Weil ich ein Dicker bin - Bertram Eisenhauer - E-Book

Weil ich ein Dicker bin E-Book

Bertram Eisenhauer

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Beschreibung

Was das Dicksein mit der Seele macht

»Bike collapses under German fat man!« Das ein solches Youtube-Video 1,2 Millionen Aufrufe finden könnte, ist nur einer der Albträume von Bertram Eisenhauer. Denn er ist nicht dick. Er ist 6XL-dick. Und so ist sein Vorsatz abzunehmen kein banaler Diätplan. Es ist der kühne Entschluss, nach Jahrzehnten als »Fetter« ins Leben mit den anderen zurückzukehren. Denn Fettsein ist viel mehr als Übergewicht, es ist ein Verlust an fast allem, was man Leben nennt – von Zungenküssen über Sonnenuntergänge bis zu eigenen Kindern. Und deshalb ist Abnehmen auch viel mehr als Ernährungsumstellung und Sport. Es fordert die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Unverblümt geht Eisenhauer seiner Langzeitfettleibigkeit auf den Grund. Er begegnet dem Dicken im Kopf, der schon als Kind lernt: Wer dich liebt, der gibt dir zu essen. Und er erkennt, dass Hunger für ein Gefühl steht, für eine Sehnsucht und einen Schmerz, und dass Essen nur ein Sanitäter in der Not ist.

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Bertram Eisenhauer

Weil ich ein Dicker bin

Szenen eines Lebensgefühls

C. Bertelsmann

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage© 2016 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: buxdesign MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15651-0V001www.cbertelsmann.de

Inhalt

Zu Beginn: Was es kostet, ein Dicker zu sein

Woche 1: Rollmops. Die erste Sünde

Woche 2: Eine Geschichte der Waage. Und damit eine Geschichte meines Lebens

Woche 3: Ich und das Fast Food. Eine Lovestory

Woche 4: Fatsuit. Ein Tag mit mir

Woche 5: Minibar. Eine unvollständige Liste der Dinge, die ich besonders vermisse

Woche 6: Schweben. Im Fitnessstudio

Woche 7: Google Eat. Die Topografie des zwanghaften Essers

Woche 8: Wenn es ohne Stretchcord geht. Die ersten Erfolge

Woche 9: Der Bauchnabel. Eine kurze Philosophie und Poesie des Körpers

Woche 10: Die Gefährten. Meine Abnehmgruppe

Woche 11: Shrek. Hässliche Ansichten über die Dicken

Woche 12: Punkte. Das Re-Booting für meine Ernährung

Woche 13: Offenbarung. Meine Rückkehr zu fester Nahrung

Woche 14: Kontaktgel. Zeit für ein medizinisches Bulletin

Woche 15: Sind Sie ein latent Dicker? Der Selbsttest

Woche 16: Schisma. Oder: Seufzer in der Gruppe

Woche 17: Das Lebensgefühl der Anderen – Jochen

Woche 18: Fat man on a bike. Für mehr Bewegung!

Woche 19: Schrumpfen. Über Motivation

Woche 20: Captain Tunafish. Ich versuche es als Superheld

Woche 21: »Iss nichts von einem Styroporteller.« Ein Gespräch über Zivilisation, McNuggets – und coole Regeln für gute Ernährung

Woche 22: Okkupation. Über den Dicken in meinem Kopf

Woche 23: Der dicke Teenager. Versuch einer Erinnerung

Woche 24: Flatliners. Ein gewisser Defätismus

Woche 25: Kirschtorte. Von der Mitschuld der Mütter

Woche 26: War das alles? Zur Halbzeit

Woche 27: Das Lebensgefühl der Anderen – Saskia

Woche 28: Wrap. Ich und der Tofu

Woche 29: Der Mann im Bett neben mir. Flüchtige Gedanken über das Sterben

Woche 30: Tag 1. Beschwichtigungen und Ausreden

Woche 31: Intervention. Über falsche Rücksicht

Woche 32: »Wenn ein Leben in Zeitlupe kollabiert.« Ein Gespräch über Familie, Opfer und einen toten dicken Bruder

Woche 33: Ein ziemlich guter Freund. Der Mensch vor dem Kühlschrank

Woche 34: Begehren. Über Männer und Frauen

Woche 35: Nachtgedanken

Woche 36: Verdammt!

Woche 37: Verdammt noch mal!

Woche 38: Aaaargh!

Woche 39: Seelen-Selfie. Ein Versuch über mein Gesicht

Woche 40: Unabhängigkeitserklärung. Eine Botschaft an den Lieferdienst

Woche 41: Das Lebensgefühl der Anderen – Tessa

Woche 42: Ich will, dass Sie vernünftig einkaufen. Mit der Ernährungsberaterin im Supermarkt

Woche 43: Zehntausend Sieger. Über Chancen

Woche 44: And now the end is near. Elvis, der Schutzheilige

Woche 45: Duell. Die Familie am Esstisch

Woche 46: Das Lebensgefühl der Anderen – Martin

Woche 47: Letzte Hilfe. Über die Adipositas-Chirurgie

Woche 48: Bin ich eigentlich typisch? Ein Gespräch mit meiner Therapeutin

Woche 49: Hey, Huckleberry. Brief an ein nicht gezeugtes Kind

Woche 50: Rumpsteak. Abschied von der Gruppe

Woche 51: Lauf, Forrest, lauf! Ein Besuch vom Ratgeberonkel

Woche 52: Hello, darkness, my old friend. Am Ende eines Jahres

Epilog: Ein Wiedersehen mit der Gruppe. Und ein Klassentreffen

Anmerkungen und Dank

Nachweise

Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht,

Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln, …

Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben,

Als meinen Schatten in der Sonne späh’n

Und meine eig’ne Missgestalt erörtern.

– William Shakespeare, Richard III.

Kramer: Hast du manchmal Sehnsucht?

George: Sehnsucht? Sehnsucht?

Kramer: Ich leide unter Sehnsucht.

George: Du hast Sehnsucht?

Kramer: Oh ja, sehr. Ich leide unter Sehnsucht. Oft sitze ich da, stundenlang, sehnend. Hattest du Sehnsucht?

George: In letzter Zeit nicht. Verlangen hatte ich. Ich habe immerzu Verlangen. Aber Sehnsucht eher weniger. Keine Sehnsucht.

– Dialog in der amerikanischen Comedy-Serie Seinfeld

Autobiografien sind nur glaubwürdig, wenn sie etwas Unschönes zugeben. Jemand, der über sein Leben nur Gutes zu sagen weiß, lügt in den meisten Fällen, weil jedes Leben, von innen her gesehen, nichts weiter als eine Kette von Niederlagen ist.

– George Orwell

Zu Beginn:Was es kostet, ein Dicker zu sein

Eines Tages bin ich einfach aufgeplatzt. Wie eine Bratwurst, der es in der Pfanne zu heiß wird. Wie ein Eclair, in das man zu gierig hineinbeißt. Nein: aufgeplatzt wie die ahnungslosen Astronauten aus den Alien-Filmen, denen ein mörderisches Monster aus einer fernen Welt, das sich in ihnen eingenistet hat und dort in einer perversen Schwangerschaft herangewachsen ist, am Ende brachial von innen die Bauchdecke durchbricht, in einer Orgie aus Schrei und Schleim und Blut und Tod. Aber vielleicht übertreibe ich da auch, ein wenig.

Die Ärzte sahen es nüchterner. Ihre Diagnose: Hernie der Bauchwand. Was eben so passiert, dachte ich, wenn ein Körper alle Maße sprengt. Die Bauchwand reißt, Eingeweide drücken sich durch den Riss. Stechende Schmerzen. Gefährlich kann so was werden, wenn Teile, die sich durchgequetscht haben, abgeklemmt werden. Also schnitten sie mich auf, pflanzten ein Netz aus Kunststoff ein, klammerten mich wieder zu. An zwei Details aus dem OP-Saal erinnere ich mich deutlich: wie ungewöhnlich weiß der Raum mir vorkam und dass ich vom Bett selbst auf den OP-Tisch umstieg, weil es den Pflegern viel Mühe bereitet hätte, mich hinüberzuwuchten.

Mein Übergewicht prägt und definiert mich, so weit ich zurückdenken kann. Ich war ein pummeliger Teenager, ich war ein dicker Student, ich bin ein adipöser Erwachsener. Als wir Kinder waren, nannten meine leptosomen Cousins aus der Stadt mich hin und wieder »Vetter«. Das war grausam, aber, wie ich zugeben musste, auch verdammt lustig.

Ich hatte drei Phasen in meinem bisherigen Leben, während deren ich jeweils zwischen gut 20 und fast 35 Kilo abnahm. Beim ersten Mal war ich noch auf der Uni und kam, 1,78 Meter groß, durch weniger Essen und viel Laufen bis auf 70 Kilo; ich erkannte mich im Spiegel selbst kaum wieder. Jedes Mal aber legte ich danach wieder zu, startete beim nächsten Versuch von einem noch höheren Gewicht. Ich wäre an dieser Stelle gerne origineller, aber mein Gewicht entwickelte sich, wie die Langzeitarbeitslosigkeit es jahrzehntelang tat: Es gab immer wieder gelegentliche Erleichterung, aber der Sockel wuchs unaufhaltsam. Irgendwann muss ich eine Art tipping point erreicht haben, jenseits dessen 10 Kilo mehr keinen Unterschied mehr machten. Oder 20. Oder 30.

Jetzt, mit Ende Vierzig, bin ich schwerer als Elvis, der Schutzheilige aller Selbstruinierer, war, als sein junges, schlankes, blondes Girlfriend ihn tot in seinem Badezimmer fand. Ich bin in Gewichtsregionen, in denen Marlon Brando sich in seinen letzten Lebensjahren bewegte. In wirklich ungünstigen Lichtverhältnissen ähnele ich Jabba the Hutt, dem bösen Klops aus dem Krieg der Sterne-Film Die Rückkehr der Jedi-Ritter. Nur brauche ich dazu keine Special Effects.

Lange war mein Übergewicht ein, sagen wir, ästhetisches Problem, auch wenn das schon schlimm genug war. Dass es die Gesundheit schädigt und das Leben verkürzt, war für mich nur so eine Statistik, unwirklich. Wenn es noch eine ganze Weile dauert, bis der Tod kommt, drückst du ihn leicht weg. Doch auch wenn all diese Kilo dich nicht ein einziges Jahr kosten würden – das Fett-Sein beschneidet dir trotzdem das Leben. Es ist nicht nur so, dass der Körper dir zur Last wird, wenn man ein Fetter ist; das Leben selbst wird dir zur Last. Egal, wie du die Qualität dieses Lebens misst, ob in Zungenküssen, in Sonnenuntergängen oder in Umarmungen von Kindern, die deine Nase geerbt haben – du kriegst als Fetter mit ziemlicher Sicherheit weniger davon. Wo kannst du auch hin, wenn du kaum zweihundert Meter gehen kannst, ohne außer Atem zu kommen?

Darum soll es in diesem Buch gehen: was es kostet, ein Mensch zu sein, der zu viel wiegt, und zwar erheblich zu viel. Was es nicht nur körperlich kostet, sondern emotional. Was das Fett-Sein mit deiner Seele anstellt. Denn das Dick-Sein, so wenigstens ist meine Erfahrung, steigt dir zu Kopf, und es macht etwas mit dir. Es färbt die Art und Weise ein, in der du dich selbst und die Welt und das Verhältnis zwischen beidem siehst. Wie eine Wunde, die ständig einen Verband durchblutet. Und das stiehlt dir Lebenschancen. Das Dick-Sein verpasst dir oft schon einen Knacks, wenn du nur zu den Pummeligen zählst; ganz besonders aber, wenn du bist, was die Ärzte »fettleibig« oder »adipös« nennen. Es ist ein Knacks, der sich häufig durch deine gesamte Existenz zieht. Je mehr du wiegst, umso schlimmer wird es; es ist wie eine schleichende Vergiftung.

Irgendwann ist mir dieser Satz eingefallen. Vielleicht kennen Sie das: Man sagt etwas versuchsweise, und wenn es sich im Mund gut anfühlt und auch dann noch, wenn es heraus ist, dann wird es wohl wahr sein. Es ist ein Gedanke, mit dem man schwanger gegangen ist; man war für die Einsicht lange nicht reif, man verdrängt sie vielleicht, will nichts von ihr wissen, und plötzlich spricht man sie aus, und es erweist sich: Hey, das stimmt ja. So ging es mir mit diesem Satz, selbst wenn er mit einem gewissen Pathos vibriert.

»Ich muss«, so dachte ich, »in die Gemeinschaft der Lebenden zurückkehren.«

Damit fange ich jetzt an, und Sie sind dabei. Zweiundfünfzig Wochen lang.

Woche 1:Rollmops. Die erste Sünde

STATUS-REPORT:

Mission: Abnehmen

Programmdauer: 1 Jahr

Woche 1 von 12 der »Fastenphase«

Kalorien täglich: 900

Verstöße gegen Fastendisziplin: 1

Ausgangsgewicht: 185,4 kg

Aktuelles Gewicht: 178,4 kg

Veränderung: –7,0 kg

Ich gestehe. Ich hab’s getan, die Tat geschah aus den niedrigsten Beweggründen, aus Lust und nackter Gier. Und aus Schwäche, dem elendesten Motiv von allen. Ich habe mich von einem Glas Rollmöpsen überwältigen lassen. Mea culpa. Mea maxima culpa. Doch der Reihe nach.

Seit einer Woche ernähre ich mich flüssig, von einer Art Milkshake – ohne echte Milch, natürlich, die wäre zu fett, hätte zu viele Kalorien. Drei Mal täglich, möglichst regelmäßig alle vier bis fünf Stunden, reiße ich zwei der silbrig glänzenden Beutel auf, die mir die Ärzte verordnet haben, schütte das Nahrungsersatzpulver darin in einen Plastikbecher mit Deckel, kippe 200 ml Wasser hinterher, schraube den Becher zu und schüttle alles kräftig. Es ergeben sich Shakes in den Geschmacksrichtungen Schoko, Erdbeere und Vanille, die ich kalt trinke; die Geschmacksvariante Kartoffel/Lauch, die ich mit weniger und warmem Wasser anrühre, löffle ich wie eine Fertigsuppe.

Drei Monate soll das jetzt so gehen, und was soll ich nach den ersten Tagen sagen? Es scheint, als habe das Leben seine Fülle verloren, seine Textur, seinen Crunch. Für ein Blatt Salat würde ich töten; das macht wenigstens ein Geräusch, wenn man hineinbeißt. Sogar die Farben der Dinge um mich herum kommen mir wie ausgewaschen vor.

Die Entbehrung fällt deshalb so drakonisch aus, weil dadurch mein innerer Esstisch, wenn Sie so wollen, völlig abgeräumt und dann neu gedeckt werden soll. Ein ganzes Jahr lang, immer dienstags, gehe ich jetzt in ein Programm, das ein Krankenhaus in meiner Stadt ambulant anbietet, ins Adipositas-Zentrum dort, eine spezielle Einrichtung für Adipöse, Fettleibige, früher auch »Fettsüchtige« genannt, und ja, dass ich zu denen gehöre, war lange Zeit nicht ganz einfach einzusehen, und es jetzt so hinzuschreiben fällt noch immer schwer.

Während dieser Zeit soll ich nicht nur Pfunde hinter mir lassen. Ich soll lernen, anders zu essen und mich fleißiger zu bewegen. Das ist mehr als eine Diät, es ist eine Neuprogrammierung meines Verhaltens. Ein neues Betriebssystem.

Begonnen habe ich plangemäß mit der zwölfwöchigen Fastenphase, in der ich ausschließlich die Formula-Shakes zu mir nehmen soll, die meinem Organismus so wenig Kalorien zuführen, dass der gar nicht anders kann, als erheblich Gewicht herzugeben. Danach soll ich acht Wochen an eine ausgewogene Mischkost herangeführt werden. Die übrigen Wochen bis zum Jahresende schließlich soll ich dazu nutzen, mich an meine Re-Education zu gewöhnen.

Helfen bei meinem Vorhaben werden eine junge, ausgesprochen schmale, ernste Ärztin, eine kleine Truppe von höchst sportlichen Bewegungstherapeutinnen, eine gut gelaunte Psychotherapeutin und eine schnuckelige Ernährungsberaterin, die zwar nur etwa 1,60 Meter groß ist, das aber ausgleicht, indem sie sich rhythmisch auf den Fußspitzen wiegt, wenn sie etwas Wichtiges vorträgt. Gymnastik, Nordic Walking und dergleichen Dinge sind vorgesehen, sogar zwei Kochabende und ein Ausflug in den Supermarkt, um das korrekte Einkaufen zu lernen. Gut dreitausend Euro kostet das Jahr all-inclusive, von den Beuteln für die Shakes bis zum regelmäßigen Blutbild. Das zahlen die meisten Krankenkassen nicht oder nur teilweise.

Man sieht schon, Zielgruppe dieses Angebots sind nicht Leute, bei denen Hemd oder Bluse ein wenig spannen, sondern stark Übergewichtige, genauer: Menschen mit einem sogenannten Body-Mass-Index von über 30. Falls es Sie interessiert, der BMI ist die moderne Variante des Modells vom »Normal-« und »Idealgewicht«, mit dem ich aufwuchs und das Sie vielleicht ebenfalls noch kennen, und errechnet sich nach der Formel Körpergewicht in Kilo durch (Körpergröße in Meter hoch zwei). Jemand mit 1,65 Metern Körpergröße und 110 Kilogramm Gewicht zum Beispiel hat einen BMI von 40,4. Bei einem BMI unter 18,5 spricht man (bei Erwachsenen) von Unter-, bei einem zwischen 18,5 und 24,9 von Normal-, zwischen 25 und 29,9 von Übergewicht. Jenseits der 30 beginnt dann das düstere Reich der Adipositas; und wer mehr als 40 hat, bei dem spricht man von »Adipositas permagna« (nach dem lateinischen »permagnus«, sehr groß oder riesig) oder »morbider Adipositas«.

Im Mikrozensus des Statistischen Bundesamts 2013 gaben 36,7 Prozent der Deutschen Körpermaße an, durch die sie als übergewichtig definiert wurden, 15,7 Prozent mussten sogar als noch schwerer, als adipös, gelten. Männer lagen in beiden Kategorien höher als die Frauen. Der Durchschnitts-BMI aller Deutschen lag bei 25,9 – also am unteren Ende des Übergewichts.

In meinem Fall freilich muss keiner groß rechnen: Mein BMI, das enthüllt auch der Blick des medizinisch Ungeschulten, entspricht annähernd dem des tierischen Hauptdarstellers im Kinofilm Free Willy – Ruf der Freiheit.

Alleine unternehme ich diesen abermaligen Versuch, Gewicht loszuwerden, nicht. Zehn Frauen und fünf weitere Männer sind mit dabei, in einer Abnehmgruppe, die sich regelmäßig zu Sitzungen unter Leitung der Therapeutin treffen soll. Mal sehen, ob sich unter uns ein Zusammenhalt einstellt; eigentlich ist Abnehmen ein sehr einsames Geschäft. Bisher verbindet mich mit den anderen jedenfalls nicht viel mehr als mit jemandem, mit dem man sich im Wartezimmer eines Arztes anderthalb Stunden lang angeregt unterhält, weil die Praxis gerade wieder mal so voll ist.

Ähnlich unverbindlich verliefen bislang auch unsere bisherigen Zusammentreffen als Gruppe: Wir probierten gemeinsam, welche Geschmacksrichtungen bei den Formula-Shakes für uns infrage kamen; wir liefen uns im Adipositas-Zentrum über den Weg, als jeder seine zwei Einkaufstüten mit dem Beutelvorrat für die ersten Wochen abholte; wir saßen einander auf harten Stühlen auf dem Gang gegenüber, während wir auf die Eingangsuntersuchung bei einem Arzt oder das erste Gespräch mit der Therapeutin warteten. Einzeln und im Pulk wurden wir auch fotografiert, um das Ausmaß unseres Dick-Seins zu dokumentieren – das Vorher-Bild unserer Mission.

Empfohlen hat mir das Programm meine Hausärztin. Zuvor allerdings musste ich mich selbst zu der Einsicht durchbeißen, dass ich unassistiert und unbeaufsichtigt zwar im Abstand von etwa einem Jahrzehnt immer neu Gewicht verlieren, dem ewigen Jo-Jo-Effekt aber nicht entkommen könnte. Als ich jetzt im Adipositas-Zentrum gefragt wurde, wie viele Kilo ich in meinem Leben grob geschätzt bei allen Versuchen zusammengenommen verloren hätte, konnte ich antworten: siebzig. Dumm nur, hätte ich hinzufügen können, dass ich sie jedes Mal komplett wiedergefunden hatte – plus ein paar mehr.

Das ist ja überhaupt das schmutzige kleine Geheimnis der ganzen Diätindustrie. »Eigentlich können Sie irgendeine Diät machen, und Sie werden abnehmen – aber anschließend wieder zunehmen«, hielt der Ernährungswissenschaftler Volker Pudel in seinem Ratgeber Übergewicht einmal fest, und das war nur leicht übertrieben.

Mit Diäten ist es ja ohnehin so eine Sache. Wenn man sich mal grundsätzlich dazu entschlossen hat, muss man sich eine aussuchen, und da wird es unübersichtlich. Es gibt welche, die einem das Fett weitgehend verbieten, und solche, die in Kohlenhydraten den Bösewicht sehen. Mal soll man essen wie die Mittelmeervölker, dann wie die Eskimos, dann wie die Steinzeitmenschen. Andere Methoden scheinen nur zu funktionieren, wenn man in Beverly Hills wohnt. Einige setzen darauf, bloß die Hälfte des Gewohnten zu essen – oder ein einziges Gericht wie Gemüsesuppe oder ein einzelnes Lebensmittel wie Ananas. Eine basiert auf Sternzeichen, eine andere auf Blutgruppen.

Mittlerweile gibt es mehr unterschiedliche Diäten als Angela Merkel Hosenanzüge hat. Okay, das habe ich mir gerade ausgedacht, aber Sie wissen, was ich meine. Manche der Diäten gelten als potenziell schädlich für des Diäters Gesundheit. Andere richten zwar keinen Schaden an, wirken aber auch nicht, zumindest nicht nachhaltig. Denn Abnehmen ist gut und schön; das Gewicht zu halten aber ist die Meisterklasse.

Das kriegt unser Programm angeblich hin für uns. Weil es Ernährungsumstellung, Verhaltens- und Bewegungstherapie kombiniert, ist es so ziemlich das Innovativste, was sich im Moment denken lässt, zumindest unter den konservativen Lösungen; der nächste, drastischere Schritt wäre dann eine jener Magen-OPs, die immer populärer werden.

Offizielle Bedingung für die Teilnahme ist ein BMI über 30, aber diese Höhe überspringe ich leider ja mühelos, bei einem Gewicht von 185 Kilo und einer Größe von 1,78 cm. Das hatte auch meine Hausärztin mir bereits bescheinigt; unter »Begleiterkrankungen/-erscheinungen« listete sie auf: Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2 grenzwertig, Bewegungsmangel, Stress. Woran ich offenbar nicht leide, jedenfalls noch nicht, war auf dem Diagnosebogen sicherheitshalber schon mal vorgesehen: degenerative Herzerkrankungen, koronare Herzerkrankungen, Hypertriglyceridämie, Hypercholesterinämie, was immer die beiden Letzteren auch sein mochten (eine Fettstoffwechselstörung und ein zu hoher Cholesterinspiegel im Blut). Dass es dafür offenbar kein Wort unter acht Silben gab, verhieß jedenfalls nichts Gutes.

Ohnehin habe ich das – sicher übertriebene – Gefühl, bei uns Dicken hänge ein unausgesprochenes »Wenn Sie’s jetzt nicht haben, kriegen Sie’s noch« in der Luft, sobald Ärzte unsere medizinische Vorgeschichte erkunden. So auch im Aufnahmebogen des Adipositas-Zentrums, den ich ausfüllen musste: Leiden Sie unter Herzstolpern/-jagen? Lebererkrankungen? Verstopfungen? Gelenkschmerzen? Rückenschmerzen? Depressionen? Ganz falsch kann ich das nicht einmal nennen; jeder Medizinstudent im zweiten Semester kann aufzählen, auf welch vielfältige Weise Übergewicht einem die Gesundheit demoliert, bis hin zu bestimmten Krebsarten, deren Vorkommen es fördert.

Ein wahrer Eye-opener für mich war ein unscheinbares Diagramm in dem Fragebogen, das meine bisherige Körperbiografie erfassen sollte. Insgesamt neun Figuren, vom Schmalhans bis zum Megamops, hübsch in Shorts, waren da mit feinem Strich skizziert, und ich sollte die einzelnen Stufen bestimmten Lebensaltern zuordnen. Bis zum Teenageralter war ich, so konnte ich brav angeben, vom Gewicht her tragbar gewesen. Danach aber hatte mein Körper mit jedem einzelnen neuen Lebensabschnitt eine Schippe draufgelegt: 16–20 Jahre – Stufe 5, 21–25 – Stufe 6, 26–30 – Stufe 7, 31–40 – Stufe 8, 41–50 – Stufe 9; Höchstgewicht. Eine ungebrochene, desaströse Progression.

Bei den Fragen nach meinem Essverhalten kreuzte ich fast alles an, was der Bogen an Möglichkeiten hergab: Ich esse im Allgemeinen zu viel. Ich esse zu viel beim Abendessen. Ich esse nach dem Abendessen mehr, als für mich gut wäre. Ich kann schlecht mit dem Essen aufhören, wenn ich einmal angefangen habe. Ich esse, wenn ich nervös oder gestresst bin. Wenn ich mich langweile. Wenn ich deprimiert bin. Wenn es mir richtig gut geht. Wenn ich allein bin.

Meine Vermutung ist ja, dass ich aus einem ganzen Cluster an Motiven heraus zu viel esse; dass das Essen für mich inzwischen fast ALLES ersetzt, was andere Leute kriegen, indem sie vor die Tür gehen.

Dann, gegen Ende des Fragebogens, ging es um meine Erwartungen. »Wie viel erwarten Sie tatsächlich abnehmen zu können?«

»40 Kilo«, schrieb ich.

»Wie viel würden Sie sich als Wunschtraum erhoffen?«

»70 Kilo.«

»Warum möchten Sie jetzt gerade abnehmen statt in einem halben Jahr?«

Ich schrieb: »Weil es jetzt knapp wird.«

»Sie sind echt motiviert«, sagte mir einer der Betreuer zum Start. »Bei Ihnen wird es mit dem Abnehmen gehen wie mit dem Kalenderblattabreißen.«

Wollen wir’s hoffen, doch erst einmal ist es eine Quälerei. Ob ich der Programmärztin dankbar sein soll, die entschieden hat, ich bräuchte wegen meines hohen Ausgangsgewichts etwa 100 Kalorien – einen Beutel – täglich mehr als die anderen Leute in meiner Gruppe, die mit den eigentlich vorgesehenen 800 Kalorien zurechtkommen müssen? Mit viel gutem Willen geht der Kartoffel/Lauch-Shake als schlecht gewürzte Tütensuppe durch; ich schütte Suppengemüse aus dem Tiefkühlfach dazu, um ein wenig Abwechslung zu schaffen. Die übrigen meiner gewählten Geschmacksrichtungen Erdbeer, Vanille, Schoko: reine Astronautennahrung. Im Angebot waren auch noch die Varianten Kaffee und Tomate, aber die bekam ich beim besten Willen nicht herunter, und, ehrlich gesagt, auch Schoko wird es wohl nicht mehr lange machen – es erinnert mich doch zu sehr daran, wie echte Schokolade schmeckt, und das wiederum bringt mich auf böse, zügellose Gedanken.

Wichtig sei auch, so erinnern uns Ärztin, Therapeutin und Ernährungsberaterin immer wieder, das Trinken. Mindestens 2,5 Liter täglich sollen es sein, aber immer: kalorienarm – Mineralwasser, ungesüßter Tee oder Kaffee, gelegentlich eine kalorienreduzierte Limonade. Nicht erlaubt sind: Fruchtsäfte, etwa zum Herstellen einer Schorle; kalorienhaltige Instanttees; Kaffee-Instantprodukte, beispielsweise Cappuccino oder Latte Macchiato.

Ja, sicher, durch den medizinisch kühl kalkulierten Mangel fühle ich mich körperlich und gedanklich weniger vollgestopft. Das Fasten führt im idealen Fall zu einer gewissen inneren Reinheit des Denkens; die Dinge scheinen ganz klare, deutliche Kanten zu bekommen. Das Fasten scheint den Kernbestand, das Wichtige, unbedingt Notwendige freizulegen, alles andere fällt von einem ab.

Hie und da glaube ich meinen Magen zu spüren, buchstäblich, wie er da so im Innern meines Körpers liegt und auf Arbeit wartet – die ich ihm freilich in den bisherigen Mengen verweigere. Und hey, was ist das für eine Empfindung? Hunger? Das ist ebenfalls neu für mich. Obgleich: Bei genauerer Untersuchung stellt er sich oft als Appetit heraus, als das Lechzen nach leeren, eigentlich nicht notwendigen Kalorien. An einem Morgen aufzuwachen, nachdem man am Tag zuvor durchgehalten hat mit dem Fasten, ist ein nachgerade erhebendes Gefühl – ein Gefühl, wie es mich gerade mal noch in Kathedralen überkommt.

Seltsam, sich vorzustellen, dass der eigene Körper jetzt reduziert ist auf eine biochemische Maschine, die Essen verwertet, das jeder unnötigen Bedeutung entkleidet ist, mit der man es sonst so umgibt. Ein purer Stoffwechsel. So ein Schoko-Shake als Snack vor dem Fernseher – das wäre ohnehin unvorstellbar.

Am letzten Abend, bevor es losging mit dem Essen aus den Beuteln, trafen mein bester Freund und ich uns noch mal in einem chinesischen Restaurant, in das wir häufiger gingen und in dem es ein großes Büfett gab. Es war ein Essen zum Abschied – nicht voneinander, sondern vom All you can eat als Daseinsprinzip. Denn inzwischen gehe ich durch meinen Supermarkt wie ein Ostdeutscher, der direkt nach der Maueröffnung zum ersten Mal in ein Westberliner Kaufhaus geht: Ich darf anschauen, aber nicht anfassen. Obwohl, der Ostdeutsche hatte hundert Mark Begrüßungsgeld; ich darf bei REWE nur noch Zahnpasta kaufen. Alles andere: verboten. Laugenstangen: verboten. Putenbrust: verboten. Eingelegte Oliven: verboten. Selbst Grapefruit: verboten. Plötzlich entwickle ich einen Jieper auf Lebensmittel, die ich vorher kaum angefasst hätte. Geräucherte Würste – ah, dieses grobe Fett!

Die Shakes lassen zwar den ganz schlimmen Hunger nicht zu, was mich doch verblüfft. Auch dass ich sehr regelmäßig über den Tag verteilt esse, statt wie früher aufs Frühstück zu verzichten, mittags in der Eile ebenfalls zu nichts zu kommen, nur um am Abend dann mit dem Mammuthunger konfrontiert zu sein – das tut mir gut. Es kommt mir vor, als hätte ich mehr Energie.

Ein Essen, das sensorisch einen Eindruck hinterlassen würde, ist so ein Shake aber eben nicht. Er ist Verpflegung in ihrer prosaischsten Form: »Alle für einen Tag erforderlichen Nährstoffe in angemessener Menge«, so der Hersteller – Eiweiß, Kohlenhydrate, Vitamine, Mineralstoffe, »prebiotische Ballaststoffe«, was immer das für welche sind. Der Hersteller übrigens ist ein Nahrungsmittelgigant, an dessen Süßprodukten ich mich schon häufiger fast bewusstlos gegessen habe, aber das Leben ist voller solcher Ironiefallen.

Und was ist in den Beuteln genau drin? Zum Beispiel in der Version Vanille:

Magermilchpulver, Milcheiweiß, Zucker, Sonnenblumenöl, Inulin, Säureregulator (Kaliumcitrat, Kaliumphosphat, Natriumcitrat, Calciumphosphat), Maltodextrin, Verdickungsmittel (Carboxymethylcellulose), Aroma, Magnesiumcarbonat, Natriumchlorid, Kaliumchlorid, Vitamin C, Emulgator (Sojalecithin, Lecithin), Eisenpyrophosphat, Zinksulfat, Süßstoff (Aspartam, Acesulfam K), Kupfergluconat, Niacin, Mangansulfat, Antioxidationsmittel (E 304, E 307), Vitamin E, Calciumpantothenat, Natriumfluorid, Vitamin B 1, Vitamin B 6, Farbstoff (Beta-Caroten), Vitamin A, Vitamin B 2, Chromchlorid, Natriummolybdat, Folsäure, Natriumselenit, Kaliumjodid, Biotin, Vitamin K, Vitamin D, Vitamin B 12; enthält eine Phenylalaninquelle.

Hm, das könnte man mir genauso gut intravenös verabreichen, nehme ich an. Wenn ich in diesen Tagen den bedauernswerten Christian Lindner auf der Straße träfe mit einer Butterstulle, und er überließe sie mir um den Preis, dass ich bei nächster Gelegenheit seine FDP wähle – ich würde das Geschäft machen.

Stattdessen aber traf es eben die Rollmöpse, von denen bereits die Rede war. Ich war im Supermarkt, um kalorienarme Limonade zu kaufen (die ja erlaubt ist, solange sie mit Mineralwasser im Verhältnis 1:3 verdünnt wird), da standen sie im Regal. Ich hatte seit bestimmt zwanzig Jahren gar keine mehr gegessen. Aber irgendetwas in mir schrie nach ihnen, alle Sicherungsseile rissen; schon waren die Möpse gekauft, nach Hause getragen, verzehrt. Das schien keine drei Minuten zu dauern. Eigenartig: Wenn man fastet, dehnt sich die Zeit; wenn man fastenbrecherisch isst, vergeht sie ganz schnell.

Dieser Abend blieb zwar bisher der einzige Zwischenfall, bei dem meine Entschlossenheit in die Knie ging. Aber das Essen lauert überall, und das bemerke ich nicht erst jetzt, da ich erst mal keines mehr habe. Im Büro steht ausgerechnet direkt meiner Tür gegenüber der einzige Verkaufsautomat im ganzen Haus, der Snacks und Süßigkeiten anbietet; ständig höre ich das Rattern, wenn Leute sich eine Zuckerinfusion holen. Und in Restaurants bekam man früher hierzulande nach 22 Uhr kaum mehr eine warme Mahlzeit; heute genügt ein Anruf bei einem Lieferdienst, und auch um Mitternacht noch steht ein freundlicher Inder vor deiner Wohnungstür und bringt ausgesuchte Köstlichkeiten seiner Kultur vorbei: »Weil Sie zwei Hauptgerichte bestellt haben, kriegen Sie Fladenbrot umsonst.«

Und das alles wäre ja kein Problem – wenn eben meine Proportionen nicht so aus der Fasson geraten wären: meine Vorstellung davon, was EINE PORTION sei. Aber ich habe nie so recht verstanden, wie Menschen eine Tafel Schokolade auspacken können, eine Reihe abbrechen, essen – und dann die Packung seelenruhig wieder zufalten und weglegen. Oder wie sie ein »nimm2«-Bonbon aus der Tüte nehmen und es gut sein lassen. Die Bonbons heißen »nimm ZWEI«. Seid ihr Analphabeten? Entscheidender noch: Seid ihr denn nicht aus Fleisch und Blut? Kennt ihr die Traurigkeit nicht? Und die Langeweile?

Während ich still in meinem Büro sitze und mich nach einem Käsebrötchen mit Ei, Tomate und viel Miracel Whip verzehre, erinnere ich mich daran, warum ich das erst jetzt mache: Weil es so beschämend ist, dass jemand dir beibringen muss, wie man so was Elementares macht wie essen oder rumlaufen.

Ein wenig Ermutigung täte wohl. Zwischen den zwei Shakes, die ich statt des Brötchens zu mir nehme, rufe ich meine Nichte an. Sie wohnt im Ausland, und ich sehe sie nur gelegentlich. Sie ist fast zwölf und hat diese Fähigkeit, mir am Esstisch einen tadelnden Blick zuzuwerfen, wenn ich mir Limonade einschenke – wofür man andere Menschen schlagen würde, sie will man dafür abküssen. Zu Beginn des Programms hat sie mir eine Mail geschickt: »Ich bin richtig froh, dass du es machst, und weiß, dass du es schaffen wirst! BERTRAM! KEINE HAMBURGER! ;D« (Ihrer Mutter zuliebe habe ich hier die Rechtschreibfehler korrigiert.)

Jetzt am Telefon verspricht sie, wenn ich erst mal abgenommen hätte, »dann bist du wie wir« – sie meint sich und ihren Bruder und ihre Mutter, meine Schwester, die noch nie ein Problem mit dem Gewicht hatte.

»Na ja, ganz so dünn wie du werde ich wohl kaum mehr werden«, entgegne ich ihr.

Am Ende vereinbaren wir, dass ich versuche, so viel abzunehmen, wie sie wiegt: einunddreißig Kilo, »laut Badezimmerwaage«.

Wenn das gelänge, könnte ich am Horizont die Hundert-Kilo-Marke sehen. Okay, am fernen Horizont. Okay, irgendwo hinter der Erdkrümmung müsste sie sein. In der ersten Woche jedenfalls habe ich sieben Kilo hinter mir gelassen. Nehmt das, ihr Möpse.

Woche 2:Eine Geschichte der Waage. Und damit eine Geschichte meines Lebens

STATUS-REPORT:

Woche 2 von 12 der Fastenphase

Gewicht in Vorwoche: 178,4 kg

Aktuelles Gewicht: 175,8 kg

Veränderung: –2,6 kg

Ich verstehe schon, warum ein paar der Frauen in meiner Abnehmgruppe beim dienstäglichen Treffen so obsessiv über sich und die Waage reden. Warum sie sich jeden Tag draufstellen müssen. Warum es einfach nicht anders geht.

Für sie wäre es schon ein Fortschritt, wenn sie ab und zu einen »waagefreien Tag« einlegen könnten, wie die uns betreuende Psychologin mit feinem Lächeln vorschlägt. Klar, ich kann ihnen einen schlauen Vortrag darüber halten, warum das tägliche Wiegen den Hungerkünstler an sich selbst und am Universum kirre macht: Weil der Körper beim Abnehmen Schwankungen produziert. Aber das wissen sie selbst eigentlich auch. Es hilft nur nichts.

Denn so ein Tag scheint die natürliche Strecke zu sein, die perfekte Maßeinheit. Man kämpft (sechzehn Stunden lang), man schläft (acht Stunden lang), am Morgen danach folgt das Urteil, ausgedrückt in der kühl leuchtenden Zahl im Display der Waage, scheinbar eindeutig. Nur dass der Körper so nicht funktioniert. Man hat sich einen langen Tag kasteit – und zugenommen? Bitte?

Natürlich, wir unterwerfen uns dieser Logik, weil wir ohnehin die schlimmsten Junkies der instant gratification sind, der sofortigen Befriedigung der Begierden. Ähnlich ungeduldig und unmäßig wie beim Essen sind wir auch jetzt, wo wir verzichten: Ich will meine Belohnung, und ich will sie jetzt.

Denn egal, wie oft wir auf der Waage stehen: Wir alle, die wir »auf Diät« sind, haben unser Glücksempfinden erst einmal an diesen Apparat delegiert. Das Verdikt: digital, binär. Ein oder aus. Triumph oder Niederlage. Ich könnte morgen einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten aushandeln, und am Tag darauf teilt mir die Waage mit, dass ich in einer Woche inneren Strampelns nur zweihundert Gramm abgenommen habe – ich hätte das Gefühl, im Leben versagt zu haben.

Es ist einfach so: Wer ums Abnehmen kämpft, wird auf sich selbst zurückgeworfen. Es geht ständig um den eigenen Körper, den man belauert, als sei man sein eigener Stalker, um die Regungen der eigenen Seele. Und auch wenn Kollegen, Partner, Kinder dich ermutigen: Letztlich machst du die Sache mit dir selbst aus, allein. Du sitzt zwanzig Minuten im Auto vor dem REWE-Markt und ringst mit dir, weil du weißt, dort gibt es die »Heiße Theke« mit diesen Brötchen mit Spießbraten, den die Verkäuferin immer zwei Finger dick abschneidet. Die Formula-Shakes kriegst du immer schwerer runter. Hm, bis zum nächsten Wiegen sind es ja noch – was – fünf Tage?

Ich kann eine Geschichte meines Lebens schreiben entlang der Waagen, die über mich entschieden haben.

Die erste, an die ich mich bewusst erinnere, sah ich als Teenager auf der Kinderstation im Krankenhaus: ein eierschalenfarbenes mechanisches Gerät mit Gewichten auf einer Skala in Brusthöhe, bei denen man nacheinander die Zehn-Kilo-, die Ein-Kilo- und die Hundert-Gramm-Stufen einstellte, bis die Skala perfekt ausbalanciert war. Damals verbrachte ich, ein pummeliger Junge, sechs Wochen auf der Station, um ein paar Kilo abzunehmen und gesundes Essen zu lernen. Ich bekam achthundert Kalorien täglich.

Jeden Tag rannte ich, um möglichst viele davon zu verbrauchen, mehrfach mit dem Fahrstuhl um die Wette, wer zuerst im obersten Stockwerk ankam. Ich verbesserte meine Chancen, indem ich auf jedem Stock die Ruftaste drückte, sodass der Aufzug anhalten und die Tür öffnen musste. An jedem Morgen das Ritual: raus aus dem Bett, zur Toilette, die letzten Gramm Wasser abschlagen, bevor es noch im Schlafanzug auf die Waage ging. Einer der Jungs, mit denen ich während einiger Wochen das Zimmer teilte, war vielleicht dreißig Kilo schwerer als ich. Ich hasste ihn – weil er jeden Tag viel mehr Verlust vorweisen konnte als ich, der ich nach einer Weile mit hundert Gramm zufrieden sein musste.

Die nächste schicksalhafte Wiegung meines Lebens war eine patriotische Angelegenheit: Ich wurde gemustert, und mein Vaterland wollte genau wissen, wie viele Kilo ich mit mir herumtrug. Schließlich gedachte man mir noch einen Rucksack, ein Gewehr und ähnlich sinnvolle Ausrüstungsgegenstände dazuzugeben, um damit gegebenenfalls das Land zu verteidigen.

Wahrscheinlich muss ich erklären, dass es die Achtzigerjahre waren, und die Frage, ob man das Grün des Soldaten anlegte, wurde jedem heranwachsenden Deutschen vorgelegt. Ich fand, man könne schlecht die Freiheit genießen, ohne hin und wieder etwas dafür zu tun, und sei es, Lebenszeit zu opfern. Also ließ ich mich einziehen.

Man würde wahrscheinlich intuitiv annehmen, dass ich wenigstens bei der Musterung davon profitiert hätte, dicker zu sein als andere Jungs. Insgesamt nämlich verschafft dir das Übergewicht im Leben wenige Vorteile – es sei denn, du willst es als Vorteil rechnen, dass dich die nette pummelige Servicekraft in der Kantine fragt: »Haben Sie heute großen Hunger?«, bevor sie dir eine größere Portion Pommes frites auf den Teller schaufelt. Doch ausgerechnet die deutschen Streitkräfte sahen über meinen Fettleib hinweg. Und schuld daran war der französische Kinostar Alain Delon, damals noch auf der Höhe seiner Popularität.

Bei der Musterung war ich mit gut zwanzig Kilo zu viel für »T 3« befunden worden – tauglich mit Einschränkungen. Am ersten Tag in der Kaserne jedoch, bei der Eingangsuntersuchung – ich hatte noch nicht mal eine Uniform bekommen –, schaute der Arzt, Typ jung und lässig, mich von oben bis unten an und sagte: »Sollen wir den überhaupt hierbehalten?«

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits genug gesehen, was mir den Abschied nicht schwer gemacht hätte. Die Bundeswehr jener Zeit war eine Armee, die aufs reine Vorhanden-Sein ausgelegt war, sich aber enorm ernst nahm, weil so eine Armee immerhin mit Waffen und scharfer Munition hantiert, und weil das Sich-ernst-Nehmen zudem generell das Organisationsprinzip von Streitkräften ist. Mit großer Unbekümmertheit besprach der Arzt die Frage, was aus mir werden sollte, mit zwei Schreibkräften im gleichen Alter, die, meine ich, ebenfalls Wehrpflichtige waren. Ich, hundertsechs Kilo schwer, stand angespannt zuhörend dabei. In Unterwäsche.

Nach einer Weile der Unentschlossenheit driftete die Konversation ab, zum Fernsehprogramm des Abends zuvor, an dem ein Film mit Delon gezeigt worden war, entweder Der Clan der Sizilianer oder Rocco und seine Brüder, und meine drei Filmkritiker waren einhellig der Meinung, Delon, den sie hartnäckig »Delong« nannten, habe sich darin wieder selbst übertroffen.

Inmitten dieser Plauderei wurde nebenbei entschieden, dass die Bundeswehr es doch mit mir versuchen solle, wo ich schon mal da war.

Dass man den Dicken dann besonders geschunden hätte, kann ich nicht sagen. Jedenfalls nicht mehr als andere auch. Da wir bei irgendeinem Eignungstest ordentlich abgeschnitten hatten, bekamen die Leute meiner Kompanie und ich eine technische Ausbildung als »Flugabfertiger« in der Flugsicherung und verbrachten mehr Zeit im Klassenraum als im Freien. Militärisch beschränkten sich meine Fertigkeiten auf die eines »BeWachSold«. Im Kriegsfall wäre ich, um Woody Allen zu zitieren, bestenfalls als Geisel verwendungsfähig gewesen.

Tatsächlich nahm meine Zeit in Uniform sogar eine kuriose Wendung, oder auch zwei. Als ich eingezogen wurde, hatte ich gebangt, wie ich als Dicker die erwartbaren körperlichen Anforderungen bewältigen sollte. Mein heute bester Freund, den ich damals kennenlernte und der auch einige Kilo Übergewicht mit sich herumschleppte, bemerkte einmal, er habe sich bei der Bundeswehr zu Beginn gefühlt »wie ein Krüppel«.

Ich allerdings zog mir schon in den ersten Tagen in der Kaserne eine Bänderdehnung zu, als ich beim Marschieren, Rennen oder irgendeiner anderen Pulkaktivität in den billigen, engen schwarzen Standard-Turnschuhen heftig umknickte. Zuerst verbrachte ich ein paar Tage auf der Krankenstation, vor der auf akkurat geschnittenen Rasenflächen die Kaninchen vorbeihoppelten und in der man mir für die nächsten Wochen einen Gips anlegte. So humpelte ich jeden Morgen, zuerst durch Krücken, dann durch einen Gehstock unterstützt, von unserer Baracke zum Lehrgebäude, wo die Ausbildung stattfand, in einem verstaubten Raum mit einer meterlangen Kreidetafel. Am Abend humpelte ich wieder zurück.

Ich fühlte mich wie ein Versager, gar nicht mal am Vaterland oder dergleichen Unsinn; die Delon-Fan-Truppe hatte mich ja unbedingt dabehalten wollen. Nein, allgemeiner, in der Kategorie »Kerl«. Womöglich dachte ich auch: Da lasse ich mich einziehen, obgleich das in meiner Peergroup nicht gerade populär ist – und kriege das mit dem Soldatsein dann nicht einmal hin.

Den Gips nahmen mir die Ärzte dann nur Tage vor unserer einzigen Sechsunddreißig-Stunden-Übung ab, der einzigen größeren militärischen Anstrengung unserer Kompanie überhaupt. Ich weiß noch, wie ich morgens gegen fünf Uhr wach wurde und dachte: Heute klingt das Gewispere und Geschlurfe auf dem Gang anders als üblich. Dann kam, ebenfalls früher als üblich, der Ruf: »Kompanie, aufstehen!«

Die Übung war schließlich genau die Art Strapaze, vor der mir bang gewesen war. Meine Stiefel waren noch nicht eingelaufen, der Rucksack völlig ungewohnt. Ich glaubte nicht, jemals irgendwo anzukommen, wo die Qual aufhören würde, und erinnere mich, dass zwei Jungs aus meiner Gruppe in einem Akt ungezwungener Kameradschaft anboten, eine Weile mein Gewehr zu tragen.

Vielleicht hatte es mit meiner offensichtlichen Untauglichkeit als Kämpfer zu tun, dass einer der Ausbilder – ich erinnere mich an den Flaum, den er für einen Oberlippenbart hielt – mich später gerne angrinste und bellte: »Flieger« – der unterste Dienstgrad bei der Luftwaffe – »wir machen Sie schon noch zu einer bösen, drahtigen Kampfmaschine!« Seine Vorliebe in Filmdingen galt ganz offenbar nicht Alain Delon, sondern der Militärklamotte; zu einer lean, mean fighting machine will Bill Murray in dem Film Ich glaub’, mich knutscht ein Elch seine Rekruten machen.

Kurios war auch, wie ich, der Dicke, mich dann doch der Truppe entzog – und das mit deren ausdrücklicher Billigung. Bei unserer Ausbildung mussten wir Flugzeugtypen und Flugrouten und Sonderflugzonen büffeln, und wer dabei gute Noten kriegte, kam in den Genuss einer »Besonderen erzieherischen Maßnahme«, kurz: BEM (oh, sicher, eine Abkürzung musste sein bei der Bundeswehr der alten Republik, wo man beim Nachschub von »Mütze, Pudel, 1 Stück« sprach). Die BEM wurde am Freitag gegen Mittag vom Kompaniechef vor der vollzählig angetretenen Truppe verkündet und bedeutete in der Regel, dass der dafür ausgewählte Soldat sich umgehend ins Wochenende verabschieden durfte statt erst gegen 14.30 Uhr. In einer Zeit, da die Züge sich im ganzen Land am frühen Nachmittag schnell mit Zehntausenden Wehrpflichtigen auf dem Weg nach Hause füllten, war das wahrlich ein Vorteil.

Lernen konnte ich wesentlich besser als marschieren, und so kriegte ich mehrfach eine BEM ab. Ich hatte beinahe ein schlechtes Gewissen. Aber ich sagte mir, dergleichen gehöre wohl zu einem System, das auf Paranoia beruhte, das aber doch eigenartig ehrpusseligen Ideen verpflichtet war wie jene, es müsse die ihm anvertrauten jungen Männer zu geglückten Menschen formen. Noch heute lasse ich mir die Wendung auf der Zunge zergehen: Besondere. Erzieherische. Maßnahme.

ENDE DER LESEPROBE