Welt als Körper - Thomas Erthel - E-Book

Welt als Körper E-Book

Thomas Erthel

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Beschreibung

Wie wird Totalität in der Literatur dargestellt? Um dieser Frage nachzugehen, muss man sich zunächst klar darüber werden, dass Wörter wie Welt, Erde und Globus im alltäglichen Sprechen sowie im Fachjargon heutiger Globalisierungsdebatten zwar allgegenwärtig sind, dass sich hinter ihnen aber häufig problematische Vorannahmen und unausgesprochene Vorstellungen von Ganzheit verbergen. Daher untersucht diese Studie die Verwendung solcher Figuren der Ganzheit (Welt, Erde etc.) in ausgewählten literarischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts (Swifts Gullivers Travels, Voltaires Candide und Melvilles Moby-Dick). Vor dem Hintergrund dieser Phase, in der die Expansion des modernen Welt-Systems globale Ausmaße anzunehmen beginnt, wird aufgezeigt, dass die Literatur dieser Zeit nicht nur aktiv das Bewusstsein von der größer werdenden Totalität mitgestaltet, sondern darüber hinaus reflektiert, dass das zunehmende Eins-Sein der Welt keineswegs die harmonische Einheit eines globalen Zusammenhalts, sondern stattdessen eine in Kriege, Sklavenhandel und Kolonialismus verwickelte, asymmetrische Ganzheit hervorbringt. Darüber hinaus wird zum ersten Mal untersucht, wie die literarischen Texte in diesem Kontext Körper inszenieren, um die Vorstellungen von der Gestalt, dem Umfang und dem Zustand der Welt dieser Zeit zu verhandeln.

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Seitenzahl: 530

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Thomas Erthel

Welt als Körper

Die Darstellung von Ganzheit bei Swift, Voltaire und Melville

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-7720-8662-5 (Print)

ISBN 978-3-7720-0103-1 (ePub)

Inhalt

DanksagungI Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“II Theoretische Konzepte und Fragestellungen1 Das expandierende Welt-System1.1 Expansion, die endliche Erdoberfläche und Kompression1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt1.4 Asymmetrie und Ein(s)heit2 Darstellung von Ganzheit2.1 Blickperspektiven2.2 Unsichtbarkeit und Paranoia2.3 ‚Welt‘ und Literatur2.4 Körper und GanzheitIII Lektüren1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“2 Jonathan Swifts Gulliver’s Travels2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien (A Modest Proposal)2.2 Hinführung: Ganzheit in den vier Teilen der Travels2.3 Bezüge auf die Erde2.3.1 Paratextuelle Reflexion auf Reiseliteratur2.3.2 Lokalisierung der ‚Nationen‘2.3.3 Kartografischer Maßstab und „Erzählprojektion“2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit2.4.1 „Golbasto“: Ein globaler Leviathan?2.4.2 Politische Körper jenseits des Königskörpers2.5 Erdumspannender Kolonialismus2.5.1 Die Rolle der Yahoos im kolonialen Kontext2.5.2 „This whole Globe of Earth“: Kompression und kolonialer Konsum2.6 Die Außenperspektive auf Ganzheit2.6.1 Der Globus und die Sicht der Herrscher2.6.2 Die blinde Außenperspektive der Kolonialherren2.7 Schluss: Yahoos in der englischen Heimat3 Voltaires Candide ou l’Optimisme3.1 Prolog: Eskalierende Außenperspektive (Micromégas)3.2 Hinführung: Die ‚bestmögliche Welt‘ und das Welt-System3.3 Gute Welt, schlechte Erde?3.4 Einsheit der Ganzheit3.4.1 Vergrößerung der Bezüge und erhöhtes Erzähltempo3.4.2 „Sur ce globule“: Die komprimierte Ganzheit3.4.3 Verkettet-Sein der Ganzheit3.4.4 Synchronität der Ganzheit3.5 Asymmetrie der Ganzheit3.5.1 Die Ganzheit und die Neue Welt3.5.2 „Paradis terrestre“: Optimismus und Welt-Handel3.5.3 „Étendu par terre“: Der Sklavenkörper und das Ganze3.5.4 Der koloniale Zusammenhang als Krankheit3.6 Schluss: „Petite terre“ oder „globule“?4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale4.1 Hinführung: Schiff, Wal, Welt, und Walfanggründe4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit4.2.1 „Water-Gazers“: Die Figur der Ganzheit ‚world‘ und ihre Sichtbarkeit4.2.2 Zwischen Staatsmetaphern und einer ‚Welt im Kleinen‘4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit4.3.1 „Mitten durchs Tier“: Beschreibung und Vermessung großer Tiere4.3.2 „Die Welt ist Jagd“: Walkunde, Waljagd und die Tiefe4.3.3 Vortex: Der menschliche Körper als Himmelskörper4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick4.4.1 „World-watching“: Zur ‚Öffnung‘ Japans4.4.2 „Circumnavigating“: Die Ost-Ausrichtung der Pequod4.4.3 „Ah, the world!“: Kolonialismus und Walfang4.4.4 „Level by nature“: Lokalisierung des Weißen Wals4.4.5 „Dismasted“: Der versehrte Körper und der Welt-MarktIV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“LiteraturverzeichnisRegister

Für S.

Danksagung

Wissenschaftliche Arbeit findet nicht im Vakuum eines Elfenbeinturms statt, sondern sie produziert stattdessen äußerst konkrete Probleme und Aufgaben, deren Bewältigung mir ohne die Hilfe von großzügigen Menschen, die mir ihre Gesellschaft, Zeit und Unterstützung geschenkt haben, unmöglich gewesen wäre. Mein persönlicher Dank dafür gilt Peter, Tobias, Nora, Petra, Valentin, Philipp, Brigitte Rath, Agatha, meinen Eltern Mira und Klaus, Daniel, Emidio und Sema.

Das Schreiben meiner Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde durch ein dreijähriges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ gefördert. Nicht zuletzt aus den Gliedern des Gemeinschaftskörpers dieses Kollegs – Doktoranden, Professoren, Assoziierten und Gästen – ging der hiesige Text hervor. Besonders hervorzuheben ist Prof. Dr. Robert Stockhammer, der meine Forschung von Beginn an geprägt und mich als Erstbetreuer stets hervorragend unterstützt hat; für das stets freundliche und konstruktive Input meines Zweitbetreuers Prof. Dr. Jörg Dünne bin ich ebenfalls sehr dankbar.

Der Druck meiner Dissertation wurde durch das DFG-Graduiertenkolleg „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften durch großzügigen Druckkostenzuschuss finanziert. Hierfür bin ich äußerst dankbar. Meinem Verlagslektor Tillmann Bub gilt mein Dank für seine immer zuverlässige Unterstützung im Zuge des Publikationsprozesses dieses Buchs.

I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“

Wie wird GanzheitGanzheit in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts dargestellt? Um dieser Frage nachzugehen, wird hier auf Wörter wie ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc.,1 die größere Ganzheiten evozieren, fokussiert, und die literarische Arbeit an diesen Termini analysiert. Im Anschluss an bereits vorliegende Ansätze werden diese Wörter unter dem Überbegriff ‚Figuren der Ganzheit‘2 – im Folgenden: FdG – zusammengefasst. In Antwort auf die Ausgangsfrage vertritt meine Studie die These, dass die untersuchten literarischen Texte die Bedeutung(en) von FdG aktiv bearbeiten, indem sie die Inszenierung menschlicher und tierischer Körper mit der Darstellung von Ganzheit verschränken. D.h. die literarischen Texte führen die Nennung von FdG mit der Darstellung von Körpern eng und manipulieren im Zuge dessen die Bedeutung(en) der FdG. Im Folgenden werden kanonische Texte der westlichen Literatur in den Blick genommen: Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726), Voltaires Candide ou l’Optimisme (1759) sowie Herman Melvilles Moby-Dick; Or, The Whale (1851) stellen die zentralen Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Analyse dar (vgl. Abschnitt III).3

 

Die FdG werden im Zuge dieser Engführungen mit inszenierten Körpern wahlweise als ‚komprimiert‘/‚ausgedehnt‘, ‚chaotisch‘/‚geordnet‘‚ ‚klein‘/‚groß‘ etc. beschrieben, mit anderen FdG kombiniert, oder sie werden in (bekannte und unübliche) Wortkombinationen überführt (man denke zur Illustration an die schier endlose Liste von Weltkomposita: Welt-Markt, Welt-Krieg, Welt-Karte, etc.).4 In besonders prominenten Fällen werden die FdG auch kreativ in ihrem Wortmaterial verändert, d.h. beispielsweise vom ‚globe‘ (frz.) in ein ‚globule‘ (etwa: ‚Erdkügelchen‘) gewandelt (vgl. zu diesem konkreten Beispiel III.3.4.2).

Dies geschieht in Wechselwirkung mit Körpern, die als stark vergrößert oder verkleinert dargestellt werden (und so in ein neues (Größen-)Verhältnis zum ‚großen Ganzen‘ treten können), in staatspolitische Kontexte rücken (und so auf internationales Geschehen reflektieren), auf koloniale Praktiken verweisen (und damit einen transkontinentalen Ereigniszusammenhang sichtbar werden lassen), in Bedeutungszusammenhängen der TheodizeeTheodizee erscheinen (womit sie Fragen nach dem Ganzen aus religiöser Perspektive verhandeln), oder gar metaphorisch mit FdG – allen voran ‚Welt‘ – in eins gesetzt werden. Im Laufe der hier untersuchten Texte ist ‚Welt‘ beispielsweise einmal ‚Muschel‘ (vgl. III.1) und einmal ‚Wal‘ (III.4.3.2), wird also mit tierischen Körpern in eins gesetzt. Nicht zuletzt lassen sich mehrfach (zumindest tentative oder satirische) In-Eins-Setzungen des menschlichen Körpers mit FdG nachweisen. Diese Inszenierungen des menschlichen Körpers als ‚Welt‘ stellen einen Extrempunkt dar und können in allen drei Haupttexten isoliert werden.

In der Relation zwischen FdG und Körpern wird dabei ein automatisierter Bezug auf die Totalität unterbrochen, zugunsten einer Reflexion auf GanzheitGanzheit. Ausgehend von sehr grundsätzlichen, von den Texten z.T. explizit formulierten Fragen, – etwa ‚Was ist die Welt?‘, ‚Kann man die Ganzheit sehen?‘ – wird so Platz geschaffen für die Neu-Beschreibung stark raumgreifender Prozesse (Kolonialismus, SklavenhandelSklavenhandel, militärische Konflikte, Welt-HandelWelt-Handel (Welt-Markt)), die die Eigenschaften der dargestellten Ganzheit bestimmen.

Wie sich in diesen Ausführungen bereits andeutet, werden die literarischen Texte also hinsichtlich ihrer Reaktion auf, bzw. Interaktion mit, spezifischen historischen Kontexten untersucht. Diese Kontexte werden hier in den größeren Zusammenhang der von Immanuel Wallerstein beschriebenen ‚ExpansionExpansion des Welt-SystemWelt-Systems‘ eingeordnet (vgl. II.1.1), womit im Wesentlichen die Ausdehnung des kapitalistischen Systems beschrieben werden soll. Dieses erreicht im Lauf des 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System)s erstmals den Status eines globalen, d.h. erdumfassenden Zusammenhangs (s.u.). Die Prozesse dieser Expansion also, und deren erstmaliges Global-Werden, werden als zentraler Kontext der untersuchten literarischen Texte herangezogen.

 

Die Rede von Figuren der GanzheitGanzheit impliziert, dass keine letztgültige Definition der oben genannten Wörter (‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. – bzw. in den Sprachen des gewählten Textkorpus ‚world‘, ‚monde‘, ‚earth‘, ‚terre‘ sowie ‚globe‘) gegeben werden kann und soll; sie werden somit nicht als „Begriffe“ (Stockhammer, „Welt“ 48) im Sinne eines fest definierbaren Inhalts verstanden. Stattdessen ist ihre Bedeutung im Einzelfall jeder Verwendung stets neu zu bestimmen, d.h. „ihre Polysemien und Polyvalenzen lassen sich allenfalls in je spezifischen Verwendungszusammenhängen explizieren, nicht jedoch durch definitorische Maßnahmen ein für alle Mal regeln.“ (Stockhammer, „Welt“ 69)5 Damit lassen sich spezifische Bedeutungen dieser Figuren isolieren, ohne sie auf eine dieser Bedeutungen zu reduzieren. So richte ich mich auch nach dem Verständnis von ‚FigurFigur‘, wie Gayatri C. Spivak sie beschreibt: „The meaning of the figure is undecidable, and yet we must attempt to dis-figure it, read the logic of the metaphor.“ (71) Anstatt also eine externe Definition oder Konzeption von ‚Welt‘ – oder einer anderen FdG – an die Texte heranzutragen,6 wird hier auf die Arbeit der Texte selbst an ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren eingegangen. Daraus ergibt sich ein Prozess der Deutung der FdG, der Ergebnisse zeitigt, ohne diese als allgemeingültig festzusetzen. Die jeweiligen Bedeutungsnuancen der FdG sind im Einzelfall durch close reading und die Einbettung der Texte und Textstellen in ihren etymologischen und historischen Kontext zu ermitteln.7

Denis E. Cosgrove schreibt: „Three English words commonly describe this planet: earth, world, and globe. Used interchangeably, each has distinct resonance.“ (7) Damit beschreibt er eine komplexe Konstellation, welche die genannten Vokabeln erzeugen. Sie alle bezeichnen „üblicherweise“ „diesen Planeten“ und damit ist gemeint: ‚unseren‘, den der Menschen.8 So scheint einerseits die Referenz als ‚dieser/unser Planet‘ fassbar; man könnte behelfsmäßig sagen: der „menschliche Standort, der Planet Terra“ (Sloterdijk, Weltinnenraum 15) ist gemeint. Doch obwohl die von Cosgrove genannten FdG einerseits verwendet werden, als seien sie austauschbar, tragen sie andererseits „verschiedene Resonanz“ in sich. Anders gesagt sichert die Rede vom selben ‚Planeten Terra‘ noch nicht ein geteiltes Verständnis von dieser GanzheitGanzheit in Bezug auf deren Eigenschaften. Besieht man sich zur Illustration die FdG ‚globe‘ im Kontext der jüngeren Globalisierungstheorie, so lässt sich feststellen, dass deren Etymologie sowohl auf ‚Kugel‘ als auch auf ‚Klumpen‘ zurückverfolgt werden kann (vgl. Nancy 14). Wer ‚globe‘ sagt, kann also äußerst verschiedene Vorstellungen von der Ganzheit verstanden wissen wollen und dies gilt genauso für andere FdG:

So wie ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ die gleiche Bedeutung besitzen (auf die man am einfachsten mit dem Wort ‚Venus‘ referiert), ihr Sinn, also die „Art des Gegebenseins des Bezeichneten“, sich jedoch unterscheidet, so besitzen auch ‚Erde‘ und ‚Welt‘ in vielen Kontexten die gleiche Bedeutung, während die Unterschiede ihres Sinnes durchaus beträchtlich sind. ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ entsprechen einander also nicht. (Stockhammer, „Welt“ 51)

So besteht die Gefahr einer „Verwechslung zwischen Sinn und Bedeutung, also zwischen der Funktion des Wortes, etwas zu bedeuten und dabei gleichzeitig einen Sinn zu evozieren, und derjenigen, diesen Vorgang unter Ausschaltung des Sinns auf eine Bedeutung zurückzuführen (zu vereindeutigen).“ (Stockhammer, „Welt“ 52) Missverständnisse, oder genauer (und problematischer), scheinbare ‚Verständnisse‘, sind so vorprogrammiert, da angenommen wird, lediglich mit unterschiedlichen Wörtern ‚vom Selben‘ zu sprechen. Entgegen dieser Annahme kann eine nuancierte Analyse von ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren einen differenzierten Blick auf GanzheitGanzheit ermöglichen. Dabei soll stets die von Cosgrove beschriebene Spannung zwischen der Verwendung der Figuren in ihrer (vermeintlichen) ‚Austauschbarkeit‘ einerseits und deren ‚verschiedenen Resonanzen‘ andererseits mitgedacht werden.

 

Der zu untersuchende Zeitraum (frühes 18. bis Mitte 19. Jahrhundert) wurde gewählt, da er für das Themenfeld der GanzheitGanzheit einen äußerst bewegten darstellt. Zur Illustration hierfür kann auf Globalisierungstheorien verwiesen werden, die für diesen Zeitabschnitt Prozesse ‚beschleunigter Verflechtung‘ beschreiben.9 Die Prozesse selbst sind dabei zu großem Teil kolonialer Natur. Man denke etwa, diesen Zeitraum betreffend, an die Intensivierung des britischen Sklavenhandels nach 1713 (der die Dominanz der französischen Kolonialmacht in diesem Bereich abzulösen beginnt), den Siebenjährigen Krieg (1756–1763), der aufgrund der Ausdehnung seiner – aus der Konkurrenz zwischen den Kolonialmächten England und Frankreich hervorgehenden – Konfliktherde auch als ‚Welt-Krieg‘ beschrieben wird, sowie neben dem englischen und dem französischen an den amerikanischen Imperialismus, der sich im 19. Jahrhundert zu formieren beginnt – wobei dieser auf die ‚Öffnung‘ Japans für den Welt-HandelWelt-Handel (Welt-Markt) drängt. Auf alle genannten Kontexte wird im Rahmen der Analyse der drei literarischen Haupttexte genauer eingegangen.

Diese und andere Vorgänge haben, wie es Niels Petersson und Jürgen Osterhammel in Geschichte der GlobalisierungGlobalisierung ausführen, ab der Mitte des 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System)s eine erste erdumfassende Verflechtung hervorgebracht, d.h. einen „funktionierenden Weltmarkt und ungehinderten Kapitalverkehr, Wanderungsbewegungen, multinationale Konzerne, internationale Arbeitsteilung und ein Weltwährungssystem“ (15). Diesen Befund teilen sie hinsichtlich der Einschätzung der räumlichen Ausdehnung mit Wallerstein: „It [das moderne Welt-SystemWelt-System; T.E.] has been in existence for some five hundred years and has expanded from its initial locus (parts of Europe plus parts of the Americas) to incorporate by the nineteenth century the entire globe in its orbit, becoming the only historical system on the planet.“ (Universalism 52) Im 19. Jahrhundert also beginnen diese Zusammenhänge, wie sie die gerade zitierten Komposita „Weltmarkt“, „Weltwährung“ sowie das „world-system“ beschreiben (Hervorhebungen T.E.),10 und welche Teil der europäischen ExpansionExpansion sind, die gesamte Ausdehnung der Erde einzuschließen.11 Dem atlantischen Raum kommt dabei eine Sonderrolle zu: „En effet, entre les XIVeet XIXe siècles, l’horizon spatial de l’Europe s’élargit considérablement. L’Atlantique, graduellement, devient l’épicentre d’une nouvelle concaténation des mondes, le lieu d’où émerge une nouvelle conscience planétaire.“ (Mbembe 28) Die genannten Prozesse erzeugen also ein zunehmendes Bewusstsein („conscience“) vom Ganzen als einem geschlossenen Zusammenhang: „Globalization as a concept refers to both the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole. The processes and actions to which the concept of globalization now refers to have been proceeding, with some interruptions, for many centuries“ (Robertson, Globalization 8).12 Die so über den Lauf von Jahrhunderten hervorgebrachte EinheitEinheit eines Zusammenhangs zeichnet sich weiter durch den Einschluss von AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems) aus; Eric Hayot schreibt (‚world‘ als Verb verwendend): „to world is to enclose, but also to exclude“ (40). Die GanzheitGanzheit ist damit, wie Franco Moretti es mit Bezug auf Wallerstein formuliert, „one […] and unequal“ („World-Systems“ 70). Sie schließt also, wie diese Beschreibungen deutlich machen, eine große Spannung in sich ein (vgl. hierzu genauer II.1.1.4). Wie zu zeigen ist, zieht Wallersteins Terminologie, auf die ich mich in weiten Teilen stütze, ihre Stärke vor allem aus ihrem autoreflexiven Umgang mit der FdG ‚world‘. Denn ausgehend von den Ausführungen Wallersteins zu seiner Verwendung dieser FdG lässt sich der expandierende Charakter des Welt-Systems, sowie die Tatsache, dass dieses nur eine von vielen möglichen Welten darstellt, besonders klar nachvollziehen (vgl. hierzu II.1.3).

GanzheitGanzheit wird im genannten Zeitraum in ihrem Gehalt also wesentlich neu bestimmt – ein Vorgang, der von den untersuchten literarischen Texten mitgestaltet und reflektiert wird. Insofern dieser Prozess vielschichtig, komplex und voller Spannungen ist, kann er nicht ohne erheblichen Aufwand abgebildet werden. Die zu belegende Kernthese besagt dementsprechend, dass die untersuchten literarischen Texte das vielschichtige, unübersichtliche – weil stark raumgreifende – und stellenweise unsichtbare Geschehen mittels der Verschränkung der Darstellung von Ganzheit mit der Darstellung von Körpern dennoch ins Bild zu rücken in der Lage sind.

 

Meine Forschungsarbeit für das vorliegende Buch fragte von Beginn an nach Analoga zu den Modellen von Staatskörpern (wie etwa demjenigen in Thomas Hobbes LeviathanLeviathan (Text und Titelkupfer)), die jedoch größere (d.h. interkontinentale bis hin zu globale) Einheiten oder Prozesse zur Darstellung bringen (vgl. II.2.4). Das Modell des Staatskörpers erwies sich nicht nur aufgrund des Zeitpunktes der Veröffentlichung von Hobbes Leviathan 1651 (und damit im Vorfeld des untersuchten Zeitraums) als besonders relevant (vgl. Abschnitt III.2.4), sondern der StaatskörperStaatskörper (body politic) dient vor allem aufgrund seiner Funktion als HypotyposeHypotypose – d.h., dass er einer GanzheitGanzheit eine sinnliche Anschauung gibt, die sie ohne ihn nicht hätte – den hiesigen Untersuchungen als Leitschnur,13 ausgehend von dem oben umrissenen Befund, dass sich die Ganzheit (auch und gerade im Wandel historischer Prozesse) nicht ohne Weiteres anschaulich machen lässt (vgl. II.2). So soll sowohl das Dilemma der Darstellung von Gemeinschaften – nämlich, dass „das ‚Ganze‘ der Ganzheit, sinnlich nicht wahrnehmbar“ (Koschorke et al. 58) ist –, als auch die Ergebnisse der Forschung zu diesem Thema, den hiesigen Untersuchungen Orientierung geben. Darüber hinaus beziehen sich die untersuchten literarischen Texte mitunter explizit auf die Tradition des Staatskörpers und testen (teilweise satirisch) die mögliche Übertragung dieser Tradition auf deutlich größere Zusammenhänge, wie sie von FdG evoziert werden. Der Staatskörper ist dem hiesigen Vorhaben somit ein doppelter Bezugspunkt: einerseits, insofern sich hier auf die Forschungen zum Staatskörper wiederholt bezogen wird, und andererseits, indem das Aufgreifen der Tradition des Staatskörpers durch literarische Texte untersucht wird. Die Tatsache, dass die Idee des Staatskörpers bei Hobbes koloniale Wurzeln hat, spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle (vgl. III.2.4.1).

Aus dieser Perspektive lässt sich eine Gruppe von hochgradig einflussreichen literarischen Texten beschreiben, welche Körper auf eine Art inszenieren, die auf größere Zusammenhänge und Prozesse verweist; somit kann ein literarischer Topos der Verschränkung von Körpern und FdG isoliert werden. Wie zu zeigen ist, unterstreichen die untersuchten Texte dabei vor allem die Eigenschaft der GanzheitGanzheit als expandierend und asymmetrisch.

 

Im Folgenden wird erstens aus der Perspektive jüngerer Überlegungen zur GanzheitGanzheit eine Analyse der literarischen Texte des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet (II.1); der Fokus wird dabei, neben der zentralen Analyse von Wallersteins Ansatz, auf den Ausführungen von Hannah Arendt, Hans Blumenberg, Martin Heidegger, Jean-Luc Nancy und anderen liegen. Zweitens werden, ausgehend von der Beschreibung der ExpansionExpansion des Welt-Systems in II.1, verschiedene Probleme bei der Darstellung von Ganzheit vorgestellt, um Referenzpunkte für die späteren Analysen zu schaffen (II.2). Den Untersuchungen der drei Haupttexte geht außerdem ein kurzer Exkurs voraus, der der Analyse eines sehr viel später erschienenen Textes gewidmet ist, Das Vermächtnis des Maître Mussard (2007) von Patrick Süskind, an dem sich einige Grundfragen der Analyse der anderen Texte besonders gut entfalten lassen, insofern sich dort ein besonders extremes Beispiel für die In-Eins-Setzung von Körper und Ganzheit explizieren lässt. Aus dieser Perspektive heraus werden anschließend die ausgewählten fiktionalen Texte des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht (III). Der Analyse dieser Texte folgt ein zusammenfassendes Fazit der Betrachtungen (IV).

II Theoretische Konzepte und Fragestellungen

1 Das expandierende Welt-System

1.1Expansion, die endliche Erdoberfläche und Kompression

Um 1500 beginnt ein Prozess, der verschieden benannt und konzeptualisiert wurde: so ist in Texten und Theorien die Rede vom Beginn des „Zeitalter[s] der Entdeckungen“ (Dünne 11), der ‚Europäischen ExpansionExpansion‘ oder der ‚GlobalisierungGlobalisierung‘ – vorausgesetzt man versteht unter Letzterer nicht ausschließlich Ereignisse und Prozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts.Universum (Figur der Ganzheit)1 Achille Mbembe fasst das Geschehen wie folgt zusammen: „Au cours de la période atlantique […] cette petite province de la planète qu’est l’Europe s’installe progressivement dans une position de capitanat sur le reste du monde.“ (Mbembe 33) Wallerstein schreibt, von der ‚Welt‘ unserer Gegenwart ausgehend und deren Ursprung beschreibend:

The world in which we are now living, the modern world-system, had its origins in the sixteenth century. This world-system was then located in only a part of the globe, primarily in parts of Europe and the Americas. It expanded over time to cover the whole globe. It is and has always been a world-economy. It is and has always been a capitalist world-economy. (World-Systems 23)

‚Unsere Welt‘ ist laut Wallerstein also die eines „Welt-SystemWelt-Systems“, dessen historischer Ursprung im 16. Jahrhundert anzusiedeln ist;2 bei diesem ‚Welt-System‘ handelt es sich weiter um einen ökonomischen Zusammenhang.Expansion3 Aus der ExpansionExpansion dieses Welt-Systems („it expanded“) ergibt sich zunächst eine Vergrößerung des bekannten Raums (besonders prominent im Fall der zunehmenden Kolonialisierung Amerikas).4 Doch dieser Prozess der räumlichen Vergrößerung hat einen natürlichen Endpunkt, bedingt durch die Endlichkeit der Ausdehnung der Erdoberfläche. Hannah Arendt schreibt in diesem Zusammenhang von „the enlargement of the earth’s surface, which found its final limitation only in the limitations of the globe itself, but also the still apparently limitless economic accumulation process.“ (250) Sie beschreibt damit, dass die „enlargement of the earth’s surface“ erst ihr Ende findet, sobald die gesamte Extension5 der Erdoberfläche erfasst ist.

Aus dem Prozess dieser Vergrößerung geht parallel eine Verkleinerung der GanzheitGanzheit hervor, insofern sich die Zeiten, die für das Reisen zwischen weit entfernten Punkten auf der Erdoberfläche mit dem Fortschreiten der ExpansionExpansion immer weiter verringern und sich in einem schneller werdenden Welt-Verkehr institutionalisieren; Sloterdijk spricht vom „Wesen des entdeckenden Verkehrs“ als der „Ent-Fernung der Welt“ (Sphären II 909). Die zunehmende Geschwindigkeit, mit der Distanzen überbrückt werden, wird metaphorisch als ‚Verkleinerung‘ oder ‚Kompression‘ des Erdraums gefasst. Der Prozess der Expansion kollabiert somit in sein – scheinbares – Gegenteil, wie Arendt beschreibt:

Precisely when the immensity of available space on earth was discovered, the famous shrinkage of the globe began, until eventually in our world (which, though the result of the modern age, is by no means identical with the modern age’s world) each man is as much inhabitant of the earth as he is inhabitant of his country. Men now live in an earth-wide continuous whole where even the notion of distance, still inherent in the most perfectly unbroken contiguity of parts, has yielded before the onslaught of speed. Speed has conquered space; and though this conquering process finds its limit at the unconquerable boundary of the simultaneous presence of one body at two different places, it has made distance meaningless, for no significant part of a human life–years, months, or even weeks–is any longer necessary to reach any point on the earth. (250)

Mit dieser Verkleinerung geht ein zunehmendes Bewusstsein von der GanzheitGanzheit als geschlossenem Zusammenhang einher, es kommt zu einer „compression of the world into ‘a single place’“ (Robertson, Globalization 6). Nur wenn die Folgen eines Ereignisses an einem Punkt der Erdoberfläche schnell an anderen Punkten auf der gleichen Oberfläche bemerkbar sind, werden diese Punkte deutlich als Teil des gleichen Zusammenhangs wahrgenommen. Es entsteht also das Bewusstsein, „daß jeder Ort auf einer umrundbaren Kugel auch aus der größten Ferne durch Transaktionen von Gegenspielern in Mitleidenschaft gezogen werden kann.“ (Sloterdijk, Sphären II 824)

ExpansionExpansion und Kompression stellen somit zwei Aspekte (bzw. bis zu einem gewissen Grad konsekutive Abschnitte) des gleichen Prozesses dar;6 begründet liegt dies letztlich in der Begrenztheit der Oberfläche der Erde. Sobald dieser Raum in seiner Gänze erfasst ist, liegt die Grenze der Kompression durch die Geschwindigkeit letztlich nur noch in der von Arendt genannten physikalischen Unmöglichkeit für einen Körper, an zwei Stellen zugleich sein zu können; ausgerechnet der Körper ist hier also als letztes Hindernis anzusehen.

Doch spricht Arendt im weiter oben zitierten Ausschnitt auch vom „economic accumulation process“, der, anders als die Oberfläche der Erde, „still apparently limitless“ zu sein scheint. Die ExpansionExpansion, die schließlich erdumfassend wird, und in ihrem Verlauf ein Komprimieren der Erde bewirkt, ist an den endlosen Prozess der Akkumulation von Kapital geknüpft, ein Umstand, den Wallersteins Konzept des kapitalistischen Welt-SystemWelt-Systems mitbedenkt. Doch bevor dieses Konzept genauer beschrieben und analysiert wird, ist im nächsten Abschnitt allgemeiner auf FdG einzugehen, wobei der Fokus auf der FdG ‚Welt‘ liegen wird, mit der Wallerstein seine einflussreiche Wortschöpfung des ‚Welt-Systems‘ bildet. Festzuhalten bleibt hier, dass der Prozess der Expansion als dynamisch und vielschichtig zu verstehen ist, insofern er die Kompression als Konsequenz der Endlichkeit der Erdoberfläche mit einschließt, und an den unbegrenzten Prozess der Akkumulation von Kapital knüpft.

1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen

In der großen Menge an kritischen Texten, welche sich der FdG ‚Welt‘ explizit widmen, insofern sie deren Gehalt zu fassen versuchen – ganz gleich ob sie diese dabei als Lemma, BegriffBegriff (im Verhältnis zu Figur), Metapher oder FigurFigur verstanden wissen wollen –, lassen sich zwei grundsätzliche Positionen unterscheiden. So behauptet die eine Seite, dass ‚Welt‘ sich nicht abschließend definieren lässt, und die andere, dass ‚Welt‘ in ihrem Gehalt sehr wohl eindeutig bestimmt werden kann. Es stehen sich also Behauptungen, man könne ‚Welt‘ nie abschließend definieren einerseits, und – mehr oder weniger konkrete – Definitionen von Welt andererseits, gegenüber.

Keine der beiden Positionen ist mehr im Recht als die andere. Weder ist es grundsätzlich falsch oder unmöglich ‚Welt‘ zu definieren, noch ist es abwegig, eine solche Definition nicht geben zu wollen. Doch lässt sich die Entscheidung, ob man eine Definition von ‚Welt‘ geben möchte oder nicht, auf Strukturen der FdG ‚Welt‘ zurückführen, die zur Bildung der verschiedenen Positionen in dieser Sache beitragen.

Zunächst sollen hier einige mögliche Definitionen von ‚Welt‘ wiedergegeben werden. Rémi Brague etwa schreibt, ‚monde‘ sei ein „mot susceptible de désigner l’ensemble de la réalité d’une façon unifiée“ (24), anstelle additiver Reihungen wie „ciel, terre, mer, monde souterrain, etc.“ (33). ‚Welt‘ fungiere so als „synthèse des deux premières catégories de la quantité, la pluralité et l’unité.“ (25) Auch lässt sich Jean-Luc Nancys denkbar kurze Definition von ‚monde‘ als „totalité de sens“ (34) nennen, oder Heideggers voraussetzungsreiche Definition von ‚Welt‘ als das „Seiende im Ganzen“ (89; zur genaueren Analyse von Heideggers Ansatz vgl. II.2.1).

Betrachtet man in diesem Kontext Hans Blumenbergs Ausführungen zu ‚Welt‘ in der Theorie der Unbegrifflichkeit,1 so stößt man auf die Anekdote, dass er nach einem Vortrag die Frage, wie er ‚Welt‘ definiere, nicht habe beantworten wollen: „In meiner Verzweiflung entschloß ich mich zu einer Parodie: ‚Die Welt ist der geometrische Ort aller Punkte‘“ (38). Als Grund für diese Weigerung gibt er explizit den Wunsch an, eine Diskussion von Wittgensteins Welt-Verständnis zu umgehen.2 Dieser Wunsch impliziert die Annahme, dass eine philosophische Diskussion nicht den Königsweg zu einem besseren Verständnis von ‚Welt‘ darstellt. Stattdessen hält er diese ernüchternde Erkenntnis fest: „‚Welt‘ ist ein Ausdruck, bei dem der Versuch, Wortersetzungsregeln zu finden, konstitutiv zum Scheitern verurteilt ist.“ (ebd.) Man kann sich ‚Welt‘ anscheinend nicht ohne weiteres annähern: Regeln zur Synonymbildung – fester Bestandteil jeder Definition – können laut Blumenberg nicht gelingen. Dennoch, so weiter die Pointe Blumenbergs, entkommt man dem Wort ‚Welt‘ nicht. Zur Illustration führt Blumenberg nahezu völlig sinnentleerte Verwendungen von ‚Welt‘ ins Feld, wie etwa in hohlen Aussagen „wie ‚Die Welt ist schlecht‘ oder ‚Die Welt steht vor dem Untergang‘“ (ebd.).3 Anhand dieser Beispiele macht er deutlich, dass ‚Welt‘ in ihrem Gehalt nahezu unmöglich einzugrenzen ist, und dennoch – oder sagt man treffender: deswegen? – sehr häufig gebraucht wird. Hayot beschreibt die von Blumenberg damit adressierte Problematik mit der Aussage, dass „non-tautological, precise statements about the world are harder to make than one might think.“ (39) Obwohl man gewissermaßen ständig nicht umhin kommt, ‚Welt‘ zu sagen, ist es unmöglich, den genauen Gehalt dieses Wortes zu definieren. Entsprechend will Blumenberg – im Scherz – ein Wort-Verbot nicht gänzlich ablehnen: „Selbst wenn ich zur Zustimmung geneigt wäre, man solle Sätze über ‚die Welt‘ fortan lieber überhaupt nicht mehr bilden oder gebrauchen, wäre ich doch sehr unsicher, ob diesem Verbot jemals Erfolg beschieden sein könnte.“ (38) Dabei ist jedoch explizit auf Blumenbergs Verständnis von ‚BegriffBegriff (im Verhältnis zu Figur)‘ einzugehen, als welchen er ‚Welt‘ verstanden wissen will. Blumenbergs ‚Begriff‘ ist – vielleicht kontraintuitiv, aber einleuchtend – durch seine Undefinierbarkeit bestimmt, denn er führt aus: „Der Begriff hat etwas zu tun mit der Abwesenheit seines Gegenstandes. Das kann auch heißen: mit dem Fehlen der abgeschlossenen Vorstellung des Gegenstandes.“ (9) Weiter schreibt er: „Es könnte sein, daß die Leistung des Begriffs nur partiell gegenüber der Intention der Vernunft ist, die immer etwas mit Totalität zu tun zu haben scheint.“ (9) Im Blumenberg’schen ‚Begriff‘ ist damit eine Spannung eingeschrieben, die unauflösbar ist: die Vernunft will zur Totalität; ein Wunsch, den der so verstandene Begriff „nur partiell“ bedient, denn in ihm ist immer auch die „Abwesenheit seines Gegenstandes“ eingeschrieben. Damit ist der ‚Begriff‘ „zur Enttäuschung der auf ihn gesetzten philosophischen Erwartung nicht die Erfüllung der Intentionen der Vernunft, sondern nur deren Durchgang, deren Richtungsnahme.“ (10) In diesem Verständnis von ‚Welt‘ ist diese stets entzogen, insofern sie als ‚Begriff‘ nur eine Richtung ‚auf sie hin‘ vorgibt.

Als weitere Argumente für die Unmöglichkeit, Welt zu definieren, lassen sich ‚konzeptuelle Ambivalenzen‘ anführen, welche die FdG ‚Welt‘ birgt. Eric Hayot weist, ausgehend vom Eintrag zu world im OED, auf folgenden Zusammenhang hin:

Its [der Welt; T.E.] definitions in the Oxford English Dictionary run to some forty pages, and its complexity and slipperiness appear from the very first one: “human existence; a period of this,” words whose reference mostly to time will surprise anyone accustomed to thinking of “world” as having largely spatial implications. The second major definition makes things both better and worse: “the earth or a region of it; the universe or a part of it.” Here we are on familiar spatial ground. But what to make of that double “or”? Like the semicolon in the first definition, it forces “world” to pivot between an ontological reference to any self-enclosing whole (what are, after all, periods, regions, or parts of wholes but wholes themselves?) and a material reference to the largest possible versions of such wholes (history; the planet Earth; the universe). By highlighting the tension between world as a generic totality and world as the most total totality of all–the totality of the “part” and the totality of the “whole” – this ambivalence recapitulates the difficulties generated by the “world” of world-systems and the “world” of world literature. […] “[W]orld” thus bears within itself the conceptual difficulty that makes its use in contemporary literary criticism so fecund, and so incoherent. (38f.)

Was Hayot hier als „conceptual difficulty“ beschreibt, umfasst folgende Struktur: ‚Welt‘ kann sowohl die „totality of the ‘part’“ (eine Region, eine Zeitspanne etc.) als auch „the totality of the ‘whole’“ bezeichnen, wobei Letzteres von ihm auch beschrieben wird als „the most total totality of all“. Letztgenannte Formulierung buchstabiert das Potenzial von ‚Welt‘, schlicht alles zu bezeichnen, mit spielerisch-ironischem Gestus aus. Robert Stockhammer äußert zu diesem Sachverhalt (wiederum unter Bezug auf ein Wörterbuch, diesmal das von Jacob und Wilhelm Grimm begründete Deutsche Wörterbuch) das Folgende:

Kleine Welten, wie diejenigen einer Mäusegemeinde oder eines Maulwurfsbaus, wären dann nur anders skaliert als der ‚kreis der erdbewohner‘ […] oder – davon bemerkenswerterweise „nicht scharf abzugrenzen“ – der ‚erdkreis‘ […]. Und ‚Welt‘ im Sinne von ‚Weltall‘ […] wäre, als größtmögliche Skalierung, zugleich eine Hyperbel, die auf das größte denkbare All zielt. Auch dieses ist noch „ein all im kleinen“, insofern es als ein irgendwie „abgeschlossenes ganzes“ gedacht wird […]. (Stockhammer, „Welt“ 50)

Die Größe dessen, was ‚Welt‘ bezeichnet, kann demnach stark variieren, es handelt sich um eine flexible Extension. Auch Roland Robertson scheint sich dieser Flexibilität bewusst zu sein, insofern er in seiner Verwendung von ‚world‘ gehäuft ein „as a whole“ anhängt (8, 10, 13, 14, 15, 24, 25, 26, 28, 31 etc.) – um deutlich zu machen, dass es ihm in diesem Sinne um ‚world‘ geht, und nicht nur um einen Ausschnitt der Erde. ‚Welt‘ ist, kurz gesagt, ‚skalierbar‘.Maßstab (Kartografie)4

 

C. S. Lewis5 widmet ein ganzes Kapitel seines 1960 erschienenen Studies in Words dem Wort ‚world‘. Dabei weist er darauf hin, dass sich world in zwei Hauptbedeutungen unterteilen lässt: „In the earliest recorded period of our language this noun has two senses which we may call World A and World B.“ (214) Er führt aus: „[T]o cover all the shades of the A-sense we had better say that World A means something like age or durée.“ (214)6 Die zweite Bedeutung dagegen entspricht der, die ein heutiger Sprecher auch im Sinn haben wird:

The B-sense is that which the word most naturally suggests to a modern speaker. The poet who did the Metres of Boethius into Anglo-Saxon writes ‘in those days there were no great houses in the weorulde’. Here we could translate it ‘earth’. But whenever the distinction between the earth and the universe is present in the mind, World B can mean either, and the context usually shows which. (215)

Hier ist vor allem die weitere Differenzierung von ‚Welt‘ in die Bedeutungen ‚universe‘ und ‚earth‘ entscheidend. Weiter definiert Lewis: „World B may loosely be defined as the region that contains all regions; if all absolutely, then it means universe; if ‘all that usually concern us humans’, then it means earth.“ (215) Dem ist hinzuzufügen, dass ‚world‘ mit dem Lauf der Zeit zunehmend weniger die Bedeutung von ‚universe‘ zu tragen scheint: „On the other hand, world is decreasingly used to mean the absolute region of regions; universe tends to replace it. Partly, no doubt, this has happened because the ambiguity of world can cause inconvenience.“ (249)7 Der sukzessiven Ersetzung von ‚world‘ durch ‚universe‘ hat Alexandre Koyré ein ganzes Buch gewidmet, dessen Titel sein Ergebnis konzis zusammenfasst: From the Closed World to the Infinite Universe.8

 

„[T]he equation of the world with the spatial extensiveness of the globe“ (Chea 48) also erscheint vor dem Hintergrund der von Lewis so genannten „ambiguity of world“ als Sonderfall, d.h. als nur eine Bedeutung von vielen möglichen. Dabei ist jedoch Folgendes zu betonen:

Während freilich Metaphern wie ‚Welt der Maulwürfe‘ oder ‚Welt der Mäuse‘ üblicherweise im eng benachbarten syntaktischen Kontext präzisiert werden müssen (sei es durch ganze Erzählungen, sei es durch abgekürzte Genitivattribute), scheint die Verwendung von ‚Welt‘ in der Bedeutung von Erde keiner ausdrücklichen Bestimmung zu bedürfen. (Stockhammer, „Welt“ 50)

So ist also festzuhalten, dass die unbestimmte Rede von ‚Welt‘ in der Regel als „in der Bedeutung von Erde“ zu verstehen ist. Ein zu starker Fokus auf diesen Sonderfall kann nichtsdestotrotz den Blick für andere Bedeutungsvarianten von ‚Welt‘ trüben.

Wenn ‚Welt‘ also sowohl die GanzheitGanzheit eines Teils als auch die Ganzheit des Ganzen bezeichnen kann, so ist im Einzelfall die Bedeutung jeweils neu zu ermitteln; es ist jeweils neu zu bestimmen, welches ‚Ganze‘ bezeichnet werden soll, d.h. wie total die evozierte Totalität ist. So muss ‚Welt‘ stets in ihrem Potenzial, verschiedene Ganzheiten zu fassen, begriffen werden.

 

Diese Konstellation führt, wie Hayot anhand mehrerer Beispiele demonstriert, zu zahllosen Missverständnissen, und er schlussfolgert „that no one has a very good theory of the world“ (Hayot 40).

Faced with this problem, a task: to come up with a better theory of the world, and of the relationship between the world and literature. Not to produce a mediating relay between world literature and world-systems, but to see if a third analysis, focusing on the ontology of composed works, can bring “world” differently into the scene. And to see, then, if such a theory makes any difference to our understanding of world literature or the history of worldedness as an aesthetic and cultural phenomenon–as a symptom and as a compass for the history, in other words, of totality as a function of the human imagination. (Hayot 40f.)

Hayot schlägt als Alternative vor, world auf eine Art und Weise zu definieren, die die besagten Ambivalenzen explizit ausbuchstabiert – und world außerdem von einem Nomen in ein Verb wandelt: „To world is to enclose, but also to exclude“ (39). Hayot schreibt weiter: „What falls in the ambit of those enclosures and exclusions will determine the political meaning of any given act of world-making, as it does so in our debates on world literature.“ (40) Damit liefert er eine Formulierung, die den ambivalenten Charakter von ‚Welt‘ expliziert. Der Vorteil dieser Definition Hayots besteht darin, dass sie keineswegs unbeweglich ist, sondern eine flexible ‚sowohl-als-auch‘-Struktur vorgibt, die auf eine in ‚Welt‘ eingeschlossene Ungleichheit verweist.

 

Abschließend lässt sich hier Folgendes zusammenfassen: Der Umfang, den FdG bezeichnen und evozieren, kann im Einzelfall deutlich variieren. Starke Definitionsakte versuchen diesen Unsicherheiten zu begegnen, sie können sie jedoch nicht ausräumen. Ein möglicher Weg, dieser schwierigen Ausgangslage gerecht zu werden, besteht in dem bereits weiter oben (Abschnitt I) beschriebenen Verständnis von ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren, welches ein stets neues Bestimmen der Bedeutung von FdG erlaubt.

1.3‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt

Laut Immanuel Wallerstein ist es die Grundeigenschaft des KapitalismusKapitalismus (Welt-System), Kapital anzuhäufen um – ad infinitum – weiteres Kapital anzuhäufen:1 „Using such a definition, only the modern world-system has been a capitalist system.“ (World-Systems 24) Die kapitalistische Natur des Welt-SystemWelt-Systems wiederum hat dessen ExpansionExpansion stetig vorangetrieben. Aus der Perspektive der hiesigen Studie drängt sich mit Blick auf Wallersteins Terminologie die Frage auf, warum Wallerstein das von ihm beschriebene kapitalistische System konsequent an die FdG ‚world‘ bindet. Wallerstein selbst beschreibt, dass es ihm in seiner Verwendung von ‚world-system‘ nicht um die Welt zu tun ist, sondern um eine Welt, und geht damit explizit auf eine wesentliche Differenzierung ein:

Note the hyphen in world-system and its two subcategories, world-economies and world-empires. Putting in the hyphen was intended to underline that we are talking not about systems, economies, empires of the (whole) world, but about systems, economies, empires that are a world (but quite possibly, and indeed usually, not encompassing the entire globe). This is a key initial concept to grasp. It says that in “world-systems” we are dealing with a spatial/temporal zone which cuts across many political and cultural units, one that represents an integrated zone of activity and institutions which obey certain systemic rules. (World-Systems 16f.)

Zunächst ist zu erwähnen, dass es laut Wallerstein mehrere Welt-SystemWelt-Systeme gab, welche dem aktuellen (kapitalistischen) Welt-System vorausgingen; daraus erklärt sich auch der Plural im Namen der Disziplin: world-systems-analysis. Im zitierten Passus verdeutlicht Wallerstein durch eine eingeschobene Klammer, dass ‚Welt‘ mit bestimmtem Artikel diese in ihrer Gänze bezeichnet („the (whole) world“). Doch diese Bedeutung soll die Wortbildung ‚world-system‘ dezidiert nicht aufrufen.2 Denn eine Welt ist in ihrer Ausdehnung, laut Wallerstein, in der Regel nicht global, das heißt eine Welt umspannt „gewöhnlich nicht“ den ganzen Globus. Potenziell jedoch kann eine Welt den ganzen Globus umfassen. Dieser Fall trifft jedoch nur auf das kapitalistische Welt-System zu, welches sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts etabliert, denn nur dieses umspannt, am Ende eines langen historischen Prozesses, den ganzen Globus („globe“). Vorgängige „Welt-Ökonomien“ und „Welt-Imperien“ waren nicht (und das heißt: zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz) globus-umspannend.

Auch in Historical Capitalism (vor allem 97–101) beschreibt Wallerstein, dass der ‚Welt‘ des aktuellen Welt-SystemWelt-Systems andere Welt-Systeme oder Welten („the worlds before historical capitalism“, 100) vorausgingen. „The […] use of the plural is necessary because, strictly speaking, the term ‘world’ does not necessarily, in world-systems theory, apply to the entire world.“ (Robertson, Globalization 14) ‚Welthaftigkeit‘ ist also dezidiert keine dem aktuellen Welt-System vorbehaltene Eigenschaft. Das kapitalistische Welt-System ist jedoch insofern einzigartig, als es im Zuge seiner ExpansionExpansion schließlich doch erdumspannend installiert wird.

In der Zeitspanne von ca. 1600 bis „sometime in the 19th century“ (Wallerstein, Universalism 48) stellt das kapitalistische Welt-SystemWelt-System damit eine Welt dar. Ab einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt im 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System) – womit ein Übergang ohne klares Schwellenereignis postuliert wird3 – wird das kapitalistische Welt-System global. Wallersteins eigene Ausführungen zu „world“ anwendend, lässt sich sagen, dass sich das kapitalistische Welt-System von einer Welt hin zu einem Welt-System, dass die Welt umspannt, ausbreitet – womit sich die Bedeutung von ‚Welt‘ im Welt-System wandelt. Die eine ‚Welt‘ des kapitalistischen ‚Welt-Systems‘ bezeichnet nach ihrer Globalwerdung die Welt, d.h. sie umfasst die ganze Extension der Erde.

Worauf Wallerstein damit hinweist, ist die Tatsache, dass es ein signifikanter Unterschied ist, ob man von ‚GanzheitGanzheit‘ mit oder ohne bestimmtem Artikel spricht. Roland Robertson erwähnt die Unterscheidung zwischen einer Welt einerseits und der Welt andererseits in seinem Werk Globalization (1992) eher beiläufig, als eingeklammerten Einschub: „a world that is increasingly compressed (and indeed often identified as the world)“ (98; Hervorhebung T.E.), was den Status dieser oft übersehenen, bzw. wenn überhaupt dann nur en passant getroffenen, Unterscheidung deutlich illustriert. Worauf Robertson im Kotext des Zitats anspielt, ist die Tatsache, dass die meisten Globalisierungstheorien (in deren Kontext Robertson sich hier bewegt und verortet) von einem Eins-Werden des globalen Zusammenhangs ausgehen; die komprimierte ‚Welt‘ kennt kein Außen mehr, weshalb sie als die Welt bezeichnet werden kann. Da es (so die Annahme, die dem logisch zugrunde liegt) keine anderen Neben- oder Teil-Welten mehr gibt, ist die Unterscheidung zwischen einer Welt und der Welt anscheinend hinfällig. Bemerkenswert ist jedoch, dass Robertson keinen Bedarf sieht, sich hier zu erklären, gerade angesichts seines im Allgemeinen äußerst explikativen Stils.

 

Von der GanzheitGanzheit im engeren Sinn – von „all absolutely“ (Lewis 215, s.o.) also, der allumfassenden Extension, die man heute zumeist als ‚UniversumUniversum (Figur der Ganzheit)‘ bezeichnet –4 ist ganz allgemein eher im Ausnahmefall die Rede. Denn die Ganzheit in diesem Sinn ist der Gegenstand exklusiver philosophischer, physikalischer und kosmologischer Überlegungen (vgl. bspw. Koyré 5–10). Außerhalb dieser Domänen jedoch ist mit der Rede von der Ganzheit die – im jeweiligen Kontext – bestimmende Größe (zumeist: ohne Außen) gemeint. C. S. Lewis schreibt zu diesem Sachverhalt: „[I]f all absolutely, then it [world; T.E.] means universe; if ‘all that usually concern us humans’, then it means earth.“ (215) Ob diese konkrete Beschreibung nun in jedem Fall zutrifft oder nicht – sie beruht jedenfalls auf der bereits beschriebenen Unterscheidung zwischen der umfassendsten „Skalierung“ (Stockhammer, „Welt“ 50) von ‚Welt‘ einerseits und der Ganzheit des Teils andererseits.5

Wallerstein vollzieht die oben untersuchte Unterscheidung zwischen Welt mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel, um deutlich zu machen, dass das Welt-SystemWelt-System des KapitalismusKapitalismus (Welt-System)nicht natürlich entstanden ist, und seine Werte nicht von universaler Gültigkeit sind. Stattdessen stellt es nur eine Welt/ein Welt-System dar, welches sich in einem historischen Prozess über die ganze Erde ausgebreitet hat. Es ist somit als Ergebnis eines spezifischen Vorgangs global geworden.

The pan-European world, dominating the world-system economically and politically, defined itself as the heart, the culmination, of a civilizational process which it traced back to Europe’s presumed roots in Antiquity. Given the state of its civilization and its technology in the nineteenth century, the pan-European world claimed the duty to impose itself, culturally as well as politically, on everyone else–Kipling’s “White man’s burden,” the “manifest destiny” of the United States, France’s mission civilisatrice. (Wallerstein, World-Systems 66)

Insofern dem einen Welt-SystemWelt-System des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) andere Welt-Systeme vorausgingen, ist die kapitalistische Ordnung nicht als die ‚beste aller möglichen Welten‘ anzusehen. D.h., das aktuelle Welt-System ist kein Fortschritt gegenüber vorgängigen Welt-Systemen (vgl. Wallerstein, Capitalism 97–110). Es erweckt lediglich diesen Anschein, indem es die Idee des Fortschritts zu einem seiner Leitmotive erklärt (vgl. Wallerstein, Universalism 33 und Mbembe 25). Doch dies gilt nicht nur für das aktuelle Welt-System, denn Wallerstein hält fest: „There never was a golden era.“ (Capitalism 136) Welten lösen einander ab, und die Frage ihrer Bewertung ist hochkomplex. Zwar tritt Wallerstein den Versuch an, die Frage zu beantworten, ob es der Mehrzahl der Menschen im Feudalismus nicht vielleicht ‚besser ging‘, als im anschließenden Kapitalismus (vgl. ebd.), doch er ist – trotz seiner generell äußerst skeptischen Haltung gegenüber dem von ihm beschriebenen kapitalistischen Welt-System – in seinen Schlussfolgerungen hier vorsichtig. Er beschränkt sich auf die Aussage, dass es immerhin nicht ausgeschlossen sei, dass der Kapitalismus für die Mehrheit der Menschen keine deutliche Verbesserung mit sich brachte: „It is, let me say, at the very least by no means self-evident that there is more liberty, equality, and fraternity in the world today than there was one thousand years ago“ (Capitalism 100).

 

Doch stellt sich, vor dem Hintergrund des bisher Gesagten, immer noch die Frage nach dem Grund für die Wahl der FdG ‚world‘ durch Wallerstein. Wieso spricht er vom Welt-SystemWelt-System, wenn das doch die Möglichkeit birgt, die eine Welt des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) als die Welt misszuverstehen, und so eine ‚Naturalisierung‘ des Kapitalismus zu befördern? Bzw. ließe sich genauer fragen, wieso Wallerstein nicht von Systemen spricht – und die FdG ‚Welt‘ nicht einfach ganz fallen lässt?

Einige plausible Antworten sind möglich: Erstens lässt sich festhalten, dass Wallerstein vom KapitalismusKapitalismus (Welt-System) als selbstbezügliches System spricht (Kapital wird angehäuft, um weiteres Kapital anzuhäufen). Selbstbezüglichkeit ist eine in mehreren Texten genannte Bedeutungsnuance von ‚Welt‘.6 Mit dem Hinzufügen von ‚Welt‘ betont Wallerstein also diesen speziellen Charakterzug des kapitalistischen Systems.

Zweitens ist die Tatsache der geografischen Ausbreitung des Welt-SystemWelt-Systems, die Wallerstein wiederholt betont, von großer Wichtigkeit:

There is indeed a modern world-system, and it is truly different from all previous ones. It is a capitalist world-economy, which came into existence in the long sixteenth century in Europe and the Americas. And once it was able to consolidate itself, it followed its inner logic and structural needs to expand geographically. It developed the military and technological competence to do this, and was therefore able to incorporate one part of the world after another, until it came to include the entire globe sometime in the nineteenth century. (Universalism 47f.)

Die geografische Ausbreitung des world-system wird von Wallerstein an mehreren Stellen erwähnt, und seine Terminologie bleibt dabei stets konsistent: Das world-system breitet sich über den „globe“ aus. Die FdG ‚world‘ unterhält also in Wallersteins Verwendung eine integrale Beziehung zur FdG ‚globe‘. Entsprechend der Logik einer immer umfassenderen ExpansionExpansion wird das System ab einem bestimmten Zeitpunkt global. Wallerstein aktualisiert so die Bedeutung von ‚Welt‘ als ‚flexible Ausdehnung‘. Der Begriff ‚Welt‘ erlaubt Wallerstein ein sich ausbreitendes System zu beschreiben, das relativ klein beginnt, und schließlich global wird. Die FdG ‚Welt‘ ist ideal geeignet, dieses Anwachsen zu beschreiben, und kann, ohne die geringste Irritation, sowohl den Beginn als auch das ‚globale Endstadium‘ der Ausbreitung des Systems bezeichnen. Hayot fasst alle bisher genannten Aspekte wie folgt zusammen:

World-systems are worlds, in the sense that they constitute a self-organizing, self-enclosed, and self-referential totality; but they are not to be confused with the actual world, which–though it is also, of course, a world–is the only world whose geographic scope coincides exactly with that of the Earth. (32)

Der Gefahr einer Naturalisierung eines historischen Systems durch die Wahl der FdG ‚world‘ tritt Wallerstein explizit entgegen; sie ist im Wort ‚Welt‘ ursächlich bereits angelegt, was seinen expliziten Kommentar nötig werden lässt. Anders gesagt lässt sich die Rede von ‚Welt‘ selbst in den skeptischen und vorsichtigen Ausführungen Wallersteins nicht ganz von ihrem totalisierenden Charakter befreien, der daher ausdrücklich abgewiesen werden muss.

 

Es handelt sich demnach bei Wallersteins Art der Beschreibung der Geschichte seit dem 16. Jahrhundert um die Darstellung einer schrittweisen Expansion, geprägt von der spezifischen Perspektive der Kapitalismusanalyse (vgl. hierzu Robertson, Globalization 15). Diese Analyse ist in ihrer Verwendung von FdG bemerkenswert präzise, insofern sie ihre Verwendung von world explizit und nuanciert diskutiert. Besagte Nuancierung wirkt einer Gleichsetzung von einer Welt mit der Welt entgegen, die einer Naturalisierung des aktuellen Welt-SystemWelt-Systems gleichkäme, und betont damit, dass ‚unsere Welt‘ ihrer Extension nach nicht immer global war – und deswegen nicht als alternativloses System angesehen werden muss.

Jede Rede von ‚Welt‘ muss also, wenn sie den Überlegungen von Wallerstein gerecht werden will, stets zwischen bestimmtem und unbestimmtem Artikel unterscheiden, bzw. lässt sich der Imperativ ableiten, die Analyse von FdG nie losgelöst vom jeweiligen historischen Kontext vorzunehmen.

1.4Asymmetrie und Ein(s)heit

Franco Moretti ist ausgewiesener Rezipient der Arbeiten Wallersteins und versucht deren Beiträge zu den Literaturwissenschaften wiederholt auszuloten (vgl. „World-Systems“ 67–71). Entsprechend konzis ist seine Zusammenfassung der grundsätzlichsten Eigenschaften der aus der ExpansionExpansion des Welt-SystemWelt-Systems hervorgehenden ‚Welt‘:

The world becomes one, and unequal: one, because capitalism constrains production everywhere on the planet; and unequal, because its network of exchange requires, and reinforces, a marked power unevenness between the three areas [Zentrum, Peripherie, Semiperipherie; T.E.]. („World-Systems“ 70)1

Das Welt-SystemWelt-System bringt also einen Zusammenhang hervor,Einsheit (Unicity)2 „because capitalism constrains production everywhere on the planet“, und spannt ein globales ‚NetzNetz‘.3 Diese bewusst gewählte Metapher darf jedoch nicht missverstanden werden, wie Osterhammel und Petersson in Bezug auf ihre Konzeption von ‚GlobalisierungGlobalisierung‘ ausführen:

Das Bild des Netzes darf nicht den banalen Eindruck erwecken, als hänge alles mit allem zusammen. Interaktionen sind gerichtet. Manche von ihnen verlaufen tatsächlich reziprok und interaktiv, Tauschakte zum Beispiel, andere nicht. Der transatlantische SklavenhandelSklavenhandel der Frühen Neuzeit kannte nur eine Richtung: fast keiner der verschleppten Afrikaner kehrte je in seine Heimat zurück. (Osterhammel u. Petersson 22)

Wallerstein spricht von „deep inequalities of the world-system“ (World-Systems xi).4 Dementsprechend ist die ‚Einheitlichkeit‘ des Zusammenhangs nicht falsch zu verstehen als ‚harmonischer Zusammenhalt‘. Genau dies tut jedoch ein spezifisches (man kann auch sagen: naives) Verständnis von ‚GlobalisierungGlobalisierung‘, wie ein weiterer Leser Wallersteins, Roland Robertson, ausführt:

In the mid-1980s some people got the impression that the move in the direction of what I now tend to call global unicity entails some kind of utopian view of global unity. Whereas the first term is, in my usage, neutral with respect to the risks, costs, benefits and dangers of rapidly increasing interdependence, interpenetration, global consciousness and so on, ‘unity’ and closely related terms imply – even when placed in quotation marks – social integration in quite a strong sense. […]. Indeed this misleading view of globalization as constituting a definite move to ‘world peace’ and integration is still to be found (and, of course, actively promoted by certain sociocultural movements). […]. Globalization is, at least empirically, not in and of itself a ‘nice thing,’ in spite of certain indications of ‘world progress.’ (6; Hervorhebungen T.E.)

Um dieses Missverständnis auszuschließen, wird hier im Folgenden von ‚EinsheitEinsheit (Unicity)‘ anstelle von ‚EinheitEinheit‘ gesprochen, womit ich Robertsons Unterscheidung zwischen „unicity“ und „unity“ übertrage und umsetze. Gemeint sein soll damit der Charakter des Welt-SystemWelt-Systems als „a single, continuous geography all over the planet“ (Moretti, „World-Systems“ 71), und eben nicht jene „‘unity’“, die Robertson mit Recht empirisch als nicht gegeben ansieht. Denn dass die Kompression der GanzheitGanzheit zunehmend einen geschlossenen Zusammenhang hervorbringt, bedeutet noch lange nicht dessen Homogenität oder Harmonie. Im Gegenteil zeichnet sich das Welt-System durch ein Gefälle aus, eine AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems):5 „The world of capitalist civilization is a polarized and a polarizing world.“ (Wallerstein, Capitalism 137)

Es ist also die bereits oben von Arendt erwähnte Installation von „production everywhere“ (s.o.), die die EinsheitEinsheit (Unicity) und AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems) hervorbringt. Pheng Cheah spricht von

a fundamental contradiction of the modern capitalist world-system. As Marx pointed out, the globalization of capital creates the material conditions for a community of the greatest possible extension. However, the capitalist world-system also radically undermines the achievement of a human community of global reach, that is, a genuine unity of the world. For Marx, the world is a normative category that exceeds the global market. (2)

Das kapitalistische Welt-SystemWelt-System generierte also seine Ausbreitung bis zur „greatest possible extension“ (von Arendt beschrieben als: „the limitations of the globe itself“, 250, s.o.), verhindert eine „genuine unity of the world“ jedoch aufgrund seiner inhärenten Struktur. Cheah schlägt mit Bezug auf Marx die Unterscheidung zwischen der FdG ‚world‘ und dem „global market“ vor, um den ‚normativen‘ Gehalt der FdG ‚world‘ von der Tatsache des globalen Marktes zu trennen. Wiederum scheint hier die – von Wallerstein genannte und oben analysierte – Problematik der FdG ‚world‘ auf.

 

Die zwei Eigenschaften des Welt-SystemWelt-Systems – einen geschlossenen Zusammenhang darzustellen, der eine AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems) einschließt – sind also als zwei Seiten des gleichen expansiven Prozesses anzusehen.6 Der beschriebene Prozess der ExpansionExpansion verschränkt demnach zwei Konstellationen miteinander: Aus der Expansion geht eine Kompression hervor (s.o.), die EinsheitEinsheit (Unicity) des Welt-Systems schließt eine Asymmetrie ein. Die Expansion hat räumlich eine natürliche Begrenzung in der endlichen Ausdehnung der Oberfläche der Erde; mit der Akkumulation von Kapital ist dagegen ein potenziell unendlicher Prozess in Gang gesetzt, der mit der räumlichen Expansion nicht zum Erliegen kommt.

2 Darstellung von Ganzheit

Von der in II.1.1 beschriebenen Dynamik (zwischen ExpansionExpansion und Kompression) von GanzheitGanzheit ausgehend, und den Spannungen (EinsheitEinsheit (Unicity) und AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems)), die sie prägen, soll sich im Folgenden einigen Grundfragen der Darstellung von Ganzheit angenähert werden, um die anschließende Analyse der Rolle des Körpers in diesem Kontext einzuleiten.

Die Darstellung von GanzheitGanzheit erfolgt nicht im Nachhinein der beschriebenen ExpansionExpansion, und läuft auch nicht passiv-parallel neben dieser her – sie geht ihr sogar, wie Arendt ausführt, voraus:1

Prior to the shrinkage of space and the abolition of distance through railroads, steamships, and airplanes, there is the infinitely greater and more effective shrinkage which comes about through the surveying capacity of the human mind, whose use of numbers, symbols, and models can condense and scale earthly physical distance down to the size of the human body’s natural sense and understanding. Before we knew how to circle the earth, how to circumscribe the sphere of human habitation in days and hours, we had brought the globe into our living rooms to be touched by our hands and swirled before our eyes. (Arendt 251; Hervorhebungen T.E.)

Mit dem Fokus auf der Erstellung und Betrachtung von ‚Tischgloben‘ ist Arendt nicht allein (vgl. Sloterdijk, Sphären II 812, aber auch III.2.6.1) und das von ihr subtil ins Spiel gebrachte Sehen und dessen Räumlichkeit – „swirled before our eyes“ (Hervorhebungen T.E.) – stellt eine fundamentale Struktur dar. Im Wesentlichen gestaltet sich diese wie folgt: „[S]ich ein Bild von der Welt zu machen, die Techniken des sich ein Bild von der Erde Machens, heißen bekanntlich seit Kopernikus, eine Kugel vor sich zu sehen, auf der man nicht ist: den Globus von außen.“ (Bergermann et al. 8) Denn wie Arendt beschreibt, rückt die Darstellung der GanzheitGanzheit als „globe“ diese räumlich vor den Betrachter. Weiter hält sie fest, dass die Darstellung der Ganzheit diese auf eine Größe schrumpft, die dem „body’s natural sense and understanding“ entspricht. Die Darstellung von Ganzheit umfasst also ein ‚Vor-die-Augen-Rücken‘ und eine Manipulation der Größenverhältnisse, womit die darzustellende Ganzheit in ein – man könnte sagen: ‚aufnehmbares‘ – Verhältnis zur Größe des menschlichen Körpers gebracht wird. Der Blick(punkt), die Räumlichkeit dieses Blickes, und die Frage der Größe im Verhältnis zum menschlichen Körper: Sie stellen die Fixpunkte der folgenden Ausführungen zum Problemfeld der Abbildung von Ganzheit dar.

2.1Blickperspektiven

Wer größere Ganzheiten sehen will, sieht sich mit zwei Problemen konfrontiert: Sie sind aufgrund ihrer Größe und ihres abstrakten und imaginären Gehalts nicht natürlich sichtbar. Entsprechend sind sie nicht ohne die Zuhilfenahme von komplexen Darstellungsverfahren abbildbar: „[S]ince one cannot see the universe, the world, humanity, the cosmopolitan optic is not one of perceptual experience. It should be evident that we should not take the presentation of the world for granted because, at the very least, it is given to us by the imagination.“ (Cheah 3) Obwohl man „das UniversumUniversum (Figur der Ganzheit)“ etc. nicht sehen kann, spricht Cheah von einer „optic“. Dies gilt, wie im Folgenden nachzuvollziehen ist, auch für zahlreiche andere Ansätze, „ja, man könnte vermutlich zeigen, dass Totalität immer eine optische Komponente mitträgt, einen kognitiven Panoramablick, und sei es ‚nur‘ als Denkfigur.“ (Hölter 91) Dieser ‚kognitive Panoramablick‘, der das Nachdenken über und die Darstellung von GanzheitGanzheit durchzieht, soll hier analysiert werden, indem nach den (imaginären) Stand- und Blickpunkten gefragt wird, die bei Darstellungen von größeren Ganzheiten eine Rolle spielen.

 

Diese Punkte haben gemeinsam, dass sie einen Blick auf die GanzheitGanzheit von außen her imaginieren, sie erzeugen also eine extrinsische Perspektive. Sie wurden jedoch verschiedentlich konzipiert und benannt. Einmal als apollinische Perspektive, in welcher der Betrachter sich vorstellt, von der Position der Sonne aus die Erde zu betrachten; Denis Cosgroves Ausbreitungen zu diesem Thema finden sich in seiner entsprechend betitelten Monographie Apollo’s Eye. Weiter hat dieser den Topos des somnium isoliert, einer textlich verfassten Traumreise zu einem Punkt oberhalb der Erde, von dem aus auf die Erde zurückgeblickt wird (besonders prominent vertreten durch Keplers SomniumSomnium (1634), welches die Erde als vom Mond aus betrachtet in Szene setzt; vgl. Koppenfels 45). Aus diesen Perspektiven heraus erscheint die Erde traditionsgemäß in folgender Gestalt:

To achieve the global view is to lose the bonds of the earth, to escape the shackles of time, and to dissolve the contingencies of daily life for a universal moment of reverie and harmony. Reverie is the closest English translation of the Latin somnium, the sense of imaginative dreaming long associated with rising over the earth. […]. Apollonian music was created by the mathematical harmony of revolving cosmic spheres. In competition with earthly music, Apollo’s was always victorious, its harmony exceeding the audible. The German word Stimmung captures this “tuning” of a vital earth to a resonant, universal harmony. It complements the lucent geometry of solar light. The figure of Apollo thus prompts the conception of a unified world, a sphere of perfect beauty and immeasurable vitality, bathed in a beatific gaze. (Cosgrove 3)

Die so betrachtete Erde wird in mehrere, von Cosgrove beschriebene Topoi eingebettet: die kosmischen Sphären, auf denen sich die Planeten bewegen, und dabei die „Sphärenmusik“ erzeugen, ein Gefühl von kosmischer Harmonie und ein starker Eindruck von der betrachteten Erde als schöner GanzheitGanzheit.

Der Blick von außen kann jedoch auch als negativer konzipiert werden, wie Werner von Koppenfels in seinen Analysen der von ihm so genannten „Kataskopie“ (35) ausführlich dargestellt hat. Diese zielt auf die „pointierte Verkleinerung menschlicher Scheingröße“ (31) ab, und erzeugt so eine „olympische Sicht“ (ebd.), die den Blickenden jedoch auch befähigt, „bestimmte Vorgänge auf der Erdoberfläche konzentriert wahrzunehmen.“ (32) Koppenfels beschreibt damit eine Perspektive, die das Gesehene ebenso als ‚niedrig‘ darstellt, wie sie es deutlicher und besser verständlich werden lässt.

Die phantastisch-satirische Herabschau auf eine zum Ameisenhaufen oder Insektenschwarm verkleinerte und verfremdete Menschenwelt gehört zu den Bildkomplexen von außerordentlicher Längen- und Tiefenwirkung, die die bildfreudige, respektlose und relativistische kynische Diatribe den europäischen Literaturen vermacht hat […]. (Koppenfels 33f.)

Unabhängig davon, welche Haltung mit dem Blick von außen einhergeht, in beiden Fällen lässt sich eine doppelte ‚Distanz‘ konstatieren, und zwar eine räumliche einerseits („rising over the earth“) und eine übertragene andererseits, insofern der Blickende auch aus seinem Alltag und der üblichen Umgebung gehoben wird („dissolve the contingencies of daily life“).

Weiter ist die vielleicht häufigste Bezeichnung für eine extrinsische Perspektive auf GanzheitGanzheit zu nennen: der archimedische Blickpunkt, der ebenfalls einen Punkt im Außen imaginiert, von dem aus auf das Ganze zurückgeblickt wird. Laut Arendts Ausführungen zu dieser Perspektive setzt deren ‚Räumlichkeit‘ eine mathematisch-philosophische Denkbewegung ins Bild, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Ganzheit grundsätzlich prägt:

[W]e always handle nature from a point in the universe outside the earth. Without actually standing where Archimedes wished to stand […], still bound to the earth through the human condition, we have found a way to act on the earth and within terrestrial nature as though we dispose of it from outside, from the Archimedean point. And even at the risk of endangering the natural life process we expose the earth to universal, cosmic forces alien to nature’s household. (262)

Für Arendt ist die archimedische Blickperspektive also grundlegend für die „human condition“, und erklärt den wachsenden menschlichen Einfluss auf die Umwelt (den vor allem der Mensch des 20. Jahrhunderts mit nie gekannter Vehemenz auszuüben vermag). Die so verstandene AußenperspektiveAußenperspektive (auchextrinsische Perspektive) setzt den Blickenden in ein aktives Verhältnis zur GanzheitGanzheit.

 

Diesen Blickperspektiven ist der imaginäre Charakter der Visualisierung der GanzheitGanzheit als objektivem Gegenstand gemeinsam, der aus extrinsischer Perspektive betrachtet wird.1 Neben Cosgrove und Arendt ist weiter auf die Überlegungen von Martin Heidegger und Jean-Luc Nancy hinzuweisen, die sich mit der Frage nach der SichtbarkeitSichtbarkeit (von Ganzheit) der Ganzheit auseinandergesetzt haben, und dabei auf die FdG ‚Welt‘ (bzw. ‚monde‘) fokussieren.

Heideggers Die Zeit des Weltbildes zeichnet sich durch eine Betonung der engen Assoziation der AußenperspektiveAußenperspektive (auchextrinsische Perspektive)