Das kleine Haus am Wald - Amanda Kissel - E-Book
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Das kleine Haus am Wald E-Book

Amanda Kissel

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Beschreibung

Warmherzig wie eine Umarmung, erfrischend wie ein Frühlingstag: Der Feelgood-Roman »Das kleine Haus am Wald« von Amanda Kissel als eBook bei dotbooks. Was eine Familie im Innersten zusammenhält … Wenn ihr alles zu viel wird, dann träumt die junge Mutter Katja Friedinger stets davon, im gemütlichen Fachwerkhaus ihrer Familie am Pfälzerwald ein wenig zur Ruhe zu kommen. Doch nun gibt es den traurigsten Grund, dorthin zurückzukehren: Ihre geliebte Großmutter ist gestorben. Der Schmerz sitzt tief – bis es plötzlich an der Tür klingelt. Was sind das für geheimnisvolle Pakete, die ihre Großmutter kurz vor ihrem Tod bestellt haben muss … und welche Geschichten wollte sie Katja und ihrer Familie damit erzählen? Jens, der sympathische Arzt aus der Nachbarschaft, rät ihr, die Absender zu befragen – und ist gerne bereit, sie dabei zu begleiten. Wird es Katja gelingen, das Geheimnis ihrer Großmutter zu lüften – und was wird sie auf dieser emotionalen Reise über sich selbst erfahren? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der zauberhafte Familiengeheimnisroman »Das kleine Haus am Wald« von Amanda Kissel. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 424

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Über dieses Buch:

Was eine Familie im Innersten zusammenhält … Wenn ihr alles zu viel wird, dann träumt die junge Mutter Katja Friedinger stets davon, im gemütlichen Fachwerkhaus ihrer Familie am Pfälzerwald ein wenig zur Ruhe zu kommen. Doch nun gibt es den traurigsten Grund, dorthin zurückzukehren: Ihre geliebte Großmutter ist gestorben. Der Schmerz sitzt tief – bis es plötzlich an der Tür klingelt. Was sind das für geheimnisvolle Pakete, die ihre Großmutter kurz vor ihrem Tod bestellt haben muss … und welche Geschichten wollte sie Katja und ihrer Familie damit erzählen? Jens, der sympathische Arzt aus der Nachbarschaft, rät ihr, die Absender zu befragen – und ist gerne bereit, sie dabei zu begleiten. Wird es Katja gelingen, das Geheimnis ihrer Großmutter zu lüften – und was wird sie auf dieser emotionalen Reise über sich selbst erfahren?

Über die Autorin:

Amanda Kissel wurde in Neustadt an der Weinstraße geboren und arbeitet als Lehrerin. Mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie mitten im Pfälzerwald.

Von Amanda Kissel erscheinen bei dotbooks auch:

»Sommer im kleinen Haus am Wald«

»Kaktusblütenzeit«

***

eBook-Neuausgabe Juli 2021

Dieses Buch erschien bereits 2018 unter dem Titel »Apollonias Kiste« und unter dem Autorennamen Ursula Kissel im PVA Buchverlag.

Copyright © der Originalausgabe 2018 Pfälzische Verlagsanstalt Ludwigshafen GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Jordan Lea Photography / irin-k / Serg64 / Boris Stronjko / Maxim Khytra / BK666 und © Pixabay / Momentmal

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-159-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Amanda Kissel

Das kleine Haus am Wald

Roman

dotbooks.

Für Rolf

Kapitel 125. November: Herbststurm

Zur Mittagszeit hatte sich ein heftiger Sturm entwickelt. Um die großen Fenster der Kuprion Consulting im zwölften Stock des Firmengebäudes fegten pfeifend die Windböen. Die dunkelgrauen Regenwolken wurden wie zerrissene Gespenster über die Mannheimer Innenstadt gepeitscht.

Katja hob kurz den Blick vom Laptop und schaute zu, wie der Regen gegen die Scheiben sprühte. Sie stützte den Kopf in die Hände. Ein Blick auf die Uhr ließ sie erschrocken überlegen, was sie die letzte Viertelstunde überhaupt getan hatte. Hatte sie nur vor sich hin gestarrt? Gegen Wellen von Übelkeit ankämpfend, zwang sie sich, mit ihrer Arbeit weiterzumachen. Morgen war Abgabetermin.

»Katja, wo bleibst du denn, Menschenskind«, drang ihr plötzlich die energische Stimme ihrer Chefin Bettina Mahler ans Ohr. »Husch, husch, wir haben Telko mit Sauer in München. Nimm deinen Laptop und dein Headset mit. Ich habe Besprechungszimmer fünf reserviert.« Bettina stand jetzt in ihrem teuren Hosenanzug vor ihr. »Mach zu«, drängte sie noch einmal unwirsch.

Als Katja langsam aufstand, wurde ihr so schwindlig, dass sie sich an der Schreibtischkante festklammern musste. »Mir geht's nicht gut«, murmelte sie.

»Oh, Entschuldigung. Komm, ich nehme dir den Laptop ab. Marcel!«, rief ihre Chefin und winkte ungeduldig den zwanzigjährigen Praktikanten herbei. »Bring Katja ein Glas Wasser.«

»Sofort«, antwortete Marcel von Liechtenfels und brachte so schnell ein Glas Wasser, dass es überschwappte.

Im Flur rutschte Katja das Glas aus den Händen, das Wasser ergoss sich über den flauschigen Teppich, und sie sackte in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte.

»Katja, was treibst du denn?«, rief Bettina nervös. »Komm, steh auf!«

Marcel versuchte ihr aufzuhelfen. Einige Mitarbeiter waren mit erschrockenen Mienen um sie herum stehen geblieben.

Katja hing mit letzter Kraft an Marcel. Alles drehte sich vor ihren Augen, ihr Herz raste und hämmerte unangenehm laut in ihrer Brust, und auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. Sie hatte nur einen Gedanken: Zoe. Sofort wallten Panikgefühle in ihr auf.

»Frau Mahler?«, flüsterte Marcel. »Soll ich vielleicht ...?«

»Ruft einen Krankenwagen«, forderte der Kollege von Katjas Nachbarschreibtisch ungeduldig. »Ihr seht doch, wie schlimm sie aussieht.«

Bettina schaute unschlüssig auf die Uhr. »Was fehlt dir denn, Katja?«

»Mir ist schwindlig«, flüsterte Katja.

Bettina seufzte. »Nun gut. Marcel, ruf einen Krankenwagen.«

»Nein! Auf keinen Fall«, wandte Katja, noch immer an Marcel hängend, ein. »Auf gar keinen Fall!« Ihr Herz klopfte noch heftiger, und die Übelkeit stieg erneut in Wellen hoch. Das Krankenhaus würde sie sicher zur Beobachtung dabehalten wollen. Was passierte dann mit Zoe? Wer holte sie von der Kita ab und kümmerte sich um sie?

»Dann fahr zum Arzt«, sagte Bettina. »Oder fahr du sie hin, Marcel. So wie es aussieht, kann sie ja nicht selbst fahren. Wer ist dein Hausarzt, Katja?«

»Ich habe keinen«, brachte Katja mit zugeschnürter Kehle hervor. »Ich hatte in den letzten fünf Jahren keine Zeit, zum Arzt zu gehen.«

»Fahr sie zu irgendeinem Arzt, Marcel.« Bettina war schon auf dem Absprung Richtung Besprechungszimmer. »Er soll dir irgendwas geben, Katja. Vielleicht kannst du wiederkommen. Unkraut vergeht nicht.«

Noch immer wütete der Sturm. Die letzten Blätter wirbelten durch die Straße, als Marcel von Liechtenfels Katja behutsam zu seinem Mini führte. Eine Wand aus Regen trieb auf sie zu, und die Tropfen stachen in ihre Gesichter. Völlig durchnässt schob Marcel sie auf den mit Papieren beladenen Beifahrersitz.

»Tut mir leid«, sagte Katja. »Das war nicht geplant.«

Marcels Blick streifte sie von der Seite. Sein Mantel roch nach feuchtem Hund. Vorsichtig rangierte er aus der Parklücke und fädelte sich in den Verkehr ein. Es goss in Strömen, und das Regenwasser gurgelte in die Gullys.

»Kein Problem«, erwiderte er verlegen. »Ich, äh, ich bringe Sie zum Hausarzt meiner Großmutter. Ein anderer fällt mir jetzt nicht ein, der in der Nähe wäre. Der kennt sich bestimmt aus. Er behandelt vorwiegend Ältere. Äh, meiner Oma konnte er bis jetzt auch immer bei so komischen Sachen helfen.« Er wurde knallrot und starrte angestrengt auf die Straße.

»Kein Problem«, sagte Katja. »Im Alter deiner Oma bin ich zwar mit Sicherheit noch nicht, aber deine Mutter könnte ich sein.«

Zehn Minuten später lieferte er Katja in der Nähe des Wasserturms in der Arztpraxis ab.

»Zurück ins Haifischbecken«, murmelte er, als er sich eilig verabschiedete, um zu Kuprion Consulting zurückzufahren.

Die freundlichen Arzthelferinnen hatten sie auf eine Liege in einem Behandlungszimmer verfrachtet. Katja lag reglos da und versuchte, sich zu beruhigen. Ihr Smartphone piepste mehrmals aufdringlich laut in ihrer großen Businesstasche, die an manchen Stellen immer noch Spuren von Schokoladeneis trug.

Zoe.

Arme kleine Elfe, dachte Katja verzweifelt und Tränen stiegen ihr in die Augen. Während der Regen unaufhörlich an die Fensterscheiben trommelte, stellte sie sich ihre fünfjährige Tochter vor, wie sie in der Kita auf einem dieser Hockerchen saß und malte oder spielte.

Zoe sah aus wie sie selbst: dunkelrote, schulterlange glatte Haare und ernste schiefergraue Augen. Ein Kind, das auf vieles verzichten musste. Sie verbrachte täglich zehn Stunden in der Kita, da es Katja nicht möglich war, bei Kuprion Consulting kürzerzutreten. In dieser Jahreszeit füllte sich der Gruppenraum der Kita mit gebastelten Nikolausfigürchen und Sternen aus Goldpapier, aber Katja hatte um 7.30 Uhr, wenn sie Zoe eilig brachte, kein Auge dafür. Zoe klammerte sich jeden Morgen schluchzend an ihren Hals und bat sie, sie früh abzuholen. Seit Zoe mit einem Jahr in die Kita gekommen war, hatte Katja dies nur dreimal geschafft. Meistens saß Zoe als letztes Kind wie ein Häufchen Elend im Gruppenraum und wartete auf sie.

»Warum hast du überhaupt ein Kind bekommen?«, zischte die Putzfrau Katja immer mal wieder verächtlich zu und wischte demonstrativ um Zoes Füße herum.

Das war Katjas täglicher Tiefpunkt der Scham und Traurigkeit. Ihr Leben bestand aus Hektik, Zeitdruck, Überforderung, schlechtem Gewissen und ständiger Müdigkeit. Stumm nahm sie Zoe jeden Abend auf den Arm und trug sie über den nassen Fußboden hinaus. Nichts wünschte sie sich mehr, als das alles ändern zu können.

Das kleine Behandlungszimmer, in dem sie lag, drehte sich. Hoffentlich hatte sie nichts Schlimmes. Was sollte dann aus Zoe werden? Die Äste der Bäume vor dem Praxisfenster bogen sich im Sturm, und Erinnerungsstücke trieben ihr wie Wolken durch den Kopf.

Als sie so alt war wie Zoe, war alles anders. Sie wohnte zusammen mit ihrer Mutter, Tante, Kusine, Großmutter Apollonia und deren Bruder August in diesem uralten Haus am Waldrand. Das Haus war ihre Burg, ihre Festung. Solange sie dort lebte, war sie in Sicherheit und Wohlbehagen eingewickelt wie in eine wärmende Decke. Viele endlose Sommer lang spielten sie im völlig verwilderten Garten, der an den Waldweg grenzte. Die Höhle im Hang war ihr geheimer Ort – er gehörte nur ihr und ihrer Kusine Isabelle. Später jedoch sackte ein Teil der Höhle ein, und Großmutter Apollonia verbot ihnen, sie zu betreten.

Bilder von dämmrigen Sommerabenden zogen durch ihre Erinnerung: Isabelle und sie, barfuß in Trägerkleidern, tanzen durch das hohe Gras, in dem die Grillen zirpen; ihre roten Haare fliegen, während sie sich drehen. Kartoffeln liegen in einer Feuerschale, es riecht nach Asche. In der Dunkelheit duftet es nach Rosenblüten; sie hören geheimnisvolle Laute der Tiere im angrenzenden Wald. Mit sandigen Füßen liegen sie im Bett; vor dem Einschlafen spielen Isabelle und sie heimlich Barbie unter der Bettdecke.

Und die Winter waren damals kälter, länger und dunkler als heute. Da gab es Bratapfelessen mit Oma in der warmen Küche, und am Kachelofen wurden Geschichten erzählt, während die Schatten vor den Fenstern länger wurden. In der Adventszeit zog der köstliche Duft von frischgebackenen Plätzchen durch das Haus, und Isabelle und sie stritten, wer als erste probieren durfte.

Katja erinnerte sich an das schürfende Geräusch, wenn Onkel August früh am Morgen den frisch gefallenen Schnee vom Bürgersteig schippte. Der hohe Schnee um das Haus herum glitzerte im Licht der Straßenlaternen.

All das hatte Zoe nicht.

Obwohl ihre Familie nach wie vor in dem Haus am Waldrand wohnte, und es nur eine knappe Stunde von Mannheim entfernt lag, hatte Katja es seit bestimmt zwei Monaten nicht mehr geschafft, am Wochenende zu ihnen zu fahren. Sie war zu antriebslos für alles geworden.

In ihrer Handtasche piepste das Smartphone erneut.

»Frau Friedinger?«

»Ja?«, murmelte Katja benommen und öffnete die Augen.

»Ich bin Doktor Finn-Lukas März.«

Ein junger, blonder Mann, der ihr keinen Tag älter als zwanzig vorkam, stand im Raum. Er war ziemlich groß und trug ein rosa Polohemd unter dem offenen weißen Kittel. Seine Jeans hatte am Knie ein kleines Loch. Es war kein Wunder, dass ältere Damen auf ihn flogen. Er weckte wahrscheinlich einen Mutterinstinkt, und sicher wünschten sie sich alle, ihm eine neue Hose kaufen zu dürfen.

Er legte ein Smartphone in einer neongelben Hülle auf den Schreibtisch, setzte sich auf einen Hocker und rollte lässig zu ihr her. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte er mit leiser und sehr angenehmer Stimme.

»Schlecht«, brachte sie mühsam hervor.

»Was haben Sie denn für Symptome?« Er rollte noch näher zu ihr.

Seit wann waren Ärzte noch so jung? Katja kam sich uralt vor. »Ich habe Herzrasen. Mir dreht sich alles«, sagte sie.

»Sie sind einundvierzig. Nehmen Sie Medikamente?«, fragte er und steckte sich einen Kaugummi in den Mund.

»Baldrian.«

»Wir werden gleich ein Blutbild machen.«

Das Smartphone in ihrer Handtasche piepste. Sie zuckte zusammen.

»Vielleicht sollten Sie das besser ausschalten«, sagte er beiläufig.

Sie fummelte hektisch in ihrer Handtasche herum, fand das Handy aber nicht. Ihre Hände zitterten.

»Nein, lassen Sie es, ist nicht wichtig. Haben Sie Familie, sind Sie verheiratet?«

»Ich bin ledig und alleinerziehend. Ich habe eine Tochter von fünf Jahren. Im Januar wird sie sechs.«

»Okay«, überlegte er und blickte nachdenklich hinaus in den Sturm. »Was arbeiten Sie denn?«

»Ich bin Beraterin bei Kuprion Consulting. Eigentlich habe ich Sozialpädagogik studiert, fand aber keinen passenden Job. Mir ist so schwindlig ...«

»Haben Sie Probleme in Ihrem Job?«

Katja versuchte den Kopf zu heben, ließ ihn aber gleich wieder sinken.

»Macht Ihnen Ihr Job Spaß?«, fragte er eindringlicher und beugte sich über sie.

Ihre Augenlider zuckten. »Spaß? Wenn ich nur endlich was anderes finden würde, wäre ich sofort weg da.«

»Viel Stress, hm?«, fragte er so nebenbei und zupfte an dem Loch in seiner Jeans.

Sie rang nach Worten. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte sie dann verstört. »Ich arbeite zehn Stunden am Stück. Die Zeit reicht nie, um mal was zu essen oder ein paar Minuten Pause zu machen. Es herrscht ein wahnsinniger Druck in der Abteilung. Und das Schlimme ist, dass ich dem nicht mehr standhalten kann. Außerdem schaffe ich es nie, meine Tochter pünktlich von der Kita abzuholen. Was sie von mir hat, sind schnelle Abendessen und Herumhetzerei.«

»Aha«, sagte Doktor März nachdenklich. »Und wie sieht's mit Entspannung aus? Können Sie sich am Wochenende regenerieren? Krempeln Sie bitte Ihren Ärmel hoch, ich nehme Ihnen jetzt Blut ab. Ich versuche, nicht daneben zu stechen.« Er grinste.

Katja wandte den Kopf ab, um das Blut nicht in das Röhrchen fließen zu sehen. »Entspannung, was ist das?«, fragte sie bitter. »Am Wochenende bin ich zu fertig, um zu entspannen. Die letzten Wochen lag ich nur auf der Couch herum. Ich finde es ganz furchtbar, dass ich zu kaputt bin, um wenigstens dann etwas Schönes mit meiner Tochter zu unternehmen.« Die Tränen traten ihr wieder in die Augen.

Er reichte ihr eine Papiertücher-Box und klebte ein rosa Herzchenpflaster über die Einstichstelle.

Sie musste lächeln. »Ich habe vor allem Angst«, sagte sie leise. »Davor, krank zu werden und nicht für meine Tochter sorgen zu können. Angst, dass meine Tochter einen Unfall hat. Das ist nicht so ganz normal, oder?«

»Mhm.« Er drehte sich auf dem Hocker um die eigene Achse und überlegte. »Diese Angst könnte aber auch ein Symptom sein.«

»Wofür?«, fragte sie alarmiert.

»Haben Sie jemanden, der Sie unterstützen kann? Familie, Verwandte oder so?«

»Ja, aber nicht hier in Mannheim.«

»Haben Sie Schlafstörungen?«

Katja nickte erschöpft. »Ja. Ich dämmere höchstens mal für eine Stunde ein, dann bin ich wieder hellwach. Das geht seit Wochen so. Ich finde keine Ruhe.«

Doktor März rollte auf seinem Hocker zum Schreibtisch zurück. »Sie sind überlastet und sollten zur Ruhe kommen. Nehmen Sie eine Auszeit. Ich schreibe Ihnen etwas auf, das Ihnen hilft, wieder in die Spur zu kommen, nicht mehr so niedergeschlagen zu sein und wieder Antrieb zu bekommen.«

»Sie meinen ...«, begann Katja, doch er unterbrach sie.

»Ja, genau, jetzt die Krankschreibung.«

Hoffentlich bis Ende der Woche, hoffentlich, sagte Katja sich in Gedanken wie ein Mantra vor. Ein paar Tage Ruhe wären so wunderbar.

»Vorerst mal zwei Wochen. Wir beobachten den Verlauf und sehen dann weiter. Möglicherweise gehen wir in die Verlängerung«, sagte Doktor März und hielt ihr den Zettel hin. »Kommen Sie nächste Woche wieder, dann haben wir das Ergebnis der Blutuntersuchung und besprechen alles Weitere, Psychotherapie und alles, was Sie jetzt brauchen.«

Er gab ihr noch ein paar Anweisungen: Sie solle noch eine Weile liegen bleiben und sich dann vorne am Empfang ein Taxi rufen lassen, da sie nicht in der Lage sei, Auto zu fahren. Dann steckte er sein neongelbes Smartphone in die Hosentasche, drückte ihr die Hand und verschwand lautlos.

Eine halbe Stunde lag sie regungslos auf der Pritsche. Außer dem Rauschen des Sturmes vernahm sie keinen Laut. Zweimal hörte sie jemand vorbeilaufen und Türen der anderen Behandlungszimmer leise auf- und zugehen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Das Telefon klingelte nicht mehr, keine WhatsApp-Nachrichten piepsten, keine Kollegen hetzten vorbei oder stellten ihr eine Frage, ohne Zeit für die Antwort zu haben.

Alles war ruhig und still. Zum ersten Mal seit Wochen. Sie war mit sich allein, ruhte auf der Pritsche wie auf einem Floß in gemächlichem Gewässer. Sie wünschte sich, der nette junge Arzt würde noch einmal nach ihr sehen.

Nach einer Weile versuchte sie vorsichtig, den Kopf zu heben und sich langsam aufzurichten. Es gelang ihr ohne größere Probleme. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht würde doch alles gut werden. Sie war zuversichtlich, ohne weiteren Zusammenbruch zur Kita zu kommen und ihr Kind abholen zu können.

Die Arzthelferinnen riefen ihr ein Taxi. Während sie darauf wartete, löste sie in der Apotheke gegenüber das Rezept ein. Noch etwas unsicher auf den Beinen stand sie unter dem Vordach, auf das der Regen platschte, und schrieb eine WhatsApp an ihre Chefin: Hallo Bettina, es tut mir sehr leid, ich bin zwei Wochen krankgeschrieben.

Bettinas Antwort kam prompt: Waaaas? Geht's noch???

Katja zuckte zusammen, als sie die Worte las. Kurz darauf erklang, wie sie vermutet hatte, die Titelmelodie von Blue Bloods auf ihrem Smartphone.

»Was soll das?«, kreischte Bettina ihr ins Ohr. »Du hast genau acht Minuten, um dich wieder ins Office zu schwingen. Morgen ist die Deadline! Was soll ich Sauer und Konsorten sagen?«

»Es geht wirklich nicht«, sagte Katja leise. »Ich bin krank. Ich kann wirklich nicht.«

»Zu was für einem Quacksalber hat der kleine von Liechtenfels dich gebracht? Hm, na gut, ich bin mal großzügig und gebe dir den Nachmittag frei. Geh zu einem anderen Arzt, lass dir was spritzen oder schluck meinetwegen ein paar Globuli, dann läuft das wieder.«

Katja schwieg.

»Du hast jetzt aber nichts wirklich Schlimmes, oder?«, fragte Bettina zögernd.

»Ich bin überarbeitet.«

»Ach so, wenn's weiter nichts ist«, sagte Bettina aufatmend. »Kindchen, das haben wir doch alle mal. Ruh dich das Wochenende über aus, mach Wellness oder was man da so macht, schlaf mal einen Morgen aus, geh mit deinem Kind ein bisschen spazieren. Und am Montag geht's weiter.«

»Hör zu, mein Taxi kommt«, sagte Katja widerstrebend. »Ich faxe dir die Krankmeldung nachher. Bis dann. Ich melde mich wieder.«

Aufgewühlt ließ sie sich vom Taxi in den Stadtteil Lindenhof zur Kindertagesstätte bringen. Ihr Smartphone piepste etliche Male und kündigte neue Nachrichten an. Sie ignorierte es, aber wohl fühlte sie sich nicht dabei. Sie starrte in die vor Regen triefenden Äste der Bäume am Straßenrand. In den Schaufenstern der Geschäfte standen bereits Christbäume mit blinkenden Lichterketten und großen, glänzenden Kugeln. Sie sah plaudernde Menschen in heimelig beleuchteten Cafés und Restaurants sitzen und fühlte sich fremd und ausgeschlossen von allem.

Zwei Wochen, hatte der Arzt gesagt, möglicherweise länger. Der Gedanke daran erleichterte sie, hatte sie doch seit einiger Zeit keine Kraft mehr, um auch nur die simpelsten Tätigkeiten auszuführen. Andererseits fühlte sie sich hilflos wie noch nie. Was sollte sie jetzt nur tun? Was würde aus ihren laufenden Projekten werden? Sie war zu pflichtbewusst, um sich keine Sorgen darüber zu machen, auch wenn die Arbeit ihre größte Qual war.

Der junge Arzt hatte ihr geraten, sie solle nun vor allem mal entspannen und zur Ruhe kommen. Er hatte gut reden. Wie sollte sie das angehen? Sie war überfordert damit, sich auszuruhen, da sie seit Jahren keine Zeit mehr dazu gehabt hatte. Wann hatte sie das letzte Mal etwas mit Muße und Geduld erledigt? Ohne von Bettina oder ihren Kollegen gedrängt und gehetzt zu werden, ohne unter Druck zu stehen, noch schneller, noch besser, noch effizienter sein zu müssen? Sie war ruhelos wie ein gejagtes Tier und völlig überfordert mit der Situation. Wo sollte sie hin?

Plötzlich sah sie ihr Ziel klar vor Augen. Es gab nur einen Ort auf der Welt, wo sie sein konnte.

Das Taxi ließ sie in einer stillen Straße im Lindenhof aussteigen. Erleichtert stellte Katja fest, dass ihr kaum noch schwindlig war. Es war erst halb vier. So früh hatte sie Zoe selten abgeholt.

In dem Backsteinhaus mit großem Garten war es recht leer. Die meisten der Kita-Kinder waren bereits zu Hause. Drinnen roch es nach abgestandener Luft, und alle Räume waren mit kaltem Licht erleuchtet. An der Garderobe hingen nur noch wenige Kinderjacken.

Schmitti, die Gruppenleiterin, saß lustlos auf einem der kleinen Stühlchen am Tisch, an dem die verbliebenen drei Kinder malten, und schrieb gerade ihren Einkaufszettel.

»Guten Tag, Frau Schmitt«, sagte Katja und sah über Zoes Schulter auf das Blatt Papier, das ihre Tochter mit großen Buchstaben füllte.

»Mhm.«

Wie immer brachte Schmitti es nicht fertig, richtig zu grüßen. Katja atmete tief durch. Mama, Oma, Uroma hatte Zoe in ungelenken Großbuchstaben geschrieben.

»Mama!«, rief Zoe und stand so schnell auf, dass ihr Stühlchen umfiel. Sie warf sich ihrer Mutter an den Hals. »Warum bist du so früh? Gehen wir heim?«

»Stell den Stuhl wieder hin«, sagte Schmitti genervt.

»Seit wann kann sie denn die Wörter schreiben?«, fragte Katja erstaunt, während Zoe sie umklammerte wie ein Ertrinkender den Rettungsring. Bitter wurde ihr wieder einmal bewusst, wie viel sie versäumte.

Schmitti zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Paar Monate oder so. Übrigens braucht sie neue Hausschuhe. Gucken Sie doch mal. Der eine Schuh hat ein Loch. Wir haben Ihnen schon vor Monaten eine Notiz in Zoes Fach gelegt.«

»Äh ... ja.«

»Gehen wir heim?«, wiederholte Zoe mit strahlenden Augen. »Hast du heute mal Zeit, Lotti Karotti zu spielen?«

Katja sah ihre Tochter an. Das pinkfarbene Schneewittchen-Shirt biss sich mit ihren dunklen roten Haaren, die wirr und ungekämmt aussahen nach dem Tag in der Kita. Sie küsste sie auf die weiche Wange. »Geh schon mal vor und zieh dir die Jacke und die Schuhe an. Ich komme gleich.«

»Frau Schmitt«, sagte Katja, während Zoe, ihre Bitte ignorierend, neben ihr stehen blieb. »Ich verreise mit Zoe. Ich entschuldige sie für den ganzen Dezember, danach melde ich mich und wir sehen weiter.«

»So?« Schmitti starrte sie kühl an. »Das ist aber nicht üblich, so lange zu fehlen. Kinder brauchen einen festen Rhythmus, das wissen Sie doch. Besonders Kinder wie Zoe.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Katja unangenehm berührt. »Geh dich bitte anziehen, Zoe.«

»Nein, ich will bei dir bleiben«, sagte Zoe störrisch und umschlang Katjas Arm.

Die Erzieherin starrte nun das Kind mit zusammengekniffenen Augen an. »Na, Kinder, deren Mütter keine Zeit für sie haben.«

»Es gibt halt Mütter, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen müssen«, sagte Katja bemüht kühl. »Außerdem verreise ich ja gerade deswegen mit ihr. Um Zeit mit ihr zu verbringen.«

»Wie Sie meinen«, murmelte Schmitti, in ihre übliche Lustlosigkeit verfallend. »Tschüss Zoe, frohe Weihnachten.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Katja, wurde aber wie immer nicht zurückgegrüßt.

»Ich freue mich so, dass du mich heute mal früher abholst«, stammelte Zoe glücklich, als Katja sie in der Garderobe anzog. »Marleen wird immer schon um zwölf abgeholt.« Sie umarmte ihre Mutter so stürmisch, dass sie beide rückwärts gegen die Garderobe fielen.

Lachend zog Katja ihr den Reißverschluss hoch. »Hör mal, kleine Elfe. Wegen Marleens Kindergeburtstag. Wäre es sehr schlimm, wenn du morgen nicht hingehen könntest? Du hast ja gehört, was ich zu deiner Erzieherin gesagt habe. Wir beide fahren weg.«

»Jajajaja!«, kreischte Zoe freudig los. »Ich will mit dir wegfahren! Ganz lange! Bis Ostern! Marleen kann ich ein anderes Mal besuchen, oder?«

Katja nickte. »Ich rufe gleich ihre Mutter an.«

Zu Fuß gingen sie die zehn Minuten bis zum Büroturm, in dem sich die Räume der Kuprion Consulting befanden. Sie hatte hier ihr Auto geparkt und fühlte sich in der Lage, wieder zu fahren.

Zoe umklammerte ihre Hand, als hätte sie ihre Mutter seit Monaten nicht mehr gesehen. Katja hoffte, niemandem aus der Firma zu begegnen. Aber um diese Zeit waren sämtliche Mitarbeiter garantiert hinter Schreibtischen und in Besprechungsräumen verschanzt.

Zu ihrer Überraschung saß Marcel von Liechtenfels, der Praktikant, auf dem kleinen Mäuerchen vor dem Bürogebäude. Er hielt sich an einem Becher Kaffee fest, und weder der immer noch plätschernde Regen noch die Windböen schienen ihm etwas auszumachen.

»Oh, äh, Frau Friedinger!«, stammelte er überrumpelt.

»Was tust du hier, Marcel?«

»Och, ich ...« Verlegen schaute er in den Kaffeebecher.

»Hast du es drinnen nicht mehr ausgehalten?«

»Könnte man so sagen. Diese Frau ist eine menschenfressende Pflanze. Die tobt schon den ganzen Nachmittag wie eine Furie.«

»Ich weiß«, sagte sie.

»Und ... wie geht es Ihnen, Frau Friedinger? Hat der Arzt Ihnen helfen können?«, fragte Marcel bemüht, um von sich selbst abzulenken.

»Ja. Danke, dass du mich zu dem Arzt gebracht hast, Marcel. Sie zögerte einen Moment, aber wahrscheinlich wusste es ohnehin inzwischen die ganze Abteilung. »Ich bin krankgeschrieben.«

»Mhm«, murmelte er. »Der Doc scheint nett zu sein. Meine Oma ist Stammkundin bei ihm, und er hat sie so gut behandelt, dass sie ihm sogar was zu Weihnachten schenken will.

Zoe zerrte ungeduldig an ihr. »Komm endlich, Mama.«

»Frohe Weihnachten, Marcel«, sagte Katja. »Es sind zwar noch vier Wochen bis dahin, aber wir werden uns vorher vielleicht nicht mehr sehen.«

»Frohe Weihnachten«, wünschte Marcel niedergeschlagen und sah ihr zu, wie sie Zoe in ihrem Kindersitz anschnallte und wegfuhr.

Katja schloss die Haustür auf. Ihre Wohnung lag im Zentrum Mannheims in einem schönen Jugendstilhaus. Ähnliche Häuser drängten sich dicht an dicht im ganzen Viertel. Sie und Zoe wohnten im Hochparterre.

Zoe warf ihre Kindergartentasche im Flur auf den Boden und rief: »Ich fange gleich an zu packen, Mama, ja? Wo fahren wir überhaupt hin? Nach Japan oder Madagaskar?«

Katja ließ sich auf die Couch fallen, ohne das Licht anzuschalten. Sie war ausgelaugt und müde.

»Mama, Mama«, rief Zoe aufgedreht und kam mit einem rosa Koffer und einem Bikini in der Hand um die Ecke. »Wenn wir nach Madagaskar fahren, nehme ich meinen Bikini mit!«

»Wir fahren nicht nach Madagaskar«, murmelte Katja mit geschlossenen Augen. »Wir fahren nur zu Oma und Uroma.«

»Ah ja, okay.« Zoe disponierte blitzschnell um. »Dann packe ich meine Taschenlampe ein und die Gummistiefel. Wann fahren wir? Gleich?«

Katja stöhnte. »Gib mir einen Moment zum Ausruhen.«

»Gut, dann in vier Minuten, Mama«, rief Zoe und hüpfte unter großem Gepolter in ihr Zimmer.

Katja saß lange Zeit regungslos in der Dunkelheit. Sie wollte eigentlich schon längst auf der Autobahn sein. Aber sie brachte nicht einmal die Kraft auf aufzustehen, geschweige denn eine Reisetasche zu packen. Zoe rumpelte im Nebenzimmer mit ihren Spielsachen.

Eigentlich hatte sie eine sehr schöne, gemütliche Wohnung, dachte sie. Alte Holzdielenböden und hohe Decken mit Stuckverzierungen. Ein Wohnzimmer mit Blick auf die Straße, ein kleines Kinderzimmer, ein Schlafzimmer mit winzigem Balkon, der nach hinten auf eine Reihe kleiner Gärten hinausging. Es wäre schön, im Sommer abends dort zu sitzen und den Nachbarn zuzusehen, die in ihre Gärten kamen, um zu gießen oder den Feierabend zu genießen.

Sie hatte noch kein einziges Mal auf dem Balkon gesessen.

»Mama, warum packst du nicht?«, rief Zoe ungeduldig und schleppte ihr riesiges Playmobil-Schloss an.

Im Flur sah Katja schon den rosa Koffer stehen. »Was willst du mit dem Schloss?«

Zoe riss ungläubig die Augen auf. »Aber Mama! Das muss mit zu Oma!«

»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte Katja erschöpft. »Dafür haben wir keinen Platz im Auto. Wir brauchen zwei Reisetaschen für die Kleider, dann haben wir deinen rosa Koffer, in den du bestimmt genug Spielzeug gepackt hast.«

Vor Entrüstung sprangen heiße Tränen aus Zoes Augen. »Aber Mama, das ist gemein! Ich habe nie Zeit, mit dem Schloss zu spielen, weil ich immer in der Kita bin!«

Katja gab sich geschlagen. Sie hatte keine Energie für Diskussionen. »Und wie sollen wir das Monstrum ins Auto bekommen?«

Zoe lächelte altklug, huschte hinaus und kam eine Sekunde später mit einer großen, blauen Plastiktasche zurück.

»Damit natürlich«, erklärte sie nachsichtig und zerrte das Schloss in die Tasche.

Mühsam erhob sich Katja von der Couch. Sie musste packen, es ließ sich nicht länger hinausschieben.

Ratlos stand sie kurz darauf vor ihrem Kleiderschrank und sah: dunkelblaue Stoffhosen, schwarze Stoffhosen, eine dunkle, businesstaugliche Jeans und weiße Blusen. Falls sich in den nächsten Tagen wieder ein Fünkchen Energie in ihr entzünden sollte, würde sie sich neue Klamotten kaufen. Sie schlüpfte in ihre dunkle Jeans, zog statt der zerknitterten Bluse eine andere an und warf kopflos einige Kleidungsstücke in die Reisetasche. Auch für Zoe packte sie eine Tasche und ihr wurde schmerzlich bewusst, dass es ihr noch immer nicht gelungen war, ihrer Tochter neue Winterpullover zu kaufen. Aus den alten war sie längst herausgewachsen.

Endlich waren sie auf der Autobahn. Sie kamen langsam voran, der Feierabendverkehr verstopfte die Straßen.

»McDonald's!«, schrie Zoe, die mit einem weißen Plüscheinhorn in den Armen auf dem Rücksitz saß, »Mama, ich habe Hunger!«

»Na so ein Zufall, dass du gerade jetzt Hunger kriegst, wo du das goldene M siehst«, lachte Katja. Sie ließ sich erweichen und ging mit Zoe Hamburger und Pommes frites essen, einfach weil sie das lange nicht mehr getan hatten. Als sie zum Auto zurückgingen, klammerte sich Zoe glücklich an sie.

Langsam näherten sie sich ihrer alten Heimat. Vor ihnen lagen die Hügel des Pfälzerwaldes, vom Nebel eingehüllt wie in dicke Wattebäusche. Immer, wenn Katja aus der Rheinebene kam, hatte sie das Gefühl, die tiefen Wälder würden sie freundlich und beschützend aufnehmen wie eine Höhle.

Sie fuhren durch Neustadt und folgten dann der Bundesstraße, die sie durch dichten Wald führte. Die Straße war eng und kurvig und glänzte vor Nässe. Als der Wald sich lichtete, kam das Ortsschild ihrer Heimatstadt in Sicht.

»Wo sind wir jetzt?«, fragte Katja, einem alten Ritual folgend.

»Lambrecht!«, kreischte Zoe.

Katja lachte. »Hör mal, kleine Elfe, ich freue mich ja, dass du dich freust, dass wir zu Oma und Uroma fahren, aber schrei doch nicht immer so! Du kannst dich auch leise freuen.«

»Das ist leider unmöglich«, sagte Zoe altklug.

Lambrecht wurde von der Hauptstraße, die in die anderen Talgemeinden führte, in zwei Teile getrennt. Man wohnte entweder links oder rechts der Hauptstraße. Die Häuser im Zentrum standen auf einer kleinen Tiefebene, jedoch schwang sich die kleine Stadt zu beiden Seiten die Hügel hinauf. Die meisten Einwohner wohnten am Hang, viele am Wald, der die Stadt von allen Seiten einschloss.

Katjas Familie wohnte rechts der Hauptstraße, und sie fuhr langsam die sich windende, immer enger werdende Straße hinauf.

»Wann sind wir da, sind wir endlich da?«, rief Zoe aufgeregt und zappelte auf ihrem Sitz. »Da ist es, da vorne ist Omas Haus!«

Das Haus der Friedinger-Frauen war wie so viele andere hier in den Hang hineingebaut. Das Erdgeschoss lag vorne ebenerdig zum hoch gelegenen Vorgarten, der hintere Teil im Erdreich war praktischerweise Keller.

Katja wurde ganz warm vor Freude. Endlich war sie zu Hause. Sie hoffte, dass alle da waren. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihre Familie in den letzten Wochen vermisst hatte.

Ihre Großmutter Apollonia Katharina Friedinger, geborene Walter, war das Oberhaupt der Familie, eine Art gütige Matriarchin. Sie war vor 89 Jahren in diesem Haus geboren und hatte ihr Leben lang darin gewohnt. Wie damals üblich, hatte sie früh geheiratet – den Architekten Klemens Friedinger aus dem Nachbardorf Frankeneck – und zwei Töchter bekommen, Gudrun und Evelyn. Nach fünfundzwanzig Ehejahren war ihr Ehemann bei einem Baustellenunglück ums Leben gekommen. Seitdem hatte sie sich allein durchgeschlagen, auf dem Katasteramt in Neustadt gearbeitet und sich um ihre beiden Töchter gekümmert.

Da Apollonia eine bemerkenswerte und interessante Frau war, hatte es ihr nie an Verehrern gemangelt, aber es gefiel ihr, unabhängig zu sein und tun und lassen zu können, was sie wollte. Auch jetzt, im hohen Alter, war sie noch immer eine aufrechte, attraktive Erscheinung. Das ehemals tizianrote Haar, das sie nicht wie viele ihrer Altersgenossinnen praktisch kurz geschnitten trug, sondern in einem schwingenden Bob, war inzwischen silbergrau. Und ihre Garderobe war so eigenwillig wie früher. Second-Hand-Kleider veredelte sie mit teuren, französischen Seidentüchern, und zu Röcken, die sie auf dem Flohmarkt gefunden hatte, trug sie mit Vorliebe eine elegante Tasche und spitze Pumps, die sie in Paris gekauft hatte.

Katja bewunderte ihre Großmutter für ihre Eigenwilligkeit und diesen einzigartigen Stil. Sie hatte Jahre mit dem Versuch verbracht, einen ebenso eigenen Stil zu kreieren, aber an ihr sah nichts besonders aus. In ursprünglich edlen Second-Hand-Klamotten sah sie nur altbacken aus, und die sündhaft teure Tasche, für die sie zwei Jahre gespart hatte, hatte inzwischen Flecken von Zoes Eisfingern.

Apollonia war das unbestrittene Vorbild aller Friedinger-Frauen – sie war stark und selbstbewusst und ließ sich von niemandem für dumm verkaufen.

Sie hatte einen Bruder, das einzige männliche Mitglied des Friedinger-Clans, auch wenn er mit Nachnamen Walter hieß. August war vier Jahre jünger als Apollonia. Vor Jahrzehnten hatte er eine Finnin geheiratet und lange Zeit in Finnland gelebt, von wo er Katja und ihrer Kusine immer viele bunte Postkarten geschickt hatte, die sie in einem geschnitzten Holzkästchen aufbewahrten. Als es mit der Finnin auseinanderging, war August zurück nach Lambrecht gekommen und zu der verwitweten Apollonia und ihren Töchtern gezogen. Seinen Lebensunterhalt hatte er mit dem Schreiben von Artikeln für die Tal-Depesche verdient, einer Zeitung für die sechs kleinen Gemeinden im Lambrechter Tal. Sie beinhaltete vor allem Artikel über lokale Feste, Zusammenfassungen der Stadtratssitzungen, Fotos von Ausflügen der Kindergärten und Schulen und Berichte über die Aktivitäten der Vereine.

Mit der Zeit war August immer eigenbrötlerischer geworden. Oft schlurfte er zwischen den Frauen umher und murmelte vor sich hin, wenn sie wieder leidenschaftlich diskutierten. Jede Woche las er jedes Wort der noch immer erscheinenden Tal-Depesche und grummelte, unzufrieden mit der Qualität der Berichte. Katja und ihre Kusine Isabelle hatten in ihrer Kindheit viel Spaß mit August gehabt. Im Dezember hatte er für sie den Nikolaus gespielt und einen Sack voller Geschenke mitgebracht, er war mit ihnen Schlitten gefahren und in den Wald gegangen. Im Sommer hatte er ihnen die Bäume und Pilze erklärt und im Garten Strickleitern zum Klettern aufgehängt. Er hatte ihnen Lampions gebaut, die sie in ihrer Höhle im Hang des Gartens aufstellen konnten, und sie, als sie älter wurden, ins Schwimmbad gefahren und abgeholt.

Es erfüllte Katja mit Traurigkeit, zu sehen, wie vor allem August älter wurde. Im Gegensatz zu seiner energiegeladenen Schwester ging er inzwischen gebeugt und kam nur noch mit Mühe die Treppen hoch bis unters Dach, wo er und Apollonia ihre Räume hatten.

Gudrun war die ältere Tochter Apollonias. Im Gegensatz zu ihrer Mutter und Schwester waren ihre Haare von einem helleren Rot und kräuselten sich in unzähligen Locken, die sie aber in einem festen Knoten bändigte. Gudrun war von strengerem Naturell. Nachdem sie nach einer kurzen, zweiwöchigen Beziehung im Urlaub an der bretonischen Küste schwanger geworden war, der Kindsvater aber keinerlei Interesse an einer wie auch immer gearteten Zukunft hatte, kam sie wieder zurück zu Apollonia nach Lambrecht und zog dort ihre Tochter Isabelle groß. Tante Gudrun war pflichtbewusst und ernsthaft in jeder Beziehung, manchmal zu sehr, wie Katja und ihre Mutter fanden, und hatte wenig Humor. Stets war sie wie aus dem Ei gepellt, gepflegt, adrett, makellos gekleidet. Sie arbeitete in Neustadt bei einer Versicherungsgesellschaft. Selbst als Isabelle noch ein kleines Kind war, hatte Gudrun es geschafft, alles bis ins Kleinste perfekt zu organisieren und für ihre Tochter einen ausgeklügelten Wochenplan mit Klavierstunden, Ballettunterricht und Reiten zu erstellen.

Apollonias jüngere Tochter Evelyn, genannt Eve, war das genaue Gegenteil von ihr. Ihre Haare waren von einem satten, dunklen Rot, glatt wie gebügelt, und während Gudrun groß und dünn, fast hager wirkte, war Eve klein und mit weiblichen Formen.

Auch charakterlich unterschieden sie sich stark. Eve, die in einer Rechtsanwaltskanzlei in Neustadt arbeitete, war oft zerstreut und nicht bei der Sache, weil sie gedanklich mit irgendetwas anderem beschäftigt war. Gudrun bemerkte manchmal spitz, es wundere sie, dass Eve noch nicht hochkant aus ihrer Arbeit geflogen war.

Von ihrer Erscheinung her war Eve auch eher unordentlich, oft passte der Pullover nicht zur Hose oder an der Jacke fehlte ein Knopf. Gelegentlich ließ sie ihren Schal in der Kanzlei hängen, statt ihn für den Heimweg anzuziehen, oder ihr fiel am Abend ein, dass sie morgens die Waschmaschine eingeschaltet und seitdem nicht ausgeräumt hatte.

Eve war einige wenige Jahre verheiratet gewesen und hatte in Neustadt gewohnt. Katja war ihre einzige Tochter. Nach der Scheidung zog sie wie ihre Schwester Gudrun zurück in das Elternhaus in Lambrecht. Katjas Vater war selten aufgetaucht, vor einigen Jahren war er gestorben. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Gudrun organisierte sie keinen ausgeklügelten Stundenplan für ihre Tochter. Nach der Schule spielte Katja, las oder bastelte.

So waren Katja und ihre Kusine Isabelle, die drei Jahre älter war als sie, wie Schwestern im Haus ihrer Großmutter zusammen aufgewachsen. Jeder hatte seinen eigenen Bereich: Ganz oben unter dem Dach wohnten Apollonia und August, in der ersten Etage Gudrun und Isabelle, im Erdgeschoss Eve und Katja. Sie hatten eine herrliche, unbeschwerte Kindheit, wohlbehütet im Schoße der großen Familie. Isabelle, die wie ihre Mutter hellrote, krause Haare hatte, die in alle Himmelsrichtungen sprangen, war zwar etwas besserwisserisch und altklug, aber sie war wie eine große Schwester. Zusammen gingen sie in die Schule, und zusammen kehrten sie mittags heim. Ihre Mütter waren zwar noch bei der Arbeit, aber Großmutter Apollonia war zu diesem Zeitpunkt immer schon daheim, hatte ein warmes Essen gekocht und setzte sich mit ihren Enkelinnen an den großen Küchentisch, im Sommer an den verwitterten Gartentisch, um mit ihnen Hausaufgaben zu machen. Danach bauten die Kusinen – sofern Isabelle nicht zur Ballettstunde oder zum Klavierunterricht musste – in Großmutters Wohnzimmer unter dem Dach Höhlen aus vielen Decken oder spielten mit ihren Puppen. Im Sommer tobten sie in dem großen Garten herum, der sich über den Hang bis hoch an den Wald zog. Oft kletterten sie über den niedrigen Zaun und liefen den Waldweg entlang, um Brombeeren oder Walderdbeeren zu suchen.

Als sie noch kleiner waren, durften sie die Höhle im Garten noch betreten. Durch eine Öffnung schlichen sie in die ausgehöhlte Kammer im Erdreich, die im Laufe der Zeit im Hang entstanden war. Sie schleppten Getränke, Kekse, Kissen, Kerzen und Spielsachen hinein – hier war ihr Refugium, ein Ort, der nur ihnen allein auf der Welt gehörte. Später bröckelte das Erdreich und es wurde zu gefährlich, die Höhle zu betreten. Apollonia passte hier auf wie ein Schießhund. Ohnehin wurden die Kusinen älter und hatten andere Interessen.

Im Laufe der Jahre hatten sich die Kusinen etwas voneinander entfernt, obwohl sie ein ähnliches Schicksal teilten. Mit Männern hatte keine von ihnen Glück gehabt, darin erging es ihnen genauso wie ihren Müttern. Beide hatten Erfahrungen gemacht, die Wunden hinterlassen, die sie geprägt haben. Sie sprachen aber kaum darüber. Isabelle erschien zuweilen etwas verbittert, wollte die Vergangenheit aber ruhen lassen. Katja dachte oft: Was wäre gewesen, wenn ... Aber das war müßig. An einem Punkt in ihrem Leben waren sie allein gelassen worden. Wenigstens hatten sie beide wundervolle Töchter: Katja hatte Zoe, und Isabelle war Mutter der neunjährigen Ida-Marie.

»Mann, ist das schwer«, stöhnte Zoe, die ihren rosa Koffer mit den Spielsachen hinter sich her zog und im Arm ihr Einhorn hielt. In der Dunkelheit stiegen sie die vom Regen rutschigen Treppenstufen hoch bis zur Haustür. Alle Fenster des Hauses am Hang waren erleuchtet und schienen sie willkommen zu heißen. Katjas Herz pochte vor Aufregung.

»Darf ich klingeln?«, fragte Zoe, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern klingelte Sturm.

Es dauerte lange, bis jemand an die Tür kam. Es war Eve, die ihnen öffnete. Katja erschrak bei ihrem Anblick. Ihre Mutter trug eine alte Strickjacke, deren Gürtel nachlässig gebunden war. Ihre Augen waren rot verweint und in ihrer Hand hielt sie ein zerknülltes Taschentuch.

»Du kommst gerade zur rechten Zeit«, flüsterte Eve mit erstickter Stimme. »Deine Großmutter ist vor einer Stunde gestorben.«

Kapitel 2Verloren im rollenden Rad der Zeit

Katja verharrte benommen in der Haustür. Ihre Mutter schlang den Arm um sie, während Zoe laut zu schluchzen begann. »Uroma? Warum ist Uroma tot? Wo ist sie?«

Eve ließ Katja los und nahm ihre Enkelin auf den Arm. »Uroma ist tot, kleine Elfe. Sie liegt in ihrem Schlafzimmer.«

Eine heftige Schwindelwelle überrollte Katja, so stark wie am Mittag. Unsicher hielt sie sich an einer Kommode fest.

»Kommt erst mal rein«, sagte Evelyn und schnäuzte sich in ihr Taschentuch. »Wir sind alle oben.«

Die Taschen ließen sie stehen, wo sie waren, und stiegen die steilen Treppen hoch bis zur Dachwohnung. Katja schnürte es die Kehle zu, während ihre Tochter hemmungslos weinte und sich an ihre Oma schmiegte.

Apollonias Reich war hell erleuchtet. Die Räume mit den Dachschrägen lagen im warmen Licht der altmodischen Lampen und der Kerzen, die auf Tischen und Kommoden standen. Hier hatte Katja ihr halbes Leben verbracht. Bereits als Kind liebte sie die dicken Teppiche, die ihre Schritte schluckten, die schweren Schränke und Stühle aus dunklem Holz, die Aquarelle an den Wänden, die wurmstichige, mit Ölfarben bemalte Truhe, in der Apollonia ihre Bücher und Halstücher gehortet hatte.

»Pscht«, murmelte Eve unbeholfen und strich Zoe tröstend über die wirren, roten Haare.

»Uroma ...«, stieß die Kleine schluchzend hervor, dann wimmerte sie leise.

Es war still in dem kleinen Wohnzimmer. Tante Gudrun und ihre Kusine Isabelle saßen mit rotgeränderten Augen und feuchtgeweinten Taschentüchern in den Händen auf Apollonias geblümten Samtsofa, während die neunjährige Ida-Marie sichtlich mitgenommen auf dem Teppich zwischen ihren Knien kauerte. Zoe kniete sich sogleich neben sie, und zusammen weinten sie leise vor sich hin.

Katja umarmte ihre Tante und ihre Kusine.

»Gut, dass du da bist«, sagte Gudrun bemüht gefasst.

»Wie ist es passiert?«, flüsterte Katja und ließ sich auf einen der schweren Stühle fallen.

»Es ging ihr den ganzen Tag schon nicht gut«, berichtete Isabelle. »Vor gut einer Stunde ist sie zusammengebrochen mit Schmerzen und Atemnot. Wir haben sofort den Notarzt verständigt ...« Sie schluchzte leise auf.

»Es war ein Herzinfarkt«, stellte Gudrun fest. »Es dauerte nicht lange, bis der Rettungswagen kam, aber man konnte ihr nicht mehr helfen.«

»Wenigstens musste sie nicht lange leiden und starb in ihrem eigenen Bett«, murmelte Evelyn und lief im Zimmer auf und ab.

»Wie bist du so schnell hergekommen?«, fragte Isabelle. »Ich kam erst vor zehn Minuten dazu, dir eine Nachricht aufs Handy zu sprechen.«

»Ach«, murmelte Katja. »Ich war auf dem Weg hierher. Ich erzähle euch später, warum.«

»Mama ist krank und wir machen Ferien hier, vielleicht fahren wir auch noch nach Madagaskar«, trompetete Zoe. »Auf jeden Fall muss ich nicht mehr in die Kita und kann jetzt jeden Tag was Vernünftiges machen.«

Alle starrten sie an. Katja wurde rot. »Ich erklär euch alles später. Es ist nichts Dramatisches.«

»Na, da bin ich aber mal gespannt«, sagte Gudrun in ihrer üblichen Überheblichkeit, sank aber sogleich wieder in sich zusammen.

»Möchte jemand Tee?«, beeilte sich Eve zu fragen.

Schweigend saßen sie beisammen: Die Kerzen flackerten und vor dem Dachfenster begann der zunehmende Mond, am Winterhimmel blass zu leuchten. Katja fröstelte. Selten hatte sie sich unter Menschen so allein gefühlt. Apollonia war für immer gegangen. Katjas Welt war aus dem Gleichgewicht geraten, hing schief in ihren Angeln. Nichts war gut, und sie hatte das brennende Gefühl, als würde nie wieder etwas gut oder unbeschwert sein.

Eve schlich umher und fragte zum wiederholten Mal, ob jemand Tee wolle. Niemand antwortete, sodass sie einfach in Omas Küche ging, Wasser in den Wasserkocher goss und mit Bechern klapperte. Zoe und Ida-Marie stahlen sich zu ihr, als müssten sie es heimlich tun.

»Was geschieht jetzt?«, fragte Katja.

»Wir warten auf den Bestatter«, sagte Isabelle. »Er müsste bald da sein und Oma mitnehmen.«

Katja schreckte plötzlich hoch. »Wo ist August? Um Himmels Willen, ich habe gar nicht gemerkt, dass er fehlt.«

»Er ist bei Apollonia«, sagte Gudrun. »Er hält Totenwache. Das haben wir die letzte Stunde abwechselnd gemacht. Geh nur zu ihm.«

Katja wurde heiß und kalt. Sie fürchtete sich davor, ihre tote Großmutter zu sehen, und sie fürchtete den Anblick ihres Onkels. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihn Apollonias Tod am meisten erschütterte. Sie war seine große Schwester, er hatte fünfundachtzig Jahre mit ihr verbracht. Auch der Gedanke, vorn Stuhl aufzustehen, machte ihr Angst. Wieder drehte sich alles vor ihren Augen und sie zitterte heftig.

»Was ist los?«, fragte Isabelle, die sie argwöhnisch beobachtete.

»Nichts«, sagte Katja und stand abrupt auf. Sie schaffte es aus dem Zimmer, den schmalen Flur entlang zu Omas Schlafzimmer. Die Tür war nur angelehnt. Drinnen brannten viele Kerzen – auf dem Fensterbrett, auf dem Nachtschränkchen, auf der Kommode.

Bei Augusts Anblick zerriss es ihr das Herz. Zusammengesunken saß er auf der Bettkante und hielt die Hand seiner toten Schwester. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam, und beim Nähertreten sah sie, dass ihm stille Tränen über die Wangen liefen.

»Onkel August«, flüsterte sie. Und jetzt konnte auch sie zum ersten Mal weinen. Er hörte sie nicht. »Onkel August.«

Er reagierte nicht. Sie setzte sich neben ihn aufs Bett und schlang ihren Arm um ihn. Fast unmerklich wandte er sich ihr für einen Augenblick zu. Schweigend saßen sie am Totenbett und weinten. Apollonia lag auf der dicken Daunendecke. Die Augen waren geschlossen, als ob sie nur schliefe, und das glänzende silbrige Haar lag aufgefächert auf dem Kopfkissen.

Später kam das Bestattungsunternehmen, kümmerte sich diskret um die Tote und brachte sie weg. Während Eve hilflos umherwanderte und Tee verschüttete, führte Gudrun Onkel August ins Wohnzimmer, wo sie alle zusammensaßen, gefangen in ihrer Trauer wie in einem Kokon.

»Morgen kommt der Bestatter«, sagte Gudrun. »Er bespricht mit uns alle weiteren Schritte, die Formalitäten, die nun nötig sind, und die Beerdigung.«

»Dürfen wir mit auf die Beerdigung?«, fragte Ida-Marie zögerlich.

»Natürlich«, antwortete Katja, »Apollonia war eure Urgroßmutter, natürlich dürft ihr mit.«

Isabelle schoss einen giftigen Blick wie einen Pfeil auf sie ab. »Du hältst dich besser mal zurück, liebe Kusine. Noch habe ich nicht entschieden, ob die Kinder mitdürfen. Zumindest mein Kind. Womöglich wäre es nicht gut für sie.«

»Darf ich mit?«, rief Zoe laut, während Ida-Marie sich nach der Ansage ihrer Mutter sofort wieder in die Ecke neben das Sofa kauerte.

Isabelle starrte Katja mit hochgezogenen Augenbrauen an. Katja erwiderte den Blick mit einem Hauch von Ärger. »Da reden wir morgen drüber, Schatz.«

Zoe zog einen Flunsch, was ihr missbilligende Blicke von Gudrun und Isabelle einbrachte.

»Sie hatte noch so viel vor«, brachte August plötzlich heiser hervor. »Sie hatte noch so viele Ideen.«

Betreten schwiegen alle.

»Was denn?«, fragte Zoe, aber Gudrun brachte sie mit einem »Pscht« schnell zum Verstummen.

Eve zerknüllte ihr Taschentuch. »Ich frage mich nur ... Mutter war doch nicht krank. Also wenigstens bis heute nicht. Wieso passierte das so plötzlich?«

August senkte den Blick.

Gudrun, der nichts entging, sagte in scharfem Ton: »August?«

»War Oma krank? Wusstest du davon?«, fragte Isabelle.

Ihr Onkel seufzte. »Ja, Apollonia war herzkrank. Sie wusste es schon eine ganze Weile.«

Einige Minuten verstrichen, in denen niemand etwas sagte. Sie mussten die Nachricht erst einmal verdauen.

»Warum hat sie uns nichts gesagt?«, fragte Eve dann verzweifelt.

Gudrun fiel ihr barsch ins Wort: »Warum hast du uns nichts gesagt, August? Wir wissen doch, wie starrsinnig Mutter war.«

»Das war nicht sehr nett von dir, Onkel August«, sagte Isabelle.

»Meine Güte!«, brach es aus August heraus. »Hört euch doch einmal selbst zu! Dann wisst ihr, wieso sie euch nichts gesagt hat. Sie wollte dieses ganze Theater vermeiden, das ihr angestellt hättet.«

Alle schwiegen betroffen. Katjas Smartphone piepste.

»Kannst du das Ding nicht abstellen?«, sagte Gudrun verärgert. »Es fiept jetzt zum gefühlt tausendsten Mal. Das gehört sich heute Abend wirklich nicht. Was kriegst du ständig für wichtige Nachrichten?«

»Nur E-Mails von der Firma.« Katja fummelte hektisch an ihrem Handy herum, um den Ton abzustellen.

»Bist du immer noch so abhängig von diesem nervigen Teil?«, fragte Isabelle. »Das ist ja wie eine Sucht. Wir sollten die Mädchen jetzt ins Bett bringen. Meinst du nicht auch? Es ist zehn Uhr. Sie sollten schon lange im Bett sein.«

Ida-Marie stand sofort auf, nur Zoe klammerte sich weinend um Katjas Taille. »Bitte noch nicht, Mama, ich habe Angst, ins Bett zu gehen, es ist so dunkel.«

»Ich bin ja bei dir«, tröstete Katja sie und nahm sie auf den Arm. »Sag Gute Nacht zu Oma, Tante Gudrun und Onkel August.«

»Nacht«, murmelte Zoe, ohne die drei anzusehen. Sie schmiegte ihr Gesicht an Katjas Schulter.

Zusammen mit Isabelle und Ida-Marie gingen sie die enge Treppe hinunter. In der ersten Etage blieben sie im Halbdunkel stehen – keine wusste, was sie sagen sollte. Als Kinder waren sie sich sehr nah gewesen, aber das war lange her.

»August hat recht«, murmelte Isabelle. »Sie hatte noch so viel vor.«

»Ja, aber was denn?«, fragte Katja gedämpft.

»Ich weiß es nicht.« Isabelle drückte Ida-Marie an sich, die gebannt zuhörte. »Sie war so geheimniskrämerisch. Das wurde in den letzten Jahren immer mehr. Es war ständig so, als würde sie etwas aushecken.«

»Seltsam«, flüsterte Katja. »Den Eindruck hatte ich eigentlich nicht. Aber ich war ja auch in den letzten Jahren nicht so oft hier.« Wieder kämpfte sie mit den Tränen. »Ich fühle mich schlecht. Aber ich war so fertig und erschöpft, dass ich es an vielen Wochenenden einfach nicht von der Couch heruntergeschafft habe.«

»Ach so«, sagte Isabelle und ihre Augen weiteten sich. »Das ist es also.«

Katja nickte. Eigentlich erwartete sie eine herablassende Bemerkung, doch ihre Kusine sagte überraschenderweise: »Es ist gut, dass du hier bist. In der Familie ist man immer noch am besten aufgehoben.«

Katja steckte Zoe in ihren hellblauen Frotteeschlafanzug, überwachte das Zähneputzen und legte sie schließlich ins Bett ihres alten Kinderzimmers. Auf der Kommode saßen noch ein paar alte Puppen und Stofftiere von ihr, mit denen Zoe immer spielte, wenn sie hier zu Besuch waren.

»Machst du den Laden runter, Mama?«, flüsterte Zoe und zog sich die schwere Daunendecke bis zur Nasenspitze. »Der Mond schaut so unheimlich herein und ich will den Sturm nicht hören.«

Katja ließ den Rollladen herunter, setzte sich auf die Bettkante und umschlang Zoe müde und traurig. »Schlaf gut, kleine Elfe.«

»Bleib bei mir, Mama, ich habe Angst.«

»Nun gut, aber nur ein bisschen.« Katja kroch zu ihr unter die Decke. Tränen der Verzweiflung quollen ihr lautlos aus den Augen und versickerten in Zoes Haaren.

Bald schlief ihre Tochter fest, und Katja starrte mit offenen Augen in die undurchdringliche Dunkelheit. Es war alles so trostlos, so hoffnungslos. Alles erschien ohne Sinn.

Sie lag so zwei Stunden bei Zoe, unfähig aufzustehen, ihre zerknitterten Kleider aus- und ein Nachthemd anzuziehen und sich die Zähne zu putzen. Ihr fehlte einfach die Kraft.

Schließlich schaffte sie es. Im Flur brannte ein schwaches Nachtlämpchen, und als sie aus dem Bad kam, sah sie, dass in der Küche ihrer Mutter noch Licht war. Zögernd betrat sie den Raum. Evelyn kauerte am Küchentisch, vor sich einen leeren Teebecher, den Kopf mit den zerwühlten dunkelroten Haaren auf die Hände gestützt.

»Mama.«

»Katja, mein Liebes.«

»Wie geht es dir?«

»Auch nicht anders als dir, würde ich sagen«, seufzte Eve und zog einen Stuhl zurück, damit Katja sich setzen konnte. »Setz dich zu mir.«