Wehrt euch! - Nina Horaczek - E-Book

Wehrt euch! E-Book

Nina Horaczek

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Beschreibung

"Fridays for Future" heißen die Demonstrationen, mit denen junge Menschen aus eigenem Antrieb eine globale Bewegung in Gang gesetzt haben. Wöchentlich versammeln sich weltweit hunderttausende Jugendliche, um für eine neue Klimapolitik zu demonstrieren – mit Wirkung. Doch wo können wir eine Demonstration anmelden? Wie kannst du dich in deiner Stadt, in der Schule, an der Universität oder im Beruf politisch engagieren? Warum soll man wählen gehen? "Wehrt euch!" ist nach "Gegen Vorurteile" und "Informiert euch!" der dritte Wegweiser der Journalistin Nina Horaczek und des Juristen Sebastian Wiese für alle, die nicht mehr einfach zuschauen möchten. Das Buch enthält sämtliche Infos, die du für nachhaltiges politisches Engagement brauchst und zeigt, wie leicht es sein kann, etwas zu bewirken und die politischen und gesellschaftlichen Umstände nicht als gegeben zu akzeptieren. Ein Buch für alle, die etwas verändern möchten!

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Seitenzahl: 295

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Nina Horaczek, Sebastian Wiese

WEHRT EUCH!

Wie du dich in einer Demokratie engagierenund die Welt verbessern kannst

Für Fred Horaczek

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, MA 7/ Kultur – Wissenschafts- und Forschungsförderung

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personen nicht durchgängig die männliche und weibliche Form angeführt. Gemeint sind selbstverständlich immer beide Geschlechter.

Horaczek, Nina; Wiese, Sebastian: Wehrt euch! Wie du dich in einer Demokratie engagieren und die Welt verbessern kannst / Nina Horaczek; Sebastian Wiese

Wien: Czernin Verlag 2019

ISBN: 978-3-7076-0675-1

© 2019 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Joe Rabl

Umschlaggestaltung: sensomatic

Autorenfotos: Katharina Gossow (Nina Horaczek)

Katharina Roßboth-Fröschl (Sebastian Wiese)

Satz: Mirjam Riepl

Layout: Burghard List

Druck: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

ISBN Print: 978-3-7076-0675-1

ISBN E-Book: 978-3-7076-0676-8

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabein Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Vorwort: Wehrt euch! Warum man sich nicht alles gefallen lassen soll

1.Widerstand: Was ist das eigentlich?

Menschen, die sich wehrten: Mahatma Gandhi

2.Bewegte Geschichte: Wer früher schon protestiert hat

Die Frauenbewegung

Die Friedensbewegung

Die Bürgerrechtsbewegung

Die 68er-Bewegung

Die Schwulen- und Lesbenbewegung

Die Behindertenbewegung

Die Umweltbewegung

Die Anti-Atom-Bewegung

Die Tierschutz- und Tierrechtsbewegung

Menschen, die sich wehrten: Sadako Sasaki

3.Nicht wegschauen: Wie Zivilcourage funktioniert

Menschen, die sich wehrten: Malala Yousafzai

4.Du bist nicht allein: Viele tun etwas

Menschen, die sich wehrten: Sophie Scholl

5.Mitbestimmen durch Mitstimmen: Warum wählen gehen wichtig ist

Menschen, die sich wehrten: Rosa Parks

6.Mitbestimmen mit den Großen: Was man über direkte Demokratie wissen muss

Menschen, die sich wehrten: Martin Luther King

7.Die Straße ruft: Alles über Demos

Menschen, die sich wehrten: Greta Thunberg

8.Mach dich bemerkbar: Bloggen und Social Media

Menschen, die sich wehrten: Emma Gonzalez

9.Helfen durch Spenden: Worauf man achten sollte

Menschen, die sich wehrten: Ruby Bridges

10. Jetzt rede ich! Wie man in politischen Diskussionen nicht untergeht

Menschen, die sich wehrten: Ed Roberts

11. Warum man sich engagieren soll

Glossar

Anmerkungen

Vorwort

Wehrt euch! Warum man sich nicht alles gefallen lassen soll

Viele Menschen haben das Gefühl, dass früher alles besser war und die Dinge heutzutage immer schlechter werden. Klimaerwärmung, Umweltprobleme, das Artensterben, die unsichere Zukunft Europas, ewiges parteipolitisches Gezänk und beunruhigende Nachrichten aus der Weltpolitik verstärken diesen Eindruck. Egal ob man sich in klassischen Medien wie Zeitungen und Fernsehen oder in sozialen Netzwerken, Blogs und auf Twitter informiert: Die beunruhigenden Nachrichten überwiegen.

Die gute Nachricht zuerst: Der Eindruck täuscht. Die Welt wird immer besser. Für fast alle von uns. Noch nie war der Anteil Hungernder an der Weltbevölkerung so niedrig wie heute, noch nie konnten so viele Menschen lesen und schreiben, noch nie waren so viele Kinder geimpft und so viele Landflächen unter Naturschutz gestellt wie heute. Endzeitstimmung und Zukunftsangst sind also unangebracht.

Aber man kann natürlich immer alles noch ein wenig besser machen. Und nur weil es bislang in der Weltgeschichte meistens bergauf gegangen ist, heißt das noch lange nicht, dass das immer so weitergeht. So wie die Menschheit heute handelt, erkaufen wir uns Fortschritt und unseren aktuellen Wohlstand auf Kosten der Zukunft. Die Klimakrise ist ein Paradebeispiel dafür, dass unser heutiger Lebensstil mit ziemlich bedrohlichen Folgen in der Zukunft verbunden ist, falls wir nichts dagegen unternehmen.

Aber nur den wenigsten Menschen ist es beschieden, mit dem einen historischen Wurf die Welt aus den Angeln zu heben und zum Guten zu verändern. Wer sich Nelson Mandela, Martin Luther King oder Greta Thunberg als Maßstab nimmt, steckt sich wahrscheinlich ein zu großes Ziel. Aber man muss nicht sein ganzes Leben opfern oder ein Held sein, um die Welt zu ändern. Die größten Veränderungen geschehen nicht, weil ein Mensch etwas Großartiges unternimmt. Die größten Veränderungen geschehen, weil viele Menschen abertausende kleine Beiträge leisten, die gemeinsam ein riesengroßes Ganzes ergeben. Wer ein kleiner Teil so eines großen Ganzen ist, ändert manchmal mehr als ein Einzelkämpfer mit einem großen Einzelvorhaben. Und oft kann man die Welt auch ganz allein ein klein wenig besser machen. Wer für seinen betagten, gehbehinderten Nachbarn einkaufen geht, ändert vielleicht nicht die Welt für alle, aber er ändert die Welt für seinen Nachbarn.

Viele heutige Probleme betreffen vor allem junge Menschen, weil die sich in der Zukunft noch länger mit den Folgen unseres heutigen Handelns auseinandersetzen müssen. Hingegen ist die ältere Generation eher darauf fokussiert, dass es den Menschen im Hier und Heute möglichst gut geht – die Probleme der Zukunft sollen zukünftige Generationen lösen. Die Interessenlagen zwischen den Generationen sind also verschieden. Gleichzeitig ist die Politik von älteren Menschen dominiert. Und die denken nun einmal zuerst an jene Probleme und Interessen, die ihrer eigenen Lebenswelt entspringen. Junge Menschen können sich deshalb keineswegs darauf verlassen, dass die Politik ihre Interessen von selbst wahrnimmt. Jugendliche sind daher ganz besonders darauf angewiesen, ihre Bedürfnisse hörbar zu machen und an die Politik heranzutragen. Dass dies gelingen kann, hat jüngst Greta Thunberg bewiesen, die mit ihrem Engagement die ganz großen Player in der Politik gezwungen hat, sich mit der Klimakrise auseinanderzusetzen.

In diesem Sinne: Seid ungeduldig und unbequem, macht euch bemerkbar, krempelt die Ärmel hoch und wehrt euch!

1. Widerstand: Was ist das eigentlich?

Widerstand kann vieles sein. Beim Wort »Widerstand« denken wir an bewaffnete Rebellengruppen, die gegen eine fremde Gewaltherrschaft kämpfen, an Widerstandskämpfer, die unter Einsatz ihres Lebens einen grausamen Diktator stürzen wollen, oder an den »Tyrannenmord«, zu dem schon vor Jahrhunderten philosophische Diskussionen entstanden, ob und wann es zulässig sein kann, einen ungerechten Herrscher zu töten. Aber Widerstand ist viel mehr als das. Die meisten Formen des Widerstands sind gewaltfrei. Und gewaltfreier Widerstand war in der Geschichte erfolgreicher als bewaffnete Widerstandsgruppen.

Die deutsche Nordseeinsel Helgoland ist heute ein beliebter Urlaubsort. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sah das noch ganz anders aus. Damals war die Insel vom Bombenkrieg zerstört und unbewohnbar. Die entvölkerte Insel war von den Briten besetzt und diente der britischen Armee als Bombenübungsplatz.

Zu Weihnachten 1950 setzten die beiden deutschen Studenten Georg von Hatzfeld und René Leudesdorff mit einem Boot auf die Insel über, hissten die europäische Flagge, die deutsche Flagge und die Flagge von Helgoland und protestierten mit dieser ersten pazifistischen Aktion seit Ende des Zweiten Weltkriegs dagegen, dass Helgoland ein militärischer Übungsplatz ist, sowie für eine Rückgabe der Insel an die evakuierte Bevölkerung. Die beiden und weitere Mitstreiter wurden daraufhin kurzzeitig verhaftet, konnten mit ihrer Aktion aber eine breite Debatte in Deutschland und Großbritannien anstoßen, an deren Ende die Briten Helgoland an Deutschland zurückgaben und der Wiederaufbau der Insel begann.1 »Wir haben uns damals auf Gandhi berufen: Unsere Waffe ist, dass wir keine haben. Es war die erste gewaltfreie Besetzung nach dem Krieg in Europa«, sagte Leudesdorff viele Jahre später in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung taz.2

Rein juristisch gesehen haben die beiden Studenten gegen das Gesetz verstoßen, weil sie die Insel unerlaubt betreten und britisches Territorium besetzt haben. Sie haben sich mit ihrer Aktion aber auch gegen bestehendes Unrecht positioniert, ganz nach dem Motto: »Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen.« Es gibt also Situationen, in denen es legitim ist, gegen geltendes Recht zu verstoßen, um Unrecht zu bekämpfen.

Widerstand ist ein Begriff, den man nicht nur aus der Politik kennt, sondern auch aus der Physik. Dort gibt es den elektrischen Widerstand, den magnetischen Widerstand, den Reibungswiderstand und einiges mehr, zusammengefasst aber alles Dinge, die sich etwas entgegensetzen. In der Politik bezeichnet Widerstand das sich Auflehnen gegen eine Obrigkeit, die Opposition zu den Herrschenden, und zwar unabhängig davon, ob diese legal an die Macht kamen oder nicht.

Widerstand ist etwas, das es immer schon gab, seit sich Menschen in Gesellschaften zusammengeschlossen haben. Bereits in der Antike diskutierten Philosophen die Frage, ob der Tyrannenmord – die Ermordung eines als ungerecht empfundenen Herrschers, der sein Volk gewaltsam unterdrückt – gerechtfertigt ist.

Im deutschen Grundgesetz ist ein Recht auf Widerstand festgeschrieben. Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes lautet:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Dass man sich auch einmal wehren darf, bedeutet aber nicht, dass Widerstand immer gerechtfertigt ist. In Absatz 4 des deutschen Grundgesetzes wird klar darauf hingewiesen, dass dies erst der Fall ist, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, das Unrecht aufzuzeigen. Aber der Gesetzgeber hat hier auch klargemacht, dass es ein Recht auf Widerstand gibt und die Bürger in Situationen, in denen die demokratische und soziale Ordnung in Gefahr ist, auch von diesem Recht Gebrauch machen dürfen. Wir dürfen also auch einmal ungehorsam gegenüber dem Staat sein, müssen dies aber gut begründen können.

Bereits die französische »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« von 1789 lässt sich verstehen als Verfassung einer nationalen Solidargemeinschaft. Sie beginnt mit den Sätzen: »Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Soziale Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein« (Art 1) und setzt fort: »Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung« (Art 2).

Was ist ziviler Ungehorsam?

Die Aktion der beiden Studenten auf Helgoland fällt unter den Begriff »ziviler Ungehorsam«. Geprägt hat diesen Begriff der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau (1817–1862) beziehungsweise verdanken wir diesen Begriff eigentlich Thoreaus Verleger. Dieser betitelte einen Essay von Thoreau später mit »Civil Disobedience«. Auf Deutsch erschien der Essay unter dem Titel »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat«.

Thoreau hat diesen Essay im Jahr 1846 in einer recht unangenehmen Situation geschrieben – als er gerade wegen Steuerschulden im Gefängnis saß. Er weigerte sich aber nicht aus Gier, seine Steuern zu zahlen, sondern aus moralischen Gründen. Er protestierte mit diesem Gesetzesverstoß gegen die Sklaverei, die damals in den Südstaaten der USA noch legal war und die er als Unrecht empfand. Und er protestierte gegen den Krieg der USA gegen Mexiko, den er ebenfalls ablehnte.

Zwar würden Gesetze prinzipiell für alle gelten, argumentierte Thoreau, es gebe aber Situationen, in denen Bürger ihrem Staat aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigern dürfen. »Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus Dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann sage ich: brich das Gesetz. Mach Dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten. Jedenfalls muss ich zusehen, dass ich mich nicht zu Unrecht hergebe, das ich verdamme«, schreibt er.3

Ziviler Ungehorsam entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Sammelbegriff von Aktionsformen, die das Ziel haben, eine Unrechtssituation aufzuzeigen und eine Veränderung dieser Situation zum Positiven zu bewirken. Sie mögen sich in der Form des Protests unterscheiden, haben aber durchaus Gemeinsamkeiten.

•Ziviler Ungehorsam ist eine gewaltfreie Form des Widerstands.

•Ziviler Ungehorsam passiert öffentlich und ist damit ein Gesetzesverstoß, der sich bewusst von einer herkömmlichen kriminellen Handlung unterscheidet. Die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) schrieb 1969 in einem Essay über zivilen Ungehorsam: »Es gibt einen ungeheuren Unterschied zwischen dem Kriminellen, der das Licht der Öffentlichkeit scheut, und dem zivilen Gehorsamsverweigerer, der in offener Herausforderung das Gesetz in seine eigenen Hände nimmt. Dieser Unterschied zwischen offener Übertretung des Gesetzes, die vor aller Augen geschieht, und dem geheimen Rechtsbruch liegt so klar auf der Hand, dass er nur aufgrund vorgefasster Meinung oder bösen Willens übersehen werden kann.«4

•Es geht nicht um den Vorteil eines Einzelnen, sondern um ein Unrecht, von dem eine Gruppe innerhalb der Gesellschaft betroffen ist, und es geht um das Ziel, durch den Protest keinen persönlichen Vorteil nur für sich, sondern mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu erreichen. Oder, mit den Worten von Hannah Arendt: »Wohlgemerkt, der gewöhnliche Rechtsbrecher handelt, selbst wenn er einer kriminellen Organisation angehört, ausschließlich im eigenen Interesse; er lehnt es ab, sich dem Konsens aller anderen zu unterwerfen, und er beugt sich nur der Gewalt der Vollstreckungsorgane. Der zivile Gehorsamsverweigerer handelt jedoch, auch wenn er zumeist gegen eine Mehrheit opponiert, im Namen und um einer Gruppe willen. Er stellt sich mit einer grundsätzlichen Haltung gegen das Gesetz und gegen die feststehenden Autoritäten, und nicht etwa, weil er für sich als einzelner eine Ausnahme machen und dabei nicht ertappt werden möchte.«5

•Ziviler Ungehorsam stellt nicht das ganze politische System und den Rechtsstaat an sich in Frage, sondern ist ein bewusster begrenzter Regelverstoß. Die rechtlichen Konsequenzen eines solchen Regelverstoßes (Verhaftung, Verurteilung, Geldstrafe …) werden akzeptiert. Schon Thoreau schreibt in seinem Essay über zivilen Ungehorsam: »Aber, um seriös und als Bürger zu reden, und nicht wie die Anarchisten, die jegliche staatliche Autorität ablehnen, fordere ich nicht: ab sofort keine Regierung mehr, sondern: ab sofort eine bessere Regierung.«6

Vielfältige Formen des Protests

Erfolgreich ist, wer seinen Protest möglichst vielfältig gestaltet. Aktionsmöglichkeiten gibt es viele. Hier ein paar Beispiele zur Anregung:

•Beim wirtschaftlichen Boykott kauft man bewusst bestimmte Produkte nicht und versucht, möglichst viele Menschen dazu zu gewinnen, dieses Produkt oder diese Firma oder Produkte aus einem bestimmten Staat nicht mehr zu kaufen.

Berühmt ist zum Beispiel der 1959 von Großbritannien gestartete Südafrika-Boykott, bei dem Produkte aus diesem Land nicht mehr gekauft wurden, um so seinen Protest gegen den Rassismus des südafrikanischen Apartheidregimes auszudrücken und der südafrikanischen Wirtschaft zu schaden und dadurch den Druck auf die Regierung zu erhöhen. »Kauft keine Früchte aus Südafrika«, lautete einer der Slogans.

Sehr erfolgreich war auch der internationale Shell-Boykott 1991. Damals plante der Erdölkonzern Shell, den mehr als 14 Tonnen schweren schwimmenden Öltanker Brent Spar als Industrieschrott in der Nordsee zu versenken. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace besetzte Brent Spar, machte die Pläne des Ölkonzerns öffentlich und rief zum Boykott von Shell-Tankstellen auf. Die Boykottaktion war derart erfolgreich, dass die Umsätze an den Shell-Tankstellen massiv zurückgingen und Shell darauf verzichtete, Brent Spar zu versenken. Allerdings stellte sich später heraus, dass Greenpeace falsche Zahlen verbreitet hatte. So hatte Greenpeace behauptet, es würden 5.500 Tonnen Ölschlämme versenkt, tatsächlich hatte die Umwelt-NGO aber eine falsche Hochrechnung angestellt und es handelte sich um viel weniger, nämlich 130 Tonnen Ölschlämme.

•Die Verweigerung bezieht sich auf das öffentliche Nichtfolgeleisten einer staatlichen Anordnung. Ein Beispiel dafür ist die Verweigerung des Wehrdienstes, indem man einer Einberufung aus Gewissensgründen nicht Folge leistet. Während des Vietnamkriegs verbrannten zahlreiche US-Amerikaner aus Protest gegen den Krieg ihre Einberufungsbefehle an öffentlichen Orten.

•Das Sit-in ist ein Sitzstreik als Alternative zu einer herkömmlichen Demonstration. Dabei setzt man sich irgendwo hin und bleibt einfach sitzen – auch auf die Gefahr hin, von Einsatzkräften weggetragen zu werden.

Zu den ersten bekannten Sit-ins zählt das sogenannte »Greensboro Sit-in« im Februar 1960 in North Carolina. Damals betraten vier schwarze Studenten ein Restaurant, das nur Weiße bediente, setzten sich an den Tresen und baten das Servierpersonal darum, ihre Bestellung aufzunehmen. Als ihnen mitgeteilt wurde, dass sie in diesem Lokal nicht bedient werden, blieben sie einfach sitzen, bis das Lokal zusperrte. Die Medien berichteten über den Protest und am nächsten Tag kamen nicht vier, sondern bereits 20 Schwarze, um sich an dem Sit-in zu beteiligen. Am dritten Tag waren es 60 Protestierende, am vierten bereits 300. Auch in anderen amerikanischen Städten begannen derartige Sit-ins und im Juni 1960 hatten die Protestierenden ihr Ziel erreicht: Das Lokal, in dem das Sit-in begonnen hatte, servierte schwarzen Gästen zum ersten Mal ein Mittagessen.7

•Die Blockade oder auch Sitzblockade ist eine ähnliche Protestform wie das Sit-in, wobei es hierbei darum geht, jemandem den Zu- oder Durchgang zu versperren. Die Teilnehmer sitzen zum Beispiel vor einem Gebäude und versperren so den Eingang oder sie sitzen auf einer Straße und verhindern dadurch die Durchfahrt.

Im Jahr 2011 hat das deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Sitzblockaden vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckt sein können. Anlassfall war damals der Protest eines Demonstranten gegen den Irakkrieg. Er hatte mit Gleichgesinnten die Zufahrt zu einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Deutschland blockiert und war dafür gerichtlich verurteilt worden. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hob diese Verurteilung auf. »Dass die Aktion die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für bestimmte politische Belange bezweckte, lässt nach Karlsruher Ansicht den Schutz der Versammlungsfreiheit nicht entfallen, ›sondern macht die gemeinsame Sitzblockade, die somit der öffentlichen Meinungsbildung galt, erst zu einer Versammlung‹ im Sinne des Grundgesetzes«, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung damals.8

Sitzblockaden wurden in der Vergangenheit oftmals eingesetzt, um Atommülltransporte zu verhindern, oder auch, um zu verhindern, dass militärische Waffen wie etwa Atomwaffen auf Militärstützpunkte transportiert wurden. Auch bei Neonaziaufmärschen greifen deren Gegner oft zum Mittel der Sitzblockade, um so zu verhindern, dass Neonazis mit ihren Parolen durch die Straßen ziehen können. Der Tagesspiegel berichtete 2011 von einer ganz besonderen Blockade, mit der Aktivisten einen sogenannten Castor-Transport mit Atommüll von Frankreich nach Deutschland verhindern wollten: »Wenige Meter weiter begann eine ›Stuhlprobe‹: Etwa 40 Frauen und einige Männer ließen sich auf mitgebrachten Hockern, Klappstühlen, Kissen und anderen Sitzgelegenheiten nieder. Sie packten Thermoskannen und Kuchen aus und frühstückten. ›Später klönen wir und tauschen Koch- und Widerstandsrezepte aus‹, sagte eine Demonstrantin. Solche ›Stuhlproben‹ gibt es seit fünf Jahren an jedem Sonntag in der Castor-Zeit. Die Aktionsidee stammt von den ›Grauen Zellen‹, einer Initiative bereits ergrauter Protest-Veteranen aus dem Wendland, die sich wegen ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr auf Straßen und Schienen setzen können oder wollen.«9

•Das Die-in ist eine Art theatralische Unterform des Sit-ins und geht bereits in Richtung Straßentheater. Dabei werfen sich die Teilnehmer auf ein Signal hin auf den Boden und stellen leblose Körper dar, um auf eine lebensbedrohliche Gefahr für die Menschheit, wie zum Beispiel einen atomaren Super-GAU oder auch die Klimaerwärmung, hinzuweisen.

•Das Kiss-in ist eine Protestform, die zwar nicht nur, aber oft im Kampf gegen Homophobie eingesetzt wird, und dies mittlerweile weltweit. Dabei treffen sich gleichgeschlechtliche Menschen an einem öffentlichen Ort und tauschen Küsse aus. Die Teilnehmer können, aber müssen nicht homosexuell sein. Vielfach beteiligen sich auch Heterosexuelle aus Solidarität an einer solchen Aktion.

Im September 2013 demonstrierten Aktivisten vor zahlreichen russischen Botschaften auf verschiedenen Kontinenten unter dem Motto »To Russia with Love« mit Kiss-ins gegen die zunehmend homosexuellenfeindliche Gesetzgebung in Russland.10

In Marokkos Hauptstadt protestierten Bürger im selben Jahr mit einem Kiss-in für mehr Toleranz, nachdem ein 15-jähriger Marokkaner gerichtlich verfolgt worden war, weil er ein Kussfoto von sich und seiner 14-jährigen Freundin ins Internet gestellt hatte.11

Nachdem in London das Securitypersonal eines Supermarktes 2016 ein homosexuelles Paar aufgefordert hatte, das Geschäft zu verlassen, weil die beiden Männer einander umarmt und an den Händen gehalten und ein Kunde sich deshalb beschwert hatte, versammelten sich hunderte Paare zum gleichgeschlechtlichen Protest-Knutschen in ebendiesem Supermarkt. Und um den Supermarkt herum fuhren Aktivisten mit ihren Autos und hupten aus Solidarität.12

•Der Smartmob ist ein Flashmob (auf Deutsch »Blitzzusammenkunft«), also das spontane Zusammentreffen einer Menschenmenge auf einem öffentlichen Platz. Während der Flashmob unpolitisch ist, verfolgt der Smartmob (auf Deutsch »schlaue Zusammenkunft«) ein politisches Ziel. Organisiert werden Smartmobs auf sozialen Medien.

•Über soziale Medien wird auch der Cyberprotest organisiert. Darunter fällt zum Beispiel der Shitstorm, zusammengesetzt aus den englischen Wörtern shit (Scheiße) und storm (Sturm). Dabei wird mittels Massenpostings in sozialen Medien gezielt negative Stimmung gegen eine Person oder eine Organisation gemacht. Bei einem Shitstorm sollte man aber immer bedenken, dass sich eine derartige virtuelle Massenunmutsäußerung sehr schnell in einen virtuellen Pranger verwandeln kann. Es macht einen Unterschied, ob sich die Kritik gegen eine Institution richtet oder eine einfache Einzelperson, und es ist auch alles andere als sportlich, wenn eine große Masse auf eine Einzelperson, die sich in der virtuellen Welt ohnehin schon ordentlich blamiert, pausenlos weiter hinhackt. Alle gegen einen sollte es auch in der virtuellen Welt nicht geben.

•Das Gegenteil des Shitstorms ist der Candystorm oder auch Flowerrain. Auch das eine Wortneuschöpfung, die sich aus den englischen Wörtern candy (Süßigkeit, Bonbon) und storm (Sturm) zusammensetzt beziehungsweise aus flower (Blume) und rain (Regen). Ein Candystorm beziehungsweise Flowerrain ist ein virtuelles Bombardement mit Nettigkeiten, um jemanden, der attackiert wurde, moralisch aufzubauen und Solidarität mit dem Betroffenen zu zeigen. Als am Neujahrstag 2018 in Wien das Baby Asel 47 Minuten nach Mitternacht zur Welt kam und von den Medien als Wiener Neujahrsbaby präsentiert wurde, schlug dem Baby und seiner Familie in den Onlineforen eine Hasswelle entgegen. Der Grund dafür: Asels Mutter trägt ein Kopftuch. Als Reaktion auf diesen Hass startete der österreichische Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner einen Flowerrain für das Baby und die frischgebackenen Eltern, an dem sich tausende Menschen bis hinauf zum österreichischen Bundespräsidenten beteiligten. »›Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.‹ Zuversicht und Zusammenhalt sind größer als Hass und Hetze. Herzlich Willkommen, liebe Asel!«, richtete das österreichische Staatsoberhaupt dem Baby via Facebook aus.13 Am Ende übergab die Caritas die zu einem Buch gebundenen mehr als 33.000 virtuellen Willkommensgrüße, die durch diesen Flowerrain entstanden, an die Eltern des Wiener Neujahrsbabys.14

•Nur die Rautetaste # benötigt der Hashtag-Aktivismus. Dabei werden in sozialen Medien, speziell auf Twitter, thematische Trends gesetzt und Diskussionen angefacht. Je häufiger solche Hashtags übernommen werden und je mehr Menschen dazu posten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch konventionelle Medien sich dieses Themas annehmen. Im Idealfall gelingt es, via Hashtag ein Thema auf die politische Agenda zu bringen. Erstmals weltweit mittels Hashtag kampagnisiert wurde ab April 2014, nachdem in Nigeria mehr als 200 Schülerinnen von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram aus einer Schule entführt worden waren. Damals forderten Prominente aus aller Welt unter dem Hashtag #BringBackOurGirls die Freilassung der entführten Mädchen.15

Ein besonders prominentes Beispiel ist der Hashtag #MeToo. Nachdem im Oktober 2017 bekannt geworden war, dass der Hollywood-Filmproduzent Harvey Weinstein jahrelang Frauen aus der Filmbranche sexuell belästigt hatte, forderte die Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter: »If you’ve been sexually harassed or assaulted write ›me too‹ as a reply to this tweet.« (Wenn du sexuell belästigt oder angegriffen wurdest, schreibe ›me too‹, also ›ich auch‹, als Antwort auf diesen Tweet.)16 Damit löste sie eine die Kontinente übergreifende öffentliche Debatte über sexuelle Übergriffe auf Frauen aus, die zu zahlreichen Rücktritten von Männern in hohen Positionen führten, die plötzlich öffentlich mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung konfrontiert waren.

•Online-Petitionen sind ein Weg, im Internet Stimmung für ein gesellschaftspolitisches Thema zu machen, das einem am Herzen liegt. Das Praktische dabei ist, dass das Erstellen einer solchen Petition sehr schnell geht und nichts kostet. Der Nachteil ist, dass dies mittlerweile schon sehr viele Menschen wissen und die Konkurrenz sehr groß ist, weshalb man sich sehr gut überlegen muss, wie man möglichst viele Menschen davon überzeugt, die eigene Petition zu unterzeichnen. Derartige Petitionen können zum Beispiel auf www.change.org, www.openpetition.eu oder www.avaaz.org oder in Österreich auch auf www.aufstehn.at eingerichtet werden. Auch an den Deutschen Bundestag kann man ganz formlos Online-Petitionen richten. Diese müssen aber einen Bezug zur Gesetzgebung des Bundes oder zu Tätigkeiten der Bundesbehörden haben. Alle Informationen dazu findet man auf https://epetitionen.bundestag.de.

In Österreich gibt es ein ähnliches Instrument, das allerdings bis jetzt noch nicht online verfügbar ist: Österreichische Staatsbürger, die wahlberechtigt sind, können »Bürgerinitiativen« im Parlament einreichen, benötigen dafür aber zumindest 500 Unterstützer (erlaubt sind nur österreichische Staatsbürger, die wahlberechtig sind). Informationen dazu sind unter https://www.parlament.gv.at/PERK/BET/BII/abrufbar.

•Die Besetzung ist die – meist nur vorübergehende – Besitznahme eines Gebäudes oder eines Territoriums ohne Zustimmung des rechtmäßigen Besitzers.

Berühmte Besetzungen sind zum Beispiel jene im Wyhler Wald in Baden-Württemberg im Jahr 1975, um die Errichtung eines Atomkraftwerks zu verhindern. In Österreich schrieb die Besetzung der Hainburger Au im Dezember 1984 Geschichte. Mit dieser wurde die Errichtung eines Wasserkraftwerks in einem Naturschutzgebiet verhindert.

•Die Fahrraddemo ist eine Demonstration auf Fahrrädern, die entweder wie eine normale Demo eine Route entlanggeführt oder als Sternfahrt organisiert wird. Bei Letzterer gibt es verschiedene Startpunkte, von denen aus Teilnehmer losradeln, um am Ende auf einem zentralen Punkt zu einer großen Kundgebung zusammenzustoßen.

•Der Autokorso ist eine Demo mit Kraftfahrzeugen. Normalerweise kennt man solche gemeinschaftlichen Fahrten mit viel Huperei nur von Hochzeiten. In den vergangenen Jahren wurde diese Protestform aber auch hierzulande immer wieder einmal verwendet.

2011 protestierte der Türkische Bund in Berlin mit einem Autokorso gegen Rechtsextremismus und die rassistische Terrorgruppe NSU, die zahlreiche Migranten ermordet hatte.17 Als der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wegen seiner journalistischen Arbeit bereits ein Jahr in der Türkei im Gefängnis saß, protestierten Wegbegleiter und Unterstützer mit einem »Autokorso der Herzen« durch Berlin.18

•Die friedliche Störaktion ist eine Aktion, bei der allein aufgrund der Anwesenheit verhindert wird, dass diejenigen, gegen die man protestiert, gewisse, meist gefährliche Dinge durchführen können. Ein Beispiel dafür sind die Störung von Atomtests im Meer, wo Umweltaktivisten mit Booten in jene Regionen fahren, in der diese Tests durchgeführt werden sollen.

•Der Streik ist eine vorrübergehende Arbeitsverweigerung, um so seine Forderungen durchzusetzen. Meist werden Streiks in Zusammenhang mit Arbeitskämpfen geführt, etwa um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen.

Es gibt auch politische Streiks, bei denen sich die Forderungen nicht an den Arbeitgeber richten, sondern an die politischen Organe wie das Parlament oder die Regierung. Beim politischen Streik geht es darum, mit dem Mittel der Arbeitsniederlegung eine politische Veränderung durchzusetzen.

Im Jahr 2003 hielt der österreichische Gewerkschaftsbund ÖGB einen solchen politischen Streik ab, um die damalige Bundesregierung zu zwingen, eine geplante Pensionsreform nicht umzusetzen, die aus Sicht der Gewerkschaft zu einer Benachteiligung der Arbeitnehmer führte. Die Gewerkschaft hielt einen eintägigen Warnstreik, eine Großdemonstration und einen Großstreiktag ab, konnte den Beschluss der Pensionsreform dadurch aber nicht verhindern.19

•Als Solidaritätsstreik bezeichnet man wiederum einen Streik, der als moralische Unterstützung für andere Protestierende durchgeführt wird. Diese Streiks werden oft auch grenzübergreifend als Solidaritätsaktion durchgeführt.

Ein besonders berührender Solidaritätsstreik ist der Februarstreik 1941 in Amsterdam. Nach einer Razzia gegen jüdische Amsterdamer, die von den Nationalsozialisten deportiert werden sollten, legten am 25. Februar 1941 zuerst die Straßenbahnfahrer ihre Arbeit nieder. Zehntausende Arbeiter, Beamte und Angestellte folgten dem Beispiel der Straßenbahnfahrer und traten aus Protest gegen die Deportationen von Juden ebenfalls in einen Solidaritätsstreik. Der Streik breitete sich bis Utrecht aus, wurde aber von den Nazis brutal niedergeschlagen.20

•Zu den Streiks außerhalb der Arbeitswelt zählt der Schulstreik, bei dem sich Schüler weigern, den Unterricht zu besuchen, um dadurch ein politisches Ziel durchzusetzen. Besonders berühmt sind die von der Schwedin Greta Thunberg (siehe auch S. 167) initiierten »Schulstreiks für das Klima«, aus der die »Fridays for Future«-Bewegung entstanden ist (siehe dazu S. 62).

•Eine weitere Art des politischen Streiks ist der Frauenstreik. Berühmt ist der Streik der isländischen Frauen am 24. Oktober 1975, als etwa 90 Prozent der Frauen sich entschlossen, die Gesellschaft spüren zu lassen, was sie alles leisten, indem sie einfach sämtliche Arbeit einstellen. Daraufhin mussten Banken, Fabriken und zahlreiche Geschäfte schließen und auch die Schulen und Kindergärten hatten zu. Männer mussten wegen der fehlenden Betreuungsmöglichkeiten ihre Kinder in die Arbeit mitnehmen. Auch zu Hause weigerten die Frauen sich, zu kochen, zu putzen und die Kinder zu hüten. Dieser Streik war Anstoß dafür, dass Island heute, mehr als vier Jahrzehnte später, in Sachen Gleichberechtigung in Europa ganz weit vorne ist.21 Im Juni 2019 streikten die Frauen in der Schweiz. Es war bereits der zweite landesweite Frauenstreik. Schon 20 Jahre zuvor, im Juni 1991, legten zahlreiche Schweizer Frauen die Arbeit nieder. Sie streikten nicht nur auf ihrem Arbeitsplatz, sondern weigerten sich auch, zu Hause zu putzen, zu kochen und die Kinder zu hüten, und gingen stattdessen für Gleichberechtigung auf die Straße. Als Zeichen, dass sie diese Fraueninitiative unterstützen, kleideten sich Frauen quer durch das Land lila. Wenige Tage nach dem äußerst erfolgreichen Frauenstreik 2019 kündigten die Schweizer Sozialdemokraten eine Volksinitiative für Gleichstellung an22, die Schweizer Schulbücher werden überarbeitet, damit auch Frauen dort repräsentiert sind23, und die Gewerkschaft setzte die Forderungen der Frauen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit auf ihre Agenda für die Lohnverhandlungen mit den Arbeitgebervertretern.24 Einen Tag lang das Arbeiten zu lassen, um zu protestieren, kann also doch etwas verändern.

Die Gewaltfrage

Geht es um die Legitimität von Widerstand und dessen Formen, taucht recht bald die Gewaltfrage auf. Gibt es einen Punkt, an dem Gewalt gerechtfertigt ist? Und wenn ja, wann ist dieser Punkt erreicht und wer hat das Recht, dies zu entscheiden?

Sieht man sich die jüngere Geschichte Deutschlands und Österreichs an, so gab es natürlich eine Zeit, in der Widerstand in jeglicher Form, auch mit Gewalt, gerechtfertigt war. Während der nationalsozialistischen Diktatur mussten Widerstandskämpfer zum Teil auch zur Waffe greifen, etwa als Partisanen in den Wäldern oder wenn sie sich den Alliierten anschlossen, um mit der Waffe in der Hand gegen die Nazi-Armee zu kämpfen.

Während der 1960er und 1970er Jahre stellte sich die Frage nach der Zulässigkeit von Gewalt bei den sogenannten Befreiungsbewegungen, etwa in Afrika, die gegen die Kolonialherrscher in ihren Ländern ankämpften. 1965 betonte die UN-Generalversammlung erstmals, dass der Kampf gegen die Kolonialherrschaft legitim ist. In den 1970er Jahren anerkannten die Vereinten Nationen den Kampf der Befreiungsbewegungen »mit allen Mitteln«, was auch Gewalt einschließt.25

Beides bezieht sich aber auf Ausnahmesituationen und selbst in solchen ist blinde Gewalt nicht erlaubt, sondern lediglich gezielte Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung.

In einer liberalen Demokratie haben wir Bürgerinnen und Bürger den großen Vorteil, dass uns zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, unseren Unmut auszudrücken und zu protestieren. Die Anwendung von Gewalt kann und darf nur das allerletzte Mittel sein, etwa in Diktaturen. Davon sind wir aber weit entfernt und sollten deshalb alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um dafür zu sorgen, dass das so bleibt.

Kein Mensch hat das Recht, einen anderen zu verletzen, nur weil ihm die Meinung dieser Person nicht passt. Wer die Menschenrechte und die Menschenwürde als moralischen Wert akzeptiert, muss auch Menschen mit anderer politischer Überzeugung diese Werte zugestehen. Das beinhaltet auch das Recht auf Privatsphäre und auf Familienleben. Während es völlig legitim ist, gegen die Pläne einer Partei oder eines Politikers auf die Straße zu gehen und zum Beispiel vor der Parteizentrale zu demonstrieren, ist es gar nicht in Ordnung, diesem Politiker einen Besuch in seiner Privatwohnung abzustatten oder gar dessen Kindern in der Schule aufzulauern. Man muss sich nur kurz vorstellen, wie es für einen selber wäre, wenn man sich nicht einmal zu Hause oder in der Schule sicher fühlen würde. Bei aller Kritik an den Inhalten sollte man nie auf einen grundlegenden Respekt jedem Menschen gegenüber vergessen.

Abgesehen von dieser moralischen Komponente gibt es mehrere ganz praktische Gründe, Gewalt in einer Demokratie abzulehnen. Erstens sollte jeder und jede die Möglichkeit haben, sich an gewaltfreien Protesten zu beteiligen. Wenn aber zum Beispiel von vornherein klar ist, dass sich bei einer Demonstration eine kleine Gruppe gewalttätiger Demonstranten mit der Polizei brutale Schlachten liefern wird, werden sich Menschen, die zum Beispiel schon älter sind und nicht mehr so gut zu Fuß, oder Familien mit Kindern gar nicht trauen, mitzumarschieren, auch wenn sie das eigentliche Anliegen dieser Demonstration unterstützen. Man nimmt diesen Menschen dadurch also die Möglichkeit, ihren Protest auszudrücken.

Zweitens liegt in einem Rechtsstaat das Gewaltmonopol beim Staat. Das bedeutet, dass nur staatliche Organe physische Gewalt ausüben dürfen, und das auch nur innerhalb eines gesetzlichen Rahmens. Ein Protest, der genau an jenem Punkt ansetzt, wo der Staat am besten aufgestellt und auch rechtlich legitimiert ist, ist auch taktisch nicht sehr klug.

Und drittens will man ja etwas erreichen. Das Ziel von Protest ist ja schließlich, ein Unrecht aufzuzeigen und eine Veränderung zum Positiven durchzusetzen. Das funktioniert am besten mit gewaltfreiem Protest, wie auch eine Untersuchung der amerikanischen Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan mit dem Titel »Why Civil Resistance Works« (Warum ziviler Widerstand funktioniert) aus dem Jahr 2011 belegt.26 Sie untersuchten insgesamt 323 gewalttätige und gewaltlose Widerstandskampagnen in verschiedenen Ländern zwischen 1900 und 2006. Das Ergebnis: Gewaltfreier Widerstand in Form von Boykott, Streiks, Protesten, Sit-ins und ähnlichen Protestformen war viel erfolgreicher als jegliche Form des Widerstands, wo Gewalt inklusive Terrorismus angewandt wurde. Die untersuchten gewaltfreien Kampagnen erreichten in 53 Prozent der Fälle ihr Ziel, während in jenen Fällen, in denen Gewalt angewandt wurde, nur in 26 Prozent der untersuchten Fälle ein Erfolg verbucht wurde.

Die Studienautorinnen nennen dafür zwei Gründe: Erstens ist es bei gewaltfreiem Widerstand leichter, Mitstreiter zu gewinnen, als bei gewalttätigen Aktionen. Dadurch gelingt es gewaltfreien Kampagnen leichter, zu wachsen und Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen und dadurch langfristig die Macht derer zu untergraben, gegen die sich der Protest richtet. Zweitens kann der Staat Gewaltanwendung gegen jene, die in ihrem Protest selbst Gewalt anwenden, leichter rechtfertigen, und er wird dafür in der Bevölkerung auch Zustimmung finden, dass er sich gegen Terroristen und Gewalttäter zur Wehr setzen muss. Staatliche Gewaltanwendung gegen Protestierende, die mit friedlichen Mitteln auf ihr Anliegen aufmerksam machen, ist viel schwerer zu argumentieren und führt in der Bevölkerung oftmals zu einem Solidarisierungseffekt mit der Protestbewegung. Auch fällt es staatlichen Autoritäten viel schwerer, Verhandlungen mit friedlich Protestierenden zu verweigern, während es in der Öffentlichkeit durchaus auf Verständnis stößt, wenn man mit Gewalttätern und Terroristen nicht verhandelt.

Wer also nicht nur um des Protestierens willen protestiert, sondern mit seinem Protest auch eine positive Veränderung erreichen möchte, sollte nicht nur aus moralischen, sondern auch aus strategischen Gründen auf gewaltfreien Widerstand setzen.

Beispiele für kreativen Widerstand

Protestieren ist gut. Aber noch viel besser ist es, den Protest mit Humor und Köpfchen kreativ zu gestalten. Das macht nicht nur Spaß, es sorgt auch für viel mehr Aufmerksamkeit und erhöht dadurch die Chance, dass Zeitungen über den eigenen Protest berichten und dieser fleißig in sozialen Medien geteilt wird. So erfahren auch viele, viele andere davon. Hier ein paar Anregungen, mit welchen kreativen Ideen andere Leute schon für Aufsehen gesorgt haben.

Der Marsch der rosa Mützen

Dass in den USA, aber auch in Europa im März 2017 hunderttausende Frauen mit knallpinken Mützen auf die Straße gingen, lag vor allem an Krista Suh und Jayna Zweiman. Die beiden Amerikanerinnen stellten die Anleitung zum Stricken eines sogenannten Pussyhats online und lösten damit eine breite Protestbewegung aus. Im US-Wahlkampf waren Tonbandaufnahmen an die Öffentlichkeit geraten, in denen der damalige republikanische Präsidentschaftskandidat und dann US-Präsidenten Donald Trump erklärte, er würde einer Frau einfach in den Schritt greifen. »Grab her by the pussy« (Schnapp sie dir an der Muschi), sagte Trump wörtlich. Als Reaktion darauf marschierten hunderttausende Frauen beim »Women’s March« in den USA mit diesen rosaroten Mützen auf, die als Symbol für die Vagina getragen wurden und gegen den Sexismus des US-Präsidenten. Sie hätten mit dem Stricken bewusst eine sehr feminine und leicht nachmachbare Form der Handarbeit ausgewählt, erklärten die Aktivistinnen. Stricken sei eine großartige Möglichkeit, sich auszudrücken.27

Mit Stricknadeln ein politisches Statement zu setzen ist keine neue Erfindung. »Craftivism« nennt sich diese Bewegung, eine Wortneuschöpfung aus den Begriffen craft (Handarbeit) und activism (politischer Aktivismus). Bei dieser Protestform wird Handarbeit eingesetzt, um ein politisches Statement zu setzen.28 Die Themenpalette ist breit, von Feminismus wie bei den Pussyhats bis zu Guerilla Knitting, dem widerständigen Stricken, um im öffentlichen Raum zu irritieren und diesen zu verändern. Craftivism wird aber auch im Bereich des Friedensaktivismus eingesetzt. Weil die dänische Regierung 2011 entschied, sich an der Seite der USA am Irakkrieg zu beteiligen, fertigte die dänische Künstlerin Marianne Jorgensen mithilfe zahlreicher Strick-Aktivisten einen riesigen rosa Quilt an, mit dem sie einen Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg einpackte. Das Bild des rosa umhüllten Kriegsgeräts wurde in Internetforen und von zahlreichen Zeitungen übernommen und so konnte die Botschaft in die Welt transportiert werden.29

Nazis das Bier wegsaufen