Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte? - Manja Präkels - E-Book

Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte? E-Book

Manja Präkels

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Beschreibung

»Fenster putzen. Muss ich mal wieder machen. Zeitung zerreißen. Rausgehen. Wischen, bis es quietscht …« Mit dem von Baustellenstaub getrübten Blick auf leere Berliner Straßen während des ersten Lockdowns beginnt Manja Präkels' poetisch-essayistische Reise durch die jüngere deutsche Geschichte und Lebenswelten in Stadt und Land. Erinnerungen an die letzten Jahre der DDR, Begegnungen mit Rotarmisten und das Aufwachsen zwischen Neonazis nach 1990 mischen sich mit Besuchen brandenburgischer Flüchtlingsprojekte der Gegenwart und Reisebildern aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Ein kasachischer IT-Spezialist schwärmt vom Pionierlager am Scharmützelsee. Russische Zuhälter in Transnistrien zeigen stolz ihre falschherum tätowierten Hakenkreuze. Im Rheinsberger Schlosspark bekämpft ein junger Sheriff einen mürrischen Riesen, während im lang geschlossenen Lichtspielhaus Alhambra die Fische singen: »Wer möchte nicht im Leben bleiben?«

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»Fenster putzen. Muss ich mal wieder machen. Zeitung zerreißen. Rausgehen. Wischen, bis es quietscht …« Mit dem von Baustellenstaub getrübten Blick auf leere Berliner Straßen während des ersten Lockdowns beginnt Manja Präkels’ poetisch-essayistische Reise durch die jüngere deutsche Geschichte und Lebenswelten in Stadt und Land.

Erinnerungen an die letzten Jahre der DDR, Begegnungen mit Rotarmisten und das Aufwachsen zwischen Neonazis nach 1990 mischen sich mit Besuchen brandenburgischer Flüchtlingsprojekte der Gegenwart und Reisebildern aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Ein kasachischer IT-Spezialist schwärmt vom Pionierlager am Scharmützelsee. Russische Zuhälter in Transnistrien zeigen stolz ihre falschherum tätowierten Hakenkreuze. Im Rheinsberger Schlosspark bekämpft ein junger Sheriff einen mürrischen Riesen, während im lang geschlossenen Lichtspielhaus Alhambra die Fische singen: »Wer möchte nicht im Leben bleiben?«

Manja Präkels, 1974 in Zehdenick / Mark geboren, lebt als Autorin, Musikerin und Sängerin der Band »Der singende Tresen« in Berlin und betreibt als Mani Urbani experimentelle Klangforschungen. Sie war Mitherausgeberin der erzählerischen Anthologie »Kaltland – Eine Sammlung«, eines Klassikers der Nachwende-Literatur, und stellte für den Verbrecher Verlag mit Markus Liske das Erich-Mühsam-Lesebuch »Das seid ihr Hunde wert!« (2014) sowie den Band »Vorsicht Volk! Oder: Bewegungen im Wahn?« (2015) zusammen. Für ihren Debütroman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« wurde sie mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2018, dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 und dem Anna-Seghers-Preis 2018 ausgezeichnet.

MANJA PRÄKELS

WELT IM WIDERHALL ODER WAR DAS EINE PLASTIKTÜTE?

ESSAYS

VERBRECHER VERLAG

INHALT

Fensterblick

Welt im Widerhall

Schlumpfeiszeit adé

Brandenburg macht Pause

»Sie fühlen es nur nicht.«

Am Rande wächst die Eigenart

»Hört auf, so zu tun, als gäbe es ein Zurück!«

Heinersdorf und die Flüchtlinge

Hasshasenangst

Die das Fürchten lehren

Die Eingeborenen

Echte Männer, geile Angst

Die Welt zerfällt am Wegesrand

Wir waren Mädchen in extremen Zeiten

Unterm Gras die Knochen

Im schönsten Wiesengrunde

Kein abgeschlossenes Kapitel(Erinnerungen als Rohstoff der Geschichte)

Eskalator hoch und runter

Djewotschka will heim

Dichtung und Elend

Lambada für Lenin

Wenn mal allet nich mehr is

Provinz des Menschen,oder: Der Schicksalsautomat braucht keinen Strom

Von Fischen, die in Kinos singen

Nachtrag

Nachweise

FENSTERBLICK

Ich muss mal wieder Fenster putzen.

Wenn ich rausschaue, steht da ein Hochhaus. Siebzehn Stockwerke. Hier wie dort. Aber dort sind keine Fenster. Keine Leute. Ich schaue auf die hell gestrichene Brandmauer. Es ist der Blick auf ein leeres Blatt. Mir macht das nichts. Wenn ich am Schreibtisch sitze und kein Gedanke will hinaus, stehe ich auf, trete ans Fenster und voilà …

Viele Leute fürchten sich davor, verrückt zu werden am Alleinsein. Ich habe einen Meisenknödel vor das Fenster gehängt. Vor die Leinwand. Es kommen Spatzen. Und dicke Tauben. Ihr einlullendes Gurren ist mein Stimmungsbarometer. Manchmal verspüre ich Lust, sie zu erschießen. Sie oder den blöden Dauerkläffer vorm Supermarkt da unten. Der bellt minutenlang und ohne Unterlass die Türen an. Seine Besitzerin benötigt so viel Zeit für den Einkauf, weil sie im Rollstuhl sitzt und wirklich viel Bier braucht, um den Tag zu überstehen. Nichts ist in Ordnung. War es nie.

Meine Großmutter saß viele Stunden ihres Lebens an ihrer Nähmaschine und schaute hinaus. Ihre Hände kannten die Arbeit. Blind. Schoben, zupften, prüften Stoffe. Sie blickte dabei auf die Straße, eine alte Linde, den Friedhof für die gefallenen Sowjetsoldaten. Das Alleinsein setzte ihr zu. Daran kann ein Mensch sich nicht gewöhnen. Oder?

Direkt neben dem Fenster hängt ein Wetterhäuschen. Hydrometer. Bei schönem Wetter dreht die eine, bei schlechtem die andere Person nach draußen. Sie kommen weder im Haus noch außerhalb jemals zusammen. Allerhöchstens an grauen, milden Tagen stehen sie auf einer Höhe und blicken hinaus, jede aus ihrer eigenen Tür. Isolation in Gemeinschaft. In Zweisamkeit.

Fenster putzen.

Muss ich mal wieder machen.

Zeitung zerreißen. Rausgehen. Wischen, bis es quietscht.

Ich denke an Frau Ahlgrimm und die anderen alten Leute, die mit ihren dicken Kissen die Fensterbänke meiner Kindheit bevölkerten. Solange ich noch hilflos, klein und wackelig auf den Beinen gewesen war, haben diese Alten, die aus Fenstern schauten, manchmal überraschend eine runzlige Hand nach mir ausgestreckt. Da lag dann ein Bonbon drin. Oder ein Groschen. Später verpfiffen sie mich bei meinem Vater, der immer genau wusste, wann ich an welcher Straßenecke geraucht hatte oder geknutscht oder an die Wand gekotzt. Analoge Vermittlung. Hatten alle kein Telefon, damals.

Wie ich es jahrelang gehasst habe, zu telefonieren. Jetzt gehe ich bei jedem einzelnen Anruf ran. Na ja, fast.

Total durcheinander. Bin ich das, oder ist es die Welt?

Da.

Draußen.

Vorm Fenster.

Eine Romni steht vorm Edeka. Wird weiträumig umkurvt. War schon vor Corona so. Ist schlimmer geworden. Es fehlt nicht mehr viel und einer schlägt ihr die Hand fort. Sie humpelt davon. In kein Zuhause.

Ich bin klein.

Mein Herz ist rein.

Da passt auch niemand sonst hinein.

Meine Großmutter trug immer ein Transistorradio mit sich herum, es hatte einen Tragegriff. Wenn sie Wäsche aufhängte, stellte sie es ins Gras. Wenn das Wetter schön war und sie strickte, auf den Tisch bei der Hollywoodschaukel. (Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein.)

Komisch. Das hat sich wohl vererbt. Direkt nach dem Aufstehen stelle ich die Radios an. In der Küche. In meinem Zimmer. Auf der Suche nach einer Stimme gegen das Alleinsein. Sie spielen Durchhaltemusik. Schmachtende Popsongs. Don’t let the sun go down on me. You never walk alone. Wer hat diesen Dreckssender eingestellt? Ach, ich war das? Auf der Suche. Im Äther nachts um halb vier.

Eines Morgens, in aller Frühe. Bella ciao, bella ciao …

Im Fernsehen: Musikantenstadl. Trödeltruppen. Hart und unfair. Dass meine Feinde weiter mit mir sprächen. Die alten Frauen, die verwitweten, damals, die hatten sich ein Reservoir an Erinnerungen angelebt, die sie in Tagträume verwandelten. Eine Art Wegzehrung für das Fortleben. Aber was, wenn da nichts Neues mehr dazukommt? Was, wenn keiner mehr unterwegs ist, draußen auf den Straßen? Wenn nichts mehr zu beobachten ist? Womit füttere ich dann die Vögel?

Ich muss mal wieder Fenster putzen.

WELT IM WIDERHALL

Wir leben in einer Schlucht. Das Heulen des Windes, wenn er zwischen den Hochhäusern hindurchfegt, wird begleitet von Verwirbelungen. Ich habe einen Luftballon im Zickzackkurs bis hoch in die 17. Etage fliegen sehen. Oder war das eine Plastiktüte? Der Mond ist heller dort oben. Und die Welt stiller. Wenn unten vorm Edeka ein Hund bellt, klingt es, als säße er uns zu Füßen.

Am erwachenden Morgen rauschen die Straßen ringsum wie das Meer. Kehrfahrzeuge schieben Laub und Müll vor sich her. Es ist besser, die Fenster zu schließen. Sonst kann es vorkommen, dass ein Stück von letzter Nacht hereinfliegt. Eine Kippe vielleicht. Oder ein Kondom.

Vor vielen Jahren, ich war gerade erst in der Stadt angekommen, fuhr ich täglich vom äußersten Osten bis nach Dahlem und zurück. Dass die U1 ab Warschauer Straße als Hochbahn durch Kreuzberg führt, verkürzte den langen Weg erheblich. Ich, die an leere Landschaften gewöhnte Exilbrandenburgerin, schaute und staunte. Am Halleschen Tor blieb mein Blick stets am Rondell kleben, dem Mehringplatz-Ensemble mit seinen geschwungenen Balkonen, unter denen die Leute durchliefen. Dahinter Hochhäuser, wie sie auch am Springpfuhl in den Himmel ragen, Wohnkomplexe, in die ganze Kleinstädte passen. Irgendwo stand immer einer und pisste in die Büsche. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, dort zu wohnen. In der ruppigen Mitte der Stadt.

Dann zog ich tatsächlich hierher. Mein zweites Hochhaus nach missglücktem Frühversuch in Marzahn. Kein Kohlenschleppen mehr wie später in Pankow, vorbei die Zeit des improvisierten Duschens in der Küche, stattdessen: ein Balkon.

Manchmal wirft einer von ganz oben einen Joint achtlos runter, manchmal schmeißen die Kinder Spielsachen über die Brüstung. Unter uns, auf dem Vorbau, liegen dann Lichtschwerter oder Bälle. Selbst Spielkonsolen wurden schon gesichtet, Kochtöpfe und zerschlagenes Geschirr. Die Markise schützt uns vor herabfallenden Bierflaschen. Ich habe mich daran gewöhnt. Der Stoff kann was ab. So wie die Leute, die hier wohnen. Beim Flanieren im Rondell: verächtliche Blicke, misstrauische. Auch stolze: Wir sind nicht wie ihr. Im Fahrstuhl das Westberliner Rentnerpaar: »Endlich sieht man mal eine Deutsche.« Mir fällt vor Schreck keine Entgegnung ein.

Als ein Freund aus Kraków zu Besuch kommt, ist er sich nicht sicher, ob er die Kippa besser abnehmen sollte. Am Vorabend war er beim Spaziergang durch Neukölln übel bedroht worden. Ich erzähle ihm von den Jungs, die vor dem Supermarkt auf Macker machen und die Häuserschlucht allabendlich als Bühne nutzen. Ein paar von denen grüßen mich, aber nur, wenn sie allein sind.

Auch unser schwuler Nachbar hatte anfangs Angst. »Aber alles in allem liebe ich es, hier zu wohnen.« In einer Nachbarschaft, deren Mischung die weltweiten Verteilungskämpfe und kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte abbildet. Jüdische Rentner aus der ehemaligen Sowjetunion Tür an Tür mit Palästinensern, Roma, vor dem Krieg in Jugoslawien geflohenen Serben und Bosniern. »Wir Türken waren zuerst hier«, erklärt mir ein Hundebesitzer, während sich unsere Tiere über den Platz jagen. Ein anderer, geboren in Moskau, schimpft auf »die Araber«, die im Sommer alle Parks verstopfen würden. Eine Shisha rauchende Omi lächelt uns dabei von ihrer Parkbank zu. Das Kopftuch betont ihre hellen Augen.

Mein allererstes Gespräch mit einer Nachbarin führte ich am Hauseingang, wo damals noch ein Foto der zerbombten südlichen Friedrichstadt hing. Wir versuchten uns zwischen den Trümmern zu orientieren: »Das muss der Mehringplatz sein!« Sie lachte und sagte: »Wie Bagdad.«

Und heute? Der Mehringplatz – eine ewige Baustelle. Verwüstet. Verelendet. Das infernalische Gebrüll der Trinker und haltlosen Jugendlichen begleitet unser aller Nächte wie Eiszapfen in den Ohren. Dagegen die neu entstandenen »modernen Lebenswelten« gleich nebenan. Wo vor den Neubauten junge Eichen und hübsche Beete gepflanzt werden. »Kein Hundeklo« steht auf einem Schild. Für Hunde unlesbar. Die neu eröffneten Cafés und Geschäfte gegenüber dem Jüdischen Museum sind für meine Nachbarn so unsichtbar wie sie für deren Kunden.

Das städtische Gefüge zerbricht. Man kann es spüren wie die Vibration der U6 unter den Füßen. Seit aus dem kleinen Kaiser’s ein Edeka geworden ist, gibt es am Fleischstand kein doppelt gewolftes Rindfleisch für Lahmacun mehr, dafür Schweinefüße. Abends spendet der Markt Trost und Licht für alle, die nicht nach Hause wollen. Oder können. Im nächsten Jahr ist Schluss damit. Investoren, Pläne, Abriss. Das bestürzt, doch wundert sich längst keiner mehr. Seit wir eingezogen sind, macht Laden für Laden dicht. Erst der mit den günstigen Kleidern. Dann die Raucherkneipe, das einzige Restaurant. Die Zerstörung solch kleiner Welten geht schnell. Ihr Aufbau dauert Jahre. Aber Anfänge gibt es immer.

Ein Nachbarjunge ruft den Namen meines Hundes in die Schlucht hinein. Beide rennen aufeinander zu. Wir lachen. Mit Echo.

SCHLUMPFEISZEIT ADÉ

Ende April 2020. Wieder einer dieser Seuchentage. 19 Uhr, Abendsonne wärmt, die Gesichter von Freunden im Computerbildschirm. Wir prosten uns zu. Plötzlich bricht Höllenlärm los unterm Balkon. Sirenen nähern sich aus allen Richtungen, aufgehetztes Hundegebell und Schreie aus vielen Hälsen, laute Flüche. Sprachgewirr.

Der Blick hinunter in die kleine Fußgängerzone, wo sonst eine Menschenschlange träge dem Supermarkt entgegenkriecht, fällt auf Streifenwagen, ein Zivilfahrzeug, eine große Wanne, Polizisten in voller Montur. Die Hundeführer treiben ihre Tiere in eine Gruppe von Teenagern. Ich kenne diese Jugendlichen. Sie sind jede Nacht lauter geworden. Zuletzt auch enthemmter. Sind mit geklauten Fahrrädern rumgefahren, prahlend und Passanten provozierend. Haben mit den angerückten Beamten Räuber und Gendarm gespielt. Doch die plötzliche Übermacht erschreckt. Erstickt. Rasch bildet sich eine protestierende Menge. Frauen schreien die Polizisten an, Männer erheben die Fäuste. Da kommt der Notarztwagen. Was ist passiert? Die Jäger schnappen zu. Wird der Junge verhaftet? Sein Kumpel schreit die Balkone an, droht: »Wer von euch hat die Bullen gerufen, hä?« Die anderen rennen. Wohin? Stilles Starren von den Balkonen. Selbst der Hund nebenan, der ewige Kläffer, schweigt. Nachts wird er winseln.

Freitagabend am südlichen Ende der Friedrichstraße – dem Ende, das in keinem Reiseführer Erwähnung findet. Denn hier, wo die Amüsiermeile früher vom Zeitungsviertel der Stadt auf den prächtigen Belle-Alliance-Platz führte, formen heute Wohnbauten der späten Sechzigerjahre den Mehringplatz. Die meisten Geschäfte standen schon vor der Pandemie leer. Monatelang war die Straße aufgerissen, wegen Tunnelarbeiten. Gab es Lärm und Dreck für alle. In den Häusern drumherum Platz für Tausende Menschen. Eine spezielle Berliner Mischung: Die Lebenslinien der Bewohner dieser Stadtschlucht, die – je nach Blickrichtung – zum Halleschen Ufer oder zum Checkpoint Charlie führt, sind von Kriegen, Konflikten und Katastrophen gebrochen. Große Familien, Kinder in Armut, viele Rentner und einzelne, aus ihren Altbauwohnungen weggentrifizierte Künstler. Die Verletzlichkeiten sind hier vielfältig, sichtbarer als anderswo, Selbstgewissheit keine Währung. Man trifft sich im Theodor-Wolff-Park, auf den Bänken im Rondell um den Mehringplatz, in der Schlange bei Edeka. Der zentrale Platz selbst ist eine Dauerbaustelle, gesperrt und unpassierbar. Hinter Gittern, nicht mal grün. Kinder haben bunte Virentiere auf das Pflaster gemalt. Ohne Augen. Ohne Mund und Ohren. Der Betreiber des Zeitungskiosks, bei dem sich die verschiedenen Trinkerszenen versorgen, verkauft jetzt deutlich mehr Zigaretten, wie er sagt. Die wurden sonst in Einkaufsgemeinschaft aus Polen herangeschafft. Bis das Virus dem ein Ende machte. Das letzte Monatsdrittel war immer schon zäh für die meisten. Nun ist es schlimmer. Alle Zufluchtsorte, die Kreuzberger Musikalische Aktion, das Stadthaus Böcklerpark, der Seniorentreff und die Kiezstube haben dicht. Wohin?

Die aufkeimende Wut ist gut zu hören. Täglich wird es lauter hinter den Wohnungstüren. Zum Glück gibt es Balkone. Unter ihnen jedoch hat sich der Tonfall verändert, bei Hunden und Menschen. Der geschrumpfte öffentliche Raum wird mehr und mehr zum Gefahrenort. Die alte Nachbarin traut sich nach Sonnenuntergang nicht mehr raus. Am meisten fürchtet sie sich, krank zu werden. Masken trägt ja kaum einer. Woher bekommen? Von welchem Geld? Der Wachschutz der Wohnsiedlung ist seit Monaten eingestellt. Sie vermisst die Männer.

Ich sehe und erlebe das alles viel intensiver als früher, weil ich mich seit Wochen freiwillig zu Hause isoliere. Die Mehrzahl der Nachbarn kam schon vor Corona kaum aus dem Viertel raus. Den Teenagern, die da unter mir durchdrehen, begegnete ich zum ersten Mal bei unserem Einzug. Ein wilder Haufen, Dreikäsehochs noch, Ball dabei und hilfsbereit. Sie schleppten meinen Schreibtisch in den Fahrstuhl. Dann die entscheidende Frage: »Haben Sie Kinder?« Mist. Die Suche für das Fußballteam würde weitergehen müssen. Zwei Sommer später stolzierten die Jungs schon breitbeinig vor dem Döner-Restaurant auf und ab. Doch die Macker-Pose zerbrach am Eisangebot: »Alter, die haben Schoki!« »Ich will lieber Schlumpf.« Im Jahr darauf machte Yildiz dicht. Von da an hingen sie kiffend in einer Tordurchfahrt rum und hörten auf zu grüßen.

Die, die nun auf dem Sportplatz gegen Bälle dreschen, sind wie sie damals – und auch nicht. Im Vorbeilaufen höre ich den Kleinsten warnen: »Wir Araber müssen zusammenhalten. Die Deutschen mögen uns nicht.« Ein neugieriges Mädchen fragt: »Sind Sie ein Mann?« Unsicherheiten im Miteinander waren schon vor der Pandemie spürbar. Doch die alte Gelassenheit fehlt. Die Grüppchen im Park blicken skeptischer aufeinander. Oder bin ich das? Ich habe begonnen, die Straße zu beobachten. Es gibt teure Autos, die anhalten und von der Schlumpfeis-Gang umlagert werden. Die Insassen bleiben sitzen, doch sie reichen der Gruppe kleine Päckchen und etwas, das man nicht greifen kann. Nebenan geraten die Trinker in Streit miteinander. Ein riesiger Hund jagt durch die Menge hindurch einer Papiertüte nach.

Als die Polizei an jenem Freitagabend wieder abrückt, läuft eine besorgte Mutter den Beamten hinterher. Wie das nun weitergehen soll? »Dit is in der janzen Stadt so«, erklärt einer der Männer und macht keinen Hehl aus der eigenen Ratlosigkeit. »Wir sind die geilste Gang!«, schreit wenig später ein großgewachsenes Mädchen in den Kiezhimmel.

Allen Unzumutbarkeiten der Dauerbaustellen, dem Übersehen- und Marginalisiertwerden zum Trotz leben wir hier respektvoll Tür an Tür. Das kostet enorm viel Kraft. Jeden Tag ein bisschen mehr. Gestern ist ein Rettungshubschrauber unten im Park gelandet. Wir schauten ihm lange nach, als er in den Himmel stieg.

BRANDENBURG MACHT PAUSE

Der multikulturelle Stadtstaat Berlin liegt inmitten des Bundeslandes Brandenburg. Eine Tatsache, an die beide Seiten nur ungern erinnert werden. Mit der Pandemie scheinen sich die Gegensätze noch verschärft zu haben. Eine Kollegin teilt Bilder der menschenleeren Metropole: die Berliner S-Bahn ohne Passagiere, der einzig von Tauben bevölkerte Alexanderplatz, tägliche einsame Spaziergänge durch die stillen Wohnviertel. Das Staunen der Großstädter über die Entleerung des öffentlichen Raums lässt nicht nach. Ganz anders in Brandenburg: Die Leere der märkischen Landschaft ist vertraut. War es hier jemals voller?

Karfreitag. Im gesamten Bundesland gelten bereits hohe Waldbrandwarnstufen. Wie schon im Vorjahr sind Osterfeuer überall verboten. Nachdem wir die Autobahn Richtung Warschau verlassen haben, steuern wir, vorbei an unbelebten Vorgärten, das Zentrum der am westlichen Ufer des Flusses gelegenen Grenzstadt Frankfurt an der Oder an. Vereinzelte Menschen auf der großen Brücke, die hinüber ins polnische Słubice führt, laufen bis zur Mitte, schauen in die Ferne und kehren wieder um. Ende März hatte die polnische Regierung die Quarantänepflicht beim Grenzübertritt ausgeweitet und damit das tägliche Pendeln abrupt beendet. Laut der deutschen Industrie- und Handelskammer (IHK) sind davon rund 14000 polnische Staatsbürger betroffen, die in brandenburgischen Betrieben arbeiten. Meist zu Mindestlöhnen. Durch die neuen Regeln kam es zu Kündigungen und Rekordstaus in beide Richtungen. Panisch mieteten Betroffene Wohnungen auf deutscher Seite, um ihre Arbeit nicht zu verlieren. Nur wenige Lkws rollen noch. Einen Sonderstatus für die grenznahen Regionen gibt es nicht.

Die Diskrepanz zwischen dem Anblick bestellter Landschaften ohne Menschen und den Zahlenkolonnen aus dem Autoradio vergrößert sich von Meldung zu Meldung. Vielstellige Zahlen von Neu-Infizierten, Verstorbenen, in ihrer Existenz Bedrohten. Kreditrahmen. Hilfsleistungen. Und fünfzig Kinder aus dem Schreckenslager Moria auf Lesvos dürfen nun doch nach Deutschland kommen. Ich schalte das Radio aus. Ein paar Kilometer flussaufwärts, hinterm nächsten Waldstück, liegt Eisenhüttenstadt. Ohne eigenen Grenzübergang oder Autobahnanschluss präsentiert die einst nach Stalin benannte und für ein großes Kombinat der DDR-Stahlindustrie errichtete Planstadt die ganze Formalität sozialistischen Städtebaus. Das Stahlwerk ist noch immer der größte Betrieb weit und breit. Fast die Hälfte der Menschen, die hier einst lebten, ist seit Mauerfall fortgezogen. Umbruch. Abriss. Keine Pferdemädchenparadiese. Zuwachs ergibt sich nur noch über eine »ab vom Schuss« am Stadtrand gelegene Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Schon vor der Pandemie lebten Flüchtlinge in brandenburgischen Massenunterkünften stark isoliert. Oft mehr als 500 Bewohnerinnen in Mehrbettzimmern, die monatelang auf Behördenentscheidungen warten müssen. In Doberlug-Kirchhain, südwestlich von Eisenhüttenstadt, hat man die Einrichtung in ein militärisches Sperrgebiet gelegt. Der einzige Bus wurde, vorgeblich zur Eindämmung des Coronavirus, eingestellt – ein Offenbarungseid des institutionellen Rassismus im Lande.

Der an der Lausitzer Neiße gelegene Grenzort Guben-Gubin bewirbt sich selbst als »europäische Doppelstadt«. Sein historischer Stadtkern am östlichen Ufer gehört seit dem Potsdamer Abkommen von 1945 zu Polen. Die wenigen Menschen, die in den Dörfern auf westlicher Seite nicht auf ihren durch hohe Mauern von der Straße getrennten Höfen sitzen, blicken misstrauisch den seltenen Besuchern hinterher. Ein Huhn hat sich verirrt und flattert verwirrt vor der Kirche herum. Trotz der tradierten Fremdenfeindlichkeit sind in den Städten entlang der Flussgrenze mit den Jahren familiäre, strukturelle und wirtschaftliche Geflechte entstanden, die in den Krisenstäben beider Länder schlichtweg ignoriert wurden. Das ist umso fataler, als es den rechten Strukturen auf deutscher Seite in die Karten spielt. Eine Menschenjagd durch die Gubener Innenstadt, die im Februar 1999 den algerischen Asylbewerber Farid Guendoul das Leben kostete, sorgte weltweit für Schlagzeilen. Heute fährt die rechtsextreme AfD hier Ergebnisse um die 30 Prozent ein. An der verwaisten Brücke, die Guben mit Gubin verbindet, wartet ein Kleinbus auf Passagiere: Arbeiterinnen und Arbeiter aus ähnlich abgehängten Orten in Polen auf dem Weg zu niedersächsischen Spargelfeldern oder Baustellen im Rheinland. Die müssen jetzt zu Fuß über die Brücke. Gegenüber erinnert eine »Traditionsstube« an die alte Heimat – drüben, auf der anderen Flussseite. Vaterland ist abgebrannt.

Die nächste Stadt, Forst, wirkt vergleichsweise belebt. Vor dem Ortseingang äsen Lamas. Auch das ist Brandenburg: exotische Tiere in versandenden Landschaften, zwischen Industrieruinen und entleerten Dorfplätzen. An der Tankstelle werden wir Berliner mit unseren Mundschutzen verspottet. Auf der Heckscheibe eines VW Golfs prangt ein Aufkleber: »Ostdeutschland – natürliche Härte«. Darunter grinst der Sensenmann. Auch jenseits einschlägiger Nazikreise kokettieren die Leute gern mit ihrer krisentauglichen DDR-Prägung. Survival of the Toughest. Tatsächlich haben dreißig Jahre Armutsund Ausbeutungserfahrungen vielen eine Grundhärte abverlangt, auf die sich hier jedoch auch Einfamilienhausbesitzer mit eigenem Weinkeller gern berufen. Die Pandemie erscheint ihnen höchstens skurril. »Endlich drehen sich die Uhren so, wie wir es fühlen«, lese ich in der Timeline eines befreundeten Malers. Für den Rückweg nehmen wir die Autobahn.

Eine Woche später verlassen wir abermals die Stadt, diesmal in Richtung Nordwest. Kein Feiertag. Nur normal Corona. Wir fahren in den Landkreis Ostprignitz-Ruppin, dessen Betreten uns an Ostern noch verboten war. Das Virus sollte ausgesperrt werden, doch ein Gericht hatte der Klage von Berlinern, die hier einen Zweitwohnsitz unterhalten, stattgegeben. Der Versuch totaler Abriegelung erscheint umso erstaunlicher, als die Region stark vom Tourismus abhängig ist. Kleinstädte wie Rheinsberg oder Neuruppin wurden den Berlinern schon durch Werke Theodor Fontanes oder Kurt Tucholskys ans Herz gelegt.

Fast allein tuckern wir die sonst vielbefahrene Bundesstraße 96 entlang, die bis hoch auf die Ostseeinsel Rügen führt. Was vor allem fehlt: der übliche dichte Verkehr ins weiterhin abgesperrte Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Rehwild ist aus dem Wald herausgetreten, äst in der Sonne. Ein Stand mit Spargel, Produkt der Region, steht verwaist am Straßenrand. Für die Ernte wurden erst vor wenigen Tagen Tausende rumänischer Billiglöhner eingeflogen und in zu vollen Bussen auf die Betriebe verteilt. Schutzlos im Mehrbettzimmer. Drei Euro Stundenlohn und 14 Euro für das Kilo Spargel. Der Corona-Tod eines Arbeiters sorgte einen Tag lang für Schlagzeilen.

Es ist ein altes Lied: Die Einheimischen stört der Ausflügler, den Ausflügler stören die Einheimischen. Mit Stadtflucht ist bis auf Weiteres Schluss. Mit dem Misstrauen nicht. Zwar hat die Gegend bei geschlossenen Häfen, Museen und Biergärten ihren Reiz für die Masse der Großstädter verloren, doch manche wollen sich den Waldspaziergang nicht nehmen lassen. Sie sind gewarnt. Es hat sich rumgesprochen, dass beflissene Brandenburger die Notrufleitungen nutzen, um das Auftauchen von Nicht-Einheimischen zu melden. Die über Kleingärten wehenden Reichskriegsflaggen werden sichtbarer.

In Rheinsberg mit seinem berühmten Schlosspark am See ist selbst der Supermarktparkplatz leer. Eine rote Ampel wirkt wie ein Scherz. Am Hafen wird ein Hausboot ins Wasser gelassen, von der Polizei überwacht. Eine weitere Streife kommt gefahren, scheint auf uns zuzuhalten. Wissen die noch nichts vom Gerichtsurteil? Dann aber tönt es aus dem Lautsprecher des Streifenwagens: »Andi, is dit Bier kalt?« Ironischer Gruß an den Reeder. Fahrgastschiffe bleiben angeleint. In der geöffneten Fischräucherei bammeln kinderarmdicke Aale. Unangerührt. Eine Spaziergängerin erzählt uns von einer Gruppe junger Bolivianer: »Die sollten hier auftreten und sind nun gestrandet. Dauerproben in der Musikakademie.«

Über Twitter verbreitet sich die neueste Forderung der AfD: »Keine Coronatests für Flüchtlinge!« Das alte »Deutsche zuerst« gehört eben zum Grundrepertoire. Im Radio erklären die Ärzte ohne Grenzen zur katastrophischen Situation im Camp Moria: »Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.« Die Lokalzeitung weiß davon wenig zu berichten, wohl aber von aktuellen Skandalen: »An Ostern zwei Lämmchen geköpft!« »Mutwillig Ortsschilder vertauscht!« »Werkstatt entglast – Vandalismus!« Kindheit auf dem Lande.

Am Straßenrand werden Ausflugsziele beworben. Dazwischen: Gedenktafeln, die an die Todesmärsche erinnern. Von den KZs Sachsenhausen und Ravensbrück waren 16 000 Menschen nach Raben Steinfeld südlich von Schwerin geschickt worden. Im April vor 75 Jahren.

Unser letztes Ziel ist die Fontane-Stadt Neuruppin. Vor der Eisdiele hat sich eine lange Schlange gebildet. In sicherem Abstand zueinander unterhalten sich zwei Altenpflegerinnen: Es gäbe keine Masken bei der Arbeit, da habe eine Nachbarin geholfen. »Sind aber zu dick. Kriegste keene Luft.« Am Ortsende entdecken wir Plakate des örtlichen Veranstaltungsmanagements. Sie zeigen ein großes Pausensymbol in Pink auf schwarzem Grund. Wir lachen und wollen ein Foto machen. Binnen weniger Momente rotten sich die Nachbarn an ihren Grundstückszäunen zusammen. Flucht. Mal Pause mit Brandenburg. Auf dem Rückweg erreicht mich der Anruf einer alten Freundin. Ihr Sohn solle Corona-Tagebuch führen. Sein Beitrag zum Schulbeginn laute: »Heute war wie gestern.«

»SIE FÜHLEN ES NUR NICHT.«

2019. Vor der Pandemie. Frühling in der Lausitz. Ich fahre durch leere Landschaften, durchquere typische Straßendörfer. Die Häuser drängen sich aneinander, mit Sicherheitsabstand zur Straße. Damit niemand hineinschauen kann. Kein Mensch zu sehen. Verandas, Gärten und Hollywoodschaukeln wurden zu den zartgrünen Feldern hin ausgerichtet, um zufällige Begegnungen zu vermeiden. Ein blonder Junge, der plötzlich am Straßenrand auftaucht, führt einen massigen, schwarzen Hund spazieren. Er trägt ein T-Shirt der Band Landser, die in Neonazikreisen kultisch verehrt wird, und blinzelt friedlich in die Sonne.

Ich bin unterwegs auf einer kleinen Lesetour durch ländliche Regionen in Ost und West. Noch am selben Abend treffe ich in Hennigsdorf eine junge Aktivistin. Sie organisiert mit Freunden Gegendemonstrationen zu Nazi-Aufmärschen und ist sichtlich nervös: »Die Polizei war bei uns zu Hause.« Die Beamten hätten sie gewarnt: »Dein Name steht auf einer Liste. Halte dich zurück. Wir observieren euer Wohnhaus.«

Erst wenige Tage zuvor war ich im sächsischen Wurzen einem Mitglied des Stadtrats begegnet, der regelmäßig die Radmuttern seines Autos überprüfen muss, seit Unbekannte sie lose geschraubt hatten. Auch er ist dafür bekannt, dass er für eine offene Gesellschaft eintritt,