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Die Welt steht am Abgrund. Uns drohen Großmachtkonflikte, ein Rüstungswettlauf und noch mehr nukleare Waffen. Die USA wollen nicht mehr Hüter der Weltordnung sein, während Peking und Moskau die EU-Partner gegeneinander ausspielen. Wie können Deutschland und die EU »weltpolitikfähig« werden? Der renommierteste deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger gibt Antworten auf die drängenden Fragen der aktuellen Weltpolitik. Er erklärt die komplexen Ursachen der zahlreichen heutigen Krisen und skizziert seine Vision einer europäischen Zukunft in Frieden und Stabilität. »Ischinger ist einer der scharfsinnigsten Analysten der internationalen Politik. Sein Buch sollte eine große Leserschaft erreichen.« HENRY KISSINGER »Wer weltpolitische Orientierung in schwierigen Zeiten sucht, sollte dieses Buch lesen. Wie nur wenige ist der erfahrene Diplomat Wolfgang Ischinger berufen, den Deutschen bei der Bestimmung ihres Standorts in den Krisen der Gegenwart zu helfen.« HEINRICH AUGUST WINKLER Wir haben die gefährlichste Weltlage seit Ende des Kalten Krieges.« 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, Krisen und Konflikte allenthalben. Die Werte des Westens und die liberale Weltordnung werden infrage gestellt. Die Beziehungen zu Russland sind auf dem Tiefpunkt, unsere Abhängigkeit von China wächst, und unter Donald Trump ist Amerika als Europas wichtigster Verbündeter unberechenbar geworden. Welche Verantwortung trägt Deutschland heute? Was erwartet die Welt von uns? Wie erreichen wir, dass die EU mit einer Stimme spricht, zu einem respektierten weltpolitischen Akteur wird und die Interessen der 500 Millionen EU-Bürger kraftvoll vertreten kann? Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, ist einer der erfahrensten Vermittler in der internationalen Politik. Er analysiert die Ursachen der aktuellen Krisen und Konflikte und zeigt: Ohne ein aktiveres Engagement unseres Landes in einer zunehmend chaotischen und konfliktreichen Welt werden die Grundlagen von Frieden und Wohlstand erodieren.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Das Buch
Die Welt steht am Abgrund. Uns drohen Großmachtkonflikte, ein Rüstungswettlauf und noch mehr nukleare Waffen. Die USA wollen nicht mehr Hüter der Weltordnung sein, während Peking und Moskau die EU-Partner gegeneinander ausspielen. Wie können Deutschland und die EU »weltpolitikfähig« werden? Der renommierteste deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger gibt Antworten auf die drängenden Fragen der aktuellen Weltpolitik. Er erklärt die komplexen Ursachen der zahlreichen heutigen Krisen und skizziert seine Vision einer europäischen Zukunft in Frieden und Stabilität.
Der Autor
Wolfgang Ischinger, geboren 1946, ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der renommiertesten deutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik. Er war Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und Botschafter in Washington und London. Er lehrt an der Hertie School of Governance in Berlin und berät Regierungen, Unternehmen und internationale Organisationen.
WOLFGANG ISCHINGER
MIT CLAUDIA CORNELSEN
WELT IN GEFAHR
Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten
Econ
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ISBN 978-3-8437-1874-5
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: FHCM GRAPHICS, Berlin
Autorenfoto: © Hans Scherhaufer
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort
Während ich im Juli 2018 an der Endredaktion dieses Buches sitze, geschehen in der Welt Dinge, die man noch vor Kurzem kaum für möglich gehalten hätte: Der Präsident der Vereinigten Staaten, einst unbestritten der Führer der »freien Welt«, brüskiert seine engsten Verbündeten erst mit der Aufkündigung des Iran-Abkommens, das von Amerikanern, Europäern, Russen und Chinesen in jahrelangen mühevollen diplomatischen Verhandlungen erarbeitet wurde, nur um dann kurze Zeit später den nordkoreanischen Diktator mit einem Gipfel zu ehren und weitreichende Zugeständnisse zu machen. Und während er sich mit Kim Jong-un ganz prächtig zu verstehen scheint, ist Donald Trump seit Neuestem auf dem Handelskriegsfuß mit Amerikas engsten Partnern und Verbündeten. Noch auf der Rückreise aus La Malbaie kündigte Trump per Twitter aus dem Flugzeug an, er werde die auf dem G7-Gipfel erarbeitete Abschlusserklärung nun doch nicht billigen. In Washington wird derweil über weitere Strafzölle nachgedacht. Sie könnten dann zum Beispiel auch deutsche Automobilhersteller treffen, die in die USA exportieren. Wird unser Land für Trump zur Zielscheibe? Was bedeutet das für die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft und für die Zukunft des Westens?
In Europa gibt es neue Sorgen um die Stabilität des Euro-Raumes, nachdem in Italien eine Regierung zustande gekommen ist, für die sich die rechte Lega mit der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung zusammengetan hat. Sie macht die Bundesregierung für die wirtschaftliche Misere des Landes mitverantwortlich und will die Sanktionen gegen Russland abbauen, für die die Europäische Union in den letzten Jahren beharrlich eingetreten ist. In vielen Ländern Europas haben Parteien Erfolge erzielt, die der europäischen Integration sehr skeptisch gegenüberstehen. Im In- und Ausland melden sich jene lautstark zu Wort, die mehr Nationalstaat und weniger Europa haben möchten. In manchen Mitgliedstaaten werden grundlegende europäische Werte und Prinzipien infrage gestellt. Wie soll Europa so langfristig funktionieren und »weltpolitikfähig« werden?
In Moskau hat Wladimir Putin seine neue Amtszeit als russischer Präsident angetreten. Ob es unter seiner Führung zu einer Entspannung mit dem Westen kommen kann, scheint mehr als fraglich. Erst jüngst stellte er neue strategische Nuklearwaffen vor, die das russische Militär in den Dienst zu nehmen gedenkt. Gleichzeitig kommen wir bei der Frage der Rüstungskontrolle kaum weiter, ein Rüstungswettlauf ist in vollem Gange. Seit der russischen Intervention in Georgien, der Annexion der Krim und der andauernden russischen Einmischung in der Ostukraine machen sich unsere Verbündeten in Mittel- und Osteuropa große Sorgen. Einige Hundert Soldaten der Bundeswehr sind seit letztem Jahr in Litauen stationiert, um unsere Solidarität zu verdeutlichen. Einigen aber reicht das nicht. So hat das polnische Verteidigungsministerium verkündet, man wolle am liebsten eine ganze amerikanische Division auf dem eigenen Territorium. Was bedeuten solche Entwicklungen für die europäische Sicherheit? Wie können wir Sicherheit gewährleisten, ohne in eine neue Spirale der Aufrüstung einzutreten, die Unsicherheit für alle bringen würde?
Dass sich viele Menschen Sorgen um den Zustand der Welt machen, ist angesichts dieser Entwicklungen nur verständlich. Ich merke das landauf, landab, wenn ich Vorträge halte oder mit Bürgerinnen und Bürgern spreche, die wegen der Nachrichtenlage zutiefst verunsichert sind. Sie suchen nach Antworten.
In der Tat stehen wir heute wieder vor ganz grundlegenden außenpolitischen Fragen: Wie gehen wir mit einem Land wie Russland um, das die Basis der europäischen Sicherheitsarchitektur verletzt und liberale Demokratien zu schwächen versucht? Was heißt es für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand, wenn die USA unter Donald Trump viele der Kernprinzipien US-amerikanischer Außenpolitik seit 1945 offen infrage stellen? Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Wie steht es in Zeiten des Brexit und populistischer Bewegungen in Europa um die Zukunft der Europäischen Union? Was soll es eigentlich konkret heißen, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen muss und will?
Bisweilen mag man hierzulande den Eindruck bekommen, dass die Debatte über diese grundlegenden außenpolitischen Fragen unserer Zeit eher vermieden als gesucht wird: Sie ist oft unbequem und anstrengend.
Ich glaube nicht, dass wir uns eine solche Haltung angesichts der sich verschlechternden globalen Sicherheitslage noch länger leisten können. Denn auf unser Land werden in den nächsten Jahren noch größere außenpolitische Herausforderungen zukommen, auf die wir bislang nur unzureichend vorbereitet sind. Zudem gibt es auf alle diese Fragen keine einfachen Antworten. Umso wichtiger, dass wir miteinander über diese Herausforderungen und die Frage, wie wir gemeinsam mit ihnen umgehen, sprechen und debattieren.
Übrigens hat das auch die Bundesregierung erkannt, die im Koalitionsvertrag von 2018 feststellt, dass Deutschland »[a]ngesichts der internationalen Herausforderungen […] seine Kapazitäten zur strategischen Analyse stärken und seine strategische Kommunikation intensivieren [muss]«. Der Koalitionsvertrag betont deshalb die Notwendigkeit, stärker »in den Ausbau des außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Sachverstands« in Deutschland zu investieren, und erwähnt hier ausdrücklich die Rolle von Organisationen wie der Münchner Sicherheitskonferenz.
Die Münchner Sicherheitskonferenz, deren Vorsitzender ich seit 2008 bin, hat sich in den vergangenen Jahren auch intensiv darum bemüht, sich der Allgemeinheit immer stärker zu öffnen. Wie zu Zeiten ihrer Gründung in den 1960er-Jahren geht es auch heute noch jedes Jahr darum, die wichtigsten Entscheidungsträger und Vordenker zusammenzubringen, um über die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart zu diskutieren, oft gar zu streiten. Dass dies immer wichtiger wird, zeigt auch das in den letzten Jahren enorm gestiegene Interesse an unserer Hauptveranstaltung in München. Die Herausforderungen gehen aber keineswegs nur die politische Elite etwas an. Anders als zu Gründungszeiten werden die Münchner Debatten deshalb heute im Fernsehen übertragen und können per Livestream auf der ganzen Welt verfolgt werden.
Dieses Buch soll ein weiterer Beitrag zu dieser unverzichtbaren öffentlichen Debatte sein, die in unseren turbulenten Zeiten notwendiger ist denn je. Das Buch richtet sich ausdrücklich nicht an die Fachleute unter uns. Es ist vielmehr ein Buch für alle, die etwas besser verstehen wollen, was in der Welt gerade schiefläuft, was das für uns bedeutet und was wir dagegen tun können und müssen. Wenn es zusätzlich den einen oder anderen Einblick in die Welt der Diplomatie geben und Verständnis für die Komplexität heutiger Außenpolitik fördern kann, dann hat es seinen Zweck erfüllt.
Die konkrete Idee zu diesem Buch entstand 2017. Jürgen Diessl und Maria Barankow vom Econ Verlag kamen mit einer Buchidee auf mich zu, die ich erst mal rundweg ablehnte, weil ich der Meinung war, erstens könne ich das nicht und zweitens würde mir die Zeit dafür fehlen.
Sie ließen aber nicht locker, vor allem mit dem Argument, ich beklage doch seit Längerem die mangelhafte außenpolitische Debatte in Deutschland. Warum ich denn nicht mal selbst einen Buchbeitrag zur strategischen Kultur leisten wolle?
Das überzeugte mich schließlich doch. Hier ist es nun – mehr als ein Jahr später –, und alle Unklarheiten oder Oberflächlichkeiten sind ausschließlich meine Verantwortung. Ich habe darauf verzichten müssen, alle aktuellen sicherheitspolitischen Fragen gleichermaßen intensiv abzuhandeln. Einige wichtige Themen wie Cyber-Sicherheit oder die rasch wachsende internationale Rolle Chinas konnten nur gestreift werden, um genügend Raum zu lassen für die Abhandlung der grundlegenderen Fragen von Krieg und Frieden, von internationaler Verantwortung und globaler Ordnungspolitik, ebenso wie für die Diskussion unserer Beziehungen zu Russland und den USA, über die in Deutschland gegenwärtig so intensiv debattiert wird.
Dieser Band wäre ohne den mahnenden Druck von Jürgen Diessl und Maria Barankow, die auch das Lektorat übernahm, nie fertig geworden.
Besonders großen Dank schulde ich Claudia Cornelsen, die mir stundenlang geduldig zuhörte, unendlich viele Fragen stellte, bei zahlreichen Vortragsveranstaltungen dabei war und mir enorm viel Schreibarbeit abnahm.
Für viele Ideen und Anregungen möchte ich meinen Weggefährten aus dem Auswärtigen Amt danken, dem ich fast 40 Jahre lang angehörte. Ebenfalls danken möchte ich meinen Wegbegleitern aus vielen Teilen der diplomatischen Welt und aus der weitverzweigten internationalen Think Tank Community, genauso wie Kollegen und Freunden aus der Hertie School of Governance, wo ich unterrichte.
Ohne die fortlaufende und kritische Unterstützung und Begleitung seitens des Teams der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) hätte das Projekt nicht neben all den Konferenzen, Vortragsveranstaltungen und Schriften gelingen können. Dr. Benedikt Franke, dem Chief Operating Officer der MSC, danke ich stellvertretend für alle MSC-Mitarbeiter in München und Berlin.
In ganz besonderer Weise danke ich aber dem Berliner »Policy Team« der MSC für intensiven und kritischen Rat, insbesondere Dr. Tobias Bunde (Leiter des Politik- und Analysestabs), Adrian Oroz (inzwischen in den Auswärtigen Dienst gewechselt), Lisa Marie Ullrich (meiner Büroleiterin) sowie Dr. Sophie Eisentraut und Jamel Flitti.
Schließlich lag eine hohe Arbeitslast bei meinem Sekretariat, insbesondere bei Pia Zimmermann und Amadée Mantz, die auch ohne das Buchprojekt alle Hände voll zu tun hatten.
Und ohne Jutta Falke-Ischinger, die das Projekt mit einer Mischung aus ehelicher Langmut und journalistisch-professionellem Rat begleitete, wäre ohnehin alles nichts.
Berlin, im Juli 2018
Wolfgang Ischinger
1
Welt aus den Fugen
Während meiner Zeit als Botschafter in den USA wurden meine Frau und ich im Januar 2005 zu einem prachtvollen Ball nach Palm Beach in Florida eingeladen. Die Kleiderordnung sah vor: Frack, Orden, langes Kleid. Der Ort des Benefiz-Rot-Kreuz-Balls war Mar-a-Lago, der Gastgeber hieß Donald Trump. Als römische Gladiatoren verkleidete junge Männer trugen Fackeln, während die Gäste, darunter einige Botschafterkollegen und ich mit unseren Frauen, sich über einen langen roten Teppich dem Gastgeber und seiner damals frisch angetrauten Ehefrau Melania näherten. Ein echtes Hollywood-Erlebnis! Später an diesem Abend habe ich mit Donald Trump über die pfälzische Heimat seines Großvaters geplaudert – nicht ahnend, dass dieser Mann zehn Jahre später eine politische Karriere anstreben würde und dann, zur Überraschung fast aller, im November 2016 zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt werden würde.
Seit den Anfängen meiner diplomatischen Karriere Anfang der 70er-Jahre habe ich eine große Zahl von internationalen politischen Führungspersönlichkeiten persönlich kennenlernen und erleben können. Ende der 70er-Jahre fing das an mit Jimmy Carter, gefolgt von Ronald Reagan. In den 80er-Jahren erlebte ich den gefürchteten sowjetischen Außenminister Gromyko, genauso wie den schrecklichen rumänischen Diktator Ceauşescu, und dann auch Michail Gorbatschow, George H. W. Bush, Maggie Thatcher, François Mitterrand und Jacques Chirac. In den 90er-Jahren musste ich mit dem später in Den Haag verurteilten serbischen Präsidenten Milošević verhandeln. Dabei lernte ich unter anderem auch den späteren russischen Außenminister Igor Iwanow kennen, mit dem ich bis heute befreundet bin. Im Gefolge des damaligen Bundeskanzlers Schröder begegnete ich dann Wladimir Putin und versuchte als Botschafter in Washington bei George W. Bush für bessere Stimmung gegenüber Deutschland zu sorgen, die im Zuge des Irakkrieges sehr gelitten hatte. Und in den letzten zehn Jahren habe ich als Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz eine große Zahl weiterer Staatsführer, Minister und internationaler Entscheidungsträger kennengelernt, von den UN-Generalsekretären über die Präsidenten der EU-Kommission, vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko bis zum iranischen Außenminister Zarif und seinem saudischen Gegenspieler Adel al-Dschubeir.
Einige dieser Führungspersönlichkeiten haben entscheidende weltpolitische oder historische Weichenstellungen verantwortet. Man denke etwa an Ronald Reagan und seinen Nachfolger George H. W. Bush, man denke an Kohl und Gorbatschow: friedliche Wiedervereinigung, Auflösung der Sowjetunion!
Aber keiner unter diesen vielen Entscheidungsträgern hat die Welt so durcheinandergewirbelt und verunsichert wie Präsident Trump seit seinem Amtsantritt im Januar 2017. Die gesamte etablierte liberale Weltordnung scheint ins Rutschen geraten zu sein – nichts ist mehr so, wie es einmal war.
Dass die Welt gefährlicher geworden ist, war ja vielen unter uns schon seit 9/11, dem Irakkrieg und den blutigen Kriegen in Syrien und dann auch im Jemen klar. Als Putin 2014 die Krim annektierte und den blutigen Konflikt in der Ostukraine anzettelte, sahen viele in ihm den großen Verunsicherer. Niemand konnte ahnen, dass ausgerechnet der neue amerikanische Präsident derjenige sein würde, der alles Etablierte infrage stellen würde – den Freihandel genauso wie den westlichen Wertekanon oder die gegenseitige Sicherheitsgarantie, wie sie in Artikel 5 des NATO-Vertrags verankert ist.
Aber wie gefährlich ist die Lage wirklich? »Die globale Sicherheitslage ist heute gefährlicher als jemals zuvor seit dem Zerfall der Sowjetunion.« Diese Warnung habe ich in vielen Vorträgen immer wieder bekräftigt.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier drückte es ähnlich aus, als er noch Außenminister war: »Die Welt ist aus den Fugen geraten.« Wir erleben offenbar einen Epochenbruch, eine Ära geht zu Ende, und die Umrisse eines neuen weltpolitischen Zeitalters sind bisher erst in Ansätzen erkennbar. Aber klar ist: Ganz gleich, wohin das Auge schaut, auf der Welt gibt es unzählige Konflikte, vielfach Krisen, die wir Europäer bis nach Hause spüren können. So sind etwa 70 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, ein trauriger Rekord. Und laut SIPRI, dem Schwedischen Friedensforschungsinstitut, dessen Kuratorium ich lange angehörte, sind 2017 die weltweiten Rüstungsausgaben weiter gestiegen – ein Fieberthermometer für die steigenden Spannungen und blutigen Konflikte.
In Syrien, dessen Küste nur 125 Kilometer vom EU-Mitglied Zypern entfernt ist, sind in den letzten Jahren Hunderttausende Menschen getötet worden. Millionen mussten ihre Häuser verlassen. Inzwischen haben die Vereinten Nationen aufgehört, die Toten zu zählen, weil die Informationen aufgrund mangelnden Zugangs nicht länger verifizierbar sind. Im April 2016 schätzte Staffan de Mistura, UN-Sondergesandter für Syrien, die Anzahl der bisherigen Toten auf 400 000. Mittlerweile gehen andere Schätzungen von etwa einer halben Million Todesopfern aus. Das entspricht der Bevölkerung von Dresden oder Nürnberg.
Mehr als sechs Millionen wurden seit Beginn des Konfliktes innerhalb von Syrien, das etwa so groß ist wie Deutschland, vertrieben. 5,6 Millionen Menschen sind seither ganz aus Syrien geflohen. Zusammen machen diese beiden Gruppen mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung aus. Und immer noch erreichen uns Nachrichten über Gräueltaten wie den Einsatz von Fassbomben in Wohngebieten oder von chemischen Waffen. Syrien, einst Reiseziel für Kulturinteressierte aus aller Welt, ist zu einem Land im dauerhaften Ausnahmezustand geworden; Städtenamen wie Aleppo, Afrin oder Ost-Ghouta sind mittlerweile Inbegriff von Grauen, Leid und Tod.
Syrien ist nur das schrecklichste Beispiel für die vielen internationalisierten Bürgerkriege, also Kriege, in denen ein Konflikt als Auseinandersetzung zwischen lokalen Akteuren beginnt, nach und nach aber immer mehr externe Mächte involviert. Auch im Jemen tobt so ein schrecklicher Krieg, bei dem regionale Mächte kräftig mitmischen – Iran auf der einen, Saudi-Arabien auf der anderen Seite.
Auf unserem Nachbarkontinent in Afrika befinden sich gleich mehrere Staaten in einem Dauerzustand der Gewalt: Man denke an Mali, man denke an den Sudan, den Kongo oder an Somalia. Ein anderer Brennpunkt findet sich gar direkt vor der Tür der Europäischen Union, von Berlin nicht weiter entfernt als Paris: In der Ukraine, dem Nachbarland von Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei, tobt ein militärischer Konflikt. Seit 2014 sind dort bereits über 2500 Zivilisten getötet worden. Auch nach vier Jahren internationaler Verhandlungen über eine Befriedung der Lage wird dort immer noch regelmäßig geschossen.
Das sind wohlgemerkt nur die Kriege und Konflikte, die besondere internationale Aufmerksamkeit erhaschen. Unter dieser sichtbaren Spitze des Gewalt-Eisbergs findet sich ein weniger beachtetes, jedoch ausgesprochen dickes Packeis aus zahlreichen gewalttätigen Konflikten, verteilt über die ganze Welt. Zu ihnen gehören: der Bürgerkrieg im Südsudan, Attentate auf dem Sinai in Ägypten, der Staatszerfall in Libyen, der Drogenkrieg auf den Philippinen, der Konflikt mit den Taliban in Nordwestpakistan und der Krieg gegen Islamisten in Mali. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Zu den aktuelleren Krisen kommen die »ewigen« Dauerbrennpunkte, etwa die seit 1984 fast durchgängig militärisch geführten Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der PKK, der seit dreißig Jahren wütende somalische Bürgerkrieg, der seit 1950 gärende Streit zwischen Tibet und China, der genauso alte Konflikt zwischen China und Taiwan und die territorialen Konflikte im Südchinesischen Meer. Ebenso wenig gelöst ist die Situation der abtrünnigen (und besetzten) Regionen Bergkarabach, Transnistrien, Südossetien und Abchasien, der Konflikt Russlands mit Tschetschenien, die inter-ethnischen Spannungen auf dem Westbalkan einschließlich des nach wie vor umstrittenen Status des Kosovo, die Streitigkeiten um das Atomprogramm des Iran, die krisengeprägte Beziehung zwischen Nord- und Südkorea, die seit 65 Jahren lediglich auf einem Waffenstillstand, aber keinem Friedensvertrag beruht, und nicht zuletzt der Israelisch-Palästinensische Konflikt.
Und schließlich gibt es noch die Länder, die sich nach traumatisierenden und nur mühsam befriedeten Bürgerkriegen nun am Wiederaufbau eines stabilen Staates abrackern und in denen jederzeit mit einem erneuten Aufflackern alter Konflikte zu rechnen ist: Ruanda, die Elfenbeinküste, Tschad, Kongo oder Sri Lanka seien hier als Beispiele genannt.
Voller Besorgnis müssen wir aber auch in Länder blicken, in denen zwar nicht geschossen wird, die aber keineswegs als stabil gelten können. Die Türkei stand beim Putschversuch im Sommer 2016 an der Schwelle zum Bürgerkrieg, findet sich seither in einem zunehmend autoritär anmutenden Ausnahmezustand und hat sich mit dem Einmarsch in Afrin tief in die Wirren des Syrienkriegs hineinbegeben. Aber auch in der EU selbst ist politische Stabilität keineswegs garantiert: In Spanien hat zuletzt die Katalonien-Krise große politische Sprengkraft entwickelt.
Neben Krisen, militärische Konflikte und politische Instabilität reihen sich weltweite Terroranschläge. Zu ihren bekanntesten Urhebern gehören der Islamische Staat, Boko Haram, al-Qaida und die Taliban. Die allermeisten dieser Attentate der vergangenen Jahre wurden im Irak, in Afghanistan, Pakistan, Nigeria und Syrien verübt.
Deutschland war bislang glücklicherweise kein Hauptziel des Terrors. Trotzdem reicht auch hier die Spanne terroristischer Attentate von heimtückischen Morden und Raubüberfällen des rechtsradikalen NSU bis hin zu schweren islamistischen Attacken mit Lastwagen oder Messern. Die Angst hierzulande mag größer sein als die reale Gefahr; aber der zunehmend sorgenvolle Blick der Deutschen auf die chaotische Weltlage ist durchaus berechtigt.
Um die besorgniserregende Liste noch über klassische Sicherheitsthemen hinaus zu erweitern, seien beispielhaft Fukushima, der Zika-Virus und die Vogelgrippe, Klimawandel, Brexit, WikiLeaks und die Snowden-Affäre genannt. Das dürfte reichen, um auch dem letzten Spaßvogel den Tag zu verderben.
Nur dreißig Minuten bis zum großen Krieg
Die ungewöhnlich große Fülle an gefährlichen und blutigen Krisen und Konflikten wird »gekrönt« durch eine fortdauernde nukleare Bedrohung, die zu einer solchen Normalität geworden ist, dass sie kaum noch im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit steht.
In Deutschland, dem Land, in dem in den 1980er-Jahren noch hunderttausend Menschen durch den Bonner Hofgarten marschierten, um gegen neue nukleare Mittelstreckenraketen zu protestieren und für den Frieden zu demonstrieren, ist eines kaum mehr präsent in den Köpfen: dass die Gefahr einer Großmachtkonfrontation und damit auch einer nuklearen Eskalation keineswegs gebannt ist. Umso erfreulicher ist es, dass der Friedensnobelpreis 2017 an die Gegner der nuklearen Bewaffnung ging – auch wenn das die Nuklearmächte kaum zur Abrüstung veranlassen wird.
Während wir hier in Deutschland aufgeregt darüber diskutieren, ob wir das Budget für die Bundeswehr überhaupt erhöhen sollten, ist in vielen Teilen der Welt bereits längst ein Rüstungswettlauf im Gange: Chinas zunehmend selbstbewusstes Auftreten schlägt sich immer deutlicher auch in seinem militärischen Geltungsanspruch nieder. Peking rüstet auf. Da stellt sich die Frage: Wird der weitere Aufstieg Chinas friedlich erfolgen, oder wird er irgendwann in einen gewaltsamen Konflikt münden?
Auch in Russland und den USA gibt es neue Aufrüstungsinitiativen, insbesondere im Bereich der Nuklearwaffen. So werden die alten Atombomben modernisiert, aber auch völlig neue Waffensysteme entwickelt. Gleichzeitig kam es zwischen russischen Militärmaschinen und der NATO in den letzten Jahren immer wieder zu Beinahe-Zusammenstößen, die in der derzeitigen angespannten Lage leicht außer Kontrolle geraten könnten. Wie stellen wir sicher, dass ein Missverständnis nicht direkt in eine Eskalationsspirale mündet?
Nordkorea und die USA haben sich im letzten Jahr gegenseitig mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht, und im Nahen Osten sind hochgerüstete rivalisierende Mächte – zum Beispiel Saudi-Arabien und Iran, aber auch Israel und Iran – immer näher an den Abgrund eines Konflikts gerückt. Was kann getan werden, um die Gefahr einer Eskalation zu verringern, die möglicherweise nicht mehr einzufangen wäre?
Wir haben zwar in den letzten Jahrzehnten eine massive Reduzierung der Nuklearwaffen erlebt, zuletzt initiiert durch das »New Start«-Abkommen zwischen Putin und Obama. Aber die USA und Russland halten immer noch insgesamt etwa 13 000 Atomsprengköpfe vor, um gegebenenfalls auf einen feindlichen militärischen Angriff reagieren zu können.1
Viele halten einen Atomkrieg nur für ein Schreckgespenst der Vergangenheit oder eine dramatisch inszenierte Drohkulisse aus einem James-Bond-Film. Aber die atomare Bedrohung ist real, und etwa 1800 atomare Sprengköpfe stehen weltweit mit sehr sehr kurzer Zündschnur Tag und Nacht in Höchstbereitschaft.2
Dabei sollte man sich vor Augen führen, wie oft wir in den letzten Jahren militärisch relevante Vorfälle hatten. Ich bin Mitglied im European Leadership Network (ELN), das in einer Reihe von Publikationen vor solchen Gefahren gewarnt und dokumentiert hat, wie oft es zu Beinahe-Zusammenstößen oder unnötigen Provokationen zwischen russischen und westlichen Flugzeugen oder Schiffen kam. Laut ELN ereigneten sich allein zwischen März 2014 und März 2015 60 solcher Fast-Kollisionen. Darunter sind Fälle wie der eines Scandinavian-Airlines-Fliegers, der in der Nähe von Kopenhagen fast mit einem russischen Militärflugzeug zusammenstieß. Hier entging man nur ganz knapp einer Katastrophe. Die meisten Vorfälle, die das ELN als ernst bezeichnet, wurden von Russland provoziert, aber auch die NATO hat Verantwortung (und ein Interesse daran), alles dafür zu tun, dass das Konfrontationsrisiko minimiert wird.
Riskantes Handeln am Abgrund
Die Gefahr eines zwischenstaatlichen Krieges zwischen Groß- und Mittelmächten ist jedenfalls in letzter Zeit wieder klar gestiegen. Aufgrund solcher Sorge hatte ich mich entschieden, die Münchner Sicherheitskonferenz 2018 unter das Motto zu stellen: »To the Brink – and Back?« Auf Deutsch: »Bis zum Abgrund – und wieder zurück?« Denn was wir im vergangenen Jahr an vielen Orten der Welt beobachten konnten, war in der Tat nichts anderes als das, was Amerikaner »brinkmanship« nennen, also äußerst riskantes Handeln am Abgrund – dem Abgrund des Krieges.
Wir hatten gehofft, dass von der Sicherheitskonferenz ein Signal der Deeskalation und Entspannung ausgehen könnte und Initiativen präsentiert würden, wie wir gemeinsam wieder vom Abgrund zurücktreten könnten. Leider war dies nicht der Fall: Stattdessen gossen zu viele Redner weiter Öl ins Feuer. Ich bin 2018 noch besorgter, als ich es 2017 schon war.
Das soll keine Panikmache sein: Ein großer Krieg ist weiterhin eher unwahrscheinlich. Aber das Risiko ist eben leider doch deutlich größer als noch vor einigen Jahren. Die Lage ist heute so angespannt und gefährlich wie noch nie seit dem Ende des Kalten Kriegs. Es ist also höchste Zeit, dass die politisch Verantwortlichen in aller Welt diese Gefahr ernst nehmen und entsprechend handeln.
Globaler Trend: Mehr Ungleichheit, weniger Freiheit
Nicht nur Krieg und Gewalt spielen offenbar wieder eine größere Rolle. Auch ein neuer Systemwettbewerb scheint sich anzubahnen. Die liberale Demokratie und das Prinzip offener Märkte sind – anders als Anfang der 1990er-Jahre – heute nicht mehr die einzig vorstellbaren Modelle legitimer politischer und wirtschaftlicher Ordnung.
Im Jahresbericht von Freedom House, einer amerikanischen Nichtregierungsorganisation, die jährlich über den Stand der Freiheit in der Welt berichtet, heißt es trocken: »Die Demokratie sah sich 2017 ihrer schwerwiegendsten Krise seit Jahrzehnten gegenüber, da ihre grundlegenden Elemente – eingenommen Garantien freier und fairer Wahlen, Minderheitenrechte, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit – überall auf der Welt angegriffen wurden.«
Laut den Indikatoren von Freedom House war 2017 das zwölfte Jahr in Folge, in dem es mehr Länder gab, deren Niveau an politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten zurückging, als solche, die einen positiven Trend zu verzeichnen hatten. Ähnliche Schlussfolgerungen trifft der jüngste »Transformationsindex« der Bertelsmann-Stiftung, der die Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft in 129 Entwicklungs- und Transformationsländern erhebt. Kurz gefasst lautet der besorgniserregende Trend, den die Forscher ausmachen: mehr Ungleichheit, weniger Freiheit.
In China hat die Kommunistische Partei ein System des autoritären Staatskapitalismus entwickelt, der durchaus erfolgreich darin war, breiten Teilen der Bevölkerung den Weg aus der Armut zu moderatem Wohlstand zu öffnen. Das hat China für viele autoritär geführte Staaten zu einem attraktiven Vorbild gemacht. Und das, obwohl auch die Autoren des Transformationsindex betonen, dass Demokratien viel eher in der Lage sind, Korruption, soziale Ausgrenzung oder Barrieren zu fairem ökonomischen Wettbewerb zu bekämpfen. Autokratische Staaten haben hier eine viel schlechtere Bilanz, von menschenrechtlichen Erwägungen ganz zu schweigen.
Trotzdem: Vor allem aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs gibt sich die chinesische Führung überaus selbstbewusst und preist ihr System gar als ein Exportmodell für andere Staaten zur Nachahmung an. Und all dies, während Präsident Xi Jinping die Verfassung ändern lässt, um selbst länger im Amt zu bleiben.
Russland hat den Weg hin zu einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat längst verlassen. Eine echte Opposition, freie Medien oder eine lebendige Zivilgesellschaft werden gar nicht erst zugelassen. Und dennoch scheint die Idee einer starken Führung nicht nur bei den Russen, sondern auch anderswo in der Welt immer stärker zu verfangen.
Selbst in der Europäischen Union finden sich Fürsprecher einer sogenannten illiberalen Demokratie. Sie wollen die Presse- und Meinungsfreiheit einschränken, warnen vor der »Eurokratie« in Brüssel oder verfallen in generelle Fremdenfeindlichkeit. Sie bilden eine Achse der Angst, die das Heil im Rückmarsch in einen überholten Nationalismus sucht.
Und schließlich müssen auch in den USA, dem früheren Hort der Freiheit, die Verteidiger der Demokratie nun täglich um die Einhaltung von Normen kämpfen, die früher als unangreifbar galten.
Liberalismus ist aber auch in einer anderen Form unter Druck geraten. So galt das Prinzip einer offenen Weltwirtschaft über viele Jahrzehnte als Garant für Wohlstandsgewinne. Nun wird es zunehmend infrage gestellt. Seit Jahren stagnieren die Verhandlungen über den Abbau von Handelshemmnissen im Rahmen der Welthandelsorganisation. Regionale Freihandelsabkommen können oft nur mit großen Mühen ratifiziert werden, selbst jenes zwischen der Europäischen Union und Kanada.
Inzwischen hat ausgerechnet der Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, neue Schutzzölle auf Stahl und Aluminium eingeführt, von denen die Europäische Union seit Juni 2018 nicht mehr ausgenommen ist. Die Gefahr besteht, dass dies der Auftakt zur Einführung immer weiterer Maßnahmen ist, an dessen Ende ein Handelskrieg steht, bei dem niemand gewinnt.
Globale Krisenmanager unter Druck
Internationale Organisationen und Vereinbarungen sind ebenfalls unter Druck geraten. Zwar beweisen etwa das Zustandekommen des Pariser Klimaabkommens oder der Atomdeal mit dem Iran, dass es weiterhin möglich ist, gemeinsam Antworten auf zentrale Zukunftsfragen der Menschheit zu finden. Aber gerade diese Beispiele zeigen eben auch, auf welch wackligen Füßen die erreichten Kompromisse stehen: Nach dem US-Rückzug aus dem Iran-Abkommen im Mai 2018 ist dessen Zukunft höchst fragwürdig geworden. Den Austritt aus dem Klimaabkommen hatte Donald Trump schon im Sommer 2017 verkündet.
Wichtige Staaten, allen voran die USA unter Präsident Trump, kürzen Gelder für Friedensmissionen oder ziehen sich aus Sonderorganisationen der Vereinten Nationen zurück. Wie zu Zeiten des Kalten Kriegs sind die Vereinten Nationen wieder häufig handlungsunfähig, weil sich die Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat gegenseitig blockieren. Weil der Rat zudem die heutige globale Machtverteilung nicht mehr spiegelt, weichen frustrierte Staaten auf Ersatzformate aus: Dabei haben informelle »Clubs« wie die G7 und G20 besonderen Aufwind erfahren. Dahinter steht die Hoffnung, dass es in diesen wenig verregelten Gremien so etwas wie »effektiven Multilateralismus« geben kann. Aber stimmt das auch? Hat der G7-Gipfel von La Malbaie, dessen Ergebnisse Trump im Nachhinein per Twitter untergrub, nicht massive Zweifel daran geweckt?
Der amerikanische Politikberater Ian Bremmer, ein kluger Kopf, mit dem mich eine lange Freundschaft verbindet, spricht denn auch von der Entstehung einer »G-Zero World«, einer G-Null, also eines Vakuums, das sich aus dem Niedergang westlichen Einflusses und der Fokussierung vieler Staaten auf ihre eigenen innenpolitischen Probleme speist. Das Resultat, so Bremmer, ist eine Welt, in der kein Land alleine in der Lage, aber auch keine Gruppe von Staaten willens ist, eine echte globale Agenda zu entwickeln, geschweige denn Lösungen für die Probleme der Welt zu liefern.
In Europa haben die Annexion der Krim und der andauernde Eingriff Russlands in der Ostukraine gezeigt, dass unser Kontinent kein postmodernes Paradies ist, in dem der Einsatz militärischer Gewalt ausgeschlossen ist. Der Traum von 1990, dass mit dem Ende der deutschen Teilung eine Russland einbeziehende dauerhafte euro-atlantische Sicherheitsarchitektur entstehen würde, ist zerstoben.
Insgesamt überwiegt der Pessimismus
Vom weitverbreiteten Optimismus der frühen 1990er-Jahre ist heute jedenfalls nur noch wenig zu spüren. Wissenschaftler, die an den generellen Fortschritt glauben, fallen auch deswegen auf, weil sie eher eine Ausnahme in der gegenwärtigen Debatte darstellen. Vor nicht allzu langer Zeit wäre das noch ganz anders gewesen.
Noch vor etwa zwanzig Jahren glaubten wir, dass die Welt sich nun nahezu unaufhörlich in die richtige Richtung bewegen würde. Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft waren überall auf dem Vormarsch. Internationale Organisationen übernahmen immer mehr Aufgaben und schienen ein Modell globalen Regierens zu verkörpern, das es mit Umweltverschmutzung, Kinderarbeit oder Infektionskrankheiten aufnehmen würde. Vieles schien auf dem richtigen Weg.
Die Gründung der Welthandelsorganisation 1995 galt als Meilenstein. Eine offene Weltwirtschaft sei langfristig gut für alle, und dafür bedürfe es gemeinsamer Regeln. Das war im Prinzip breiter Konsens, auch wenn unfaire Handelspraktiken wie Dumping oder Exportzuschüsse natürlich weiter bestanden.
China war damals noch kaum auf der geopolitischen Landkarte zu finden. Das Reich der Mitte war mitten in einem Wirtschaftsaufschwung, aber kaum jemand dachte daran, dass es sich auch zu einem politischen Rivalen der bisher größten Wirtschaftsmacht, den USA, entwickeln könnte. Stattdessen glaubten viele daran, dass China, wie es mein langjähriger Freund, der frühere Weltbank-Chef Robert Zoellick, formulierte, durch Einbindung in internationale Organisationen, allen voran die globale Wirtschaftsarchitektur, zu einem »responsible stakeholder« werden könnte, sich also als verantwortlicher Partner in die bestehende liberale Weltordnung einfügen würde.
1992 fand in Rio de Janeiro die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung statt. Hier wurde die »Agenda 21« verabschiedet, die gemeinsame Ziele für eine nachhaltige Entwicklung definierte. Die Konferenz war der Ausgangspunkt für eine ganze Reihe an wichtigen globalen Initiativen zum Umwelt- und Klimaschutz. Hier schien die Vision von funktionierender »Global Governance«, also dem Regieren jenseits des Nationalstaats, um globale Probleme zu lösen, plötzlich greifbar.
Wir sprachen von der »Friedensdividende« und hofften darauf, dass das viele Geld, das bis dahin in hochgerüstete Streitkräfte in Ost und West geflossen war, nun anderen Zwecken dienen könne. Einige Länder wie Kasachstan oder die Ukraine verzichteten gar freiwillig auf die Atomwaffen, die auf ihrem Territorium lagerten. Der Kalte Krieg lag hinter uns, die Zukunft versprach Abrüstung und Zusammenarbeit.
In den 1990er-Jahren sahen wir Russland als Partner, als ein Land, das sich modernisierte und sich in Richtung einer echten Demokratie entwickeln würde. Aus der KSZE wurde die OSZE. Es änderte sich zwar scheinbar nur ein Buchstabe, aus der Konferenz wurde fortan die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Aber dahinter steckte eine visionäre Vorstellung, wie sie der damalige russische Präsident Michail Gorbatschow formuliert hatte, vom »gemeinsamen Haus Europa«, gemeinsam für West und Ost.
In Europa standen die Zeichen insgesamt auf Kooperation. Nach Jahrzehnten, in denen eine kleine, aber größer werdende Gruppe europäischer Länder wirtschaftlich und politisch immer enger zusammenarbeitete, wurde 1992 aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) die Europäische Union. Seither ist ihre Mitgliederzahl beträchtlich gewachsen, von 12 im Jahr 1992 auf 28 heute. Damals glaubten fast alle, dass die Erweiterung und die Vertiefung der EU zwei Seiten einer Medaille seien und dass wir Europäer, wie es die Gründerväter und -mütter formuliert hatten, unaufhaltsam weiter auf dem Weg zu einer »immer engeren Union« voranschreiten würden.
Die USA unterstützten – nicht immer vorbehaltlos, aber doch aus Prinzip – die Europäer dabei, ihre Zusammenarbeit zu vertiefen, und befürworteten die EU-Erweiterungsschritte, die von der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Länder in die NATO begleitet wurden. Diese Länder schienen nach dem Ende des Kalten Kriegs endlich ihren Platz im Westen zu finden. Der damalige US-Präsident George H. W. Bush formulierte den Wunsch nach einem »Europe whole, free, and at peace«, also nach einem Europa, das ungeteilt war, frei und friedlich. Die USA reduzierten zwar ihr in Europa stationiertes militärisches Personal beträchtlich, aber niemand zweifelte ernsthaft daran, dass die Vereinigten Staaten auch weiterhin in Europa engagiert und damit eine »europäische Macht« bleiben würden.
Für uns Deutsche waren diese Entwicklungen ein Glücksfall. Mit der Zeitenwende von 1989–1991, vom Fall der Berliner Mauer bis zum Ende der Sowjetunion, wurden die Kernziele der bundesdeutschen Außenpolitik erreicht. Deutschland war wiedervereint und nun »von Freunden umgeben«. Es wurde in wichtige internationale Organisationen eingebunden, von den Vereinten Nationen über die EU bis zur NATO, und wieder zu einem respektierten Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Eine Bedrohung seiner nationalen Sicherheit war nicht in Sicht.
Die guten Nachrichten – Es gibt sie auch
Obgleich sich manch eine dieser Hoffnungen auf Frieden, Demokratie, Menschenrechte und freien Handel zerschlagen hat, gibt es historisch betrachtet doch durchaus Grund zum Optimismus. Deshalb wäre es falsch, allein ein apokalyptisches Szenario zu zeichnen. Denn nimmt man einmal ein wenig Abstand von den tagesaktuellen Nachrichten und versucht, das große Ganze in den Blick zu nehmen, bietet sich das Bild einer Menschheit, die immer friedlicher, aber auch gesünder und reicher geworden ist. Dieses Bild, so betonte der Harvard-Professor Steven Pinker in einer Reihe von Publikationen wieder und wieder, zeigt, dass wir uns insgesamt in die richtige Richtung bewegen.
Pinkers Optimismus wird durch wichtige aktuelle Kennzahlen gestützt: Egal wie oft wir in den Nachrichten von Kriegen und Kriegsopfern hören und lesen, Fakt ist: Die globalen Opferzahlen sind in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich zurückgegangen. Auch die globale Armut, die uns durch unzählige Berichte und Reportagen immer wieder drastisch vor Augen geführt wird, ist gesunken: Milliarden Menschen, viele von ihnen in China, sind aus extremer Armut aufgestiegen und bilden nun eine neue globale Mittelschicht. Allein zwischen 2005 und 2010 gelang es, die Zahl der Menschen, die von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben müssen, um eine halbe Milliarde zu reduzieren.
1950 konnte weltweit nur jeder dritte Mensch lesen und schreiben (36 Prozent). 2010 lag die Alphabetisierungsrate global schon bei vier von fünf Menschen auf der Welt (83 Prozent).
Außerdem ist es gelungen, etliche schwere Krankheiten zu besiegen, die noch vor wenigen Jahrzehnten regelmäßig unzählige Menschen das Leben kosteten. Die Verbreitung von Impfstoffen hat dazu geführt, dass die Zahl der Opfer von Masern zwischen 2000 und 2016 um 84 Prozent gesunken ist. Polio-Fälle sind seit 1988 gar um 99 Prozent zurückgegangen. Die Kindersterblichkeit konnte in den meisten Ländern deutlich reduziert werden. Laut der Weltgesundheitsorganisation starben 2016 jeden Tag 20 000 Kinder weniger als noch 1990.
Selbst der Tod ist weniger bedrohlich. Er kommt, aber nicht mehr so früh wie einst: Die globale Lebenserwartung ist von 45,78 Jahren im Jahr 1950 auf 71,43 Jahre im Jahr 2016 deutlich gestiegen.
Das klingt doch alles sehr erfreulich – und das ist es auch! Gleichwohl bremsen Kriege, Krisen und Instabilität auf der Welt diesen generellen Aufwärtstrend regelmäßig wieder aus oder drehen ihn gar zurück. Ein einziger großer Krieg, und schon steigen die Opferzahlen. Eine einzige tödliche Epidemie, und schon sinkt die Lebenserwartung. Deswegen wäre es fatal, sich bequem zurückzulehnen und der Welt ihren Lauf zu lassen, nach dem Motto: Wird schon besser werden!
Angesichts der vielen Opfer von Krieg und Gewalt wäre es mehr als zynisch, wenn man ihnen erklärte: Schade für euch, aber ihr seid gerade nur die Ausnahme auf dem Wege des Fortschritts zu Frieden und Gerechtigkeit.
Jedes einzelne Opfer, das vielleicht hätte verhindert werden können, ist eines zu viel.
Gründe für Hoffnung und Optimismus
Als ich nach Kriegsende geboren wurde, lag Deutschland in Trümmern und die schuldbeladene Nation schien unwiderruflich in die Knie gezwungen, de-industrialisiert, von Siegermächten besetzt und bald darauf in zwei große Stücke zersägt. Wer hätte damals auch nur einen Pfifferling darauf verwettet, dass im Jahre 2018 dieses Land wiedervereint, eine politisch stabile Demokratie und eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt sein würde? Diese Erfahrung teile ich mit vielen meiner Generation, und nur denjenigen, die jünger als dreißig sind, dürfte es so vorkommen, als habe Deutschland »schon immer« auf der Sonnenseite der Geschichte gestanden.
In meinem Berufsleben als Diplomat durfte ich zuerst in Bonn, später in Berlin und auf meinen Auslandsposten politische Ereignisse miterleben, die niemand für möglich gehalten hätte:
Meine Kollegen und ich fieberten mit, als am Abend des 30. September 1989 Außenminister Genscher auf den Balkon der Prager Botschaft trat und den Hunderten DDR-Flüchtlingen erklärte, dass sie am nächsten Tag mit dem Zug in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Einen der späteren Züge durfte ich als verantwortlicher Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes begleiten. Den Geruch von Angstschweiß in den eng besetzten Abteilen des Nachtzuges und den Jubel bei der morgendlichen Ankunft im Westen werde ich nie vergessen. Davon mehr in einem späteren Kapitel.
Ich saß hinter Kohl und Genscher auf der Bank der deutschen Delegation, als am 21. November 1990 in Paris die Staats- und Regierungschefs von 32 europäischen Ländern sowie den USA und Kanada die Spaltung Europas für beendet erklärten, sich im Schlussdokument der KSZE-Gipfelkonferenz zur Demokratie als einziger Regierungsform verpflichteten und ihren Völkern die Gewährleistung der Menschenrechte zusicherten. Der Tag, als die Charta von Paris unterzeichnet wurde, läutete das Ende des Kalten Kriegs ein, der bis dahin eine Bedrohung für die gesamte Welt gewesen war.
Ich war als deutscher Chefunterhändler beteiligt, als in Dayton/Ohio am 21. November 1995 der jahrelange blutige Krieg in Jugoslawien nach Wochen mühsamer Verhandlungen mit einem Friedensvertrag beendet wurde, der vom serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, vom kroatischen Präsidenten Franjo Tuðman und vom Vorsitzenden im bosnisch-herzegowinischen Präsidium Alija Izetbegović unterzeichnet wurde – drei Männern, die so bitterlich verfeindet waren, dass sie sich bis dahin nicht mal gemeinsam an einen Tisch hatten setzen wollen. Ich habe dabei gelernt, dass man um des Friedens willen auch mit Kriegsverbrechern reden muss und dass das Ziel des Friedens manchmal nur durch den Einsatz militärischer Macht erreichbar ist.
Ich hatte meinen ersten Arbeitstag als neuer deutscher Botschafter in Washington ausgerechnet am 11. September 2001 und musste, bevor ich überhaupt wusste, wie man die Telefonanlage bedient, mit meinen Mitarbeitern den Angehörigen der deutschen Anschlagsopfer zur Seite stehen und gleichzeitig den politischen Krisendialog zwischen der Bundesregierung und dem Weißen Haus begleiten und zum Teil auch selbst führen. Auf diese Weise erlebte ich aber auch eine außergewöhnliche Spendenbereitschaft und Großzügigkeit der deutschen Bevölkerung: Innerhalb weniger Wochen sammelten Deutsche viele Millionen Dollar zusammen, die ich später unter anderem dem Witwen- und Waisenfonds des US-Verteidigungsministeriums für die Angehörigen der Opfer des Anschlags auf das Pentagon überreichen durfte. Beeindruckt erklärte mir der zuständige US General bei der Scheckübergabe, so einen großen Betrag habe er noch nie aus dem Ausland bekommen.
Ich habe als Botschafter in London erlebt, wie mir wildfremde Menschen zujubelten, weil es uns Deutschen 2006 gelungen war, mit dem »Sommermärchen« eine freudige und friedliche Fußball-WM auszurichten, sodass die Briten beim Wort »Germany« sogar den traditionellen Dreiklang aus Hitler, Krieg und Kaiser Wilhelm vergaßen.
Und seit 2008 bin ich als Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz so vielen konstruktiven Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft begegnet, erfahrenen und klugen Köpfen, die nach neuen Lösungen und Ideen suchen, um die Welt zu einer besseren zu entwickeln. Ich bin guten Mutes, dass sich diese vielen guten Ideen auch in Zukunft positiv niederschlagen werden.
Es gibt im Englischen die Redewendung »Fog of War«, die zum Ausdruck bringen soll, dass im Krieg Pläne meist Makulatur werden, weil das tatsächliche Geschehen undurchsichtig im Nebel bleibt und Überraschungen, Unabwägbarkeiten und Unsicherheit dominieren. Befehlshaber haben oft selbst keinen vollständigen Überblick mehr und müssen folgenschwere Entscheidungen fällen, ohne mehr zu sehen als die Hand vor Augen.
Ich habe aber auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass aus dem Nebel heraus Konflikte plötzlich doch beigelegt werden können, dass Vertrauen und Zuversicht Hass und Verzweiflung ersetzen können, dass Frieden möglich ist.
Den Weg zum Frieden: Den gibt es. Man muss nur manchmal sehr lange suchen, um ihn zu finden. Deshalb erfordert gute Außenpolitik auch viel Beharrlichkeit und Stehvermögen – wir reden dann gerne von »strategischer Geduld«. Ja, manchmal ist ganz einfach der Weg das Ziel.
Fünf Gründe, warum Frieden und Stabilität heute so schwer zu sichern sind
Woran liegt es eigentlich, dass Frieden und Stabilität so schwer durchzusetzen sind? Gehen wir den Dingen doch mal etwas auf den Grund: Natürlich haben wir es hier nicht mit einer monokausalen Erklärung zu tun, sondern mit einem ganzen Bündel von Ursachen und Entwicklungen. Ich will fünf davon kurz erklären:
1. Der machtpolitische Epochenbruch
Die unipolare Welt der US-Hegemonie, die 1990 begann, neigt sich dem Ende zu. Die nächste Epoche ist vor allem durch den weiteren Aufstieg Chinas gekennzeichnet – und damit durch eine relative Machtverschiebung weg von den USA (und Europa) hin zu Ländern jenseits des traditionellen Westens. Umfangreiche Machtverschiebungen bergen aber auch die Gefahr neuer Krisen und Konflikte. Schließlich haben aufsteigende Mächte eigene Vorstellungen, wie die internationale Ordnung zu gestalten ist – und die können den Ideen bisheriger Großmächte durchaus widersprechen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Thucydides Trap«, der Thukydides-Falle: Demnach haben schon Sparta und Athen gezeigt, dass der Aufstieg neuer Mächte selten friedlich verläuft. Das wirft die Frage auf: Können die Werte des Westens und die Institutionen, welche die von ihm gegründete liberale Weltordnung bislang absichern und stützen, langfristig überleben? Oder bahnt sich gar eine neue Weltordnung an – eine Alternative zur bisherigen westlichen? Die Verunsicherung ist spürbar, und sie wächst. Vergrößert wird sie auch dadurch, dass sich der klassische »Weltpolizist«, der für relative Ordnung sorgte, zurückgezogen hat: »America First«, der politische Slogan der Trump-Regierung, bedeutet eben, dass Washington sich nicht mehr für »Global Governance«, für internationale Institutionen und globale Regeln verantwortlich fühlt. Wer aber soll und kann es tun, wenn die USA dazu nicht mehr bereit sind?
2. Der Verlust der Wahrheit und des Vertrauens
Ein Problem ist, dass das Vertrauen zwischen den Staaten – den mächtigen unter ihnen ganz besonders – auf null gesunken ist. Und es ist sehr, sehr schwer, Vertrauen wiederaufzubauen, wenn es erst einmal zerstört wurde. Da unterscheidet sich die Beziehung zwischen Staaten kaum von der Ehe. Umso bedenklicher ist es, dass wir in den letzten Jahren einen besorgniserregenden Verlust an Vertrauen auf unterschiedlichsten Ebenen diagnostizieren müssen.
Es geht schon damit los, dass wir heute oft Fakt und Fake nicht voneinander unterscheiden können. Was ist Wahrheit, was hingegen Propaganda? Das ist nicht neu in der Weltgeschichte. Schon Clausewitz wusste, dass im Kriegsfall das erste Opfer die Wahrheit ist. Das stimmt. Es gilt mittlerweile aber auch in Zeiten des Friedens. Nicht nur wir Bürger, sondern auch unsere Regierungen werden zugeschüttet mit Informationen, von denen nicht oder nur schwer festzustellen ist, ob sie stimmen oder nicht.
Im Wettstreit der Ideen beharrt jeder auf seinen eigenen »Fakten«. Das ist ein wesentliches Element zunehmender Verunsicherung.
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