässt sich seit mehr als hundert Jahren zeigen. Auch die heutige Therapieforschung kann viel Hilfreiches belegen. Große Kontroversen gibt es allerdings bis heute, welche Methode die beste ist. Wie wichtig ist die Wahl der Methoden wirklich? In diesem Gespräch sitzt ein Vertreter der analytischen und psychodynamischen Ausrichtung und eine Vertreterin der Verhaltenstherapie zusammen und reden darüber, was über die therapeutische Wirkung bekannt ist, warum Psychotherapie wirkt und welche Rolle die Entscheidung junger Therapeuten und Therapeutinnen für eine Schulenwahl spielt. Ganz gelassen können beide konstatieren, dass die Wahl der Methode gar nicht so bedeutsam und ohnehin von vielen Zufällen in den Biografien von Therapeutinnen/Therapeuten abhängig ist. Trotzdem plädieren beide entschieden dafür, dass therapeutische Arbeit ohne eine solide theoretische Basis nicht zu Erfolgen führen kann. So streicht dieses Gespräch heraus, dass es vermutlich die Allgemeinen Wirkfaktoren sind, die die größte Bedeutung für den therapeutischen Erfolg ausmachen und dass das teilnehmende und sensible »Engagement« des Therapeuten/der Therapeutin und eine daraus resultierende gute Beziehungsarbeit sogar therapeutische Fehler auszugleichen vermag.

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Herausgegeben von Uwe Britten

Bernhard Strauß/Ulrike Willutzki

Was wirkt in derPsychotherapie?

Bernhard Strauß und Ulrike Willutzkiim Gespräch mit Uwe Britten

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.com

Texterfassung: Regina Fischer, Dönges

Korrektorat: Edda Hattebier, Münster; Anne Katrin Bläser, Bonn

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-753X

ISBN 978-3-647-90119-0

Inhalt

Theorien

Theorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie

Die Annäherung der Konzepte

Wirkmodelle

Unbewusste Funktionen verstehen

Was bleibt von den bisherigen Modellen?

Moderne Wirkungsforschung

Was wirkt wann, wie und warum?

Wirkung messen und beweisen

Die Wertigkeit der Allgemeinen Wirkfaktoren

Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung

Selbstzweifel von Psychotherapeuten

Wirkung durch Bindung?

Zufall und Kontingenz

Zufallskomponenten in Ausbildung und Methodenorientierung

Wirkung per Bildschirm

Ausgewählte Literatur

Im Dezember 2017 treffen sich in den Räumen der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie Ulrike Willutzki und Bernhard Strauß in Berlin, um über Wirkungstheorien der Psychotherapie zu diskutieren. Brisant wird dieses Thema im Fach immer dann, wenn die Wirkung und ihre Nachweise auf die einzelnen Therapierichtungen bezogen werden. Dann nehmen die einen für sich in Anspruch, was ihnen von anderen in Abrede gestellt wird.

Dass Psychotherapie bei psychischen und psychosozialen Problemen hilft, gilt heute als unbestritten, ebenfalls gelten einige Grundannahmen, wie sie schon Sigmund Freud aufstellte, auch nach mehr als hundert Jahren immer noch. Trotzdem gibt es sowohl auf der Ebene der Wirkungstheorien als auch auf der therapeutisch-praktischen Ebene weiterhin große Differenzen darüber, wie angemessen und wirkungsvoll die einzelnen therapeutischen Ansätze wirklich sind – und vor allem: wie sich das belegen ließe.

Bei aller Differenz und trotz so mancher Streitschrift zeichnet sich eins jedoch ab: Die therapeutischen Schulen nähern sich an. Nur, was folgt eigentlich daraus?

Prof. Dr. Bernhard Strauß, Jahrgang 1956, ist Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker und seit 1996 am Universitätsklinikum der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, zunächst als Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie. Seit 2004 vertritt er die Fächer Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und leitet das Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind unter anderem die Bindungsforschung, die Sexualwissenschaft und die (Gruppen-)Psychotherapieforschung.

Bernhard Strauß ist von mehreren Therapieschulen geprägt und hat zudem zahlreiche empirische Studien zur Psychotherapie durchgeführt. Im Jahr 2013 veröffentlichte er gemeinsam mit Michael Linden die Aufsatzsammlung »Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie« und plädierte für eine enttabuisierte Diskussion unerwünschter Wirkungen und Nebenwirkungen von Psychotherapie.

Das Thema »Bindung« und die Bindungsforschung nutzt Strauß auch für die Psychotherapie selbst. Das Bindungskonzept und seine heutige Berücksichtigung innerhalb der Therapeut-Klient-Beziehung hat er in seinem Buch »Bindung« (2014) vorgestellt und gab ferner zusammen mit Henning Schauenburg den Überblicksband »Bindung in Psychotherapie und Medizin: Grundlagen, Klinik und Forschung – Ein Handbuch« (2017) heraus.

Prof. Dr. Ulrike Willutzki, Jahrgang 1957, ist ebenfalls Psychologische Psychotherapeutin sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Von 1986 bis 2013 hat sie an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität in Bochum gearbeitet; von 1998 bis 2013 war sie zugleich Co-Leiterin des Zentrums für Psychotherapie in Dortmund. Seit 2013 hat sie an der Universität Witten/Herdecke den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie inne.

Ulrike Willutzki ist kognitive Verhaltenstherapeutin, versteht sich zudem als Systemikerin und hat sich langjährig in Psychodrama weitergebildet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Psychotherapeutenforschung und der sozialen Ängste. Zudem hat sie sich der Ressourcenorientierung als einem generellen Wirkfaktor der Psychotherapie in zahlreichen Aufsätzen und Studien gewidmet.

Im Jahr 2013 veröffentlichte sie hierzu zusammen mit Tobias Teismann das Buch »Ressourcenorientierung in der Psychotherapie«, in dem sie einmal mehr für eine entschiedene Aufwertung der Ressourcen des Klienten und ihre Bedeutung im Therapieprozess plädiert, und zwar ganz unabhängig vom jeweiligen Verfahren. Vielmehr solle die Ressourcenorientierung viel stärker in die Haltung der Therapeutinnen und Therapeuten eingehen.

THEORIEN

»Das Wichtige an der psychotherapeutischen Wissenschaft und Forschung ist, glaube ich, etwas ganz Banales, nämlich trotz der Arbeit an theoretischen Konzepten am primären Ziel psychotherapeutischer Behandlungen festzuhalten, dass es den Patienten besser gehen soll, das heißt, die Symptome zu reduzieren und die Lebenszufriedenheit zu erhöhen.«

Bernhard Strauß

Theorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie

Frau Willutzki, im Mittelalter wurde aufgrund der Vier-Säfte-Theorie empfohlen, nur bestimmte Lebensmittel und Getränke zu kombinieren und Nahrungsmittel vor dem Essen zu zerkleinern. Diese Theorie hatte gleich mehrere Komponenten, die durch und durch falsch waren, die Folgerungen allerdings, beispielsweise Lebensmittel zerkleinert zu sich zu nehmen, waren durchaus richtig, etwa im Sinne der besseren Verdaulichkeit. Dass man dem cholerischen Menschentyp empfahl, schwächer zu würzen – damals wurde viel heftiger gewürzt als heute –, hatte bei so manchem ebenfalls positive Folgen: Sie tranken weniger, nämlich Bier, das damals ein zu jeder Mahlzeit gehörendes Lebensmittel war, sodass die emotionale Kontrolle nicht so schnell verloren ging.

Ist das das übliche Schicksal ausformulierter Theorien: falsch zu sein und lediglich eine Winzigkeit zu enthalten, die länger überdauert?

WILLUTZKI Wahrscheinlich schon. Inzwischen gehen wir in der Regel von multikausalen Modellen aus, die natürlich das Schicksal solcher einfachen Theorien nicht so schnell ereilen kann, ganz einfach deshalb, weil man Zusatzannahmen immer noch einbauen kann. Wir haben zudem heutzutage probabilistische Modelle, das heißt, für den Einzelfall muss nichts gelten, sodass es natürlich viel, viel schwieriger ist, zu sagen, etwas sei definitiv falsch. Vielmehr stellt sich etwas aus einer bestimmten Perspektive so dar, sodass sich unterschiedliche Ansätze perspektivisch ergänzen.

Das finde ich eigentlich an der Psychologie auch interessant und reizvoll, dass man eben mit verschiedenen Brillen auf dieselben Gegenstände blickt beziehungsweise dass man ergänzend auf diese Gegenstände sieht, nur eben mit verschiedenen Instrumentarien. Ich weiß nicht, wie man multikausale Modelle und damit auch den Kausalitätsbegriff falsifizieren kann, denn prinzipiell sind diese ja offen für alle möglichen Einflussgrößen. Wir können alle möglichen Kausalannahmen aufnehmen, Monokausalität haben wir schon längst aufgegeben. Wenn wir zum Beispiel auf systemische Modelle sehen, dann würden wir etwa von Selbstorganisationsprozessen ausgehen, auf die sich bestimmte Einflüsse auswirken und die wiederum innerhalb des Systems unterschiedliche Bedeutung haben. Das ist jetzt erst mal sehr abstrakt, ich weiß.

STRAUSS Mir fiel bei den Körpersäften auch gleich die Psychoanalyse ein, für die man etwas Ähnliches konstruieren kann. Es ist eine alte Theorie, die hauptsächlich Sigmund Freud entwickelt hat und für die man heute die Frage stellen kann: Was ist davon noch übrig? Ich glaube, die frühe Psychoanalyse ist ein gutes Beispiel für eine Therapietheorie, bei der man heute wahrscheinlich vieles so nicht mehr sehen würde wie vor hundertzwanzig Jahren. Trotzdem gibt es eine Quintessenz alter Theorien: Bei der Vier-Säfte-Theorie ist dies, dass es eben unterschiedliche Formen von Charakteren gibt, die man heute nicht mehr mit Körpersäften erklärt, sondern eher lerngeschichtlich, genetisch, wie auch immer. Und so kann man, glaube ich, heute auch für die »alte« psychoanalytische Theorie sagen, dass Grundprinzipien noch heute eine Bedeutung haben, etwa die Rolle des Unbewussten, die Rolle der persönlichen Entwicklung, die Entwicklung von Psychopathologien und anderes.

Freud hatte natürlich im Rahmen seiner Erkenntnismöglichkeiten, die damals noch sehr begrenzt waren, sowohl was die Psychologie als auch was die Biologie anbelangt, einen ganz bestimmten Blick und saß Irrtümern auf. Das muss man sich einfach vor Augen halten. Manches ist peu à peu fortgeführt worden, anderes wurde revidiert von späteren Theoretikern. Die heutige psychoanalytische Behandlungs- und Psychotherapie-theorie lässt sich eigentlich gar nicht mehr mit dem vergleichen, was vor hundertzwanzig Jahren mal der Kern des Ganzen war.

Ich fürchte, dass manche Ihrer Kolleginnen und Kollegen toben werden, wenn sie das lesen.

STRAUSS Natürlich, das ist mir durchaus bewusst. Aber das ist doch das Schicksal von Theorien ganz allgemein, dass sie auf Paradigmen aufbauen, die irgendwann unhaltbar werden, auch wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft so konstituiert ist, dass sie Paradigmen sehr lange aufrechterhält, selbst wenn es schon ganz viel Evidenz gibt, die gegen das Paradigma spricht. Irgendwann kommt es zu einem Wechsel des Paradigmas, was in der Geschichte der Psychoanalyse schon ein paarmal eingetreten ist, natürlich gegen viel Widerstand.

Ich habe hautnah miterlebt, wie in den Achtzigerjahren plötzlich die Säuglingsforschung und deren Befunde die Psychoanalytiker gezwungen haben, sich von ganz vielen Konzepten schlichtweg zu verabschieden. Das hat lange gedauert und es haben auch viele aufgeheult, aber ich glaube, dass das heute relativ akzeptiert ist und wir da ein neues Paradigma haben, das eben von einem »kompetenten« und aktiven Säugling ausgeht. Ich verweise etwa auf die Veröffentlichungen von Martin Dornes.

WILLUTZKI Ein anderes Problem ist die Normativität dieser Ansätze oder diese Verabsolutierung einzelner Zugänge. Ich glaube, das wird der komplexen Realität nie gerecht. Wenn jemand behauptet, er wisse definitiv etwas, und schließt sich damit gegenüber anderen Perspektiven ab, dann wird man einem Gegenstand nicht gerecht, insbesondere nicht einem psychischen und psychosozialen Geschehen.

Trotzdem finden wir das oft.

WILLUTZKI Ein Problem ist dabei, dass Sprache immer nur eines sagen kann: Sprache ist linear, ich kann nicht gleichzeitig mehrere Dinge sagen, und es gibt in ihr eigentlich keinen Raum für multikausale Perspektivität, insbesondere was zeitliche Verläufe und Strukturen betrifft. Indem ich das eine sage, schließe ich scheinbar das andere aus, weil ich es nicht sage. Dadurch hört sich vieles tendenziell verabsolutierend und ausschließend an. Oft ist das aber nicht so gemeint. Da scheitern wir wissenschaftlich manchmal auch an den Möglichkeiten, die uns unsere Sprache zur Verfügung stellt.

STRAUSS Das hat wahrscheinlich viele Gründe. Ein weiterer Grund ist ein wissenschaftssoziologischer, dass sich nämlich gewisse wissenschaftliche Gemeinschaften und Subgruppen bilden, die sich dadurch stabilisieren, dass sie eine solch enge Identität brauchen und auch konstituieren. Je mehr eine dieser Subgruppen in Bedrängnis gerät und kritisiert wird, desto mehr wird diese Identität verfestigt und manchmal geradezu radikal fanatisch. Farhad Dalal hat darüber ein gutes Buch geschrieben. Das ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt in diesem Feld. Dann kommen noch generelle Haltungen zu wissenschaftlichen Befunden dazu und zu der Frage, wie dialogbereit man im Hinblick auf andere Konzepte ist. Das alles ist schon auch ein starkes Resultat der Konstituierung von Wissenschaften, sofern man Psychotherapie im klinischen Sinne mal zu den Wissenschaften dazurechnet.

Wir müssen immer vieles andere noch mit in Rechnung stellen.

STRAUSS Ja, das alles ist sehr komplex und hat nicht nur mit sachlichen Erkenntnissen zu tun.

WILLUTZKI Genau, ja, das Wissenschaftssoziologische spielt eine große Rolle. Wenn sich jemand einmischt in den Diskurs, dann besteht die Notwendigkeit, damit er gehört wird, dass er auch etwas anderes sagen muss als das, was von anderen vorher gesagt wurde. Dadurch tun neue Ansätze meistens so, als wenn das, was die anderen gesagt haben, nicht mehr gelte. Um sich einen Namen zu machen mit einem bestimmten Theorieansatz muss man den oft verabsolutieren. Das führt dann natürlich zu Streit.

Herr Strauß, Sie haben die Säuglingsforschung angesprochen. Gehört zu diesem Verfall theoretischer Erklärungen auch die Ödipus-Novelle von Freud? Wenn ich bestimmte Darstellungen über die Regungen des Säuglings lese, und zwar auch noch nach seinem Geschlecht differenziert, dann habe ich den Eindruck, es wird den Säuglingen – was ich zunächst sympathisch finde – sehr viel Aktives zugeschrieben, trotzdem ist das Ganze natürlich ein erwachsener Blick auf den Säugling, der auch eine Sexualisierung hineinsieht, die man konstruktivistisch vermutlich mächtig auseinandernehmen könnte.

STRAUSS Ja, da haben Sie völlig recht. Gerade die Ödipus-Novelle ist ein gutes Beispiel für dieses Problem, über das wir hier reden. Freud hat grundsätzlich mit dieser Ödipus-Thematik schon etwas formuliert und auf den Punkt gebracht mithilfe der griechischen Mythologie, was ein ganz essenzielles Thema der menschlichen Entwicklung ist, nämlich die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt, oder meinetwegen auch mehr, dass es jedenfalls Unterschiede wie Geschlechtsunterschiede und Generationenunterschiede zwischen uns Menschen gibt. Mit diesem Umstand müssen Kinder lernen zurechtzukommen, ganz egal, wie man das nun nennt. Das war schon eine ziemlich geniale Leistung von ihm.

Freud hat das im Übrigen gar nicht so absolut gemeint, wie man das heute interpretiert. Er wollte mit dem »Ödipus-Komplex« ein Modell schaffen, an dem man sich orientieren kann, um die geschlechtliche Orientierung zu verstehen. Natürlich ist das ganz klar aus der Erwachsenenperspektive gesprochen. Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren fokussieren aufgrund ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung mehr auf erotische Aspekte ihres Körpers und auf die Körper der anderen und beginnen, so etwas wie Verführung und Verführungsfähigkeit zu entwickeln. Das wäre die allgemeinpsychologische Formulierung dessen, was Freud mit diesem Ödipus-Komplex kondensiert beschrieben hat. Man kann das streng empirisch so natürlich nicht nachweisen, dass man nun sagen könnte, alle Kinder wollten im Alter von fünf Jahren ihre Mutter heiraten und den Vater töten. Das geht einfach nicht.

Trotzdem kann man sagen: Wenn man Kinder in dem Alter beobachtet, spielt dieses Thema eine ganz zentrale Rolle. Sie zeigen sich im sozialen Kontakt stark an den Körpern der anderen interessiert und setzen sich in irgendeiner Form mit den erwachsenen Männern und Frauen auseinander. Insofern ist es, glaube ich, schon nach wie vor berechtigt, zu sagen, es sei ein Entwicklungsthema, für das das ödipale Konzept ein mögliches Modell ist. Aber es gibt andere Modelle, und man kann auch ganz allgemeinpsychologisch formulieren, dass es eben entwicklungspsychologisch um diese Thematik geht, die ich gerade skizziert habe.

Dennoch ist es natürlich im psychotherapeutischen Kontext immer wichtig, dass wir mit Denkmodellen arbeiten, die eine hohe Plausibilität haben und die zumindest zum Teil empirisch abgesichert sind, zum Teil auch nicht oder wenig, aber sie helfen uns zumindest als Handwerkszeug. Solche Modelle müssen praktikabel sein. Therapeutinnen und Therapeuten müssen sie als sinnvoll und hilfreich erleben, wenn sie in die psychotherapeutische Praxis gehen. Natürlich müssen wir uns immer bewusst sein, dass es lediglich Modelle sind und dass wir sie gegebenenfalls auch revidieren und modifizieren müssen, wenn sie eben nicht mehr zu passen scheinen.

Aber um mal nicht immer nur auf der Psychoanalyse herumzureiten: Auch ein Großteil dessen, was zum Beispiel Hans Jürgen Eysenck in seiner Persönlichkeitstheorie geschrieben hat, wird heute nicht mehr akzeptiert. Die grundsätzliche Überlegung allerdings, dass es abgrenzbare Persönlichkeitstypen gibt, die gut durch Merkmale wie Neurotizismus und andere charakterisiert werden, ist heute das gängige Modell der sogenannten Big Five und sicherlich erhalten geblieben. Vieles von dem, was er da drum herum geschrieben hat und auch bezüglich seiner problematischen politischen Ansichten, würden wir heute in die Tonne schmeißen. Für so etwas gibt es natürlich in der Geschichte der Psychologie und der Psychotherapie ganz, ganz viele Beispiele.

Wofür brauchen wir denn überhaupt psychologische Theorien?

WILLUTZKI Um Ideen über das Funktionieren von Menschen zu entwickeln, und zwar als Optionstheorien. Psychotherapeutisch geht es ja darum, sich nicht nur auf die sichtbare Oberfläche zu verlassen, sondern eben zu fragen, was hinter einem Verhalten und einer Psychodynamik stecken könnte. Wenn ich mal an Ätiologietheorien oder Aufrechterhaltungsmodelle denke, dann geht es für mich als Psychotherapeutin um die Frage: Wie akzentuiere ich das, was mir ein Patient erzählt, und wo könnten möglicherweise Punkte liegen, an denen ich etwas durch eine Intervention verändere, was wiederum das Gesamte verändert.

Nehmen wir mal eine Sozialphobie: Wenn ich annehme, dass die Selbstaufmerksamkeit eine große Rolle bei sozialen Phobien spielt, dann muss ich aus dem ganzen Sprachfluss, den mir jemand erzählt, einen Punkt identifizieren, von dem ich mir sage: Wie wäre es denn, wenn man das verändert? Ich muss eine Idee darüber entwickeln, dass sich möglicherweise das gesamte Gefüge dadurch verändern könnte. Patientinnen und Patienten müssen nicht wissen, was sie da tun, aber hoffentlich habe ich als Psychotherapeutin ein paar Ideen, an welchen Stellen ich einsteigen kann. Trotzdem bleibt es natürlich immer eine Theorie. Für den einen ist dieser Punkt wichtig, für den anderen ist ein anderer Punkt wichtiger.

Für dieses Vorgehen brauche ich als Psychotherapeutin Theorien, Modelle, die Grundlage einer für die Patientin beziehungsweise den Patienten individuellen Fallkonzeption sind. Das heißt: Wie ist die Person gestrickt, wie wirken verschiedene Probleme und Ressourcen zusammen, was ist mit der Zieldimension, welche Bedürfnisse hat sie und so weiter. Beim therapeutischen Vorgehen handelt es sich eben nicht um eine bloße Anwendung von Methoden. Psychotherapie ist nicht als Anwendung von Methoden zu verstehen, sondern Methoden geben uns Handlungsmuster, um Systeme in bestimmter Weise in Bewegung zu bringen. Welche Weise wir für relevant halten, welches Ziel dahintersteht, ist entscheidend.