Weisheit jenseits von Worten - Sangharakshita - E-Book

Weisheit jenseits von Worten E-Book

Sangharakshita

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Beschreibung

Zu Recht erwartet man vom Buddhismus, dass er relevant für das Hier und Jetzt sei. Aber wo ist das Hier und wann ist das Jetzt? Seit den Tagen des Buddha hat man versucht, die letztliche Wahrheit seiner Lehre in vollständig rationalen Begriffen auszudrücken. Die Prajnaparamita- oder 'Vollkommenheit der Weisheit' - Lehren stellen auf schwindelerregende Art einen Ausgleich zu diesem Unterfangen dar und sind zugleich eine raffinierte Ohrfeige für jeden, der sich auf es einlassen will. Als sie vor zweitausend Jahren zu Kernlehren des Mahayana - Buddhismus wurden, sollten Texte wie die Ratnaguna-Samcayagatha, das Diamantsutra und das Herzsutra dem Ideal des Bodhisattva neuen Antrieb geben: Dem Menschen, dessen ganzes Streben dem Erlangen von Erleuchtung zum Wohle aller Wesen gewidmet ist. Sie sind einzigartige, außergewöhnliche Lehren, die sich an praktische, alltägliche Dinge im Leben von Buddhisten richten, jedoch auf eine Art und Weise, die den rationalen Verstand ins Schleudern bringen kann. Obwohl Gelehrter, besitzt Sangharakshita sowohl Einsicht wie auch intellektuelle Klarheit. Als Gründer der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna (ehem. Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens) befasst er sich natürlich und zwingend mit den unmittelbaren Anliegen von Buddhisten, die im Westen praktizieren. Diese Perspektive ist von entscheidender Bedeutung bei einer Anleitung zu Texten, die Ziel und Berechtigung buddhistischer Praxis als "Prise Nonsens, als Hauch von Lewis Carroll" ausdrücken. Da gefährlich verwirrend, sind sie für leichtsinnige Schüler ein rascher Weg in beliebte Sackgassen - oder in das innerste Herz der Wirklichkeit.

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Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über den Autor

Urgyen Sangharakshita – bürgerlich Dennis Lingwood – wurde 1925 in London geboren und starb 2018 in Adhisthana in Herefordshire, Großbritannien (siehe www.adhisthana.org).

Als junger Mann lebte er in Indien, wo er über zwanzig Jahre den Buddhismus unter Lehrern verschiedener Traditionen (Theravāda, Mahāyāna und Vajrayāna) übte und studierte. 1967 kehrte er nach England zurück und gründete die Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens (FWBO). Inzwischen entstand daraus eine internationale Bewegung mit Zentren in der ganzen Welt. 2010 wurde die Gemeinschaft umbenannt und heißt heute Buddhistische Gemeinschaft Triratna.

Heute zählt Sangharakshita zu den wichtigsten Lehrern des Buddhismus im Westen und ist als Autor zahlreicher Bücher bekannt. Er versteht sich vor allem als „Übersetzer“ – zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Prinzipien und Methoden. Seine Bücher wurden bisher in 30 Sprachen übersetzt.

WIR NUTZEN WÖRTER, UM UNS VON WÖRTERN ZU BEFREIEN, BIS WIR DIE REINE, WORTLOSE ESSENZ ERREICHEN.

AŚVAGHOSHA

Inhalt

Vorwort

Danksagung

A

LLGEMEINE

E

INFÜHRUNG

Die Überlieferung der Vollkommenen Weisheit

D

AS

H

ERZSUTRA

Übersetzung des H

dayasūtra

Kommentar

D

AS

D

IAMANTSUTRA

Einführung

Übersetzung des Vajracchedikā-Prajñāpāramitā-Sūtra..

Kapitel 1: Ein seltsam gewöhnlicher Anfang..

Kapitel 2: Die entscheidende Umkehr

Kapitel 3: Die Natur des Gebens

Kapitel 4: Wie man einen Buddha erkennt

Kapitel 5: Das Floß des Dharma

Kapitel 6: Einsicht groß geschrieben

Kapitel 7: Heiliger Boden

Kapitel 8: An die Grenzen des Geistes gehen

Kapitel 9: Ein Gefühl der Erhabenheit..

Kapitel 10: Die Vollkommenheit der Geduld

Kapitel 11: Ein Hauch von Unsinn

Kapitel 12: Zurechtgestutzt

Kapitel 13: Die Realität des Buddha

Kapitel 14: Illusionen durchschauen

D

IE

R

ATNAGUA

-S

A

CAYAGĀTHĀ

Einführung: Das größere Mandala

Übersetzung der Ratnagu

a-Sa

cayagāthā

Kapitel 1: Für jene mit Heldenmut

Kapitel 2: Die Stimme des Buddha

Kapitel 3: Weisheit kann man nicht ergreifen

Kapitel 4: Ein Sprung des Glaubens

Kapitel 5: Das Wesen der Bodhisattvas..

Kapitel 6: Das unergründliche Individuum

Kapitel 7: Verdrehte Ansichten

Kapitel 8: Die Tatsachen der Existenz

A

NHANG

Literaturangaben

Namens- und Sachregister

Hinweise zur Schreibung und Aussprache

Adressen

Weitere deutschsprachige Übersetzungen von Sangharakshita

Vorwort

Wie viele seiner Bücher, geht auch Sangharakshitas Wisdom Beyond Words, The Buddhist Vision of Ultimate Reality auf Vorträge und Seminare zurück. Das Material wurde von Jinānanda zusammengestellt und in eine lesbare Form gebracht. In Abstimmung mit Sangharakshita wurde es anschließend durchgesehen, verfeinert und schließlich für die Veröffentlichung freigegeben.

Aus seiner ursprünglich mündlichen Form eines gemeinsamen Forschens – mit direkter Ansprache der Teilnehmer – erklärt sich gewiss ein besonderer Reiz dieses Buches. Das gilt auch dann, wenn wie hier, die Einzelbeiträge in einen fließenden Text übertragen wurden: Im Hintergrund nimmt man den durchaus strengen, kritischen Denker und Gelehrten Sangharakshita wahr, vor allem aber begegnen wir einem entspannten, spontanen und oft humorvollen Lehrer und Gesprächspartner. In seiner Einführung zur englischen Ausgabe schreibt der Herausgeber Jinānanda:

„Die ältesten Beiträge zu diesem Buch sind der kurze Kommentar zum Herzsutra und die Einführung in das Diamantsutra. Sie wurden ursprünglich (im Jahr 1967) als Vorträge mit der schlichten Absicht gehalten, die Samen zweier wichtiger buddhistischer Texte in den lockeren Boden einer noch sehr jungen buddhistischen Gemeinschaft zu pflanzen.

Das Seminar über die Ratnagua-Sacayagāthā wurde 1976 in Padmaloka gehalten, einem Landsitz in der Nähe von Norwich, der auch heute noch ein wichtiges Retreat-Zentrum für Männer innerhalb der buddhistischen Gemeinschaft Triratna ist. Subhūti, einer der damaligen Teilnehmer, sagte, das Seminar habe eine inspirierte Stimmung der geistigen Öffnung erzeugt und den engen, sogar freudlosen puritanischen Arbeitsethos gelockert – mit dem Ergebnis, dass Arbeitslisten auf den Kopf gestellt und die Methoden, mit denen die Projekte der Gemeinschaft damals vorangetrieben wurden, von Grund auf neu durchdacht worden seien. Plötzlich sei es nicht einmal mehr möglich gewesen, jemanden dazu zu bringen, den Abfall zu leeren, wenn er nicht auch persönlich dazu inspiriert war.

Diese Bekräftigung des Vorrangs spiritueller Werte vor termingebundenen Zielen führte dennoch nicht zum Stillstand in der Entwicklung der Gemeinschaft. Ab 1981 gab es mehrmonatige Ordinations-Retreats in einem ehemaligen Kloster in der Toskana, und im Rahmen einer solchen Klausur fand ein Jahr später das Seminar zum Diamantsutra statt. Die gerade erst ordinierten Teilnehmer waren in kleine Gruppen aufgeteilt worden, die nun abwechselnd Oliven ernteten und das Diamantsutra studierten. Man kann sich das Ambiente als eine Umgebung verblasster italienischer grandezza vorstellen: ein Raum mit hoher Decke, in warmen Farben getünchte Wände, Samtvorhänge an großen Fenstern, rote Terracotta-Fliesen am Boden und ein flackerndes Kaminfeuer. Dieser sinnenfreudige Rahmen stand in kräftigem Gegensatz zur verfeinerten Atmosphäre, die Sangharakshita während des Seminars kreierte. Offenbar gab es Momente, in denen höchstens ein oder zwei Teilnehmer ihm zu folgen vermochten, und nach Subhūtis Worten war die tiefe Einsicht, mit der Sangharakshita das Diamantsutra besprach, für jene, die noch folgen konnten, Ehrfurcht gebietend.

Auch aus einem anderen Seminar wurden längere Teile in dieses Buch aufgenommen. In Abhirati, einem großen, halb verfallenen Pfarrhaus in Tittleshall, versammelte Sangharakshita 1974 eine Gruppe interessierter junger Buddhisten für die Dauer von zehn Tagen. Thema des Seminars war ein einflussreiches Buch von D. T. Suzuki, Outlines of Mahāyāna Buddhism, und auch diesmal gab es ein zusätzliches Anliegen: Sangharakshita wollte den Teilnehmern die Wichtigkeit klaren, kritischen Denkens und ein Bewusstsein für die ruinösen Wirkungen falscher Ansichten, micchā-dihis, nahebringen. Offenbar war das Ergebnis für die Anwesenden ebenso beglückend wie bestürzend … und „sie erhielten ein spezifisch buddhistisches Werkzeug, um gegen geistige Verwirrung und oberflächliches Denken anzugehen, die so weite Bereiche des heutigen kulturellen und intellektuellen Lebens im Westen trüben.”

Danksagung

Schon seit einigen Jahren existierte eine vorläufige, von Monika Dräger angefertigte, deutsche Übersetzung des Seminars über die Ratnagua-Sacayagāthā als Manuskriptdruck und Download. Der Text wurde von Dhammāloka überarbeitet und floss in seine Gesamtübersetzung dieses Buches ein. Das Ergebnis unterzog Nirmala einer gründlichen Prüfung und trug zu zahlreichen Verbesserungen bei. Abhayanita konnte den Text vor ihrem tragischen Tod noch sorgfältig lektorieren, Dharmapriya und Rosemarie Kosche setzten diese Arbeit fort. Ilona Staub las das gesamte Werk detailgenau Korrektur. Die Satz-Arbeit lag bei Maitricarya und Sylvia Pöhlmann entwarf das Cover.

Finanziell wurde das Projekt durch einen Zuschuss vom „European Chairs‘ Assembly“ von Triratna unterstützt.

ALLGEMEINE EINFÜHRUNG

Die Überlieferung derVollkommenen Weisheit

Prajñāpāramitā sieht überall Wirklichkeit – zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter allen Umständen.

Die drei Texte, die hier zusammengestellt sind, liegen zeitlich zwar bis zu 500 Jahre auseinander, gehören aber zur selben Gruppe von Mahayana-Sutras: zu den Schriften der Prajñāpāramitā, den Sutras der „Vollkommenen Weisheit“. Bevor wir sie einzeln betrachten, wird es hilfreich sein, ihre Verbindungen miteinander zu untersuchen und die Begriffe zu erklären, die wir hier verwenden. Was ist Prajñāpāramitā? Was ist ein sūtra? Und überhaupt: Was ist das Mahayana?1

Erst vierhundert Jahre nach dem Tod des Buddha begann man, seine Lehren aufzuschreiben. Zu jener Zeit gab es schon einige buddhistische Schulrichtungen und die von ihnen geschaffenen Schriften zeugen von ihren Unterschieden. Die große Sammlung der in Sri Lanka in der alten Pali-Sprache erhaltenen Lehren zeigten die Drei Juwelen – den Buddha, den Dharma (die Lehren des Buddha) und den Sangha (die spirituelle Gemeinschaft) – in ihrem geschichtlichen Umfeld. Diese grundlegenden und wichtigen Texte werden von der Theravada-Schule, die es auch heute noch gibt, als wortgetreue Überlieferung der Worte des Buddha angesehen und damit als die einzigen kanonischen Schriften des Buddhismus.

Ungeachtet dieses Anspruchs auf eine Monopolstellung des Pali-Kanons für die Buddha-Lehre traten schon ungefähr zur gleichen Zeit weitere, von anderen Schulen geschaffene, Texte in Erscheinung. Sie wollten nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Geist der Lehren des Buddha ausdrücken und vertraten damit eine Bewegung, die den Wert der überlieferten Übungs- und Lehrformen weiterhin anerkannte, zugleich aber darauf bedacht war, eine klare Vision des Dharma als lebendige spirituelle Kraft zu bewahren. Das führte dazu, dass die Anhänger dieser Bewegung – die von ihnen selbst Mahayana oder „Großes Fahrzeug“, im Gegensatz zum Hinayana oder „Kleines Fahrzeug“, genannt wurde – den Dharma nicht mit einer bestimmten Gruppe heiliger Schriften gleichsetzten. Man kann ihre kanonischen Texte nicht einmal als Lehren ansehen, die unter bestimmbaren historischen Umständen gegeben wurden. Somit waren dem Mahayana-Kanon keine Grenzen gesetzt, und er wurde über eine viel längere Zeit hinweg geschaffen als der Pali-Kanon.

Man darf aber nicht vergessen, dass die Theravadins das Etikett „Hinayana“ keineswegs akzeptieren. Fairerweise sollte man den Hinayana auch nur als literarisches Phänomen bezeichnen, denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass man tatsächlich echte Hinayanisten persönlich treffen kann. Der Begriff ist nur brauchbar, um die frühen Schulen – aber auch einige spätere wie Sarvāstivāda und Sautrāntika – damit zu bezeichnen, von denen sich die Mahayana-Schulen deutlich unterschieden. Wenn man das Wort „Hinayana“ so verwendet, sollte man es nicht abwertend verstehen.

Es gibt verschiedene Formen kanonischer Schriften im Buddhismus und die wichtigste davon ist das sūtra – ein Sanskrit-Begriff, dem im Pali sutta entspricht. Ein sūtra ist die Aufzeichnung einer vom Buddha gegebenen Belehrung oder eines Gesprächs, an dem der Buddha – meistens als Hauptperson – teilnimmt. Es kann sehr kurz, vielleicht nur einige Zeilen lang sein oder auch viele Bände umfassen. Es gibt Hunderte Sutras. Manche sind im ursprünglichen Pali oder Sanskrit erhalten, andere nur in chinesischen oder tibetischen Übersetzungen. Ihnen allen ist die Tatsache gemein, dass sie die Kommunikation des Buddha wiedergeben.

Die Frage, wie man eine solche Art Kommunikation von anderen religiösen Texten unterscheiden sollte, hängt natürlich davon ab, was ein Buddha ist. Kurz gesagt ist ein Buddha jemand, der weise und erwacht – erleuchtet – ist. Der Begriff Buddha leitet sich von einer Wurzel mit der Bedeutung „wissen“ oder „verstehen“ her und bedeutet somit „jemand, der weiß“ – jemand, der die Realität direkt sieht, sie in allen Schichten seines Seins umfassend und ganz erfährt. Ein Sutra gilt somit als Äußerung eines erleuchteten Geistes – sogar als Äußerung des erleuchteten Geistes. Es ist eine Mitteilung aus dem Herzen der Realität. Die Wahrheit der Existenz spricht zur – man könnte auch sagen: appelliert an die – Wahrheit in uns. Wenn wir ein Sutra lesen, sind wir, sofern wir es auf empfängliche Weise lesen, mit einer höheren Ebene des Seins, einer höheren Ebene des Bewusstseins verbunden.

Die als Prajñāpāramitā bekannte Gruppe von Sutras bildet zweifellos die größte und wahrscheinlich auch wichtigste Gruppe unter den Mahayana-Sutras. Das Thema dieser umfangreichen Literatur ist transzendente Weisheit. Was für eine Art Weisheit ist das? Wie, wenn überhaupt, unterscheidet sie sich von der Weisheit, wie man sie in der Weisheitsliteratur anderer Zeiten und Kulturen findet? Und was meinen wir eigentlich, wenn wir von „Weisheits-Literatur“ reden?

Tatsächlich kann „Weisheits-Literatur“ ziemlich verschiedene Bedeutungen haben. Da gibt es beispielsweise Sammlungen von Sprichwörtern und weisen Sinnsprüchen, in denen jemand sein tiefes und reifes Nachsinnen über das Leben zum Wohl der Jugend und künftiger Generationen aufgeschrieben hat. Zu solchen Sammlungen, die man manchmal „Gnomologien“ nennt, gehören manche der Elegien des Theognis von Megara, die Sprüche Salomos oder die hinduistische Hitopadesa – eine Sammlung kurzer Geschichten und Sprüche. In neuzeitlichen Literaturen gibt es eine reiche französische Tradition von Maximen, aber auch keinen Mangel in anderen Sprachen – man denke nur an Samuel Johnson, Edward Waldo Emerson oder Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit.

Weisheit im Sinne von etwas, das über die Welt hinaus weist und sich dem Transzendenten annähert, gibt es in neuplatonischen und gnostischen Schriften sowie in den Apokryphen als Weisheit Salomos (obwohl letztere in Weisheit im üblichen Verständnis übergeht). Einige Gelehrte behaupten, die Weisheit dieser Texte sei mit der Vollkommenheit von Weisheit gleichzusetzen, denn Weisheit sei ein universelles Phänomen. So hielt beispielsweise Edward Conze, die maßgebliche Autorität in Bezug auf die Prajñāpāramitā, die gnostische Auffassung von Sophia in gewisser Hinsicht für eine Parallele zur buddhistischen Auffassung von prajñā. Nun gibt es in den Schriften zur Vollkommenen Weisheit zweifellos eine Tendenz, die Prajñāpāramitā als Mutter aller Buddhas zu preisen – eine Entwicklung, die vielleicht dadurch bestärkt wurde, dass prajñā grammatisch gesehen weiblich ist –, doch in dieser Symbolik geht es einfach darum, dass Vollkommene Weisheit das ist, was einen Buddha zu einem Buddha macht; in diesem Sinne „gebiert“ Weisheit Buddhas. Andererseits ist Sophia ebenso sehr eine kosmologische Vorstellung wie eine, die mit Weisheit in ihrer strengen Bedeutung verbunden ist.2

Das Wort prajñā hat eine genaue und unverkennbare Bedeutung. Es leitet sich von der Sanskritwurzel jñā her, was „kennen“ oder „wissen“ bedeutet und mit pra, einer betonenden Vorsilbe, verstärkt wird. Prajñā ist nicht bloß Wissen oder Erkenntnis; es ist höchstes oder sogar allerhöchstes Wissen, Wissen schlechthin. Was ist es aber, was da gewusst wird? Worum geht es in diesem höchsten Wissen? Alle Schriften durch die gesamte buddhistische Überlieferung und Lehre hindurch geben darauf eine eindeutige Antwort: Prajñā meint Wissen oder Erkenntnis der Realität; es bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, in ihrer letztendlichen Tiefe, ihrer äußersten transzendenten Dimension.

Um noch genauer zu sein: In der Hinayana-Überlieferung ist mit Wissen der Realität gemeint, dass wir das, was wir gewöhnlich als Personen und Dinge in der Außenwelt wahrnehmen, nunmehr als etwas sehen, das man dharmas nennt. Je nach Zusammenhang bedeutet das Wort dharma „Lehre“ oder „Doktrin“, hier aber wird es als Fachbegriff mit einer anderen Bedeutung verwendet. Wenn man jemanden oder etwas nur genau genug betrachtet und analysiert, endet man schließlich bei einem Fluss unpersönlicher psychophysischer Prozesse. Diese letzten psychophysischen Elemente oder Ereignisse werden dharmas genannt. Die Entdeckungen der Atomphysik können uns vielleicht helfen, diesen Aspekt der buddhistischen Lehre zu begreifen, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt, denn im Buddhismus richtet sich diese Analyse ebenso auf den Geist wie auf das materielle Universum.

Verschiedene Schulen des Buddhismus erstellten unterschiedliche Listen von dharmas, doch alle diese Schulen – zumal jene des Hinayana – stimmten darin überein, dass prajñā (auf Pali paññā) oder Weisheit darin besteht, sämtliche Erscheinungen des Seins auf einen Fluss solcher dharmas zurückzuführen. Anscheinend gingen die Systematiker des Abhidharma, nachdem sie die Existenz in diesem Sinne analysiert hatten, noch weiter und fassten diese dharmas ganz buchstäblich, manchmal sogar pedantisch, als letztlich wirkliche Dinge auf. Auf diese Weise machten sie aus den verschiedenen Faktoren, in die beispielsweise das Ich zerlegt worden war, weitere kleine Ich-Stücke. Diese mussten dann ihrerseits wieder zerlegt werden, und das Mahayana tat das, indem es sie in śūnyatā oder „Leerheit“ auflöste.

Die Übersetzung von śūnyatā als „Leerheit“ ist irreführend; wir sollten uns śūnyatā nicht als etwas wie leeren Raum vorstellen. Dem Mahayana zufolge sind dharmas in dem Sinne śūnya, dass sie leer von einer unabhängigen, unveränderlichen Existenz sind. Wenn wir die Welt als mit Dingen und Personen angefüllt sehen, dann geschieht dies aus Mahayana-Sicht aufgrund unserer groben Verblendung, und diese wird beseitigt, wenn wir die Dinge und Personen unter dem Aspekt von dharmas zu sehen lernen. Das Mahayana begnügt sich aber nicht damit, sondern es betont, eine subtile Verblendung liege auch dann noch vor, wenn man die Dinge als dharmas sieht. Das sei noch nicht dasselbe wie die Welt in ihrer letztendlichen Realität zu sehen. Diese subtile Verblendung werde erst beseitigt, wenn man sehe – und wisse –, dass die dharmas selber leer und ohne absolute Existenz, sondern śūnya sind.

Das Wissen, dass alle dharmas śūnya sind, wird Prajñāpāramitā, die „Vollendung von Weisheit“ genannt – aber das ist nicht die beste Übersetzung des Begriffs. Pāramitā bedeutet „was darüber hinaus geht“ oder „das Transzendierende“ – das, was ans andere Ufer übersetzt, zu Nirwana. Prajñāpāramitā ist somit die Weisheit, die über alle Dualität hinausgeht, die Weisheit, die alle geistgeschaffenen Unterscheidungen und Trennungen transzendiert. Es ist die Weisheit der Erleuchtung oder Buddhaschaft. Natürlich sind alle buddhistischen Schriften von Belang für die Entwicklung transzendenter Weisheit, jene aber, die direkt und fast ausschließlich von der Vollendung der Weisheit handeln, sind als Prajñāpāramitā-Sutras bekannt. Sie handeln vor allem davon, alle dharmas als śūnya zu sehen und nicht nur Dinge und Personen zu durchdringen, sondern auch über die psychophysischen Prozesse hinauszugehen, die eben diese Dinge und Personen ausmachen. Anders gesagt, sieht Prajñāpāramitā überall Wirklichkeit – zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter allen Umständen.

Diese Lehre entspringt nicht den konzeptionellen Schichten des Geistes; sie ist kein Produkt des Verstandes. Sie entspringt unendlich tieferen Quellen.

Es gibt insgesamt etwa fünfunddreißig Schriften der Vollendung der Weisheit. Sie variieren beträchtlich in ihrer Länge. Ursprünglich wurden sie, natürlich, mündlich überliefert und es vergingen etwa sechshundert Jahre, bis sie alle, eine nach der anderen, aufgeschrieben waren. Man kann diesen Zeitraum in drei Perioden einteilen, die jeweils etwa zweihundert Jahre lang dauerten, bevor sich eine viel längere vierte Periode tantrischer und kommentarischer Entwicklung anschloss. In der ersten Phase entstanden zwei grundlegende Texte: die Aasāhasrīka-Prajñāpāramitā, die Vollendung der Weisheit in 8000 Zeilen, sowie eine Zusammenfassung desselben Textes in Versform, die unter dem Titel Ratnagua-Sacayagāthā, Strophen über die Ansammlung kostbarer Eigenschaften bekannt ist. Die kostbaren Eigenschaften sind natürlich jene der Erleuchtung. Der älteste Teil dieses gesamten Materials findet sich in den ersten beiden Kapiteln der Ratnagua-Sacayagāthā, während die folgenden dreißig Kapitel dies weiter ausarbeiten. Es kann durchaus sein, dass diese beiden Kapitel – die wir in diesem Buch eingehend betrachten werden – auf die Zeit um 100 v. u. Z. zurückgehen.

In der zweiten Periode entstanden etliche Werke, in denen die früheren Texte immer mehr erweitert wurden, bis hin zur Vollendung der Weisheit in 100.000 Zeilen – genauer: 100.000 ślokas.3 Der Sage nach fand man dieses Sutra, als der Buddha es ursprünglich predigte, so tiefgründig und schwierig, dass er es dem unterseeischen Königreich der nāgas anvertraute, die es bis zu jener Zeit aufbewahren sollten, in der jemand erscheinen würde, der es nicht nur verstand, sondern seinen Inhalt auch zu vermitteln vermochte. Ein solcher Mensch erschien dann auch. Es war Nāgārjuna, der um etwa 150 u. Z. geborene große Weise des Mahayana zusammen mit einer Naga-Prinzessin, der ihm den Sutratext überreichte. Für tibetische Künstler ist das ein beliebtes Motiv: Man sieht Nāgārjuna auf einem Floß mitten im weiten Meer und eine Art Meerjungfrau taucht mit einem dicken, schweren Buch aus der Tiefe auf und legt es in seine Hände.

Beachten wir die Symbolik dieser Legende! Nāgas sind „Schlangen“ oder „Drachen“ und in fast allen Überlieferungen stehen sie für Weisheit. Schon der Buddha hatte dies in einem Lehrgespräch des Majjhima-Nikāya angedeutet, als er ein Rätsel mit den Worten erklärte: „Die Naga-Schlange ist ein Symbol für einen Bhikkhu, der die Triebe (āsavas) vernichtet hat“4 – also ein Symbol für erleuchtete Schüler des Buddha. Auch die Symbolik des Meeres verwendete der Buddha in zwei unterschiedlichen Situationen, die im Pali-Kanon festgehalten sind, wobei er seine Lehre und Übung – den Dharma-Vinaya – mit dem riesigen Meer und die Arhats, die erleuchteten Schüler, mit den mächtigen Wesen der Tiefe vergleicht.5

Natürlich sind Drachen oder Schlangen nicht wörtlich zu nehmen, und doch können wir den Geist dieser Überlieferung aufnehmen, ohne glauben zu müssen, dass der Buddha wirklich den Nagas einen Text anvertraute. Die Überlieferung, Nāgārjuna habe die Prajñāpāramitā von den Nagakönigen erhalten, deutet vielleicht darauf hin, dass er Schüler einer Gemeinschaft von Arhats war, die selbst kein Buch empfangen und weitergegeben hatten, sondern eine Lehre oder Erkenntnis, die den zu Nāgārjunas Zeit üblichen förmlichen und analytischen Zugang zum Dharma transzendierte. Die Entstehung der frühesten Sutras der Vollkommenen Weisheit wird gewöhnlich vor Nāgārjunas Lebzeiten angesetzt.

Die Symbolik dieser Überlieferung sagt aber viel mehr und spricht uns tiefer an, als es irgendeine Art direkter Interpretation tun könnte. Schließlich ist der Ozean nicht nur ein Symbol für die Tiefgründigkeit der transzendenten Welt, in der erleuchtete Wesen durchaus buchstäblich leben, wirken und existieren, sondern er steht auch für das, was man das „Unbewusste“ im Sinne von Jung nennen kann. Die Nagas oder Drachen sind Kräfte der Inspiration, die aus den Tiefen des Unbewussten aufwallen. Die Prajñāpāramitā-Lehre entspringt demnach nicht den konzeptionellen Schichten des Geistes; sie ist kein Produkt des Verstandes. Sie kommt aus unendlich tieferen Quellen – oder, auch das könnten wir sagen: aus einer unendlich höheren Dimension; aus einer anderen, transzendenten Dimension des Bewusstseins.

Neben der Vollendung der Weisheit in 100.000 Zeilen gibt es noch andere längere Versionen: in 10.000, 18.000 und 25.000 Zeilen. Dr. Edward Conze übersetzte sie über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren ins Englische (auf Deutsch gibt es bisher keine Übersetzungen dieser langen Prajñāpāramitā-Texte. A. d. Ü.).

Man empfindet vielleicht eine gewisse Erleichterung bei dem Gedanken, dass die dritte Periode der Entstehung dieser Literatur – von 300 bis 500 u. Z. – eine Abschwungphase war. Wie man sich leicht vorstellen kann, war es sogar für Vollzeit-Mönche kaum möglich, die zunehmend unhandliche Sammlung von Schriften zu studieren. Darum entstanden nun einige sehr kurze Sutras der Vollkommenen Weisheit, die die Lehre in höchst verdichteter, konzentrierter Weise darbieten. Die schönsten Blüten dieser Phase sind das Hdayasūtra oder Herzsutra und das Vajracchedikā-Sūtra oder Diamantsutra.

Inder mögen Extreme. Nachdem sie die Vollendung der Weisheit zunächst auf 100.000 Zeilen ausgedehnt hatten, verdichteten sie diese nun in dhāraīs (magische Formeln), in Mantras und sogar in einen einzigen Buchstaben mit dem Titel Sutra über die Vollendung der Weisheit in Einem Buchstaben. Der Buchstabe, der die gesamte Lehre der Prajñāpāramitā umfasst, ist der Buchstabe A, und dies aus dem schlichten Grund, das a- im Sanskrit die negative Vorsilbe mit der Bedeutung „nicht-“ oder „un-“ ist. (Wenn man ein Wort verneinen möchte, lässt man es oft mit a- beginnen.) Manas bedeutet „Geist“; „Nicht-Geist” ist amanas; vijñānā bedeutet „Bewusstsein“ und „Nicht-Bewusstsein” daher avijñāna und so weiter. Dem Sutra über die Vollendung der Weisheit in Einem Buchstaben zufolge kann man śūnyatā einfach durch Negierung sämtlicher Begriffe erkennen. Höchste Wirklichkeit ist erfahrbar, indem man allem und jedem – darunter auch sämtlichen buddhistischen Begriffen und der gesamten buddhistischen Philosophie ohne jede Ausnahme – a –, „nicht“, voranstellt. Das ist so ähnlich wie das neti, neti, „nicht dies, nicht dies“ der upanischadischen Überlieferung.6

In der vierten, tantrischen Periode schließlich, welche die literarische Überlieferung bis ungefähr 1200 u. Z. ausdehnte, erschien Vollkommene Weisheit als eine Göttin, die man auf unterschiedliche Art verehren konnte und mit diesen rituellen Anrufungen – oder sādhanas – endete die Entstehung dieser großartigen Literatur.

Die Möglichkeiten unseres spirituellen Lebens als Buddhisten und Buddhistinnen sind heute reicher als je zuvor seit den Tagen der großen Klöster von Nalanda

Wie können wir das alles nun verstehen? Zunächst einmal dürfte es hilfreich sein, die Schriften der Vollkommenen Weisheit nicht als eine Reihe eigenständiger Werke, sondern als einen einzigen Strom zu betrachten, der hier und da in kleinere oder größere Ablagerungen oder Strukturen auskristallisiert, von denen aber keine den Inhalt dieser Überlieferung erschöpft, während sie doch alle dieselbe Grundeinsicht in śūnyatā ausdrücken. Die Überlieferung fordert uns auf, einen Kommentar zurate zu ziehen, wenn wir einmal eine dieser Schriften aufnehmen. Allerdings ist das nicht immer ganz unkompliziert.

Im Westen neigen wir zu einer gewissen Ungeduld – vielleicht sogar einer gesunden Ungeduld – gegenüber der Art, wie Kritiker und Gelehrte darauf bestehen, sich zwischen Leser und Text zu drängen. Sutra-Kommentatoren verlieren gelegentlich über der Menge an feinen Details das aus den Augen, worum es eigentlich geht. Darum dringen sie letztlich nicht wirklich tief. Gewöhnlich sind die Kommentare mindestens doppelt so lang – manchmal auch zehnmal so lang – wie die ursprünglichen Sutras. Außerdem gibt es noch Subkommentare, die im Allgemeinen glücklicherweise kürzer sind.

Außer Kommentaren zu den Sutras gibt es auch noch manche śāstras, die man ebenfalls zur Literatur der Vollendung der Weisheit rechnen muss. Ein Schastra (śāstra) ist eine von einem bedeutenden buddhistischen Lehrer oder Philosophen verfasste Auslegung. Anders als ein Sutra beansprucht ein Schastra nicht, das Wort des Buddha wiederzugeben. So ist beispielsweise die (Mūla-) Mādhyamakakārikā von Nāgārjuna ein Schastra, das aber auch als Kommentar zum Schrifttum der Vollkommenen Weisheit angesehen werden kann – zwar nicht Zeile für Zeile, aber doch fest darauf gründend. Zu den Schastras zählt man auch Zusammenfassungen in Versform, die dazu dienen, die in der Vollkommenen Weisheit behandelten Themen halbwegs systematisch anzuordnen. Und all diese Schastras werden ihrerseits von weiteren Kommentaren unterstützt: Dabei erklärt der Autor des Textes diesen einem Schüler, der die Erläuterung seinerseits in einem Kommentar niederlegt, in dem er einem eigenen Schüler weitere Überlegungen dazu vermittelt, der diese nun in einem Subkommentar zusammenstellt.

Zu guter Letzt sehen wir uns einem Schrifttum von wahrhaft schwindelerregenden Ausmaßen gegenüber. Man darf es aber nicht ignorieren. Die Kommentare verkörpern auf eine äußerst hilfreiche Weise das tiefe Nachsinnen vieler Generationen von Lehrern und Schülern über die Schriften des Kanons. Tatsache ist, dass indische heilige Texte nicht eigenständig ohne Lehrer gelesen werden sollen – andernfalls kann es nur zu Missverständnissen führen. Offen gesagt wären westliche Buddhisten vielleicht besser beraten, die Klassiker der europäischen Literatur zu lesen als Bücher über Buddhismus ohne eine rechte Anleitung.

Ramakrishna pflegte zu sagen, um eine Armee zu besiegen, bräuchte man wohl Tausende Waffen und viele Tonnen Ausrüstung, doch wenn man sich selbst töten wolle, genüge dazu eine einfache Nadel. Ebenso muss man, um andere zu bekehren und zu belehren, Tausende Bücher kennen, doch schon ein einziges Mantra kann genügen, um in der eigenen spirituellen Übung fortzuschreiten. Das ist natürlich ziemlich extrem – und wahrscheinlich gehen wir im Westen nicht so sehr ins Extrem wie im Osten – und man könnte damit nur erfolgreich sein, wenn man ein saddhānusārin, ein „Vertrauensergebener“ wäre und nicht etwa ein dhammānusārin, ein eher intellektueller Typ.7

Dhammānusārins wollen viele Dinge intellektuell verstehen und akzeptieren bevor sie zu den Drei Juwelen Zuflucht nehmen können. Saddhānusārins hingegen kommen schnell und mit nur wenigen Erläuterungen in Gang. Hui Neng, der große Sechste Patriarch des Chan, hörte nur einmal, wie das Diamantsutra rezitiert wurde – er selbst konnte nicht lesen und schreiben – und doch erlangte er sofort eine gewisse Erleuchtung. Man könnte sogar sagen, am besten sei es, Bücher erst zu lesen, wenn man schon Erleuchtet sei oder wenigstens einige höhere spirituelle Erfahrung gemacht habe. Ich kannte Gurus, die diesem Ansatz folgten und Bücher erst dann zu lesen begannen, als sie diese selbst nicht mehr brauchten, sondern nur zum Zweck der Kommunikation mit anderen benötigten.

Wenn wir uns aber doch mit diesen Sutras befassen wollen, brauchen wir nicht nur die Hilfe und Anleitung eines Lehrers, sondern wir müssen uns auch auf die mühsame Vorarbeit stützen, die von den Sanskrit-Gelehrten geleistet worden ist. Dabei müssen wir aber auch darauf achten, deren gelehrsame Schlussfolgerungen nicht unbedacht zu übernehmen. Die meisten Schriften der Vollkommenen Weisheit sind im klassischen Pāīni-Sanskrit verfasst, die Ratnagua-Sacayagāthā hingegen in einem Dialekt, den man heute als buddhistisches hybrides Sanskrit bezeichnet. Gelehrte hielten dies ursprünglich einfach für schlechtes Sanskrit, für eine Art, wie ungebildete Menschen, die die Grammatik nicht kannten, Sanskrit sprachen. Es ist aber tatsächlich eine andere, reichere Form von Sanskrit und näher am Prakrit, der damaligen Umgangssprache. (Prakrit bedeutet „natürlich“, sanskrit „gebildet“ oder „gepflegt“, wörtlich aber „zusammen gemacht“.) Das buddhistische hybride Sanskrit hält sich nicht an die grammatischen Regeln des Panini-Sanskrit, sondern ist eher an das Sanskrit der hinduistischen Veden angelehnt. Gelehrte Brahmanen spotteten gerne über das buddhistische Sanskrit, doch das ist kaum anders, als würde man Shakespeare für sein grammatikalisch freies Englisch verspotten. Shakespeares Englisch ist zwar nicht unbedingt glatt geschliffen und regelrein, doch es spricht mit einer Kraft und Fülle, die man in grammatisch korrekten Texten meist vergeblich suchen wird.

Wir könnten fragen, ob das ausgefeilte klassische Sanskrit nicht besser als die hybride Form für die Vermittlung abstrakter Vorstellungen geeignet sei. Eine solche Vermutung wirft eine weitere Frage auf, zu der wir zurückkommen werden, wenn wir die einzelnen Texte genauer betrachten: Inwieweit trifft es überhaupt zu, dass die Vollkommene Weisheit sich mit abstrakten Ideen befasst? Wie Edward Conze bemerkte, ist das Sanskrit – und auch das buddhistische Sanskrit – eine höchst rationale Sprache und für eine gründliche grammatische Analyse zugänglich. Anders gesagt: Wir können die Bedeutung ganz präzise über die Grammatik erschließen. Nur sollten wir nicht glauben, nur weil uns die Grammatik zur Klärung der rationalen Bedeutung eines Textes verhelfen kann, sei sein Sinn auch ein rationaler Sinn.

Für Gelehrte gibt es eine weitere Gefahr. Es trifft zweifellos zu, dass ein gewisser Bedeutungsreichtum im Sanskrit beim Übersetzen verlorengeht, da wir die Wurzeln der Worte aus dem Blick verlieren. Um ein schlichtes Beispiel zu geben, findet man jñāna manchmal als „Erkenntnis“, prajñā hingegen als „Weisheit“ übersetzt. Dabei bleibt verborgen, dass beide Worte von der Wurzel jñā abstammen. Man könnte nun versucht sein zu glauben, die Wurzel, von der wesentliche Wörter oder Wortgruppen abgeleitet sind, stehe für eine Art primitiver, urzeitlicher Intuition über das Wesen der Existenz, die mit der Zeit in Wörtern widergespiegelt worden sei. Manche Gelehrte unterstellen anscheinend, Wörter seien ursprünglich in einem sehr tiefgründigen Sinn verwendet worden, der der Menschheit allmählich abhanden gekommen sei, wohingegen weise Wesen, wie der Buddha, die Wörter noch in ihrem originalen, urtümlichen Sinn verwenden würden.

Eine solche linguistische Theosophie ist für uns ganz unannehmbar, solange wir sie nicht viel sorgsamer betrachten. Wahrscheinlich können wir rundherum sagen, dass die Menschen Wörter schlicht zu missbrauchen pflegen. Es gibt kaum Grund zur Annahme, man könnte durch Rückgang auf die ursprünglichen indoeuropäischen Wortwurzeln genau verstehen, was der Buddha gemeint habe, als er diese Worte benutzte. Das hieße zu behaupten, der Buddha sei sich der Bedeutung dieser Wurzeln bewusst gewesen, doch das ist unwahrscheinlich.

Aus den sorgsam definierten technischen Bedeutungen buddhistischer Schlüsselbegriffe kann man auch leicht den Eindruck gewinnen, der Buddha habe seine Begriffe selbst von Anfang an sorgfältig definiert. Aber in Pali-Suttas verwendet man viele Wörter im umgangssprachlichen und nicht in einem technischen Sinn. Erst im Laufe mehrerer hundert Jahre wurden viele davon klar definiert. Wenn wir diese buddhistischen Fachbegriffe übersetzen wollen, müssen wir verstehen, was sie in wechselnden Zusammenhängen bedeuten. Als Übersetzung hilft nicht immer nur ein einziges Wort unserer Sprache weiter. Manchmal könnte beispielsweise „Gesetz“ für dharma passen, doch nur, wenn wir dabei viele Anklänge ignorieren, die das Wort „Gesetz“ in unserer Sprache hat.

Dieses Prinzip gilt auch für śūnyatā, den Kernbegriff der Prajñāpāramitā. Zwei Pali-Suttas, die „Kürzere“ und die „Längere Lehrrede über Leerheit“8, halten die Lehren des geschichtlichen Buddha über śūnyatā fest. Der Buddha verwendet in ihnen den Begriff „Leerheit“, um ganz allgemein auf das Nichtvorhandensein eines „Selbst“ (ātman) in verschiedenen Dingen hinzuweisen. Später verfeinerten und entfalteten die Mahayana-Gelehrten diese Auffassung und definierten śūnyatā vor allem als das Nichtvorhandensein von svabhāva, „Eigensubstanz“ oder „Selbstsein“, statt bloß eines „Selbst“, und sie wandten nun diese Abwesenheit jeglichen „Selbstseins“ gründlicher auf alle möglichen Dinge und vor allem auf die dharmas an, die von den Abhidharma-Gelehrten als letzte, nicht reduzierbare Elemente der Erscheinungswelt behauptet worden waren.

Diese Entwicklung steht ganz im Einklang mit der ursprünglichen Lehre des Buddha. Es gibt tatsächlich Abschnitte im Pali-Kanon, mit denen man die Behauptung stützen kann, die gesamte Lehre der Vollkommenen Weisheit sei eine Fortsetzung und Entwicklung der Lehren des historischen Buddha. Gelehrte haben im Sutta-nipāta, einem der ältesten Teile des Pali-Kanons, Lehren ausgemacht, die der Vollkommen Weisheit anscheinend sehr nahe stehen.9

So entwickelt sich eine religiöse Überlieferung. Der Buddha war eher ein Initiator als ein Religionsstifter, der etwas ein für alle Mal festlegte. Es gibt die ganze Lehre im Pali-Kanon, doch ein einziges Leben – sogar das Leben eines Buddha – würde nie ausreichen, um alles darin Angelegte zu entfalten. Es ist aber nicht so, als hätte der Initiator der allgemeinen gedanklichen Prinzipien diese konzeptionell ausarbeiten können, wenn er nur lang genug – vielleicht zwei- oder dreihundert Jahre – gelebt hätte. Solche Prinzipien lassen sich gar nicht auf theoretische Weise entwickeln, sondern sie können nur von Individuen im Laufe ihrer spirituellen Übung herausgearbeitet werden. Indem einzelne Menschen das lebendige spirituelle Prinzip ihrer jeweiligen Natur, ihren Eigenschaften und Lebenssituationen entsprechend in sich aufnehmen, können sie Aspekte und Anwendungen dieses Prinzips hervorbringen, die der Initiator gar nicht hätte entfalten können, weil seine Situation eine andere war.

Würden wir uns typische Anhänger des Buddha zu seinen Lebzeiten vorstellen, dann wäre deren spirituelle Sicht gewiss sehr weit, ihr intellektueller Horizont indes wäre eher eng. Diese Menschen hatten kaum intellektuelle Zweifel und Fragen, und jene, die sie doch hatten, waren verhältnismäßig unkompliziert. So konnten sie dem spirituellen Pfad von ganzem Herzen folgen. Mit der weiteren Entfaltung der indischen Zivilisation, mit zunehmender Kommunikation durch Fernhandel und wachsende Imperien, mit dem komplexer werdenden sozialen und wirtschaftlichen Leben begannen die Menschen natürlich, auch differenzierte und anspruchsvolle Fragen zu stellen. Die Antwort, die der Buddhismus auf diese geschichtlichen Entwicklungen gab, war das Mahayana. Indem immer mehr Menschen verschiedene Aspekte der ursprünglichen Lehre ans Licht brachten, wurde die gesamte spirituelle Überlieferung bereichert und vielschichtiger.

Es ist also nicht so, dass das Mahayana aufkam, weil ein paar Leute es sich willkürlich in den Kopf gesetzt hatten, eine neue buddhistische Schule zu gründen. Andererseits steht das Mahayana auch nicht zwangsläufig für eine wesentlich spirituelle Entfaltung: Das ist eine andere, wenngleich damit verbundene Frage. Schon in den Lehren des geschichtlichen Buddha gibt es die spirituelle Vision mitsamt den allgemeinen Prinzipien ihrer Anwendung. Manche Nuancen, Feinheiten und der Reichtum des Implizierten entfalten sich aber erst im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende. Wir können uns eigentlich glücklich preisen, dass wir 2000 Jahre nach dem Buddha leben. Wir haben nicht nur den Buddha; wir haben auch all die Lehrer, die ihm folgten, und wir können deren sämtliche Lehren nun in unserer eigenen Sprache lesen. Die Möglichkeiten unseres spirituellen Lebens als Buddhisten und Buddhistinnen sind heute reicher als je zuvor seit den Tagen der großen Klöster von Nalanda. Und keiner dieser Reichtümer leuchtet mit hellerem und eindringlicherem Glanz als die Prajñāpāramitā.

In einem Buch wie diesem können wir nur die Ränder dieses weiten Feldes berühren. Würden wir der Sonne zu nahe kommen, dann würden wir geblendet, versengt und schließlich verzehrt; halten wir indes einen respektvollen Abstand, dann können wir vielleicht ihr Licht sehen und ihre Wärme spüren. So ist es auch mit der Prajñāpāramitā. Wenn wir respektvoll Abstand halten, werden wir vielleicht das Mitgefühl ihrer Lehre spüren. Vielleicht erhalten wir sogar eine Ahnung von der transzendenten Weisheit, von der sie spricht. Eines Tages sind wir dann vielleicht bereit, uns direkt ins Zentrum dieser Sonne zu stürzen, um eins mit ihr zu werden. Dann werden wir spirituell sterben – und im gleichen Moment spirituell so lebendig sein wie nie zuvor.

1 A. d. Ü. zur Schreibweise: Kursiv gesetzte Worte werden mit den für Pali und Sanskrit gebräuchlichen diakritischen Zeichen gegeben; dabei sind Eigennamen und Titel großgeschrieben. In Normalschrift gesetzte Worte aus dem Pali und Sanskrit werden wie deutsche Worte behandelt.

2 Soweit es die yab-yum-Symbolik des Vajrayana betrifft, kann man sagen, dass alle Gefährtinnen der Buddhas in gewisser Hinsicht Verkörperungen von Prajñāpāramitā sind – manchmal werden sie als prajñās bezeichnet. Es wäre allerdings ein grobes Missverständnis, diese Symbolik buchstäblich zu nehmen: Das hieße, eine Art sexueller Differenzierung auf der Stufe des Transzendenten nahezulegen.

3Ślokas, die aus 32 Silben bestehen, sind im Sanskrit ähnlich weit verbreitet wie jambische Pentameter in der englischen Dichtung. Daraus folgt aber nicht, dass diese Texte in Versen geschrieben sind. Im Sanskrit gibt es keine metrisch redundanten Silben, und man kann auch Prosatexte in Einheiten von 32 Silben gliedern. Solche „Zeilen“ sind ziemlich lang, zahlreich und ergeben somit einen ziemlich umfangreichen Text.

4Vammīka-Sutta, Majjhima-Nikāya 23. Zitiert nach der Übersetzung von Kay Zumwinkel: Die Lehrreden des Buddha aus der Mittleren Sammlung. Uttenbühl: Jhana Verlag, 2001, Bd. 1, S. 282.

5Udāna V.5, „Am Feiertg”. Deutsche Übersetzung von Fritz Schäfer: Verse zum Aufatmen. Die Sammlung Udāna und andere Strophen des Buddha und seiner erlösten Nachfolger. Aus dem Pālikanon übersetzt. Herrnschrot-Stammbach: Verlag Beyerlein & Steinschulte, 1998. Sowie Bhikkhu Santuho (Üb.): Die kleine Gruppe aus der Sammlung der buddhistischen Ordensregeln (Vinayapiaka - Cūlavagga). Berlin: Zeh, 2014, Kapitel IX.2.

6 Bis zu einem gewissen Punkt gibt es dies auch in der via negativa der westlichen Mystik. Der allgegenwärtige Stolperstein der westlichen Mystiker ist natürlich Gott, doch die Vollendung der Weisheit ist ganz einmütig hinsichtlich der Notwendigkeit, sogar Worte wie „Buddha“ und „Erleuchtung“ zu negieren.

7 Siehe hierzu beispielsweise Buddhaghosas Der Weg zur Reinheit (Visuddhi Magga). Übersetzt von Nyanatiloka. Uttenbühl: Jhana-Verlag, 1997, S. 788.

8Majjhima Nikāya 121 und 122. Siehe Die Lehrreden des Buddha aus der Mittleren Sammlung. Neuübersetzung von Kay Zumwinkel. Uttenbühl: Jhana Verlag, 2001, Bd. III, S. 211-225.

9 Siehe L. Gomez, „Proto-Madhyamika in the Pali Canon“ in Philosophy East and West 26 (2), S. 137-165.

DAS HERZSUTRA

Übersetzung des Hdayasūtra

NACH DER ENGLISCHEN ÜBERSETZUNG VON EDWARD CONZE

Ehre sei der Vollkommenen Weisheit, der herrlichen, der heiligen!

Avalokita, der heilige Herr und Bodhisattva, wandelte auf der tiefgründigen Bahn der jenseitsgerichteten Weisheit. Er schaute auf die Welt herab, er erblickte nur die fünf Haufen (skandhas), und er sah, dass sie ihrem Eigensein nach leer waren.

Hier, Śāriputra, ist Form Leere und die Leere selbst ist Form; Leere ist nicht verschieden von Form, noch ist Form verschieden von Leere; was immer Form ist, das ist Leere, was immer Leere ist, das ist Form. Dasselbe trifft auf Gefühle, Wahrnehmungen, Antriebe und das Bewusstsein zu.

Hier, Śāriputra, sind alle dharmas durch Leere gekennzeichnet; sie sind nicht erzeugt worden und sie kommen nicht zu Ende, sie sind weder verunreinigt noch fleckenlos, weder unvollständig noch vollständig.

Deshalb, Śāriputra, gibt es dort, wo die Leere ist, weder Form noch Gefühl, noch Wahrnehmung, noch Antrieb, noch Bewusstsein; kein Auge oder Ohr oder Nase oder Zunge oder Körper oder Geist; nichts Sichtbares und keinen Ton, keinen Geruch, keinen Geschmack, nichts Tastbares und keinen Gedankengegenstand; kein Sehorgan oder irgendein anderes der achtzehn Elemente, einschließlich des Gedankenbewusstseins; dort gibt es keine Unwissenheit, keine Aufhebung der Unwissenheit, und so weiter, bis wir kommen zu: dort gibt es keinen Verfall und Tod, keine Aufhebung von Verfall und Tod; dort gibt es kein Leiden, keine Erzeugung des Leidens, keine Aufhebung des Leidens und keinen Pfad; dort gibt es keine Erkenntnis, keine Errungenschaft und keine Nicht-Errungenschaft.

Deshalb, Śāriputra, weil einem Bodhisattva jede Art von persönlicher Errungenschaft gleichgültig ist und weil er sich auf die Vollkommene Weisheit verlassen hat, verweilt er frei von den Hemmnissen durch Gedanken. Frei von den Hemmnissen durch Gedanken wird er furchtlos, ist über das hinausgegangen, was ihn aufregen kann, und am Ende wird er vom Nirwana aufrechterhalten.

Alle, die in den drei Zeitaltern als Buddhas erscheinen, sind voll erwacht zu der äußersten, rechten und vollkommenen Erleuchtung, weil sie sich auf die Vollkommenheit der Weisheit verlassen haben.

Deshalb soll man wissen, dass die Prajñāpāramitā das große Mantra ist, das Mantra großen Wissens, das stärkste Mantra, das unvergleichliche Mantra, das alles Leiden stillt, wahrlich – denn was könnte da fehlschlagen? Von der Prajñāpāramitā wurde dieses Mantra gesprochen. Es geht so: Gegangen, gegangen, darüber hinausgegangen, ganz und gar darüberhinaus gegangen, O welch ein Erwachen, höchster Segen! Hiermit endet das Herzsutra10

Kommentar

Wenn wir das Herzsutra wirklich kennen, kennen wir – in gewissem Sinne – alles.

Das Herzsutra heißt so, weil es das Herz oder Wesen der Prajñāpāramitā bildet und in höchst verdichteter Form die wesentliche Bedeutung aller Sutras der Vollkommenen Weisheit vermittelt. Es verwundert nicht, dass man es in den Mahayana-Ländern des buddhistischen Ostens so oft rezitiert und singt. Wenn wir das Herzsutra wirklich kennen, kennen wir – in gewissem Sinne – alles.

Im ursprünglichen Sanskrit sind zwei Fassungen des Hdaya- oder Herzsutra erhalten, deren einziger Unterschied darin besteht, dass die längere – am Anfang wie am Ende – von den Umständen berichtet, in denen das Sutra gelehrt wurde. Wir verwenden die kürzere und weiter verbreitete Fassung und ich habe – mit geringfügigen Änderungen meinerseits – die Übersetzung von Dr. Conze gewählt, denn sie ist die wortgetreueste.

Hinsichtlich des Textes selbst werde ich eine Vermutung nahelegen, die meines Wissen bisher noch nicht geäußert wurde. Ich denke, im Herzsutra sind Form und Inhalt – genauer: die literarische Form und der spirituelle Gehalt – gleich wichtig. Die Form des Sutra ist wirklich Teil seines Gehalts; wir könnten sogar sagen, im Herzsutra sei „das Medium die Botschaft“ – der Rahmen ist wirklich Teil des Bildes.

Dieser Rahmen oder das Medium hat die Gestalt eines Dramas. Das Sutra ist eine Art Dialog zwischen Avalokiteśvara und Śāriputra. Wenn wir wissen, wer diese beiden Personen sind und wofür sie stehen, dann werden wir einen großen Teil der Bedeutung des Sutra verstehen.

Avalokiteśvara ist einer der großen Bodhisattvas. In ihrer höchsten Bedeutung sind Bodhisattvas Verkörperungen eines besonderen Aspektes von Buddhaschaft und der in diesem Zusammenhang von Avalokiteśvara vertretene Aspekt ist Vollkommene Weisheit. Das überrascht vielleicht, denn gewöhnlich verkörpert er Mitgefühl und Mañjuśri steht für Weisheit. Doch jeder Bodhisattva vermag als erleuchtetes Wesen, als Ausstrahlung des dharmakāya11, alles zu tun. Vielleicht kann uns diese Enttäuschung über unsere nicht erfüllte Erwartung daran erinnern, dass ein Bodhisattva sich nicht auf den Ausdruck bloß einer bestimmten Qualität beschränkt. Andererseits kann es aber auch sein, dass Avalokiteśvara ein so beliebter Bodhisattva war, dass er sogar in Situationen eine wichtige Rolle spielen konnte, für die ihn seine Verbindung mit Mitgefühl eigentlich nicht sonderlich qualifizierte.

Letztlich sind Weisheit und Mitgefühl natürlich untrennbar. Mittels Weisheit erkennt man die Wirklichkeit; aus Mitgefühl macht man andere damit bekannt. Weisheit wird hier im Textinhalt betont, Mitgefühl in der Symbolik der am Gespräch beteiligten Gestalten. Der Name Avalokiteśvara bedeutet „der Herr, der herunter blickt“ und am Anfang des Sutra schaut er aus der Höhe seiner Vollkommenen Weisheit voller Mitgefühl auf die Welt herab, und ganz besonders auf Śāriputra.

Historisch gesehen ist Śāriputra einer der beiden Hauptschüler des Buddha. Der andere war Mahā-Maudgalyāyana. Mahā-Maudgalyāyana war für seine übersinnlichen Kräfte berühmt, Śāriputra für seine Weisheit. Der Überlieferung zufolge war Śāriputra aber auch der Begründer des Abhidharma und im Rahmen des Herzsutra steht er damit für Weisheit in einem engeren Hinayana-Verständnis.

Damit haben wir schon einen Schlüssel für die Bedeutung des ganzen Werkes. Es ist ein Gespräch zwischen Weisheit einerseits und Vollkommener Weisheit andererseits. Es ist aber nicht bloß ein Gespräch – es ist eine Spannung, sogar ein Zusammenprall. Wie kann es aber zu einer Spannung oder einem Zusammenprall zwischen etwas, das mehr und weniger von ein und derselben Qualität zu sein scheint, kommen? Wir können das eher verstehen, wenn wir auf einer niedrigeren Ebene ansetzen und den Zusammenprall als Spannung zwischen der von Avalokiteśvara verkörperten spirituellen Einsicht und dem von Śāriputra vertretenen Typus eines eher intellektuellen Verstehens nehmen (wobei wir uns aber, wie wir noch sehen werden, nicht zu fest auf diese Deutung stützen dürfen).

Es gibt überdies noch etwas ganz Ungewöhnliches und Bedeutsames an diesem Dialog oder gar Streitgespräch – zumindest in der kürzeren Fassung des Herzsutra: Śāriputra sagt gar nichts. Anders ausgedrückt, im Rahmen des Herzsutra gibt der Verstand anders als sonst keine Widerworte. Er ist an den Punkt gelangt, wo er sich selbst zu transzendieren vermag. Der christliche Mystiker-Theologe Richard von Sankt Victor sagte: „Der Verstand stirbt, indem er Ekstase gebiert“ und entsprechend können wir hier sagen: „Weisheit stirbt, indem sie Vollkommene Weisheit gebiert”.

Im Herzsutra wird somit in gewisser Weise die Kernsituation des spirituellen Lebens dargestellt: Weisheit auf dem Weg zu Vollkommener Weisheit; die dharmas im Prozess ihrer Auflösung in śūnyatā; intellektuelles Verstehen bei der Umwandlung in spirituelle Einsicht. Wenn wir das Sutra lesen, wenn wir es rezitieren, wenn wir darüber nachsinnen, wenden wir uns einem dramatischen Geschehen zu, das nicht etwa außerhalb von uns geschieht. Śāriputra ist in uns und auch Avalokiteśvara ist in uns. Der Śāriputra in uns muss lernen, auf den Avalokiteśvara in uns zu lauschen.

Auf diese Weise zeigt die Form des Sutra dramatisierend, was sein Inhalt didaktisch sagt. Die literarische Form spricht in Bildern und wendet sich dem Unbewussten zu. Der Inhalt verwendet seinerseits Begriffe und richtet sich an den bewussten Geist. Dieser begriffliche Inhalt besteht vor allem aus sechs großen Behauptungen Avalokiteśvaras, sechs Donnerschlägen, die nacheinander sämtliche Vorannahmen Śāriputras zerschmettern, die geringere Weisheit zerstören und die höhere Weisheit offenbaren.

Avalokita, der heilige Herr und Bodhisattva, wandelte auf der tiefgründigen Bahn der jenseitsgerichteten Weisheit. Er schaute auf die Welt herab, er erblickte nur die fünf Haufen (skandhas), und er sah, dass sie ihrem Eigensein nach leer waren.

Hier, Śāriputra, ist Form Leere und die Leere selbst ist Form; Leere ist nicht verschieden von Form, noch ist Form verschieden von Leere; was immer Form ist, das ist Leere, was immer Leere ist, das ist Form. Dasselbe trifft auf Gefühle, Wahrnehmungen, Antriebe und das Bewusstsein zu.

Die erste von Avalokiteśvara aufgestellte Behauptung sagt, dass die fünf skandhas leer sind. Hinsichtlich dieser Aussage stimmt er mit Śāriputra überein; Hinayana und Mahayana gehen gleichermaßen davon aus. Dieser buddhistischen Grundlehre zufolge lässt sich die ganze Spannweite tatsächlicher Erscheinungen auf die fünf Gruppen oder Ansammlungen reduzieren: materielle Form, Gefühle (angenehme, leidvolle und neutrale), Wahrnehmungen, Willensimpulse (im Sutra als „Antriebe“ übersetzt) und Bewusstsein. Ob man mit Dingen oder Personen zu tun hat, man kann sie vollkommen und erschöpfend im Rahmen dieser fünf Kategorien besprechen. Es ist nicht nötig, eine separate, unabhängige Kategorie von der Art eines Selbst oder einer Seele einzuführen. Was wir „das Selbst“ nennen, ist nichts von den skandhas Unabhängiges; es ist nichts von Form, Gefühl, Wahrnehmungen, Impulsen und Bewusstsein Getrenntes. „Selbst“ ist nur eine Bezeichnung für die skandhas insgesamt. Diese erste große Behauptung geht dahin, dass die fünf skandhas die gesamte Existenz erfassen und es nichts außer ihnen gibt. Zugleich aber sind sie leer von jeglichem Selbst oder einer Seele.

Hier, Śāriputra, sind alle dharmas durch Leere gekennzeichnet; sie sind nicht erzeugt worden und sie kommen nicht zu Ende, sie sind weder verunreinigt noch fleckenlos, weder unvollständig noch vollständig.

Avalokiteśvaras zweite Behauptung geht etwas weiter. Alle dharmas, so sagt er nun, sind leer. Hier kommen wir allmählich in tiefes Wasser. Die frühe buddhistische Klassifizierung der gesamten Existenz unter dem Titel der fünf skandhas war von der Abhidharma-Überlieferung, die Śāriputra angeblich begründet hatte, zurückgewiesen worden. Man könnte sagen, sie war dem Abhidharma nicht wissenschaftlich genug. Deshalb ersetzten die Abhidharmikas die Gruppierung von ursprünglich fünf skandhas mit einer vierfältigen: Form, Gedanken, geistige Begleiterscheinungen und Vermischtes, und jede dieser Gruppen wurde wieder und wieder unterteilt. Die letztendlich kleinsten Unterteilungen dieser vier Kategorien, die nicht reduzierbaren Elemente, über die keine Analyse hinausgehen konnte, wurden dharmas genannt.

Die vielleicht wichtigste Schule des Hinayana, der Sarvāstivāda, bestimmte zweiundsiebzig solcher dharmas, auf die sämtliche Erscheinungen des Seins zurückzuführen sind. Man nannte sie „bedingte dharmas“, um sie von einer viel kürzeren Liste von nur drei „unbedingten dharmas“ zu unterscheiden, die nur Raum und die zwei Arten von nirvāa enthielt. (Diese unbedingten dharmas galten als ewig und somit, anders als die bedingten dharmas, als nicht in Ursache-Wirkungs-Beziehungen entstehend.)12 Alle zusammen bilden die berühmten fünfundsiebzig dharmas des Sarvāstivāda. Philosophisch gesehen ist das eine Form von pluralistischem Realismus.

Die frühen Abhidharma-Philosophen hatten offenbar einige Freude daran, ihre dharmas auf die unterschiedlichsten Arten zu klassifizieren und zu katalogisieren. So trennten sie bedingte von unbedingten dharmas, mit Gier, Hass und Verblendung „befleckte“ von „unbefleckten“ sowie dharmas, die begrenzt und unvollständig waren, von unbegrenzten und vollständigen. Sie notierten, wie jedes bedingte dharma entstand und schließlich endete, anders als die unbedingten dharmas, die nur von nirodha, Aufhören, gekennzeichnet waren. Man tüftelte eine riesige Menge von Beziehungstypen zwischen den dharmas aus, was wiederum zigtausend Permutationen ergab und eine gewaltig ausufernde Struktur bildete. Man kann sich kaum vorstellen, wie ausführlich diese Struktur war, doch die Ergebnisse davon füllen viele Bände der Analyse und Zusammenstellung von dharmas.

Avalokiteśvara behauptet nun, dass alle diese dharmas leer sind. Sie sind nicht im letzten Sinne real. Mit dieser Behauptung weist er die gesamte scholastische Maschinerie des Abhidharma zurück. Das ganze Gebäude ist leer. In begrenzter Hinsicht ist es durchaus in Ordnung: Es führt über die grobe Verblendung hinaus, dass Dinge Dinge und Personen Personen sind, doch als System der Analyse und Klassifizierung ist es ein Produkt subtilen Denkens und verkörpert als solches eine feine Verblendung, die letzten Endes überwunden werden muss.

Vollkommene Weisheit, wie sie von Avalokiteśvara vertreten wird, zerstört nicht nur den Abhidharma, sondern alle Versuche, ob philosophisch oder wissenschaftlich, eine systematische, intellektuelle Darstellung der Wirklichkeit zu geben. Der einzige Weg, auf dem man zur Realität gelangen kann, besteht in der Zerstörung der eigenen Vorstellungen über Realität, so subtil, ausgeklügelt und überzeugend sie auch sein mögen. Sie können bestenfalls provisorisch gelten. Alle dharmas sind somit leer.

Deshalb, Śāriputra, gibt es dort, wo die Leere ist, weder Form noch Gefühl, noch Wahrnehmung, noch Antrieb, noch Bewusstsein; kein Auge oder Ohr oder Nase oder Zunge oder Körper oder Geist; nichts Sichtbares und keinen Ton, keinen Geruch, keinen Geschmack, nichts Tastbares und keinen Gedankengegenstand; kein Sehorgan oder irgendein anderes der achtzehn Elemente, einschließlich des Gedankenbewusstseins.

Dritte Behauptung: In śūnyatā gibt es keine dharmas. Das ist die natürliche Folge – wenn man will, die eher positive Entsprechung – der vorigen Behauptung. Damit wird gesagt, Wirklichkeit sei gänzlich bar, rein und leer von all unseren intellektuellen Konstrukten, unseren Philosophien und Begriffen. Das sind unsere Vorstellungen. Sie gehören nicht zur Realität, denn Realität weiß nichts davon. Die Wirklichkeit weist – etwas anthropomorph ausgedrückt – alle unsere Gedanken ab. In śūnyatā gibt es keine Unterscheidung zwischen bedingten dharmas und unbedingten dharmas oder befleckten und reinen dharmas. Alle solchen Dualismen sind transzendiert. Einem beliebten Bild des Mahayana zufolge ist es wie der wolkenlose Himmel. Wolken können sehr schön sein, doch verbergen sie den nackten Glanz des Himmels. Realität in ihrer wahren Verfassung, über und jenseits all unserer sie betreffenden Denksysteme, ist wie der klare, wolkenlose Himmel. In śūnyatā gibt es keine dharmas.

Dort gibt es keine Unwissenheit, keine Aufhebung der Unwissenheit, und so weiter, bis wir kommen zu: dort gibt es keinen Verfall und Tod, keine Aufhebung von Verfall und Tod; dort gibt es kein Leiden, keine Erzeugung des Leidens, keine Aufhebung des Leidens und keinen Pfad; dort gibt es keine Erkenntnis, keine Errungenschaft und keine Nicht-Errungenschaft.

Philosophie, einschließlich buddhistischer Philosophie, ist damit aus dem Weg geräumt. Bilden wir uns nun vielleicht ein, Religion – und sei es Buddhismus selbst – könne dem entgehen? Avalokiteśvaras vierte große Behauptung stellt klar, dass es so etwas wie Buddhismus nicht gibt. Ich umschreibe das ein wenig – diese vierte Behauptung ist wirklich eine umfassende, universale Version der dritten –, aber darauf läuft es hinaus. Avalokiteśvara beseitigt jede nur als Selbstzweck verstandene Religion. Religion ist nichts Absolutes oder Letztgültiges. Darum werden in diesem Teil des Sutra verschiedene gut bekannte Kategorien des buddhistischen Denkens aufgezählt: die fünf skandhas, die sechs Sinnesorgane, die achtzehn Elemente, die zwölf Glieder der Kette abhängiger Verursachung, die Vier Edlen Wahrheiten, Erkenntnis selber, Erlangen und sogar Nicht-Erlangen. Die beiden letzten Punkte, prāpti und aprāpti, unterscheiden sich darin von den übrigen, dass sie Begriffe sind, die im Pali-Kanon nicht vorkommen. Sie wurden von den Saravstivadins als eine Kategorie von saskāras eingeführt und damit geben sie ein extremes Beispiel abstrakter, verdinglichter Begriffe.

Avalokiteśvara erklärt alle diese philosophischen und sogar praktischen religiösen Begriffe, alle diese funktionstüchtigen Grundlagen unseres religiösen Lebens, einschließlich der Idee des bedingten Entstehens und sogar der Idee von Erleuchtung für śūnya, leer, ohne letztendliche Geltung. Er sagt, wenn du dich entwickeln willst – wenn Vollkommene Weisheit dein Ziel ist –, dann musst du über Buddhismus hinausgehen. In Wirklichkeit musst du erkennen, dass es so etwas wie Buddhismus gar nicht gibt. Buddhismus ist nur ein Floß, das dich ans andere Ufer übersetzt; danach musst du ihn aufgeben. Er ist nur ein Finger, der auf den Mond deutet.

An diesem Punkt ist die Verbindung zwischen Zen und dem Herzsutra – oder eher die Art und Weise, wie das Herzsutra praktisch im Rahmen von Zen umgesetzt wird – nicht zu übersehen. Der Zenmeister, der die Frage „was soll ich tun, wenn ich den Buddha auf der Straße treffe?“ kurz angebunden mit „Töte ihn!“ beantwortete, sagte seinem Schüler, er müsse Buddhismus hinter sich lassen. Wenn du wirklich auf Erleuchtung aus bist, dann lass nicht zu, dass der Buddha-Begriff deinen Weg versperrt. Nichts hindert dich mehr auf deiner Suche nach Wahrheit als das, was da ist, um dir zu helfen: Religion. Was ein Mittel zum Zweck sein sollte, wird allzu leicht zum Selbstzweck.

Wahrscheinlich ist der Buddhismus einzigartig darin, dies so klarsichtig zu sehen. Er fegt den Pfad zur Erleuchtung sogar von Buddhismus frei. Zweifellos wirst du Buddhismus über lange Zeit nötig haben. Du brauchst deine Mantras und deine Meditationen, deinen Gesang und deine Schriften, deine Vorträge, Retreats und Seminare und du musst buddhistische Begriffe und Ideen nutzen. Zu guter Letzt aber musst du über die Grenzen ihrer Anleitung hinausgehen, das alles aus dem Weg kehren, um einzig der Realität zu begegnen.

Deshalb, Śāriputra, weil einem Bodhisattva jede Art von persönlicher Errungenschaft gleichgültig ist und weil er sich auf die vollkommene Weisheit verlassen hat, verweilt er frei von den Hemmnissen durch Gedanken. Frei von den Hemmnissen durch Gedanken wird er furchtlos, ist über das hinausgegangen, was ihn aufregen kann, und am Ende wird er vom Nirwana aufrechterhalten.

Fünfte große Behauptung: Nur auf Vollkommene Weisheit gestützt gewinnt ein Bodhisattva Erleuchtung und wird ein Buddha. Einen anderen Weg gibt es nicht. Du kannst nicht erleuchtet werden, sofern du nicht Vollkommene Weisheit entwickelst. Du magst wohl höchst gelehrt und äußerst erfahren in den Techniken von Sammlung und Meditation sein; du magst sehr ergeben, fromm und gläubig sein; vielleicht tust du auch stets gute Werke, gehst sogar so weit, dein Leben zum Wohl anderer hinzugeben, aber keine dieser löblichen Errungenschaften ist letztlich hilfreich. Nur Vollkommene Weisheit im Sinne direkten, unmittelbaren Erkennens der höchsten Wirklichkeit, über den Buddhismus selbst hinaus, verleiht Erleuchtung.

Alle, die in den drei Zeitaltern als Buddhas erscheinen, sind voll erwacht zu der äußersten, rechten und vollkommenen Erleuchtung, weil sie sich auf die Vollkommenheit der Weisheit verlassen haben.

Die sechste und letzte Behauptung besagt, dass alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Erleuchtung durch die Entwicklung Vollkommener Weisheit gewinnen. Ausnahmen gibt es nicht. Wenn es irgendwelche Erleuchteten der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft gibt, dann wurden – oder werden – sie nur durch die Entwicklung Vollkommener Weisheit erleuchtet. Darin ist das Herzsutra absolut und gnadenlos unzweideutig.

Diese sechs Behauptungen bilden den wesentlichen Inhalt des Herzsutra. Es gibt nur noch ein Weiteres. Das Sutra schließt mit dem Mantra der Vollkommenen Weisheit. So wie das Sutra die Prajñāpāramitā-Schriften verdichtet, so verdichtet das Mantra seinerseits das Sutra. Ein Mantra ist eine Art heilige Äußerung – weiter kann man es eigentlich nicht erklären.

Das Mantra der Vollkommenen Weisheit lautet gate gate pāragate pārasagate bodhi svāhā. Man kann Mantras nicht wirklich übersetzen, doch hier wurde er als „gegangen, gegangen, darüber hinausgegangen, ganz und gar darüber hinausgegangen, O welch ein Erwachen, höchster Segen“ übertragen. Allerdings hilft uns die bloße Bedeutung der Worte nicht viel weiter. Das erste gate bedeutet, aus dem Bedingten, aus der Erscheinungswelt, der Welt, wie wir sie kennen, gegangen zu sein. Das zweite gate bedeutet, sogar aus dem Unbedingten, sogar aus Nirwana gegangen zu sein – das heißt: aus der Vorstellung von Nirwana oder Erleuchtung als etwas von dieser Welt und diesem Zustand Unterschiedenes. Es genügt nicht, über das Bedingte hinauszugehen; man muss auch über das Unbedingte hinausgehen. Man kann auch sagen, es sei nicht genug den Teufel zu überwinden, sondern man müsse auch Gott überwinden. Pāragate bedeutet „darüber hinausgegangen“: über die Unterscheidung von Bedingtem und Unbedingtem, sasāra und nirvāa, dieser und jener Welt, befleckt und unbefleckt; über alle dualistischen Unterscheidungen – gleich welcher Art – hinausgegangen. Pārasagate – ganz und gar darüber hinausgegangen – bedeutet, dass man sogar über die Vorstellung von śūnyatā hinausgeht. Wenn man die Vorstellung von Realität selbst zurücklässt, dann ist man ganz und gar über alles hinausgegangen.

Das nächste Wort, bodhi, ist in keinem Sinne eine Behauptung. Es bedeutet Erleuchtung, Buddhaschaft, Erkenntnis des Höchsten, doch im Mantra heißt es nicht: „Oh, und dann verwirklichst du bodhi.“ Das wäre zwar nicht schlecht, hätte aber nicht die Kraft des einen Wortes bodhi, „Erwachen“. Svāhā, das letzte Wort, ist unübersetzbar, doch allgemein bedeutet es in der indischen Literatur „Alles gut!“, “verheißungsvoll“, “Segen“. Wenn du erwacht bist, wenn du ein Buddha bist … nun, dann ist alles ganz und gar verheißungsvoll, alles ist gut.

Dies also ist das Herz oder die Essenz des Herzsutra, das seinerseits eine Art Destillat der Bedeutung sämtlicher Schriften der Vollkommenen Weisheit ist. „Gegangen, gegangen, darüber hinausgegangen, ganz und gar darüber hinausgegangen. Erwachen. Alles gut.“ Wenn man das Mantra stets rezitiert, stets darüber meditiert, wird man seine tiefe Bedeutung schließlich ganz in sich aufnehmen.

Im Fall der sādhana oder Visualisationspraktik der Prajñāpāramitā ist das Mantra anders. Dort lautet er o ā dhih hū svāhā – das ist eine Anrufung des Bodhisattvas Prajñāpāramitā. Gate gate pāragate pārasagate bodhi svāhā hingegen ist das Mantra von Weisheit selbst – es ist gewissermaßen ein unpersönliches Mantra. Wer nicht über eine bestimmte Bodhisattva-Gestalt meditieren möchte, könnte dieses Mantra oder auch irgendwelche Verse oder Abschnitte aus den Schriften der Vollkommenen Weisheit nehmen – die Gleichnisse am Ende des Diamantsutra wären beispielsweise gut geeignet – und über deren Bedeutung nachsinnen. Auf diese Weise vergegenwärtigt man Verse oder Mantras, die hörbar die Vollendung der Weisheit verkörpern, anstatt eine sichtbare oder gestaltliche Verkörperung anzurufen.

Vielleicht ist die Zeit für ein neues Sutra gekommen, ein Sutra, in dem Avalokiteśvara den Platz von Śāriputra einnimmt – ein Avalokiteśvara, der die Begriffe des Mahayana wörtlich nimmt und nun der Offenbarung der wahren Bedeutung von śunyatā durch ein höheres Wesen bedarf.

Als Ganzes ist das Herzsutra so kurz, dass man es regelmäßig rezitieren und darüber nachsinnen kann. Wie ich gezeigt habe, stellt es einen Pfad regelmäßiger Schritte vor, doch es wäre keine schlechte Idee, diese sechs Abschnitte in einige noch kleinere zu zerlegen. Beispielsweise muss man sich nicht kopfüber in die fünf skandhas stürzen. Man könnte etwa mit der Teilung der „Person“ in nāma und rūpa anfangen. Danach könnte man nāma in seine vier Bestandteile zerlegen und würde auf diese Weise – zusammen mit rūpa – bei allen fünf skandhas ankommen. Vor dort aus kann man zu den zwölf āyatanas (den sechs Sinnen und ihren Gegenständen) und den achtzehn dhātus weitergehen (den zwölf āyatanas in Verbindung mit den jeweiligen Bewusstseinsarten, die in Abhängigkeit von der Berührung jedes Sinnesorgans mit seinem Gegenstand entstehen). Es ist nicht nötig, sich in Spekulationen über Sinn und Zweck dieser verschiedenen Klassifikationen einzulassen. Sie waren ursprünglich nicht als erkenntnistheoretische Lehre gedacht, sondern schlicht als Orientierungsrahmen für Meditation. Die Idee dabei ist, dass man seine Aufmerksamkeit auf der Grundlage einer tief gesammelten und positiven meditativen Verfassung nun einfach dem eigenen Sein zuwendet und, indem man es auf diese Weise analysiert, sich selbst als komplexen Prozess, statt als ein Selbst zu sehen beginnt.

Im Weiteren kann man die dharmas systematischer angehen und zwischen saskta dharmas und asaskta dharmas (zusammengefügten und nicht zusammengefügten dharmas) unterscheiden und von dort aus mit der Abhidharma-Klassifizierung von cittas (Geistesereignisse) und caitasikas (mentalen Begleiterscheinungen) fortfahren. Abschließend könnte man die einzelnen, aufeinander folgenden gate des Mantras auf die unterschiedlichen Stufen von śūnyatā beziehen, so wie ich es umrissen habe.

In gewisser Weise müssen wir Śāriputras Vorgehen nachvollziehen. Wir müssen zunächst einmal Śāriputra sein, bevor wir beginnen können, Avalokiteśvara zuzuhören. Die Behauptungen Avalokiteśvaras stehen nicht für die Entlarvung eines Irrtums oder die Beseitigung eines Missverständnisses, sondern für die Vertiefung eines noch oberflächlichen Verstehens. Würde es zunächst nicht dieses begrenzte Verständnis geben, könnte es auch nicht tiefer werden. Einige außergewöhnliche Personen können vielleicht aus dem Nichts in die Vollkommenheit der Weisheit hineinspringen, doch sie sind äußerst selten und niemand sollte glauben, er oder sie gehöre ebenfalls dazu.

Avalokiteśvara spricht zu jemandem, der eine gewisse Stufe des Verständnisses erreicht hat. Doch über welche Stufe sprechen wir hier wirklich? Wir sollten uns zunächst einmal darüber klar sein, dass wir hier mit dem Śāriputra des Mahayana-Mythos zu tun haben, nicht aber mit dem geschichtlichen Śāriputra. Fairerweise unterstellt auch der Mythos nicht, dass Śāriputra für ein bloß intellektuelles Verständnis des Dharma steht – denn schließlich unterscheidet auch der Abhidharma schon zwischen śruta-mayī-prajñā, der Weisheit, die auf Bücherwissen gründet, und bhāvanā-mayī-prajñā, Weisheit auf der Grundlage direkter meditativer Erfahrung.13 Wenn wir das Herzsutra überhaupt aufnehmen wollen, werden wir aber in irgendeiner Weise die Mahayana-Unterscheidung zwischen der begrenzten Einsicht eines Arhat und der tieferen Einsicht der Prajñāpāramitā