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Weil sie das Leben liebten E-Book

Charlotte Roth

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Beschreibung

Berlin Ende der 1920er Jahre: Die junge Franka hat nur einen Wunsch – sie möchte Zoologie studieren. Ihre strengen Eltern und die Weltwirtschaftskrise machen ihren Traum zunichte, doch immerhin gelingt es ihr, eine Stelle als Tierpflegerin im Berliner Zoo zu bekommen. Die Arbeit mit den geliebten Tieren geht ihr über alles, ihnen schenkt sie ihre ganze Liebe – nicht den Menschen. Nur ganz allmählich fasst sie Zutrauen zu dem Tierarzt Carl, der vom Leben ähnlich gebeutelt wurde wie sie. Dann lernt sie den faszinierenden Adam kennen und lieben. Doch Adam ist Sinti, und inzwischen haben die Nazis die Macht in Deutschland ergriffen. Adams Leben ist in höchster Gefahr, und Franka ist bereit, für ihn zu kämpfen – und für ihre Tiere. Fortan weiß sie nicht mehr, wem sie trauen kann …

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Charlotte Roth

Weil sie das Leben liebten

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Berlin Ende der 1920er Jahre: Die junge Franka hat nur einen Wunsch – sie möchte Zoologie studieren. Ihre strengen Eltern und die Weltwirtschaftskrise machen ihren Traum zunichte, doch immerhin gelingt es ihr, eine Stelle als Tierpflegerin im Berliner Zoo zu bekommen. Die Arbeit mit den geliebten Tieren geht ihr über alles, ihnen schenkt sie ihre ganze Liebe – nicht den Menschen. Nur ganz allmählich fasst sie Zutrauen zu dem Tierarzt Carl, der vom Leben ähnlich gebeutelt wurde wie sie. Dann lernt sie den faszinierenden Adam kennen und lieben. Doch Adam ist Sinti, und inzwischen haben die Nazis die Macht in Deutschland ergriffen. Adams Leben ist in höchster Gefahr, und Franka ist bereit, für ihn zu kämpfen – und für ihre Tiere. Fortan weiß sie nicht mehr, wem sie trauen kann …

Inhaltsübersicht

WidmungMottoErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelZweiter Teil8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelDritter Teil16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelVierter Teil22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. KapitelFünfter Teil28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. KapitelGlossarNachbemerkung der AutorinLeseprobe »Grandhotel OdessaDie Stadt im Himmel«
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Für Silke und Nimue

 

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»Denn ich will, dass es das alles gibt,

Was es gibt.«

André Heller

 

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Erster Teil

 

»Alle Tiere haben

Augen aus einer uns unbekannten Welt.«

Joachim Ringelnatz: »Tierschutz-Worte«

 

1

Franka

Februar 1923

In der Klasse gab es Kinder, die Macht hatten, und andere, die hatten keine.

Die, die Macht hatten, allen voran der lange Armin Wernecke, riefen die, die keine hatten, bei Schimpfnamen, aber einen für Franka zu finden war gar nicht so leicht. Sie war nicht zu dünn, also konnten sie sie nicht Bohnenstange rufen, sie war auch nicht dick, also fiel der Name Bratklops flach, mit dem sie die arme Anni Pelzin zum Heulen brachten. Ihre Noten waren zu gut, um sie als dumme Gans zu verhöhnen, doch da sie sich im Unterricht nie zu Wort meldete, kam wiederum auch Streber nicht in Frage. Sie hatte weder eine Hakennase noch O-Beine, sie lispelte nicht und trug keine Brille wie Hotte Kroll, dessen Augen hinter dicken Gläsern verschwammen.

Franka eignete sich ohnehin schlecht zum Verspotten, weil sie nicht losweinte und schon gar nicht versuchte, sich zur Wehr zu setzen, so dass man sie umzingeln und mit Knüffen und Püffen traktieren konnte. Franka versteckte sich in sich selbst. Die Kinder, die die Macht hatten, verloren rasch die Lust an ihr, denn an Franka, die tief in sich versteckt saß, kamen sie nicht heran. Sie konnten ihr nicht weh tun, nicht einmal wenn sie sie an den Haaren zogen. Es ziepte. Aber Franka, die in sich versteckt saß, ballte nur die Fäuste und flüsterte so leise, dass keiner ihrer Peiniger sie hörte: »Es tut nicht weh, es tut nicht weh, es tut nicht weh.«

Das half. Die Kinder, die die Macht hatten, ließen von Franka ab und hielten Ausschau nach einem neuen Opfer. Nur ganz ohne Schimpfnamen konnten sie sie nicht davonkommen lassen, die Blöße durften sie sich keinesfalls geben. Also verpassten sie ihr einen, der gewiss so harmlos, wie er klang, nicht gemeint war, der aber Franka nicht verletzte. Armin Wernecke persönlich hatte sich den ausgedacht:

Franka Vierbein.

Das passte zu ihr.

Sozusagen auf vier Beinen – nämlich auf ihren Händen und Knien – hatte Franka sich fortbewegt, solange sie denken konnte. Die anderen Kinder im Gemeindekindergarten, auf Familienfeiern, auf dem Pausenhof und am Hambuttenpfuhl, wo ihre Mutter sie hinschleppte, weil Kinder an die frische Luft gehörten, spielten alles Mögliche: Indianer. Prinzessin. Räuber und Gendarm. Nur Franka spielte immer das Gleiche. Auf allen vieren kroch sie zwischen den Räubern und Prinzessinnen umher und spielte Tier.

Tier spielen half noch besser als verstecken in sich selbst: Es half gegen Langeweile, gegen Angst, gegen die Schimpftiraden des Vaters und gegen die Bosheiten der Kinder, die Macht hatten. Franka stellte sich einfach vor, sie sei ein Hund, eine Katze, ein Hase, sie könnte den Menschen davonspringen und bräuchte auf das, was sie taten, nicht zu achten. Später wurden die Tiere größer und zunehmend exotischer: Von Rehen und Pferden ging sie schließlich zu Gazellen, Dromedaren und sogar Elefanten über. Wie herrlich, sich vorzustellen, man wäre ein Flusspferd, man bräuchte nur den Kopf nach einem Angreifer zu drehen und gähnend das Maul zu öffnen, um ihn einzuschüchtern, ihn »so klein mit Hut« zu machen, wie Onkel Gerhard es ausdrückte. Das Flusspferd fraß nur Gräser und Zweige, aber das hätten die Kinder, die Macht hatten, sicher nicht gewusst.

Frankas Vater wusste es auch nicht. Er mochte keine Tiere, und die dreizehn kostbaren Bände von Brehms Tierleben, die Onkel Gerhard Franka nach und nach zu ihren Geburtstagen geschenkt hatte, hätte er nicht angerührt. »Was soll sie mit all den Büchern?«, hatte er die Geschenke, in die Franka versunken war, kommentiert. »Zur christlichen Lebensführung tragen die nichts bei, und ein Professor wird sowieso nicht aus ihr.« In seiner Stimme lag einmal mehr die Enttäuschung darüber, dass er mit Franka um den erhofften Sohn betrogen worden war. »Das hier ist ein ordentliches Haus«, sagte er, sooft Franka es wagte, anzudeuten, dass sie sich mehr als alles ein lebendes Tier wünschte, einen kleinen Hund, einen Sittich oder wenigstens ein Glas mit einem Goldfisch. »Gott der Herr hat das Vieh gemacht, damit es dem Menschen untertan ist, nicht damit wir es uns samt seinem Dreck in die Stube holen.«

Frankas Vater war Pastor wie sein Vater vor ihm und stand der Gemeinde der Südende-Kirche vor. Was Gott der Herr gemacht oder nicht gemacht hatte, war in seinem Haus Gesetz. Tiere waren dazu da, dem Menschen untertan zu sein, Ehefrauen ebenfalls, und Töchter, die niemand gewollt hatte, erst recht. Also gab es kein Tier für Franka, sosehr sie sich auch danach sehnte, eines zum Freund zu haben.

Noch mehr sehnte sie sich während ihrer Spiele auf allen vieren manchmal danach, eines zu sein.

An ihrem Spiel hielt sie sich fest. Die Mutter jammerte, Franka sei doch längst zu alt für solche Kindereien, die anderen Kinder kicherten, aber für Franka war ihr Tierspiel der Ort, an den sie sich flüchten konnte. Jahrelang hatte es noch einen anderen Ort gegeben, eine Welt, in der sie sich zu Hause fühlte, sonntags, gleich nach der Kirche, wenn Onkel Gerhard sie abholen kam, um mit ihr in den Zoo zu gehen. Seit dem letzten Herbst jedoch blieb diese Welt ihr verschlossen. Onkel Gerhard holte sie zwar noch ab, und sie beugten sich Seite an Seite über Bände von Brehms Tierleben, aber es war nicht das Gleiche. Es war, als warteten sie nebeneinander sitzend in einem Wartesaal auf einen Zug, der nie kam.

Ihr blieb das Spiel. Es musste ihr bleiben! Wenn Erwachsene nicht Tier spielen durften, dann wollte Franka nie erwachsen werden.

Erwachsene durften nicht Tier spielen.

»Damit hat es jetzt ein Ende, Franka Friederike«, hallte die Stimme von Herrn Rothert, dem Klassenlehrer, über Frankas Kopf hinweg, während sie als Gepard zwischen Schulbankbeinen umherschlich. Als Nächstes senkte sich die Spitze seines Zeigestocks wie in finsterer Absicht auf ihr Hinterteil. »Elf Jahre alt, demnächst auf die Oberschule gehen und eine junge Dame sein wollen, aber wie ein Kleinkind auf Knien rutschen – das kann man dir unmöglich länger durchgehen lassen!«

Über Frankas Rücken lief ein Schauder. Die Stockspitze auf ihrem Hintern war ekelhaft. Hätte der Lehrer sie im Nacken gepackt und auf sein Pult gezwungen, um ihr mit dem Stock ein halbes Dutzend Schläge zu versetzen, hätte sie sich in sich selbst verstecken oder weiter der Gepard sein können, der sich von Leuten wie dem Lehrer nicht weh tun ließ. Die Spitze, die bis auf ein gelegentliches Tappen ruhig auf ihrem Hinterteil lag, bewirkte hingegen, dass ihr das Frühstück, Graubrot mit Quittenmarmelade, zurück in den Hals quoll. Als hätte der Lehrer nicht den Stock, sondern seine große, rötlich behaarte Hand dorthin gelegt. Franka konnte nicht länger der Gepard sein, sie war Franka, und sie war dem Lehrer ausgeliefert. In sich hineinkriechen, um sich zu verstecken, konnte sie auch nicht, sondern kauerte auf allen vieren wie erstarrt.

»Hast du mich nicht verstanden, Franka Friederike?«

Der Stock tappte.

»So heiß ich nicht«, murmelte Franka ganz leise.

Sie hieß Franka Frieda Fröhlich. Franka Frieda, weil ihr Vater gern einen Frank Frieder gehabt hätte, benannt nach seinem früh verstorbenen Lieblingsbruder, dessen Bild mit dem schwarzen Trauerflor auf der Anrichte in der Wohnstube stand.

Der Lehrer überwand mit einem Schritt den Abstand, den der Stock beschrieb. Franka wollte kein Gepard mehr sein, sondern ein Eisbär, der unter eine Scholle tauchen und sich unerreichbar machen konnte. Herr Rothert berührte sie nicht, und dennoch glaubte sie, seine Hand auf ihrem Hintern zu spüren. Den Luftzug, den das Herabsenken der Hand verursachte. Sie hatte sich vor dem Mann geekelt, sooft er ihr zu nahe kam, und sie hatte nie verstanden, warum. Er kam ihr oft zu nahe. Jetzt musste sie vor Ekel würgen.

»Soso. Wie heißt du denn dann?«

Franka zwang sich zu antworten. Ein Gepard, ein Eisbär oder ein schönes, dickhäutiges Flusspferd würden sich niemals von diesem widerlichen Mann und seinem Zeigestock einschüchtern lassen. »Franka Frieda Fröhlich«, sagte sie so laut, wie ihre zitternde Stimme es erlaubte.

»Das habe ich ja wohl gesagt, du kleine Furzkruke.«

»Nein, Sie haben Friederike gesagt«, erwiderte Franka. »So heiß ich nicht, und Wörter wie Furzkruke benutzt man nicht.« Sie musste verrückt geworden sein. Aber dem Geparden, dem Eisbären, dem prachtvollen Flusspferd war sie den Todesmut schuldig, und wenn sie dem Mann ihre Angst zeigte, würde der Ekel sie überwältigen.

Hinter ihr brandete Gelächter auf. Die Kinder, die die Macht hatten, mussten sich diebisch freuen, Franka in solch einer Lage zu ertappen, und die, die keine Macht hatten, freuten sich, weil einmal nicht sie gepiesackt wurden. Hotte Kroll lachte noch lauter als Armin Wernecke. Der bebrillte Hotte, der beim Turnen über seine eigenen Beine stolperte und Hosen mit Stopfgarn auf dem Hintern trug, war in der Klasse die Mettwurst zwischen zwei Schrippenhälften. Die Kinder, die die Macht hatten, schoben ihm alles Erdenkliche in die Schuhe, und Lehrer Rothert hatte ihn zum Prügelknaben ausersehen. Dennoch hätte Franka in diesem Augenblick gern mit ihm getauscht. Den Hotte, den schlug der Lehrer nur. Mit dem tat er nicht, was er mit Franka tat. Das Quittengelee in ihrer Kehle schmeckte gallebitter.

»Dir muss wohl mal jemand Manieren beibringen«, sagte Lehrer Rothert, nahm den Stock weg und gab ihr einen Klaps mit der Hand. Ließ die Hand liegen und ein Stück tiefer rutschen. Franka würgte und warf sich flach auf den Boden. Nur weg von der Hand. Er hat das schon mal gemacht, durchfuhr es sie. Nicht so eindeutig. Aber sobald er bei mir steht, fasst er mich irgendwo an, und mir wird schlecht.

»Na, na«, sagte Lehrer Rothert. »Nun hab dich mal nicht so, das hat ja wohl nicht weh getan.«

Das Gelächter schwoll.

»Guckt euch mal die an!«, rief Hotte Kroll. »So ’n kleiner Klaps, und Franka Vierbein kippt um.«

»Nicht anfassen, Herr Lehrer«, tönte Armin Wernecke. »Sie machen sich die Hände schmutzig, die Franka stinkt wie ’n Stall voll Vieh.«

Ich rühr mich nicht, dachte Franka. Ich bin ein Tier, das sich tot stellt, bis die Feinde das Interesse verlieren. Erst wenn sie alle weg sind, spring ich auf und flitze davon.

Lehrer Rothert beugte sich weiter herab und tätschelte sie. Die Berührung brannte Löcher durch den Stoff von Rock und Wäsche, sie brannte ein Loch in Frankas Haut. Ich laufe zum Hambuttenpfuhl und tauche hinein, ich bleib im Wasser, bis ich wieder sauber bin. Flusspferde können länger als fünf Minuten unter Wasser bleiben, und in die Schule geh ich nie wieder. Franka würgte. Die Mitschüler lachten. Der Lehrer ließ nicht locker.

»Habt ihr jetzt nicht mal genug?« Eine Stimme erhob sich und zerschnitt das Gelächter. »So komisch ist das doch nicht, wenn’s einem elend geht, und überhaupt, warum sitzt ihr nicht in euren Bänken, gleich fängt die Stunde an.« Jemand kniete sich neben Frankas Gesicht, und im selben Augenblick zog sich die Lehrerhand zurück, als hätte sie Angst, ertappt zu werden. »Ist dir übel, Franka? Komm, ich helf dir nach draußen, vielleicht wird’s besser, wenn du an der Luft bist.«

Anni Pelzin. Das Mädel vom Schulhausmeister, das so dick war, dass sie Röcke für Frauen tragen musste, und selbst an denen trennte ihre Mutter den Bund auf. Annis rundes Gesicht sah aus wie ein Bratapfel, bei dem man erwartete, dass die Haut aufplatzte. Mit ihrer pummeligen Hand umfasste sie Frankas Arm so fest, dass es weh tat. »Hoch mit dir«, raunte sie ihr zu und blies ihr kurzatmig ins Ohr. »Geh raus, tu so, als wäre er Luft. Er ist eklig. Aber den Mut, uns nachzukommen, hat er nicht.«

2

Franka

Ihre Beine kamen Franka vor wie weich gekochte Würste, doch mit Annis Hilfe hatte sie es geschafft, sich auf die Füße zu rappeln. Anni hielt ihren Arm weiterhin fest umklammert. Es tat immer noch weh, aber es gab ihr Halt. Nebeneinander gingen sie durch das Spalier der anderen, die nicht mehr lachten, nur noch gafften und sich schließlich mit ein bisschen Gemurmel zu ihren Bänken verzogen. Franka gab sich Mühe, niemanden anzusehen. Vor der Tür erlaubte Anni ihr nicht, stehen zu bleiben, sondern dirigierte sie den Gang entlang weiter, die Treppe hinunter und hinaus in den Hof. Es war kalt, der Himmel grau wie Eisen. Franka würgte immer noch, spuckte auf den Boden, aber das Quittengelee wollte nicht raus.

Anni führte sie um das Gebäude herum in den Schuppen, in dem ihr Vater Werkzeug aufbewahrte. Es war dunkel und eng zwischen den Gerätschaften, und dennoch hatte Franka das Gefühl, wieder freier atmen zu können, sobald Anni hinter ihnen die Tür zuwarf. Sie setzte sich zwischen eine Ansammlung Rechen und einen Metallschrank für Kleinteile auf den Boden. Als Anni sich neben sie plumpsen ließ, schepperten die Rechen, und das Gewicht der anderen drängte Franka gegen den Schrank. Anni mochte bald doppelt so breit sein wie sie selbst, und alles an ihr war prall, wie aufgepumpt. Sie roch auch nicht gut. Trotzdem war Franka, die sich kaum je mit Menschen, sondern nur mit Tieren wohl fühlte, über ihre Nähe froh. Anni zog ein riesiges Männertaschentuch aus der Rocktasche und rieb Franka über das Gesicht.

»Besser?«

Franka nickte. »Danke«, murmelte sie. »Das war sehr mutig von dir.« Ein bisschen schämte sie sich. Oft genug hatte sie miterlebt, wie die Kinder, die die Macht hatten, Anni zusetzten, doch statt ihr zu helfen, war sie ein Zebra, ein Schimpanse, ein Löwe geblieben, der sich für das unverständliche Treiben von Menschen nicht interessierte.

»Ach was«, sagte Anni. »Ich hab doch nichts zu verlieren.«

»Morgen werden sie dich dafür aufs Korn nehmen«, sagte Franka.

»Das machen sie sowieso«, erwiderte Anni. »Egal, was ich tue.«

»Warum?«, fragte Franka und wunderte sich, weshalb sie sich das nie zuvor gefragt hatte. »Warum haben sie es auf dich und mich und Hotte Kroll abgesehen, warum nie auf einen von den übrigen?«

»Weil wir anders sind«, antwortete Anni. »Wir sind ganz besonders anders, also eignen wir uns am besten. Wenn aber einer von uns wegginge, dann brauchten sie ein neues Opfer und würden sich auch mit einem begnügen, der nur ein bisschen anders ist. Walther Kohn vielleicht, der ist Jude. Oder Sidonie Schulz, die schielt.«

Franka verstand nicht. War es denn nicht schön, dass jeder anders war? Als Onkel Gerhard das erste Mal mit ihr in den Zoo gegangen war, war sie sechs Jahre alt gewesen und hatte vor Aufregung nicht stillstehen können. Von Gehege zu Gehege war sie gelaufen, immer wieder kreuz und quer durch die Anlagen, um all die Farben und Formen zu bestaunen, in denen Tiere daherkamen. Keines glich dem anderen. Da gab es Gefiederte und Behaarte, welche mit Schuppen und andere mit nackter, blanker Haut, es gab graue, leuchtend bunte, gefleckte und sogar gestreifte, winzig kleine und riesig große, manche mit endlosen Hälsen, andere mit Rüsseln, solche, die stundenlang auf einem Bein standen, und andere, die sich von Ast zu Ast schwangen, solche, die in eisigem Wasser schwammen, und solche, die sich in bullig aufgeheizten Häusern aalten. Franka hatte sich nicht sattsehen können. Immer wenn sie glaubte, jetzt müsse sie jede Tiergestalt kennen, erwartete sie wieder eine neue.

Als sie den Zoo dann verließen, lange nachdem der letzte Besucher gegangen war, hatte Onkel Gerhard sie aufgefordert: »Nun musst du mir eines aber sagen, Springböckchen – was hat dir heute am besten gefallen?«

Kurz überlegte Franka. Das Krokodil, das am Ufer des künstlich angelegten Wasserlochs still wie ein Baumstamm verharrte? Der Tiger mit seinen leuchtenden Fellfarben, der alte Schimpanse mit seinem weisen Gesicht, der die kreischenden Besucher ignorierte? Sie hatte den Kopf geschüttelt, doch dann hatte sie die richtige Antwort gewusst: »Am besten hat mir gefallen, dass sie alle anders sind.«

Alle anders, alle verschieden. Sie war immer anders gewesen, sie hatte geglaubt, das gelte für jeden, und erst jetzt begriff sie, dass sie womöglich damit allein stand. Die Kinder in ihrer Klasse fanden am Anderssein offenbar nichts Schönes, und wenn sie nachdachte, fielen ihr etliche Menschen ein, die das genauso sahen: »Kannst du dich nicht einmal benehmen wie andere Mädchen auch?«, jammerte die Mutter, wenn Franka sich beim Tierspielen die Knie der Strumpfhosen durchscheuerte. »Weshalb muss sie auf die gemischte Volksschule gehen, für andere Töchter tut’s eine Mädchenklasse doch auch«, schimpfte der Vater, und die Kinder am Hambuttenpfuhl hatten sich bei ihren Eltern beschwert: »Mit der Franka vom Pfarrer will ich nicht spielen. Die ist so komisch. Nicht wie wir.«

Fanden die Menschen das Andere, Fremde denn gar nicht spannend, reizvoll, wollten sie es nicht kennenlernen? Onkel Gerhard war mit Franka im Zoo auf einer Völkerschau gewesen, dort war ein Dorf voller Menschen aufgebaut worden, die tintenschwarze Haut hatten und statt Kleidern bunte, um den Leib gewickelte Tücher trugen. Aus dem tiefsten Afrika stammten sie, vom Tschadsee, wo das wunderschöne neue Flusspferd des Zoos gefangen worden war, und Franka wäre am liebsten durch die Stäbe des Gitters gekrochen und hätte sich hinter einer der Hütten verkrochen, um zu belauschen, was sie in ihrer aufregend fremden Sprache zueinander sagten.

Es musste doch vielen Menschen so ergehen, denn vor der Absperrung der Völkerschau hatten sich die Zuschauer gedrängt wie vor dem Käfig der neuen Schimpansengruppe, die an Schaukeln ihre Akrobatik vorführte. Franka konnte nicht länger darüber nachdenken, weil sich plötzlich das Bild von Lehrer Rotherts Gesicht, sein verkniffenes Grinsen, vor die Erinnerungen an die Völkerschau schob. Dieses ekelhafte Gefühl kroch wieder über ihren Rücken, und sie schüttelte sich. Wieder wünschte sie sich, zum Hambuttenpfuhl zu laufen und mit ihrem ganzen Körper ins Wasser einzutauchen, ganz egal, wie kalt es war.

Anni legte ihr die dicke Hand auf den Arm. »Ist ja gut«, murmelte sie. »Hierher kommt keiner, nur mein Vater, und der ist heute beim Arzt mit seinen kranken Füßen.«

»Entschuldige«, sagte Franka. Anni war so nett zu ihr gewesen, und sie benahm sich, als wäre das dicke Mädchen an ihrer Seite Luft. »Ich verstehe nicht, warum sie das machen«, sagte sie und kam sich dumm vor, wie eine, die von der Welt, in der sie lebte, keine Ahnung hatte. »Wir tun ihnen nichts. Sie brauchen vor uns keine Angst zu haben, oder?«

Anni sah an sich hinab und klatschte die Hände unsanft auf den fetten Bauch. »Vor mir bestimmt nicht. Ich könnte denen keine drei Schritte hinterherlaufen, ohne zu keuchen wie eine Lokomotive. Aber wenn’s einem schlechtgeht, hilft’s vielleicht, dass es einem anderen noch schlechter geht.«

»Wie meinst du das?«

»Na, elend dran sind doch alle«, antwortete Anni. »Für das Geld, das unsere Väter für einen Tag Arbeit nach Hause bringen, können unsere Mütter am nächsten kaum noch ein Essen auf den Tisch stellen.« Sie gab eine Mischung aus Husten und Lachen von sich. »Schon gar nicht, wenn sie einen Fresssack wie mich durchzufüttern haben. Deutschland hat den Krieg verloren, es gilt in der Welt nichts mehr, und an der Ruhr sind die Franzosen einmarschiert, weil wir dieses viele Geld, das wir den Siegern zahlen müssen, nicht zusammenkriegen. Da fühlt man sich eben wie ausgespuckt. Armin Wernecke kriegt kein Fahrrad, sondern Prügel, weil sein Vater entlassen worden ist und üble Laune hat, also muss er den Bratklops Anni in den Drahtzaun schubsen, damit er nicht mehr der letzte, sondern nur noch der vorletzte Dreck ist. Verstehst du jetzt?«

»Armins Vater tut Armin weh, also tut Armin dir weh?«, platzte Franka heraus. »Aber das ist doch Blödsinn vor dem Herrn – wie soll es denn davon irgendwem bessergehen?«

Anni zuckte mit den dicken Schultern. »Das ist eben so. Das war immer so. Und das wird auch immer so bleiben.«

»Das ist mir zu dämlich«, rief Franka kämpferisch. »Wenn Armin dir das Pausenbrot klaut, weil er Hunger hat, könnte ich das verstehen, und jedes Tier würde es genauso machen. Aber davon, dass er dich schubst, wird er doch auch nicht satt, und die Prügel von seinem Vater tun nicht weniger weh.«

»Vielleicht ja doch«, sagte Anni. »Hast du das nie? Tut dir nie etwas so schlimm weh, dass du einfach das Nächste, was dir in die Hände fällt, kaputt machen willst?«

Franka überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte ihren Vater vor Zorn ein hübsch geschliffenes Glas, das ihre Mutter gern gemocht hatte, an die Wand werfen sehen, und als es zerbrochen war, war es ihr vorgekommen, als schnitten ihr die Scherben in die Brust. Warum Kaputtmachen gegen Schmerz helfen sollte, war ihr ein Rätsel. Außerdem war Anni kein Glas. Sie war ein Kind und noch dazu eines, das verblüffend viel von Dingen wusste, die laut Frankas Vater Kinder nichts angingen. »Ich will das nicht«, sagte Franka. »Und dass die anderen dich noch mehr quälen, weil du mir geholfen hast, will ich schon gar nicht. Wenn sie morgen wieder auf dich losgehen, stehe ich dir bei.«

»Das ist nett von dir«, sagte Anni und strich schüchtern über Frankas Arm. »Aber dass du das vorhattest, hast du morgen schon wieder vergessen, und das ist auch nicht schlimm. Ich kenn’s doch nicht anders. Es macht mir nichts aus.«

»Wirklich nicht?«

Anni lachte, aber es klang ganz und gar nicht froh. »Na ja. Manchmal, nachts im Bett zum Beispiel, stelle ich mir vor, ich wache morgens auf und bin nicht mehr der Bratklops Anni Pelzin, sondern eine wie Ingeborg Helfmann, die von niemandem geärgert wird, weil sie hübsch aussieht und alle sie dabeihaben wollen.«

»Vielleicht kommt es ja so!«, fiel Franka ein. »Im nächsten Jahr ist doch mit der Volksschule Schluss, und in der Höheren wird alles anders.« Sie selbst freute sich schon seit einer Ewigkeit auf die höhere Schule. Zwar hatte ihr Vater geschimpft, er werde sie auf keinen Fall auf das Mädchenlyzeum schicken, denn das Pudding-Abitur, das sie dort ablegen könne, sei ein Witz und vergebliche Liebesmüh, aber Onkel Gerhard hatte versprochen, wieder einmal für sie in die Bresche zu springen. Er würde ihren Vater überzeugen, dass Franka nicht nur auf ein Mädchenlyzeum, sondern vielmehr auf ein ordentliches Gymnasium für Jungen gehörte, an dem sie sich auf ein Studium vorbereiten konnte. Seit neuestem war dies gesetzlich gestattet, und nur darum ertrug Franka die Quälerei in der Volksschule. Sie wollte Zoologie studieren wie Onkel Gerhard, aber danach nicht in einer Studierstube arbeiten, sondern ihre Tage von morgens bis abends mit Tieren verbringen, so wie Ludwig Heck, der Direktor des Zoos.

Eine Arbeit im Zoo zu ergattern, das musste überhaupt das Schönste sein, was einem Menschen passieren konnte. Direktor Heck hatte sogar seine Wohnung in der weitläufigen Anlage hinter dem Elefantentor. Abend für Abend, wenn die Tore hinter den Besuchern verschlossen wurden, schlief er dort mit all den Tieren, und wenn er keinen Schlaf fand, weil ihn Sorgen drückten, brauchte er nur hinauszulaufen, um die beruhigende Nähe der vielen Geschöpfe zu spüren, ihre Gerüche einzuatmen und ihrem nächtlichen Atem zu lauschen, um zu wissen, dass die Welt schön und voll Frieden sein konnte.

Das war es, was Franka um jeden Preis wollte: die Schule durchstehen, studieren und im Zoo zu arbeiten beginnen. Geträumt hatte sie davon, solange sie denken konnte, doch nun schien nicht einmal mehr sicher zu sein, dass es noch einen Zoo geben würde, wenn sie mit Schule und Studium fertig war. Im Oktober hatte ihr Paradies am Hardenbergplatz seine Tore geschlossen, und jetzt, im Februar, waren sie immer noch nicht wieder für Besucher geöffnet worden. Die Entwertung des Geldes, das Elend, das sich in der Stadt ausbreitete, als wäre irgendwo ein Rieseneimer mit stinkender Jauche umgefallen, hatte vor dem Zoo nicht haltgemacht. Aus dem wertvollen, mühselig eingebrachten Bestand an Tieren musste so manches an einen anderen Garten abgegeben werden, und mehrere Häuser wurden stillgelegt, weil das Geld für Futter und Heizung fehlte.

Franka riss sich zusammen. Sie musste sich auf Anni konzentrieren, die mit ihr sprach, ohne dass Franka ein einziges Wort mitbekam. Das passierte ihr ständig: Sooft ihr etwas unerträglich wurde, eilten ihre Gedanken zum Zoo, als hätten sie Beine und könnten sich an dem jetzt verrammelten Kassenhäuschen unter dem Elefantentor eine Eintrittskarte kaufen.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie hastig. »Bitte sei nicht böse. Ich war …«

»In Gedanken. Hab’s schon gesehen.« Wieder Annis unfrohes Lachen. »Mach dir keine Sorgen. Ich weiß ja, dass ich nichts zu erzählen habe, was andere interessiert.«

»Es interessiert mich, Anni. Bitte erzähl es mir noch einmal, ich bin nur so durcheinander, dabei weiß ich nicht einmal, warum …«

»Doch, das weißt du«, erwiderte Anni. »Ich habe nur gesagt, dass es mir auf der höheren Schule nicht anders ergehen würde, weil ich da auch nur wieder die hässliche Anni wäre, genau wie hier. Aber ich geh ja gar nicht hin.«

»Aber warum denn nicht?«, rief Franka. Anni gehörte zu den Besten in der Klasse. Sie war fleißig, muckte nie auf und hatte die ordentlichste Schrift von allen.

»Warum soll denn mir einer das bezahlen?«, fragte Anni zurück. »Das lohnt sich doch nicht, ich bin ja nicht die Tochter von Graf Koks. Die zwei Pflichtjahre bleib ich noch auf der Volksschule, dann heißt es Geld verdienen, falls irgendwer einen japsenden Bratklops einstellen will.«

Betroffen schwieg Franka. Sie kannte die Haltung von ihrem eigenen Vater: Für ein Mädchen lohnte sich nichts. Hätte sie nicht Onkel Gerhard als Fürsprecher gehabt, hätte sie den Traum vom Studium begraben können.

»So schlimm ist das ja nicht«, sagte Anni. »Ein Genie bin ich schließlich nicht, und bestimmt hätte ich die höhere Schule sowieso nicht geschafft. Das, was dich durcheinanderbringt, ist schlimmer. Das, was Lehrer Rothert mit dir macht. Du musst es jemandem erzählen, Franka.«

»Aber er macht doch gar nichts mit mir«, murmelte Franka und bemerkte, dass ihr Körper zitterte, obwohl sie, so dicht an Anni gepresst, ja kaum frieren konnte. »Er hat mir nicht mal weh getan.«

»Das wollte er auch nicht«, sagte Anni, und dann waren sie beide eine beklemmende Weile lang still und sahen sich an. Annis Augen unter fast wimperlosen Lidern waren verquollen und blass. Sie war wirklich nicht schön anzusehen, aber Franka hätte sie umarmen wollen, weil sie bei ihr war und sie nicht mit Dingen, die sie nicht einmal bis zum Ende durchdenken konnte, allein ließ. Nur umarmte sie nicht gern Menschen.

Was Lehrer Rothert wollte, ließ sich nicht in Worte fassen. Aber es tat gut, dass Anni davon wusste, auch wenn es keinen Namen hatte. Es war, als hätte man ein Gespenst gesehen: Man brauchte einen anderen, der es auch sah, sonst musste man glauben, man wäre verrückt.

»Erzähl es deinem Vater«, sagte Anni.

»Meinem Vater?« Um ein Haar hätte Franka aufgelacht. »Nie im Leben.« Selbst wenn der Lehrer ihr etwas getan hätte, das sich hätte erklären lassen, wäre der Vater der letzte Mensch gewesen, dem sie es erzählt hätte. Ihr Vater war dagegen, dass sie auf die gemischte Schule ging, ihr Vater war dagegen, dass sie ihn mit ihrem Geplapper störte, und wenn man es genau nahm, war ihr Vater dagegen, dass sie überhaupt auf der Welt war.

»Dann erzähl’s einem anderen«, sagte Anni. »Jemandem, der dir hilft.«

Onkel Gerhard, dachte Franka. Er war ihr Taufpate und hatte ihr immer geholfen. Einmal, als sie noch klein gewesen war und sich nach einem ihrer gemeinsamen Sonntage weinend an ihm festgeklammert hatte, weil sie nicht nach Hause wollte, hatte er ihr einen kleinen Zettel zugesteckt, den sie noch immer besaß. Auf dem Zettel stand:

»Vergiss nicht, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Auch dann, wenn ich nicht deiner Meinung bin.«

Gewiss würde Onkel Gerhard ihr helfen, wenn er wüsste, dass sie in Not war, aber wie sollte sie ihm das alles erklären? Es war doch gar nichts passiert! Und wenn er verstünde, dass doch etwas passiert war, so, wie Anni es verstand – würde er Franka dann noch mögen? Vielleicht würde er sie für eins von den schlechten Mädchen halten, von denen es ihrem Vater zufolge in Berlin nur so wimmelte. Würde er dann noch glauben, dass sie das Zeug zur Zoologin hatte, und sich bei ihrem Vater für ihr Studium verwenden, wie er es versprochen hatte?

Heftig schüttelte Franka den Kopf. »Ich kann’s nicht, Anni. Ich kann’s keinem erzählen.«

»Wirklich nicht?« Traurig sah Anni sie mit ihren verquollenen Äuglein an. »Ich versteh schon. Ich hätte auch keinen, dem ich’s erzählen könnte.«

»Wie …«, begann Franka und schluckte mit trockener Kehle. »Wie kannst du überhaupt wissen … ich meine, wie hast du denn gemerkt …?« Es half nichts. Wie sie die Frage auch anfing, sie bekam sie nicht zu Ende gesprochen.

»Wie ich gemerkt habe, was Rothert mit dir macht?«, beendete Anni den Satz für sie.

Franka nickte, ohne sie anzusehen. »Hat er bei dir etwa auch …?«

»Was denkst du denn?«, fuhr Anni ihr ins Wort. Ihre Stimme troff vor Hohn und klang nicht länger wie eine Kinderstimme. »Ich bin doch der Bratklops, mir passiert so was nicht. Das ist wenigstens ein Vorteil, stimmt’s?«

Franka wusste keine Antwort.

»Aber weißt du was?« Sie nahm Frankas Hände in ihre eigenen, die sich wie kleine pralle Kissen um Frankas Finger schlossen. »Allein bist du trotzdem nicht, auch wenn du’s keinem erzählen kannst. Ich bin ja da. Ich pass auf dich auf. Der hat nämlich Angst, dass ihn einer verpfeift, der Rothert, und vor mir hat er besondere Angst, weil mein Vater schließlich in der Schule angestellt ist. Ich setz mich zu dir in die Bank, was meinst du dazu? Und wenn du auf allen vieren herumkriechen willst, wie du’s sonst immer machst, gehe ich neben dir her.«

»Ich mach’s nicht mehr«, sagte Franka, denn in diesem Augenblick hatte sie begriffen, dass sie nie wieder ein Gepard sein würde, kein Zebra und erst recht kein gelassenes Flusspferd, das Leute wie Lehrer Rothert an seiner dicken Haut abprallen ließ. Die Zeit des Spiels war an diesem Tag zu Ende gegangen, von ganz allein, ohne ein Verbot. »Ich gehe jetzt ordentlich auf zwei Beinen wie ihr alle, und ich steh dir auch bei, Anni, nicht nur du mir. Das versprech ich dir.«

»Ach was, Franka.« Täuschte sie sich in dem schwachen Licht, oder wurden Annis runde Wangen ein wenig rot? »Das musst du nicht machen, ist doch Quatsch mit Soße. Eine wie du kann doch von einer wie mir nicht die Freundin sein.«

Franka überlegte. Sie war nicht sicher, ob sie über die Möglichkeit, eine Freundin zu haben, jemals nachgedacht hatte. Früher vielleicht. Als sie kleiner gewesen war und gesehen hatte, dass die meisten Kinder paarweise oder in Gruppen herumliefen. Recht bald aber hatte sie begriffen, dass sie das war, was in der Tierwelt als Einzelgänger bezeichnet wurde. Der Bambusbär zum Beispiel war einer. Und Franka Frieda Fröhlich eben auch. Und Onkel Gerhard, an dem sie am meisten hing, wohl genauso: Sie mochten sich, doch sie konnten stundenlang miteinander schweigen, jeder in ein anderes Tierbuch vertieft. Wenn Franka später noch einmal von einem Freund geträumt hatte, hatte sie sich darunter immer ein Tier, nie einen Menschen vorgestellt.

Aber Anni wünschte sich doch so sehr eine Freundin! Aus ihren Worten sprang Franka die Sehnsucht geradezu an. Was kostete es sie? Nichts, das Anni für das, was sie heute getan hatte, nicht verdient hatte. »Klar kann ich«, sagte sie. »Du und ich gegen den Rest der Welt, abgemacht?«

Das sagte Onkel Gerhard manchmal zu ihr. Immer dann, wenn Franka es am nötigsten hatte. Und: »Wenn wir’s wollen, kriegen wir’s schon hin.« Das sagte er auch manchmal.

Über Annis Gesicht glitt ein Ausdruck völliger Verblüffung. Dann begann sie zu strahlen. »Franka«, sagte sie. »Weißt du eigentlich, dass noch nie einer etwas so Schönes zu mir gesagt hat? Auch wenn du es nicht so meinst, und auch wenn du es morgen vergessen hast – dafür, dass du das gesagt hast, hast du etwas bei mir gut. Und ich vergesse es dir nie.«

3

Franka

März 1923

Onkel Gerhard war der ältere Bruder von Frankas Vater. Zwei Brüder hatte er gehabt, aber Frank, der jüngere und der erklärte Liebling der Familie, war nicht mehr am Leben. Wenn ihr Vater »mein Bruder« sagte, meinte er immer Frank, während er von dem noch lebenden Älteren als von »meinem Bruder Gerhard« sprach. Sooft irgendwo die Frage aufkam, erklärte er, sein Bruder – also Frank – sei mit außergewöhnlichen Talenten gesegnet gewesen und im zarten Alter von erst achtzehn Jahren auf tragische Weise im Weltkrieg gefallen.

Das war Unsinn. Dass der Weltkrieg von 1914 bis 1918 gedauert hatte, wusste selbst Franka, obwohl ihr Vater fand, derlei Dinge gingen Kinder, namentlich Mädchen, nichts an. Ihr Vater erzählte bei jeder möglichen Gelegenheit, seine Tochter sei nach seinem »hochbegabten Bruder Frank Frieder benannt, der im Weltkrieg sein junges Leben für sein Land lassen musste«. Da Franka 1912 geboren war, musste der hochbegabte Frank Frieder, als der Weltkrieg ausbrach, folglich schon mindestens zwei Jahre tot gewesen sein.

Ob sie den Vater je danach gefragt hatte, wusste sie nicht. Soweit sie sich erinnerte, fragte sie ihn überhaupt nie etwas, denn eine Antwort hätte sie ohnehin nicht erhalten. Nach allem, was sie wissen wollte, fragte sie von jeher Onkel Gerhard, der bereitwillig Rede und Antwort stand und dabei vom Hundertsten ins Tausendste kam. Franka liebte das: Geschichten, die kein Ende kannten, sondern nahtlos ineinander übergingen. Allerdings gab es solche Geschichten nur zu Themen, die mit Onkel Gerhards Arbeit, ihrer gemeinsamen Liebe zu Tieren oder harmlosen Wissensgebieten in Zusammenhang standen. Auf heiklere Fragen wiegte Onkel Gerhard den Kopf von einer Seite zur anderen, legte die Stirn wie ein Dackel in Falten und erwiderte: »Ach, weißt du, mein Springböckchen, mit diesen Herzensdingen, da tun wir Wissenschaftler uns schwer. Danach fragst du besser jemand anderen.«

Dass Franka keinen anderen zum Fragen hatte, ließ er außer Acht. Sie hatte diese immer gleiche Antwort auf die Frage »Wie war das, als du ein kleiner Junge warst, Onkel Gerhard?« bekommen und ebenso auf die Frage: »Warum hast du eigentlich keine Frau?«

Die Frage nach dem Tod seines Bruders Frank Frieder gehörte in dieselbe Kategorie: »Ach, weißt du, Springböckchen, an diese traurigen Geschichten rühre ich lieber nicht, dafür habe ich nicht das Herz.«

Franka hatte es aufgegeben. So wichtig war es schließlich nicht – es nahm in ihrem Denken nie so viel Raum ein wie andere Erlebnisse, die sie Sonntag für Sonntag teilten.

Der Weltkrieg hatte das betriebsame Leben des Zoos, der kurz zuvor sein neues Aquarium eröffnet hatte und den weltgrößten Artenreichtum auf seinem Gelände vereinte, jäh und grausam unterbrochen. Daran, dass Tiere gestorben waren, weil für sie kein Futter mehr aufzutreiben gewesen war, konnte Franka gar nicht denken, weil ihr dann ein Klumpen wie ein zu großer, unzerkauter Bissen die Kehle verschloss. Glücklicherweise war sie damals zu klein gewesen und hatte nichts davon mitbekommen. Als der Zoo nach dem Krieg jedoch seine Pforten wieder geöffnet hatte, war Onkel Gerhard sofort mit ihr hingegangen, und seitdem bestimmte der Zoo ihr Leben, all ihr Denken und Handeln kreiste darum.

Was hatten sie nicht für wundervolle Dinge erlebt, während sie Sonntag für Sonntag zwischen den Gehegen und Tierhäusern umherspazierten! »Wenn ich ein reicher Mann wäre, würde ich dir vielleicht eine Reise um die Welt schenken wie einer Prinzessin«, sagte Onkel Gerhard. »Aber weil ich nur ein mittelprächtig bezahlter, verknöcherter Wissenschaftler bin, muss unser Zoobesuch dir als Weltreise genügen.«

Er genügte ihr über die Maßen! Mit Onkel Gerhard und seinen Geschichten durch den Zoo zu streifen war eine Abenteuerreise, um die jede Prinzessin sie beneiden musste. Vor dem prächtigen Straußenhaus mit seinen Säulen und den leuchtenden Wandmalereien aus der ägyptischen Geschichte erzählte er ihr, dass die alten Ägypter mit ihren Straußen auf die Jagd gegangen waren und dass ihre Federn ihnen als Symbol der Gerechtigkeit galten. »Wohl weil sie von den Straußenvögeln mit solchem Stolz und solcher Grazie getragen werden, wie kein Mensch es könnte«, sagte Onkel Gerhard und wies auf eines der majestätischen Tiere. »Und weil jede Feder ganz und gar symmetrisch angelegt ist, ohne Neigung nach der einen oder anderen Seite. So wünschen wir uns die Gerechtigkeit, nicht wahr?«

Franka hatte keine Ahnung, wie sie sich die Gerechtigkeit wünschte, aber sie liebte es, Onkel Gerhards Geschichten zuzuhören. Jede einzelne versprach ein Geheimnis, das sich ihr eines Tages enthüllen und die Tür zu weiteren Geheimnissen aufstoßen würde. Ihr Leben würde immer bunt und erregend und voller Überraschungen sein, solange die Zauberwelt der Tiere ihr blieb.

Onkel Gerhard erklärte ihr, dass die Elefantenpagode einem Baustil im fernen Indien nachempfunden worden war, weil dies die Heimat der kleinohrigen asiatischen Elefanten war, und er kaufte ihr eines der bunten Heftchen mit dem Titel Papa Heck und seine Lieblinge, das Zoodirektor Ludwig Heck für Kinder herausgab. Franka liebte jede Einzelheit ihres Zoobesuchs, die gebrannten Mandeln, die mit Tierbildern bedruckten Eintrittskarten, doch vor allem liebte sie die Tiere selbst.

»Wie kommt es nur, dass sie alle so schön sind?«, hatte sie einmal ausgerufen, während sie den Straußen zusah. In letzter Zeit dachte sie über ihre Frage von damals wieder häufiger nach. Jedes einzelne Tier war schön, während unter den Menschen nur wenige – Armin Wernecke und Ingeborg Helfmann zum Beispiel – schön genannt und andere wiederum für ihre Hässlichkeit verhöhnt wurden. Die Antwort, die Onkel Gerhard ihr gegeben hatte, ging ihr bis heute im Kopf herum. »Es liegt an der natürlichen Zuchtauswahl«, hatte er gesagt. »Die Natur ist ja klug, solange man ihr nicht ins Handwerk pfuscht, sie sorgt dafür, dass die lebensfähigsten, stärksten Tiere sich vermehren, während die schwächeren auf der Strecke bleiben. Und diese stärksten sind es, die wir als schön empfinden. Mit uns Menschen ist die Natur ebenso verfahren, sonst hätten wir nackten, schmächtigen Geschöpfe wohl kaum überlebt.«

»Aber der Mensch ist doch die Krone der Schöpfung«, hatte Franka nachgeplappert, was sie von daheim kannte.

»Ich vernehme die Stimme meines Bruders«, hatte Onkel Gerhard mit einem Seufzen erwidert. »Und ich erlaube mir darüber kein Urteil, ich will nur zu bedenken geben: Wie kommen wir eigentlich dazu, uns als die Krone der Schöpfung zu betrachten, wenn wir uns beispielsweise mit diesem Herrn hier vergleichen? Werden wir daneben nicht ›so klein mit Hut‹?«

Er hatte Franka ein paar Gehege weiter geführt und ihr den großen, sandgoldenen Löwen gezeigt, der sich in der Sonne aalte, die Pfoten, die mit einem Hieb hätten töten können, das furchteinflößende, beim Gähnen entblößte Gebiss und das dichte Fell, das die Haut schützte. Onkel Gerhard hat recht, hatte Franka gedacht. Der Löwe ist stärker, die Antilope schneller, der Schimpanse lustiger und das Zebra hübscher als wir – weshalb sollten ausgerechnet wir die Krone der Schöpfung sein?

»Ein friedliebender Pflanzenfresser wie das Flusspferd kann einen Menschen spielend zermalmen«, war Onkel Gerhard fortgefahren, als sie am Flusspferdhaus vorbeigekommen waren. »Vor vierzig Jahren, als wir zum ersten Mal ein Flusspferd in diesem Zoo hatten, ist ein Wärter zu Tode gekommen, und vier Jahre später noch einmal einer. Und warum? Weil sie beide weder klug noch wendig, noch reaktionsschnell genug waren, um mit der Wildheit eines Tieres fertig zu werden. Wir Menschen haben die Heilsamkeit natürlicher Auslese nach und nach ausgeschaltet, und wenn wir uns darüber keine Gedanken machen, mag uns das unseren Platz in der Nahrungskette kosten. Aber zerbrich du dir nicht den Kopf, Springböckchen. Um nach Lösungen für Probleme zu suchen, die auf den ersten Blick wie Katastrophen wirken, ist die Wissenschaft ja da.«

»Ich glaube, ich habe kein Wort verstanden«, hatte Franka gesagt.

»Das macht nichts«, hatte Onkel Gerhard erwidert, »dafür bist du ja auch noch ein wenig jung. Und wer weiß, bis du alt genug bist, mag die Eugenik die meisten dieser Probleme längst aus der Welt geschafft haben.«

»Eugenik?«, hatte Franka nachgefragt. Die Erklärung, sie sei für eine Antwort nicht alt genug, war ihr verhasst. Warum machte sich der Fragesteller dann überhaupt die Mühe, ihr eine solche Antwort zu geben?

»Die Wissenschaft der Zukunft«, hatte Onkel Gerhard mit einem Nicken bekräftigt. »Wenn diese Welt zu retten ist, dann durch sie – nur brauchte die Forschung eben mehr Geld, die Regierung müsste mehr Interesse daran haben …«

Franka hatte eine weitere Frage stellen wollen, doch dann entdeckte sie das leere Außenbecken und war abgelenkt. Es war geräumig, bot Platz zum Schwimmen und eine Art künstlicher Landzunge, auf der sich die Flusspferde sonnen konnten. Aber es enthielt weder Wasser noch ein Flusspferd. Waren die Tiere trotz des schönen Wetters im Haus? Auf einmal konnte Franka es nicht erwarten, ein Flusspferd zu sehen, das Tier, das bereits auf der Fotografie in Brehms Tierleben ihren Blick eingefangen und ihn nicht mehr losgelassen hatte. Das Tier, das ihr half, durchzuhalten, weil sie es eines Tages mit eigenen Augen kennenlernen wollte – Lehrer Rothert, ihrem Vater und aller Welt zum Trotz.

»Wird das Becken gereinigt?«, fragte sie Onkel Gerhard. »Sind die Flusspferde so lange im Haus, gehen wir und sehen sie uns an?«

Betrübt schüttelte Onkel Gerhard den Kopf.

»Aber wo sind sie denn?«

»Nirgendwo, Springböckchen. Seit dem Tod von Murzuk hat Berlin kein großes Flusspferd mehr gehabt. Nur ein Zwergenpaar, das in der Elefantenpagode untergebracht ist, damit dieses Haus nicht beheizt werden muss.«

»Und bekommt Berlin bald wieder ein großes Flusspferd?«

»Das bezweifle ich leider. Zurzeit fehlt es doch überall am Nötigsten, und an eine Besserung kann ich nicht mehr glauben.«

Statt eines Flusspferdes waren die Affen gekommen. Die Preußische Akademie der Wissenschaften, für die auch Onkel Gerhard forschte, konnte ihre Menschenaffenstation auf der Insel Teneriffa nicht länger finanzieren und ließ sechs Schimpansen nach Berlin schaffen. Die behaarten Akrobaten avancierten im Nu zu Lieblingen der Berliner, und auch Franka schenkte ihnen im Lauf der Jahre ihr Herz. Auf Teneriffa hatte ein Psychologe namens Wolfgang Köhler mit seinen Versuchen bewiesen, dass Schimpansen zur Benutzung von Werkzeug in der Lage und hochintelligent waren. Wenn Franka an die Kinder, die in ihrer Klasse Macht hatten, dachte, wünschte sie sich manchmal, jemand hätte solche Versuche auch an Menschen durchgeführt.

Die Schimpansen waren großartig. Das Aquarium mit seiner Außenanlage für Krokodile war großartig. Der ganze Zoo war großartig, nur hätte Franka allzu gern obendrein ein Flusspferd gehabt. Warum sie ausgerechnet von diesem Tier seit Jahren träumte, war schwer zu sagen. Vielleicht weil es eine so dicke Haut hatte, in der es sich tief verstecken konnte, weil es so vollkommen harmlos wirkte und doch im Notfall imstande war, zu töten, vielleicht weil die Kinder, die Macht hatten, es hässlich fanden. Armin Wernecke hatte Franka die Postkarte mit dem Flusspferd gestohlen und war in Gelächter ausgebrochen: »Mal hergeschaut, Jungs! Franka Vierbein ist in ein Monstrum verliebt.«

Ja, bin ich, hätte Franka antworten wollen und war stolz darauf. In einen Mann verlieben würde sie sich im Leben nicht, allein der Gedanke ließ sie schaudern, aber das Flusspferd war in ihren Augen das schönste Tier der Welt.

Hippopotamus. Der Erste seiner Art, der Europa eroberte, hatte Obaysch geheißen. Der Bulle war 1850 auf einem Boot aus Kairo nach London gekommen, begleitet von einer Rinderherde, deren Milch ihn unterwegs bei Kräften hielt. London ist eine große Stadt, erzählte Onkel Gerhard, die größte in Europa, und die ganze große Stadt war über Nacht ihrem Flusspferd verfallen. Onkel Gerhard war ein Buch mit tausend Tiergeschichten. Er erzählte Franka auch, was Flusspferde taten, um ihr Revier zu markieren, obgleich er dazu endlos herumdruckste und sich zwischen den Worten die Lippen zerkaute: »Du weißt ja, Springböckchen, wir alle müssen unsere Nahrung verdauen, und von der verdauten Nahrung bleiben nun einmal Rückstände, die unser Körper wieder ausscheidet …«

»Du meinst, das Flusspferd muss mal«, sagte Franka und lachte. Ihr Vater druckste genauso herum, wenn er sich gezwungen sah, von derlei Dingen zu sprechen. Es war die einzige Gemeinsamkeit, die ihr an den zwei Brüdern je aufgefallen war.

Onkel Gerhard nickte, ohne Franka anzusehen. »Sie wedeln mit den Schwänzen, dadurch verteilt sich das, was sie gemacht … ich meine, das, was sie ausgeschieden haben, und auf die Weise kennzeichnen sie ihr Revier. Wer besonders viel … ich meine, wer besonders große Verdauungsrückstände hat, kann natürlich besonders viel wedeln und somit ein besonders großes Revier abstecken. Deshalb erkennen Flusspferdbullen untereinander an ihren … ich meine, an ihren Verdauungsrückständen, wer in der Hierarchie am höchsten steht.«

Franka hatte von den Tierpflegern des Zoos gelernt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen: »Du meinst, sie wedeln ihre Scheiße herum, um damit anzugeben, wie viel Macht sie haben?«

Onkel Gerhard räusperte sich. »Ich denke, so könnte man es ausdrücken.«

Franka musste schon wieder lachen.

»Was ist denn daran komisch?«, fragte Onkel Gerhard.

»Eigentlich nichts«, sagte Franka. »Nur dass die Kinder in meiner Klasse eigentlich das Gleiche machen. Leider sind sie dabei weder so nett noch so hübsch wie Flusspferde.«

Es kam ihr vor, als müsste sie im Zoo ständig lachen. Am Anfang hingegen hatte Winfried, der Neffe von Oberpfleger Dähne, der in der Futterküche und im zooeigenen Schlachthaus aushalf, ihr eine Tüte Zitronendrops geschenkt und gesagt: »Für dich, Kleene. Weil du so sauer dreinschaust. Dass zwei Leute Fröhlich heißen und dabei so selten lachen wie du und dein Onkel, dat will mir nicht in den Kopp.«

Wilhelm Dähnes Neffe Winfried dagegen lachte, als gäbe es dafür einen Pokal zu gewinnen. Ebenfalls wie um einen Pokal aß er Zitronendrops und jegliche andere Süßigkeiten, was sich in seiner Körpermitte niederschlug: Mit seinen sechzehn Jahren hatte er Hüften und Taille wie eine genudelte Matrone, doch das schien ihm nichts auszumachen. Überhaupt nichts schien ihm etwas auszumachen, er ging umher und tat, was zu tun war, als wäre er mit sich und der Welt im Reinen und würde sein Leben von ganzem Herzen lieben.

Und recht hatte er außerdem: Bei den Fröhlichs war es mit dem Lachen schwierig. Onkel Gerhard lächelte höchstens ab und an wie ein schüchterner Junge, Franka lachte nur, wenn sie mit ihm im Zoo war, und ihre Eltern lachten nie. Bei denen gab es nichts zu lachen. Sie waren so mürrisch, dass Franka glaubte, das Mürrischsein habe auf ihre Wohnung abgefärbt. Über den Tapeten, den Möbeln, den Teppichen und dem Hausrat schien ein mürrischer Grauschleier zu liegen, der das Atmen erschwerte. Genauso erging es Franka in der Schule, und erst wenn sie draußen, bei ihren Tieren war, hatte sie das Gefühl, wieder Luft zu bekommen und sich frei und leichtfüßig zu bewegen.

Der Zoo war ihre Zuflucht. »Deine Arche«, sagte Winfrieds Onkel, Oberpfleger Dähne. »Ganz Berlin nennt ihn so: die Arche an der Spree.«

Was eine Arche war, wusste Franka – so, wie Onkel Gerhard ein wandelndes Tierlexikon war, war ihr Vater eine Bibel auf Beinen. Eine Arche war ein riesiges Rettungsboot, das ein Mann namens Noah gebaut hatte, damit ihm in einem Regenunwetter, das die Erde überflutete, keine Tierart verlorenging. Ich würde das auch machen, dachte Franka. Die Menschen könnten von mir aus draußen bleiben, aber die schönen Tiere nähme ich alle mit.

Oberpfleger Dähne hatte auch recht: Sie und Onkel Gerhard fühlten sich im Zoo wie auf einer Arche, und alles Schwere, Bedrückende, das sie während der Woche überflutete, blieb draußen. Sie kamen bei jedem Wetter. War es regnerisch, aßen sie zu Mittag in der Waldschenke, dem Restaurant des Zoos, in dem jedes Gericht einen Tiernamen trug: Erdbeereis zum Elefanten, Seelöwes Sonntagssüppchen und Kohlroulade Kakadu. Wenn es schön war, setzten sie sich an der Dreisternpromenade auf eine Bank und verzehrten ihr mitgebrachtes Butterbrot.

Onkel Gerhard war nicht nur mit Oberpfleger Wilhelm, sondern mit sämtlichen Mitgliedern der Direktion bis hinauf zu Direktor Ludwig Heck persönlich bekannt. Seine Forschungsarbeit war eng mit dem Zoo verknüpft, und sooft sie auf ihren sonntäglichen Wegen Direktor Heck, Oskar Heinroth, dem Kustos des Aquariums, Oberpfleger Dähne und Winfried Senoner oder dem Cheftierarzt Dr. Goldstein mit seinem jungen Assistenten begegneten, grüßten alle, als wären Onkel Gerhard und Franka Teil des Inventars. In der Gemeinde ihres Vaters starb sie tausend Tode, wenn Leute verlangten, dass sie ihnen die Hand gab, aber im Zoo genoss sie es, erkannt und gemocht zu werden. Ich gehöre hierher, dachte sie. Es ist die einzige Welt, in die ich gehören kann.

Dann aber hatte die einzige Welt, in die sie gehören konnte, von einem Tag zum andern ihre Tore geschlossen. Das Elend in der Stadt wurde immer bedrohlicher, die Leute gingen mit Einkaufstaschen voller Geld in die Geschäfte und kamen mit Waren wieder heraus, die die Taschen nicht einmal bis zur Hälfte füllten. Einen Ausflug in den Zoo konnte sich kaum noch jemand leisten. Die Konzerte im Musikpavillon, die zahlreiche Besucher angezogen hatten, gab es nicht mehr, und die Tiere mussten enger zusammenrücken, weil weitere Häuser stillgelegt wurden.

»Zoo in Not«, hatten die Zeitungen getitelt und die Berliner um Spenden gebeten. In Scharen waren Menschen vor das Elefantentor gepilgert, um dort abzugeben, was sie sich vom Mund absparten. Franka hatte aus dem elterlichen Speiseschrank zwei Schachteln Haferflocken gestohlen, Onkel Gerhard stiftete einen Vorrat an Trockenfisch, und manche Leute plünderten ihre Vorratskammern und kamen mit Leiterwagen voller Lebensmittel. Die Berliner liebten ihren Zoo, sie wollten ihn gerade jetzt, wo sie so wenig zum Freuen hatten, nicht verlieren, und Franka und Winfried Senoner, den sie inzwischen Winnie nannte, fuhren mit Feuereifer die Schubkarren voller Spenden in die Vorratsspeicher hinter dem Futterhaus. Doch all ihre Bemühungen erwiesen sich als vergeblich. An einem Sonntag im Oktober hatte Onkel Gerhard Franka mit Leichenbittermiene von der Kirche abgeholt und auf dem Weg zur S-Bahn zu ihr gesagt: »Wir fahren heute zu mir nach Hause, Springböckchen.«

»Warum denn nicht in den Zoo?«, rief Franka.

»Der Zoo ist geschlossen«, murmelte Onkel Gerhard, und wie immer, wenn er ihr etwas sagte, das ihm unangenehm war, sah er sie dabei nicht an. »Es war einfach kein Geld mehr da, um ihn geöffnet zu halten.«

Sie fuhren in seine Wohnung am Sophie-Charlotte-Platz, nicht viel mehr als einen Katzensprung vom Zoo entfernt, doch das nützte nichts: Ihre Arche war unerreichbar geworden. Sie blätterten durch Brehms Tierleben, spielten Memory mit Tierbilderkarten, und Frau Glasenapp, Onkel Gerhards Vermieterin, brachte Hagebuttentee, der Franka nicht schmeckte. Gar nichts schmeckte, an keinem Sonntag in diesem endlosen Winter. Es geht ja vorbei, versuchte Franka sich zu beruhigen, der Zoo ist nicht aus der Welt, und wenn es Deutschland bessergeht, macht er wieder auf. Sie wusste aber, dass in der Zwischenzeit Tiere verkauft werden mussten und dass womöglich kein Zoo mehr vorhanden war, wenn es Deutschland besserging. Ganz abgesehen davon, dass fraglich blieb, ob es Deutschland jemals wieder bessergehen würde.

»Wenn du an den Sonntagen nicht mehr zu mir kommen willst, nehme ich es dir fürwahr nicht übel«, sagte Onkel Gerhard. »Was sollst du hier bei einem verknöcherten Junggesellen? Es wäre verständlich, wenn du lieber daheimbleiben und mit deinen Kameraden spielen willst.«

»Nein, nein, nein!«, rief Franka. »Daheimbleiben will ich auf keinen Fall, und ich hab ja keine Kameraden. Nur dich hab ich – oder willst du nicht mehr, dass ich zu dir komme?« War das möglich? Wollte Onkel Gerhard sie jetzt, wo der Zoo geschlossen war, nicht mehr bei sich haben?

»Das ist ja wohl Blödsinn vor dem Herrn«, antwortete Onkel Gerhard. »Ich werde mich immer freuen, wenn du bei mir sein willst, Springböckchen. Du und ich gegen den Rest der Welt, abgemacht?«

»Abgemacht!«, rief Franka erleichtert und dachte: Dann kann das alles doch nicht so schlimm sein.

Aber es war schlimm. Den ganzen Winter hindurch sorgte sie sich um den Zoo, und als endlich eine Spur von Frühling in der Luft lag, hatte sie die Hoffnung schon fast aufgegeben. Dann war die Sache mit Lehrer Rothert passiert, und seither hatte sie jeden Tag Angst, dass es wieder geschah. Zum Glück stand Anni zu ihrem Versprechen und wich ihr nicht von der Seite. Ohne das dicke Mädchen wagte Franka in der Schule kaum noch einen Schritt, sie hatte nie mehr Tier spielen können, und im Unterricht war ihr übel, so dass sie Mühe hatte, sich zu konzentrieren.

Was, wenn sie die Noten, die sie für den Übertritt ins Gymnasium brauchte, nicht erzielte, wenn an dieser Sache mit Lehrer Rothert ihr Traum zerbrach?

Aber es kam noch schlimmer, und ihr Traum zerbrach auch ohne Lehrer Rotherts Zutun. Als Franka an einem Samstag im März aus der Schule heimkehrte, saß ihr Vater, der sonst die Tage in seinem Büro auf dem Pfarramt verbrachte, in der Stube und starrte ins Leere. Im Flur standen kniehohe Kisten, bis zum Rand gefüllt mit dem fast wertlosen Papiergeld. Den Vormittag über hatte die Gemeinde eine Sammlung für die Einrichtung einer Volksspeisung durchgeführt.

»Ist etwas passiert?«, fragte Franka gedämpft, weil sie in der elterlichen Wohnung nicht laut sprechen durfte.

»Pssst«, machte die Mutter und zog sie in die Küche, wo auf dem Herd ein Eintopf köchelte. Kohl und Kartoffeln. Franka hasste den Geruch, der in sämtlichen Räumen hängenblieb.

»Was ist denn los?«, fragte sie noch einmal.

Die Mutter rührte im Topf. »Reiz den Vater nicht«, raunte sie. »Ihm geht’s nicht gut.«

»Warum denn nicht?« Dem Vater ging es nie gut. Zumindest hatte Franka ihn nie erlebt, wenn es ihm gutging.

»Lieber Himmel.« Die Mutter stieß einen Klagelaut aus und wies mit dem Arm auf die Kisten im Flur. »Sieh dir das doch an. Den halben Tag lang hat er gesammelt, er opfert sich für diese Volksspeisung auf, und jetzt ist das ganze Geld bereits kaum noch etwas wert. Ihm ging es um sein Werk der christlichen Nächstenliebe, und was bleibt, ist nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein.«

Dass ihrem Vater die hungernden Menschen so am Herzen lagen, überraschte Franka. »Kann denn die Gemeinde nicht das Geld für die Volksspeisung aufbringen?«, fragte sie.

»Und woher soll sie’s nehmen?« Die Stimme der Mutter klang weinerlich. »Die hat Kriegsanleihen gezeichnet, das ganze Geld ist verloren, aber eine dumme Gans wie ich versteht ja nichts davon. Einnehmen wird sie auch nichts mehr. Es bezahlt doch keiner eine volle Milliarde, damit sie ihm über seinem Sarg die Glocken läuten. Heute haben sie Vater gesagt, dass nicht einmal mehr die Gehälter der Pastoren sicher sind.«

»Und was soll das heißen?«, fragte Franka und erwartete, wie üblich auf solche Fragen keine Antwort zu bekommen.

Zudem hätte sie ihrer Mutter heftige Gefühle nicht zugetraut, aber die schluchzte laut auf und rührte im Topf, dass die Kohlsuppe Wellen schlug: »Was das heißt? Dass ich nicht weiß, wovon wir nächsten Monat leben sollen, das heißt es. Erspartes ist nichts mehr wert, und wir haben sowieso nichts, denn dein Vater gibt ja jeden Pfennig den Armen. Dass seine eigene Familie dabei kärger als die Armen lebt, hat ihn noch nie interessiert.«

Graugrüne Kohlspritzer platschten an die Wand. Franka sah zu, wie sie auf der gelben Tünche allmählich verliefen und eine schleimige Spur hinterließen. Als der Zoo noch geöffnet gewesen war, hatte sie manchmal zu Wilhelm Dähne in die Futterküche gedurft, wo Winnie ihr gezeigt hatte, wie die Schüsseln und Tröge für die Tiere gefüllt wurden. Der durchdringende Geruch, der dort herrschte, machte ihr nichts aus, aber der Eintopf, der für Menschen gekocht war, ekelte sie.

Ich will hier weg, dachte sie. Sie musste diesen Gedanken schon tausendmal gefasst haben, aber sie dachte ihn wieder und wieder, als wäre er neu. Wenn sie erst aufs Gymnasium ging, käme sie nur noch zum Schlafen nach Hause. Dass sie sich auf dem Gymnasium wohl fühlen würde, erwartete sie nicht, aber alles war besser als Lehrer Rothert, besser als Armin Wernecke, besser als der Grauschleier in dieser Wohnung und der Kohlgestank.

Im selben Atemzug fiel ihr siedend heiß etwas ein: Das Gymnasium kostete Geld. Ein paar Stipendien gab es, aber die wurden nicht an Mädchen vergeben.

»Was ist mit meiner Schule?«, entfuhr es ihr. Das Formular für die Anmeldung musste demnächst ausgefüllt und versandt werden, damit man sie zur Prüfung zuließ. Armin Wernecke tönte bereits in der Klasse herum, er habe seinen Platz so gut wie sicher.

»Mit deiner Schule?« Die Mutter fuhr zu Franka herum, ohne den Deckel wieder auf den Topf zu setzen, so dass die graugrüne Pampe ploppend und puffend weiter an die Wand spritzte. »Wie herzlos bist du eigentlich? Ich hab geglaubt, man zieht sich ein Kind heran, damit man eines Tages nicht mehr mit der ganzen Quälerei allein dahockt, aber das ist Humbug wie der elende Rest vom Leben. Uns steht das Wasser bis zum Hals, und alles, woran meine Tochter denkt, ist ihre alberne Schule.«

Mehr verwundert als erschrocken wich Franka zurück. Die Mutter sprach sonst nicht mehr als ein halbes Dutzend Worte am Stück. Sie schrie niemanden an, nicht einmal Franka, sie war nie auf irgendwen wütend, sie forderte nichts für sich ein.

Franka öffnete den Mund zu einer Erwiderung, da umfasste eine Hand ihren Arm. »Soso«, sagte der Vater, »um deine Schule machst du dir also Sorgen, statt Gott dem Herrn dankbar zu sein, dass er dich nährt und kleidet. Dann werde ich dir also sagen, was mit deiner Schule ist.«

Franka hatte sich nie sonderlich schwach gefühlt, in ihrer Klasse gab es Kinder, die viel kleiner und zarter waren als sie. Auch war der Vater nicht gerade bullig, doch in seinem Griff kam ihr Arm ihr auf einmal vor wie ein Hölzchen, das seine Hand wie nichts zerbrechen konnte. Genauso erging es ihr mit Lehrer Rothert, der sogar kleiner als der Vater war und einen krummen Rücken hatte. Von weitem sahen beide aus, als könnten sie ihr nichts anhaben, und solange sie sie aus der Entfernung betrachtete, fühlte sie sich ruhig wie eine Löwin und der Lage gewachsen. Dann aber schnellten sie auf sie zu, der Vater wie der Lehrer, und sobald sie ihr im Fleisch saßen, erstarrte sie. Wie ein Kaninchen. Vor Entsetzen nicht fähig, sich zu wehren.

Du musst, beschwor sie sich. Du bist ein Löwe, ein Gepard, du bist ein Flusspferd mit dicker Haut, an der alle Gemeinheit abprallt. »Meine Anmeldung muss abgeschickt werden«, rang sie sich tapfer ab. »Und du musst die Gebühr für meine Prüfung entrichten, sonst bekomme ich keinen Platz. Wenn ich Zoologin bin, brauche ich nicht viel, nur ein kleines Zimmer im Zoo. Dann zahle ich euch das Geld zurück.«

Ihr Vater umklammerte ihren Arm so fest, dass sie aufschrie. »Du zahlst es mir zurück? Das ganze Geld, das ich für dich verpulvert habe, zahlst du mir zurück? Dass ich nicht lache.« Er schüttelte sie, dass ihr Kopf auf und nieder flog. »Wer Geld zurückzahlen will, muss erst mal die Finger krumm machen und welches verdienen. Aber das fällt dir ja nicht ein. Du streunst lieber herum wie eine räudige Hündin, wie eine, die im Blut nicht sesshaft ist. Hast du das gehört, Margarethe? Deine Tochter ist eine Nichtsesshafte, eine, der in der Brust kein Herz schlägt. Eine Zigeunerin!«