Welt mit Zukunft - Franz Josef Radermacher - E-Book

Welt mit Zukunft E-Book

Franz Josef Radermacher

0,0

Beschreibung

Der Mensch ist ein Erfolgsmodell. Seit dem Abwandern der ersten Hominiden aus Afrika hat er sich als "Superorganismus" über den ganzen Globus ausgebreitet. Damit stößt er heute beinahe überall an seine Grenzen. Die Weltfinanzmarktkrise ist ein Beispiel dafür, was noch alles kommen kann. Die Autoren sehen einen fundamentalen Wandel voraus und plädieren daher für ein zukunftsfähiges Programm: eine erweiterte ökosoziale Marktwirtschaft und einen Global Marshall Plan - ökosozial statt marktradikal.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 494

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wir widmen dieses Buch allen, die sich für eine bessere Gestaltung der Globalisierung einsetzen.

*

Bericht an die Global Marshall Plan Initiative

Franz Josef Radermacher & Bert Beyers

Welt mit Zukunft

Die ökosoziale Perspektive

Mit einem Vorwort von HRH Prinz el Hassan bin Talal, Jordanien

und einem Vorwort zur zweiten Auflage von Vizekanzler a.D. Josef Riegler, Österreich

Inhalt

Vorwortzur ersten Auflage von HRH Prinz El Hassan bin Talal

Vorwortzur überarbeiteten Auflage von Josef Riegler

Summary – Der Kern des Ökosozialen

Einleitung

1. Superorganismus Menschheit

2. Nahrung und Energie

3. Klima und neue Wälder

4. Der Mythos vom freien Markt

5. Die drohende Insolvenz der Staaten

6. Aufklärung in Zeiten der Globalisierung

7. Drei Zukünfte

8. Globale Ökosoziale Marktwirtschaft

9. Gleichheit, Ungleichheit und die Rolle des Einzelnen

10. Der Global Marshall Plan

Epilog: Ultimative Ressource Zeit

Anmerkungen

Was jeder Einzelne tun kann

Equity-Situation 2009

Webadressen

Literatur

Danksagung

Die Autoren

Impressum

Vorwort zur ersten Auflagevon HRH Prinz El Hassan bin Talal, Jordanien, Präsident des Club of Rome

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich die Welt in einer extrem schwierigen Situation: ökologische Probleme, Kampf um Ressourcen, eine drohende Klimakatastrophe, eine Verschärfung der Arm-Reich-Problematik, Konflikte und Unverständnis zwischen Kulturen, eine unkontrollierte Ausweitung der Geldmenge mit völlig asymmetrischem Zugriff darauf und so weiter.

Aus der Sicht des Club of Rome ist das nicht überraschend. Wir haben schon 1972 mit dem Bericht Die Grenzen des Wachstums die Risiken aufgezeigt, die mit der dominierenden Wirtschaftsweise und Governance-Struktur in dieser Welt verbunden sind. Dies gilt vor allem für eine Forcierung von »freien« Märkten ohne adäquate Rahmenbedingungen, also ohne ausreichende Berücksichtigung sozialer, kultureller und ökologischer Anliegen, die Voraussetzung sind für eine lebenswerte, friedliche und mit einer nachhaltigen Entwicklung kompatiblen Welt.

Eine Reihe von Club of Rome-Mitgliedern hat sich in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit den angesprochenen Fragen beschäftigt. So zum Beispiel Wouter van Dieren[1] in seinen Untersuchungen über eine bessere Methodik zur Messung von Wirtschaftsleistung und Wachstum, Ernst Ulrich von Weizsäcker mit Partnern in seinen Arbeiten zur Erhöhung der Ressourcenproduktivität[2] (Faktor 4) und zu den Grenzen von Privatisierungen[3] und Orio Giarini und Patrick M. Liedtke[4] in ihrem Bericht zu der sehr grundsätzlichen Frage nach der Zukunft der Arbeit. Die Studien zur Zukunft der Arbeit erfolgen vor dem Hintergrund des Übergangs in eine Wissensgesellschaft mit hohem Serviceanteil, immer weiter gehender Automatisierung und weltweiter Konkurrenz bei extrem unterschiedlichen Entlohnungsniveaus.

Alle genannten Untersuchungen reflektieren Chancen und Risiken aktueller Entwicklungen und offensichtliche Fehlsteuerungen in den weltweiten Prozessen. Das gilt auch für zwei weitere wichtige Publikationen aus dem Umfeld des Club of Rome, nämlich das 2004 erschienene 30-Jahre-Update[5] von Grenzen des Wachstums, an dem erneut Dennis Meadows als Hauptautor beteiligt war, sowie das Buch[6] des Club-of-Rome-Mitglieds Sergej P. Kapitza zur Weltbevölkerungsproblematik.

Alle genannten Berichte, die sämtlich unterstreichen, wie groß die Herausforderungen sind, liefern wichtige Bezugspunkte für den vorliegenden Text von Franz Josef Radermacher und Bert Beyers. In der Zusammenschau wird deutlich: Wir haben die Jahre seit 1972 nicht gut genutzt. Viel Zeit wurde und wird noch vertan in einem Globalisierungshype, der nur die Gewinner, nicht aber die Verlierer der weltökonomischen Prozesse im Blick hat.

Das vorliegende Buch fragt vor diesem Hintergrund nach der Zukunft der Menschheit. Hierzu hat Franz Josef Radermacher, ebenfalls ein aktives Club-of-Rome-Mitglied, in jahrelanger wissenschaftlicher Arbeit wesentliche Überlegungen angestellt. In wichtigen Themenbereichen geschah dies in enger Zusammenarbeit mit dem leider viel zu früh verstorbenen Robert Pestel von der deutschen Sektion des Club of Rome, Sohn von Eduard Pestel, eines der Gründungsmitglieder des Clubs. Die so entstandenen Arbeiten[7], an denen auch Mike Mesarovic[8], eines unserer Mitglieder der ersten Stunde, beteiligt war, zeichnen im Wesentlichen folgendes Bild: Der Welt droht ein ökologischer Kollaps, wenn sie die sozialen Fragen zulasten der Umwelt zu lösen versucht. Und ihr droht eine Brasilianisierung, das heißt eine unakzeptable Wohlstandsverschiebung von der Mehrheit der Menschen zu profitierenden Eliten inklusive der Auflösung der Demokratie, falls sie die ökologischen Probleme zulasten der sozialen Probleme zu lösen versucht.

Mit Nachhaltigkeit kompatibel ist nur eine balancierte Zukunft, ein weltweites ökosoziales Marktmodell, in dem die reiche Welt in Form einer doppelten Zurückhaltung, mittels Kofinanzierung und geeignet austarierten Marktöffnungen der ärmeren Welt ein Aufholen im Sinne einer akzeptablen Ausgleichsstruktur ermöglicht, wobei Reich und Arm bei abgestimmter Zurückhaltung gemeinsam der Umwelt und der Ressourcenbasis den Raum geben, der naturgesetzlich erforderlich ist, um einen ökologischen Kollaps zu verhindern.

Sehr überzeugend ist, wie diese Position auch aus weltethischer Sicht motiviert wird, die mit allen großen Religionen, aber auch mit der Perspektive eines interkulturellen Humanismus vereinbar ist. Das Weltethos wird in Deutschland insbesondere durch Hans Küng vertreten, mit dem ich selber, der ich aus dem islamischen Teil der Welt komme, eng zusammenarbeite. Wir verfolgen das Thema unter anderem beim Parliament of Cultures in Ankara, in dem auch Franz Josef Radermacher mitwirkt. In all diesen Kontexten geht es um ökologische Anliegen (den Globus intakt zu halten) und sozial-kulturelle Anliegen (die Würde aller Menschen zu achten), inspiriert von geeigneten Ausformulierungen der sogenannten goldenen Regel: »Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu.« Auf diesen Fundamenten steht das vorliegende Buch.

Wird diese friedliche, nachhaltige Zukunft erreicht werden? Franz Josef Radermacher hält den vielversprechenden Weg einer weltweiten ökosozialen Logik nicht für einen Selbstläufer. Starke Kräfte wirken in eine ganz andere Richtung – nichts ist entschieden. Schwierige Zeiten! Dass es gehen kann, beweist die Europäische Union in ihren Erweiterungsprozessen. Aber sind die reichen Länder – insbesondere die USA – gegenüber dem Rest der Welt zu einer ähnlichen Politik der »Kofinanzierung gegen Standards« bereit, wie sie innerhalb der EU selbstverständlich ist? Oder werden mächtige Kräfte weiter versuchen, über Brainwash-Konstrukte, quasi zum Naturgesetz erhobene Begriffsbildungen[9] wie »freie Märkte«, den Globus zu plündern, und damit Kollaps und Terror beziehungsweise Bürgerkrieg heraufbeschwören?

Dieses Buch bleibt nicht bei der Analyse stehen. Mit dem Global Marshall Plan werden eine Initiative und ein Konzept beschrieben, um vielleicht noch rechtzeitig die Weichen in eine andere Richtung zu lenken. Der Club of Rome und ich persönlich wie auch mein Vorgänger im Amt des Club-of-Rome-Präsidenten, Ricardo Diez-Hochleitner, unterstützen die Global Marshall Plan Initiative seit ihren Anfängen im Jahr 2003. Der Plan ist eine unserer wenigen Hoffnung gebenden Optionen in schwierigen Zeiten.

Ich hoffe, dass das vorliegende Buch dazu beitragen wird, dass Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Nichtregierungsorganisationen und Weltzivilgesellschaft die Chance begreifen, die in dem Konzept einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft und eines Global Marshall Plan, basierend auf einem Weltethos, liegt. Immer mehr Akteure scheinen das zu verstehen. Hoffentlich rechtzeitig.

Vorwortzur überarbeiteten Auflage

Das Buch Welt mit Zukunft von Franz Josef Radermacher und Bert Beyers wurde aus gutem Grund in seiner Kategorie zu einem Bestseller. In Zeiten spürbarer Fehlentwicklungen, vielfältiger weltweiter Bedrohungen und dem für jedermann spürbaren Scheitern eines ausschließlich profitgetriebenen Marktfundamentalismus sind neue, in sich schlüssige Ideen und Konzepte für eine gedeihliche, zukunftsfähige menschliche Entwicklung so etwas wie warmer Regen nach einem langen Winter.

Welt mit Zukunft schöpft aus dem Erfahrungsschatz einer der erfolgreichsten Perioden europäischer Geschichte: erstens den Grundprinzipien des europäischen Einigungsprozesses – Freiheit, Demokratie, Solidarität, Respektierung unterschiedlicher Nationalitäten, Kulturen und Religionen sowie dem Prinzip der Freiwilligkeit; zweitens dem Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft als Synthese von Wirtschaft und Arbeitnehmerschaft zur Überwindung des unseligen Klassenkampfes zwischen Arbeit und Kapital.

In meiner Funktion als Vizekanzler der Republik Österreich habe ich vor gut 20 Jahren gemeinsam mit einigen weit vorausdenkenden Menschen das Modell der Ökosozialen Marktwirtschaft entwickelt. Ihr Ziel ist die stets neu zu schaffende Balance zwischen einer leistungsfähigen Wirtschaft, sozialer Solidarität und Ökologie im Sinne nachhaltigen Umweltschutzes. Eine leistungsfähige Wirtschaft braucht ein Höchstmaß an Bildung, Forschung und Innovation sowie die dynamische Kraft eines freien Unternehmertums.

Soziale Solidarität bedarf sowohl der gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Schwächeren wie auch leistungsfähiger Sozial- und Gesundheitssysteme – aber auch der Stärkung von Familien und privaten Initiativen für gelebte Mitmenschlichkeit.

Ökologie erfordert einen fairen Ordnungsrahmen auf nationalstaatlicher, europäischer und globaler Ebene, damit sich nachhaltiger Umweltschutz für Unternehmen, Verkehrsteilnehmer und Konsumenten auch wirtschaftlich rechnet. Dazu gehören eine konsequente ökologische Kostenwahrheit, die Anwendung eines strikten Verursacherprinzips, aber auch die Weiterentwicklung von Gesetzen, Steuer- und Förderungssystemen zugunsten nachhaltigen Handelns.

Durch die vor 20 Jahren einsetzende Globalisierungsdynamik als Folge politischer und technologischer Revolutionen entwickelte sich eine immer dramatischer werdende Kluft zwischen den global agierenden Teilen der Ökonomie und einer Politik, die nach wie vor nach den Spielregeln von Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts funktioniert. Das musste zu problematischen Verwerfungen führen. Verschärft wurde diese Fehlentwicklung durch die weltweite Dominanz der einseitigen und unduldsamen Ideologie eines profitgetriebenen Marktfundamentalismus. Seit Semptember 2008 sind viele Menschen, Unternehmen, Gesellschaften und Staaten mit den verheerenden Folgen eines von blanker Gier gesteuerten Kapitalismus konfrontiert.

Im Jahr 1999 hatte ich das Glück, Franz Josef Radermacher zu begegnen. Seine messerscharfe Analyse der globalen Entwicklungen und sein systemischer Lösungsansatz haben mich von Beginn an begeistert. So entstand rasch eine innige Verbindung zwischen seinen Aktivitäten und der Arbeit des Ökosozialen Forums Europa. Die im Mai 2003 gestartete Initiative »Global Marshall Plan für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft« wurde zur gemeinsamen Basis für eine praktikable Global Governance im Sinne einer weltweiten »Win-win-Strategie« für Nord und Süd.

Die enge Verknüpfung von fairen Entwicklungschancen für den ärmeren, benachteiligten Teil der Menschheit mit weltweit geltenden Wirtschafts-, Sozial- und Umweltstandards zur Durchsetzung eines weltweiten fairen Wettbewerbes ist die Königsidee für die Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben.

Die ökosoziale Idee der Balance zwischen Wirtschaft, Sozialem und Ökologie bei Respektierung unterschiedlicher Kulturen, beruhend auf den Prinzipien Solidarität, Gerechtigkeit, Humanismus, Menschenwürde und Toleranz, könnte die Basis für eine weltweite friedliche Entwicklung sein.

Das ist die »ökosoziale Perspektive«, als Kernbotschaft des neuen Buches Welt mit Zukunft. Sie erweitert den Rahmen des Ausgangstextes aus 2007 um tragende Bausteine und reflektiert zugleich die großen Veränderungen im weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Umfeld der letzten Jahre. Diese waren im Ausgangstext bereits erwartet worden; insofern ist die jetzige Fortsetzung ein natürlicher Schritt.

Die Begegnung mit Franz Josef Radermacher und die seither gemeinsam gestaltete Wegstrecke gehören zu den glücklichsten Fügungen in meinem Leben.

Im Interesse einer guten Zukunft der Menschheit wünsche ich dem neuen Buch größtmögliche Aufmerksamkeit und den Lesern großen Gewinn.

Für Franz Josef Radermacher, Bert Beyers als Mitautor, dem Team in Ulm und den vielen Menschen, die mit ihm auf dem Weg sind, viel Erfolg!

Josef Riegler Vizekanzler a.D. der Republik Österreich

Summary – Der Kern des Ökosozialen

Nachhaltigkeit

Eine Gesellschaft und mit ihr die zugehörige Wirtschaftsordnung können als nachhaltig bezeichnet werden, wenn für alle Menschen ein erfülltes Leben frei von materieller Not in Frieden miteinander und mit der Natur erreicht und für nachfolgende Generationen eine Zukunft mit ähnlichen oder sogar besseren Perspektiven gesichert werden kann. Es ist offensichtlich, dass die heutige weltweite Ordnung und Ökonomie diesem Ziel nicht gerecht wird. Die Frage ist, ob dieses Ziel überhaupt in Verbindung mit Markt und Wohlstand für zehn Milliarden Menschen erreicht werden kann, die 2050 auf dieser Erde leben werden. Ist Nachhaltigkeit in der heutigen Welt überhaupt möglich?

Über die längsten Phasen ihrer Existenz hat die Menschheit nachhaltig gelebt: naturnah, einfach, wenige Menschen mit wenig Dynamik. Die Frage ist, ob auch moderne, reich entfaltete Wohlstandssysteme potenziell mit Nachhaltigkeit vereinbar sind. Ein Armutsregime kommunistisch-planwirtschaftlichen Typs, das die Umwelt schützt und alle Menschen dauerhaft auf einem etwa gleichen, niedrigen und auskömmlichen Lebensstand platziert, zum Beispiel mit Bezugsgutscheinen statt Geld, könnte wohl als nachhaltig bezeichnet werden. Aber ist das eine wünschenswerte Perspektive? Wohl kaum.

Markt und Nachhaltigkeit

Die Vertreter einer Ökosozialen Marktwirtschaft sind davon überzeugt, dass Markt und Nachhaltigkeit gleichzeitig möglich sind. Jede Marktwirtschaft, die diese Gleichzeitigkeit leistet, heißt ökosozial. Sie ist dann Teil eines globalen Ordnungsrahmens, einer Global Governance, die Markt und Nachhaltigkeit widerspruchsfrei miteinander kombiniert. Äquivalent ist die Forderung nach Wohlstand für alle und nach globaler Nachhaltigkeit, auch in Zukunft, in einer ausgewogenen Balance unter den Menschen und in Frieden mit der Umwelt. All das ist möglich, wurde aber bisher nicht realisiert – der praktische Beweis ist noch zu erbringen.

Gute Absichten sind nicht genug

Im Sinne der Ökosozialen Marktwirtschaft sollen Markt und Nachhaltigkeit zur Sicherung einer marktwirtschaftlichen Ordnung dauerhaft in weltweiter Perspektive für heutige und zukünftige Generationen realisiert werden, bevor die Not zu einem ökologischen Kollaps oder einer ökodiktatorischen Struktur führt. Nur die gute Absicht ist hierfür genauso wenig ausreichend wie eine im formalen Sinne gute Theorie. Entscheidend ist, wie die Realität letztlich aussieht: Markt, Wohlstand für alle und Frieden mit der Natur – genau das ist weltweit bisher nicht gelungen, im Gegenteil.

Strikter Umweltschutz

Soll eine globale Ökosoziale Marktwirtschaft realisiert werden, müssen Umwelt- und Ressourcenschutz weltweit durchgesetzt werden: für alle Wertschöpfungsprozesse, in den Bereichen Arbeit, Freizeit und Urlaub, für alle Weltgemeingüter, für die Meere ebenso wie für die Arktis und Antarktis, für die großen Flüsse und die Wasserreservoirs, für Energie, Klima, den Landwirtschaftssektor, den Umgang mit seltenen Metallen etc. Ein nachhaltiger Umgang mit knappen Ressourcen muss gelingen, und zwar verknüpft mit konsequentem Umweltschutz, weltweit. Die Erde ist zu hüten wie ein Schatz. Die Natur hat Eigenrechte über die Nutzenerwägungen des Menschen hinaus. Die Welt muss der jeweils nächsten Generation mindestens in dem Maße intakt übergeben werden, wie sie übernommen wurde.

Innovation als Schlüssel

Die Ökosoziale Marktwirtschaft setzt auf Innovation, ganz im Sinne von Joseph Schumpeter. Wir befinden uns als Menschheit nicht in einem Nullsummenspiel, in dem der Gewinn des einen automatisch dem Verlust eines anderen entspricht. Wir verändern die Welt durch Innovation, manchmal für mehr Nachhaltigkeit, manchmal leider auch mit gegenteiligem Resultat (Bumerangeffekt). Die Vertreter einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft setzen auf Innovationen technischer und politischer Art zur Verhinderung von Bumerangeffekten, zum Schutz der Umwelt, zur Erzeugung von mehr Wohlstand und für eine höhere soziale Balance, vor allem auch weltweit. Das Potenzial des Marktes, Innovationen hervorzubringen, ist eine der Hauptmotivationen für eine konsequente Marktorientierung. Wir setzen auf bessere technische Lösungen, aber nicht um jeden Preis und nicht zu unkalkulierbaren Risiken. Im Rahmen des »Vorsichtsprinzips« ist eine Politik mit Augenmaß zu praktizieren. Wir haben immer den Bumerangeffekt vor Augen, dass nämlich unter ungenügenden Regulierungsbedingungen der technische Fortschritt die Umwelt- und Ressourcensituation potenziell verschlechtert, statt sie zu verbessern: Ohne den gewaltigen technischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte wären zum Beispiel Tiefseebohrungen nach Öl mit desaströsen Folgen wie im Golf von Mexiko gar nicht erst möglich gewesen.

Chancengleichheit ist ein wichtiges Prinzip, reicht aber nicht aus

Chancengleichheit ist als wichtiges gesellschaftliches Prinzip durchzusetzen. Dies allein wäre aber für das Erreichen einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft zu wenig. Die Ökosoziale Marktwirtschaft möchte bei gleichzeitigem hohem Umweltschutz lebenswerte Situationen für alle Menschen erreichen. Ziel ist eine balancierte Verteilung des Wohlstands in weltweiter Perspektive und damit auch die Überwindung der globalen Apartheid. Chancengleichheit ist ein wichtiges Instrument, um eine balancierte Verteilung der Einkommen zu erreichen, aber sie ist dafür längst nicht ausreichend. Sie muss mit anderen Mechanismen kombiniert werden, und im Ergebnis ist zu prüfen, ob Balance tatsächlich erreicht wurde. Chancengleichheit darf insbesondere nicht zu einem Instrument werden, mit dem gegen eine angemessene Verteilung des Wohlstands und der Einkommen argumentiert wird, zum Beispiel dadurch, dass man unbalancierte Verteilungssituationen mit vermeintlicher oder tatsächlicher Chancengleichheit rechtfertigt und den sogenannten Verlierern die alleinige Verantwortung für ihre Situation zuschreibt.

Balance schafft die reichsten Gesellschaften

Entgegen der marktfundamentalen Überzeugung befördert Balance – empirisch und auch theoretisch evident – eine Entwicklung hin zu reichen Gesellschaften. Balance bedeutet soziale Differenzierung und Einkommensdifferenzierung mit Augenmaß. Die Differenzierung sollte also weder zu groß noch zu gering sein. Entsprechend empirischen wie auch theoretischen Einsichten sollten sich die kumulativen Einkommen der 20 Prozent der Bevölkerung mit den höchsten Einkommen (nach Steuern, Sozialtransfers und innerfamiliärem Lastenausgleich) zwischen 35 und 50 Prozent des Gesamteinkommens bewegen, die kumulierten Einkommen der übrigen 80 Prozent zwischen 50 und 65 Prozent. Die Vertreter einer Ökosozialen Marktwirtschaft fordern konsequenterweise einen balancierten Ausgleich als Staatsziel, und zwar als Ergänzung zum sogenannten »magischen Viereck der Volkswirtschaftslehre«, das im Stabilitätsgesetz von 1967 verankert ist.

Ordnungspolitik ist zentral

Eine Ökosoziale Marktwirtschaft zeichnet sich – im Gegensatz zum Marktfundamentalismus – durch eine bessere Ordnungspolitik in weltweiter Perspektive aus. Diese umfasst das Eigentumskonstrukt ebenso wie die Förderung des Mittelstandes, die Besteuerung genauso wie die Förderung der Wissenschaft. Ordnungspolitik ist ein zentrales Thema und muss weltweit gedacht und umgesetzt werden. Eine Weltinnenpolitik, die sich durch Elemente einer weltweiten Demokratie auszeichnet, ist das Ziel, wobei die politischen Aufgaben gemäß Subsidiaritätsprinzipien verschiedenen Ebenen (weltweit, kontinental, national, regional, kommunal) angemessen zuzuordnen sind. Eine bessere weltweite Ordnungspolitik zielt auf eine Integration der großen bestehenden Regime wie WTO und ILO, aber auch auf Klimaverträge, Finanzmarktregulierungen, UN-Abkommen sowie Elemente globaler Querfinanzierung.

Faire Besteuerung aller Wertschöpfungsprozesse

Alle Wertschöpfungsprozesse profitieren von gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen, ohne die sie nicht umsetzbar wären. Sie müssen diese deshalb konsequenterweise finanzieren, was im Besonderen für die ökonomischen Akteure mit der höchsten Wertschöpfung gilt, gerade auch im Finanzsystem. Sie müssen in komplementärem Umfang Steuern zahlen. Eine angemessene Besteuerung weltweiter Wertschöpfungsprozesse, die sich bis heute der Besteuerung weitgehend entziehen, eröffnet auch in der aktuellen Verschuldungssituation der Staaten die beste Chance, die vor uns liegenden gravierenden Probleme zu überwinden. Aus diesen und aus ordnungspolitischen Gründen gehört zur Ökosozialen Marktwirtschaft die Besteuerung globaler Transaktionen und günstiger Kredite an Kreditnehmer mit bestem Rating (leverage money tax) genauso wie die konsequente Einhegung der Steuerparadiese. Privilegierte Kreditnehmer bekommen heutzutage Kredite fast beliebiger Größenordnung zu sehr niedrigen Zinssätzen und können damit im großen Stil »gehebelte« Geschäfte betreiben. Für diesen privilegierten Zugriff auf die Mechanismen der Kreditgewährung und Geldneuschöpfung sollen entsprechende Steuern gezahlt werden, auch zur Abdeckung der damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Risiken. Besteuerung darf in Zeiten der Globalisierung nicht länger primär ein Thema innerstaatlicher Wertschöpfungsprozesse sein und damit eine Belastung in erster Linie für den Mittelstand und die Arbeitnehmer darstellen.

Wachstum

Die Ökosoziale Marktwirtschaft zielt auf Wachstum, gerade auch mit Blick auf die große weltweite Armut und die Tatsache, dass die Weltbevölkerung bis 2050 noch einmal um drei Milliarden Menschen zunehmen wird. Aus Sicht einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft kann eine Ökonomie auch ohne Wachstum bestehen. Selbst Vollbeschäftigung ist ohne Wachstum möglich. Dennoch halten wir Wachstum im Moment für wichtig, vor allem mit Blick auf die rasch zunehmende Weltbevölkerung und die Not in vielen Ländern und bei vielen Menschen. Wachstum ja, allerdings kein Wachstum auf der Grundlage von »Plünderung«, sondern von mehr Intelligenz und Kooperation. Angestrebt wird ein doppelter Faktor 10, die Verzehnfachung der Weltwirtschaftsleistung über die nächsten 70 Jahre, jedoch nur insoweit, wie parallel dazu auch eine Verzehnfachung der Ökoeffizienz, sogenanntes Grünes Wachstum, gelingt. Mit demselben Naturverbrauch wie heute und bei konsequentem Schutz knapper Ressourcen soll der zehnfache Wohlstand erschlossen werden. Dieser zukünftige Wohlstand ist dann allerdings ein fundamental anderer als der heutige, auch die Lebensstile sind ganz anders – stärker suffizienzbestimmt – als heute: Konsequenter Umwelt- und Ressourcenschutz steht an erster Stelle zusammen mit sozialer Balance und kulturellem Miteinander, erst danach kommt das Wachstum.

Doppelstrategie

Unter ungenügenden Governance-Bedingungen gilt es, sich einzurichten auf das, was möglich ist. Manches von dem, was langfristig richtig und notwendig ist, lässt sich zumindest im Moment noch nicht umsetzen. Doch das, was entschieden und getan wird, ist immer auszurichten auf das Ziel, die Governance-Bedingungen im Zwischenschritt in Europa und später weltweit so zu verändern, dass eine bessere Welt möglich wird. Die Dynamik der Veränderung entfaltet sich dabei in der Wechselwirkung von Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft. Der sich in den letzten Jahren aufbauende Druck führt hoffentlich zu besserer Governance durch die Politik, zu Branchencodes der Wirtschaft, zu vermehrten Corporate Social Responsibility-Programmen von Unternehmen und zu einer zukunftsweisenden Orientierung der Einzelnen.

Einleitung

Seit mehr als vier Millionen Jahren wächst die Anzahl der Menschen auf diesem Planeten, von ein paar tausend Hominiden in Afrika bis zu den heutigen rund sieben Milliarden Menschen. Obwohl die Erde, das Biotop, diesem Wachstum immer wieder Grenzen setzt, vor allem beim Nahrungsangebot oder bei der verfügbaren Energie, haben wir als Gattung diese Grenzen wiederholt gesprengt. Wird das auch in Zukunft so sein? Der Schlüssel zum Verständnis dieser Zusammenhänge liegt in einer systemischen Betrachtung der Menschheit und ihrer Geschichte.

Unser Körper besteht aus Milliarden Zellen, die kommen und gehen, solange wir leben. Die Menschheit als Ganzes zählt Milliarden Individuen, auch sie kommen und gehen. Vieles spricht dafür, nicht nur den einzelnen Menschen als Organismus aufzufassen, sondern ebenso komplexe Strukturen oberhalb dieser Ebene, zum Beispiel Unternehmen, Städte und Staaten. Sie sind Teilsysteme des Superorganismus Menschheit. Dieser transportiert Ideen und Innovationen, er ist ein Wissen generierendes, Wissen verbreitendes und Wissen tradierendes System. An erster Stelle stehen dabei Organisation, Technologie und Materialbeherrschung. Pfeil und Bogen sind Material gewordene Ideen, ebenso moderne Flugzeuge.

Die Fähigkeit, Feuer zu machen, hat der Menschheit einen vielfach größeren Umweltraum mit den entsprechenden Nahrungsquellen erschlossen. Jede technologische Neuerung hat direkt oder indirekt zur Folge, dass mehr Menschen länger leben, mehr miteinander kommunizieren und sich immer mehr ausdenken. Die Konsequenz ist der nächste Wachstumsschub hinsichtlich der Anzahl der Menschen und der Innovationen – ein ständiger Kreislauf. Mittlerweile katapultieren Informations- und Kommunikationstechniken in Verbindung mit immer leistungsfähigeren Transportsystemen die Geschichte nach vorne. Sie bringen den ultimativen Wachstums- und Beschleunigungsschub.

Alle zwei Jahre erleben wir eine Verdoppelung des Preis-Leistungs-Verhältnisses in der Rechnerleistung, alle 20 Jahre eine Vertausendfachung. In der Folge bilden wir heute auf einem Chip in der Größe eines Fingernagels die Komplexität einer Millionenstadt mit all ihren Telefonleitungen, den Wasser-, Abwasser- und Stromleitungen, den Straßen- und Zugverbindungen ab. Dieser Prozess der Miniaturisierung verändert alles. Vor allem ermöglicht er, unter Nutzung von Glasfaserverbindungen und Satellitentechnik, in Sekundenschnelle die weltweite Kommunikation. Der Superorganismus Menschheit schafft sich in diesem Prozess ein technisches Nervennetz und gewaltige Intelligenzverstärker. Milliarden von Menschen sind zugleich über wenige Stationen persönlicher Bekanntschaft eng miteinander verknüpft. Würde der Superorganismus in demselben Maße weiterwachsen wie bisher, würde er schon bald alle Grenzen sprengen – sowohl die des Biotops und seiner Ressourcen, zum Beispiel Wasser, Nahrungsmittel, Öl, als auch die der eigenen Kapazitäten. Hierzu zählen die menschliche Lern- und Anpassungsfähigkeit – und damit die Grenzen des Gehirns beziehungsweise unserer biologischen Nervennetze. Beides ist physikalisch wie biologisch unmöglich.

Wir stehen daher vor einem Phasenübergang in der Entwicklung des Superorganismus Menschheit, entfernt vergleichbar mit dem Phasenübergang von Eis zu Wasser in der Physik. Ein über vier Millionen Jahre erfolgreiches Wachstumsmuster geht in unseren Tagen zu Ende. Die Menschheit muss diese Botschaft zur Kenntnis nehmen. Der Superorganismus Menschheit mit ausreichender Intelligenz und Handlungsfähigkeit wird seine Größe auf einem geeigneten Niveau stabilisieren müssen, mit angepasster Technik, mit adäquaten Lebensstilen, mit allen Träumen, Wünschen und Ambitionen seiner Mitglieder, im Rahmen der Kapazität des Trägersystems Erde. Aus der aktuellen Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise heraus, und konfrontiert mit dem drohenden Klima- und Ressourcenkollaps, gilt es, eine lebenswerte Zukunft für zehn Milliarden Menschen zu schaffen. Dafür haben wir etwa 70 Jahre Zeit. Gelingt es, einen hohen weltweiten Wohlstand mit sozialem Ausgleich, auch zwischen den Staaten, zu schaffen, wird die Weltbevölkerung etwa ab der Mitte des Jahrhunderts rasch absinken. Wenn ein hoher allgemeiner Wohlstand für alle mit einem hohen sozialen Ausgleich in einer weltweiten Perspektive gekoppelt würde, nähme zwar die Geschwindigkeit der Innovationsprozesse wieder ab, aber die weitere Entwicklung verliefe in ruhigeren Bahnen.

Die heutige Lage ist eine völlig andere – sie gleicht dem Tanz auf dem Vulkan. Der Planet steht unter Stress, denn seine ökologischen Systeme sind bereits aus dem Gleichgewicht. Und immer mehr Menschen sind in ihrem Alltag überfordert. Die Dynamik, die gegenwärtig im Superorganismus Menschheit herrscht, ist schwer erträglich und nur noch begrenzt zu steuern. Es ist durchaus möglich, dass wir uns ins Aus manövrieren und es nicht verhindern können. Alle Probleme, die wir derzeit haben – mit einem weiteren absehbaren Bevölkerungswachstum von heute sieben Milliarden in Richtung zehn Milliarden Menschen, mit knappen Ressourcen, mit Technikfolgen, mit immer schneller auf den Markt drängenden Innovationen und dem damit verbundenen Stress –, sind nicht Folgen punktueller Fehler oder Fehlleistungen Einzelner. Die Ursache ist strukturell-systemischer Natur. Das wird in diesem Buch herausgearbeitet.

Das Werk liegt nun in einer vollständig überarbeiteten und erweiterten Fassung vor. Die Konzeption der globalen Ökosozialen Marktwirtschaft hat dabei eine Vertiefung und Fokussierung erfahren, wie im neuen Untertitel »Die ökosoziale Perspektive« deutlich wird. Diesem Thema sind zwei neue Kapitel gewidmet. Ebenfalls neu sind die Kapitel über »Nahrung und Energie«, »Klima und neue Wälder« sowie »Die drohende Insolvenz der Staaten«. Das zuletzt genannte Kapitel thematisiert die Ursachen der jüngsten Weltfinanzkrise und zeigt, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.

Das erste Kapitel erklärt den Begriff des Superorganismus Menschheit und beschreibt seine Geschichte, die durch Kommunikation und Interaktion immer wieder neu angetrieben wird. Technische Systeme – erst die der Antike, dann die des Mittelalters und später jene der industriellen Revolution – lösen einander ab. Wie entwickelt sich dabei die »Intelligenz« des Superorganismus?

Das zweite Kapitel analysiert das Verhältnis von Mensch und Natur. Die Themen Nahrung und Energie sind dabei eng miteinander verknüpft. Der Blick in die Geschichte schärft die Sicht auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. In Zukunft benötigt die Menschheit viel Energie, sauber und preiswert erzeugt. Technisch ist das durchaus möglich. Innovationen sind der Schlüssel für eine Welt mit Zukunft.

Aber Technik ist es nicht allein. Das zeigt das dritte Kapitel am Thema Klimawandel. Erst wenn Innovationen auf dem Gebiet der Governance hinzutreten, ist eine Lösung in Sicht. Die Klimakonferenz Ende 2009 in Kopenhagen endete für viele Teilnehmer und Beobachter mit erheblicher Frustration. Schaut man sich die Ergebnisse jedoch genauer an, ergibt sich ein anderes Bild. Das Entgegenkommen der Schwellenländer, namentlich von China und Indien, zu »relativen« Emissionsreduktionen eröffnet bei kluger Politik der Industrieländer eine große Chance. Das hat sich auf der Klimakonferenz Ende 2010 in Cancún bestätigt. Daraus ergibt sich ein Verhandlungsmodell mit niedriger Einstiegshürde, bei dem zu Beginn nicht alle Staaten mitmachen müssen, das im weiteren Verlauf aber eine große Wirkung entfalten kann. Bei diesem Vorgehen könnten WTO-konforme Grenzausgleichsabgaben genutzt werden. So wird Druck auf Trittbrettfahrer ausgeübt und eine Lösung für alle befördert.

Ein Baustein des Konzepts ist ein beschleunigtes Weltaufforstungsprogramm, das nicht nur ökologische, sondern zugleich wirtschaftliche und soziale Vorteile mit sich bringt, insgesamt ein gewaltiges globales Investitions- und Beschäftigungsprogramm, ganz im Sinne eines green new deal oder eines Global Marshall Plan.

Der Klimawandel trägt das Potenzial des ökologischen Kollapses in sich. Dabei sind die Dinge durchaus beherrschbar. Das betrifft Wissen, Können, finanzielle, humane und technische Ressourcen. Allerdings erfordert die aktuelle Situation die breite Kooperation der Staaten und mutige Schritte, politische, technologische und finanzielle, vor allem auch in der Finanzierung eines globalen Ausgleichs.

Im vierten Kapitel werden zentrale Begriffe der Systemtheorie, die in der vorliegenden Analyse verwendet werden, erläutert: Was ist ein Gefangenendilemma? Was steckt hinter dem Bumerangeffekt, und wie kann man ihn vermeiden? Was macht Gesellschaften reich? Hier geht es um eine Analyse unserer globalisierten Welt, verbunden mit einigen Hinweisen zu Lösungsmöglichkeiten.

Die Kritik am »Mythos vom freien Markt« wird im fünften Kapitel am Beispiel des Weltfinanzsystems vertieft. Fehlende internationale Regulierung hat sich in eine exorbitante Geldvermehrung, Vermeidung von Steuerzahlungen, Intransparenz und individuelle Bereicherungen zulasten des Gemeinwohls übersetzt. Droht im Klimabereich der ökologische Kollaps, so auf ökonomischem Gebiet der Zusammenbruch des Weltfinanzsystems. Die Weltfinanzmarktkrise führt die »Verlogenheit« des Regimes der freien Märkte für jeden erkennbar vor Augen. Als letzte Instanz haben die Staaten das Finanzsystem stabilisiert und sich dabei noch weiter verschulden müssen.

Die größte Gefahr geht derzeit von einer möglichen Insolvenz der Staaten aus. Glücklicherweise hat eine längst überfällige Diskussion nun begonnen. Marktwirtschaft ja, aber sozial und ökologisch adäquat reguliert. Zur Zukunftssicherung und nachhaltigen Entwicklung der Welt sind global funktionierende Regelwerke erforderlich.

Das sechste Kapitel behandelt die Kernaussagen des Buchs, verbunden mit einer Kritik an den gegebenen marktradikalen Verhältnissen, deren Folgen Tag für Tag offensichtlicher werden, ganz besonders auch in der aktuellen Weltfinanzmarktkrise. Weite Teile der Bevölkerung im Norden erleben eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage, überall nimmt die soziale Spaltung zu, die ökologischen Systeme des Globus geraten immer mehr unter Stress, im schlimmsten Fall droht der Kollaps. Die erste und wichtigste These lautet: Ökosozial statt marktradikal. Die Welt braucht – ganz im Sinne der klassischen Nationalökonomie – leistungsfähige Rahmenbedingungen der Märkte. Das bedeutet angesichts der Globalisierung der Wirtschaft weltweit gültige und durchsetzbare Regelwerke und konsensfähige Vereinbarungen im Sinne einer auf das Wohl der Menschen ausgerichteten Global Governance.

Die zweite These: Eine bessere Globalisierung ist möglich; vor allem eine gerechtere. Das ist das Thema einer besseren Global Governance, wie sie insbesondere im Finanzsektor vonnöten ist. Die Folge wäre eine reichere Welt und eben kein Verzichtprogramm! Aber dem stehen gut organisierte Kräfte entgegen. Sie profitieren von einer falsch laufenden Globalisierung, verstecken sich hinter Begriffen wie dem »freien Markt« und nutzen ihre Macht im Rahmen globaler Prozesse bei der Festlegung von Spielregeln, um die Interessen der großen Mehrheit der Weltbevölkerung auszuhebeln.

Den ethischen Bezugspunkt der Kernaussagen bilden die Positionen des Weltethos. Die Entwicklung dieser globalen Werte-Plattform geht wesentlich auf die Weltethos-Initiative des Theologen Hans Küng zurück, eng verknüpft mit Initiativen von Altbundeskanzler Helmut Schmidt und dem Interaction Council ehemaliger Staats- und Regierungschefs. Zentral ist die goldene Regel »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem anderen zu«.

Das siebte Kapitel des Buches wagt einen Blick in die Zukunft. Die drei in diesem Kontext skizzierten Szenarien beschreiben die prinzipiellen Muster möglicher Entwicklung. Das heißt, in einer dieser Zukünfte werden wir schließlich landen. Das Szenario »Kollaps« führt in die ökologische Katastrophe. Das Szenario »Ökodiktatur/Brasilianisierung« verkörpert eine gefährliche Weltordnung, in der sich eine kleine Macht- und Finanzelite, gegebenenfalls unter Nutzung staatlicher oder suprastaatlicher Strukturen, mit Gewalt den Zugriff auf die entscheidenden natürlichen Ressourcen sichert. Sie hat ein extremes Auseinanderklaffen in Arm und Reich zur Folge, nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch in der heute reichen Welt. Prozesse in Richtung einer solchen Entwicklung sind bereits heute zu erkennen. Eine unkontrollierte, nicht mehr beherrschbare Weltfinanzmarktkrise, die auf die physische Ökonomie übergreift, oder eine Verlagerung der Rückzahlpflichten der horrenden Staatsverschuldungen auf die Normalbevölkerung statt auf wohlhabende Eliten würde den Prozess stark beschleunigen. Ob dies friedlich ausgehen kann, ist mehr als fraglich.

Das Wunschszenario ist die »Globale Ökosoziale Marktwirtschaft«, eine mit Nachhaltigkeit und Frieden kompatible Langfristperspektive für die Menschheit. Das ist der Gegenstand des achten, des zentralen Kapitels dieses Buches. Im Kommunismus versucht die Politik, auch noch die Wirtschaft zu steuern. Im Marktfundamentalismus will die Wirtschaft die Politik dominieren. Beides funktioniert nicht. Die Alternative ist eine ordoliberale Position: Der Staat setzt – möglichst demokratisch – die Regeln, dabei orientiert er sich an ethischen und gesellschaftlichen Anliegen. Das Leitbild Ökosoziale Marktwirtschaft ist in der Diskussion längst angekommen. Die Formulierung, auch in Varianten, findet sich zum Beispiel bei dem Friedensforscher Johan Galtung, bei Heiner Geißler, bei Alois Glück, dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, bei dem früheren Agrar-Kommissar der EU Franz Fischler, dem ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, dem bereits erwähnten Hans Küng, dem Vizekanzler a.D. der Republik Österreich Josef Riegler und dem ehemaligen Chefredakteur der Zeit Roger de Weck. Die Grundfigur der Ökosozialen Marktwirtschaft bildet dabei das Dreieck der Nachhaltigkeit. Das Ziel ist eine Balance zwischen leistungsorientierter Wirtschaft, Solidarität und dem Schutz der Umwelt, und zwar auf staatlicher, europäischer und globaler Ebene.

So wichtig ökonomisches Wachstum dabei ist, es stellt, entgegen dem, was immer wieder suggeriert wird, keine Lösung für alles und jedes dar. Auf Dauer entfaltet Wachstum positive Wirkungen sowieso nur dann, wenn es innerhalb der ökologischen Kapazitäten des Biotops und zugleich unter Bedingungen sozialer und kultureller Balance erfolgt. Dazu braucht es zukünftig neue Technik und andere Lebensstile, vor allem aber die entsprechenden Rahmenbedingungen der Märkte und damit adäquate Preisgestaltung und regulative Vorgaben.

Im neunten Kapitel geht es um die Frage, warum die Einkommensspreizung balanciert sein sollte. Das richtige Maß zwischen einer zu großen gesellschaftlichen Gleichheit und zu viel Ungleichheit gehört zum »genetischen Code« der Konzeption einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft. Überlegungen zur Umsetzung münden in die konkrete Vision »Rio+20«.

Das letzte Kapitel behandelt die politischen Konsequenzen, die sich aus der Analyse ergeben und die für den vorliegenden Text ein Hauptanliegen darstellen. Dabei handelt es sich um eine substanzielle Erweiterung der anstehenden Maßnahmen im Klimabereich und hinsichtlich des Weltfinanzsystems sowie der Steuerparadiese im Sinne eines Global Marshall Plan. Der Text schlägt die Brücke zu einer breiten Initiative in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft, die sich bereits seit einigen Jahren für einen solchen Plan engagiert. Ein Global Marshall Plan ist ein gut durchdachtes Paket von Regelungen, Finanzierungs- und Umsetzungsvereinbarungen, das unter den bestehenden Machtverhältnissen eine Umsetzungschance besitzt. Zu diesem Paket gehören das Generalziel einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft, internationale Vereinbarungen wie ein angestrebtes, gerechtes Weltklimaregime und die bis zum Jahr 2015 weisenden Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen, Elemente supranationaler Besteuerung, Regelveränderungen bei großen internationalen Organisationen wie der Welthandelsorganisation und innovative Entwicklungskonzepte wie zum Beispiel Kleinstkredite. Der Global Marshall Plan ist zugleich ein Investitionsprogramm für die Welt als Ganzes: Entwicklungsländer, Schwellenländer und industrialisierte Staaten. Wir brauchen einen vernünftigen Gesellschaftsvertrag für diesen Globus, einen Weltvertrag und damit die Basis für eine Weltinnenpolitik, aufbauend auf einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft. Ein Global Marshall Plan eröffnet in Zeiten extremer Bedrohung substanzielle neue Chancen.

1. Superorganismus Menschheit

Bevölkerungswachstum – ein Programm läuft aus

Auf einem See teilen sich Nacht für Nacht die Seerosen, sie verdoppeln jede Nacht ihre Zahl und bedecken zunehmend die Wasseroberfläche. Irgendwann wird der See voller Seerosen sein. Zehn Nächte vor diesem Zeitpunkt sind von ferne nur einige versprengte Blüten zu sehen, nur ein Tausendstel des Sees ist bedeckt. Fünf Nächte vorher sind es etwa 3 Prozent der Oberfläche, noch immer fallen sie kaum auf. Plötzlich wächst der See rasend schnell zu. Zwei Nächte vorher sind bereits 25 Prozent der Wasserfläche bedeckt. Ob es nun zehn Tage oder zehn Jahre dauert, bis die Oberfläche des Sees vollständig mit Seerosen gefüllt ist – wesentlich für das Phänomen des exponentiellen Wachstums ist die Tatsache, dass die zweite Hälfte des Sees erst in der letzten Nacht bedeckt wird. In exponentiellen Prozessen geschieht das Entscheidende zum Schluss.

Dieses Muster liegt auch unserer Bevölkerungsentwicklung zugrunde. Eine Million Jahre entsprechen etwa 50.000 Generationen. Seit Christi Geburt sind erst 100 bis 150 Generationen vergangen. Bei einem Zeitraum von vier Millionen Jahren reden wir vielleicht über 150.000 Generationen. Diese vier Millionen Jahre hat die Menschheit gebraucht, um die Schwelle zur ersten Bevölkerungsmilliarde zu durchbrechen, etwa zu dem Zeitpunkt[10], als Goethe starb, im Jahr 1832. Rund 130 Jahre später, 1965, waren wir schon drei Milliarden Menschen und nur 35 Jahre später, im Jahr 2000, bereits sechs Milliarden. Die Geschwindigkeit des Zuwachses nahm beständig zu, erst seit kurzem geht sie leicht zurück. Über Jahrhunderte und Jahrtausende war Bevölkerungswachstum immer die richtige Politik: mehr Menschen, mehr Leistung, mehr Konsum, mehr Lebenschancen. Wachstum bedeutet Macht, Entfaltung, Reichtum. In der Folge füllt die Menschheit aber auch zunehmend den Globus aus.

Das Charakteristikum exponentieller Wachstumsprozesse ist, dass sie Größenordnungen überwinden. Der Mensch beginnt als winzige befruchtete Eizelle, die nur unter dem Mikroskop zu sehen ist. Bis er geboren wird, aufwächst und voll entwickelt ist, müssen Größenordnungsunterschiede von bis zu zehn Milliarden (1010) überwunden werden. Nur explosive Wachstumsprozesse sind dazu in der Lage. Ein exponentielles Wachstum in endlichen Biotopen hat aber prinzipiell Grenzen; und Systeme, die weiterleben wollen, müssen diese Grenzen beachten. Permanentes exponentielles Wachstum ist für keine Art, egal ob Pflanzen, Tiere oder Menschen, auf der Erde möglich.

Heute sind die Vorzeichen des Neuen bereits unübersehbar. Innerhalb der menschlichen Bevölkerung zeichnet sich ab, dass sie nicht immer weiter wächst, sondern vielleicht sogar einmal zurückgehen wird. Diesen Prozess erleben wir heute schon in den industrialisierten Ländern, teils mit spürbarem und von vielen Beobachtern als zu schnell empfundenem Tempo. Die Gesamtzahl der Menschen auf diesem Planeten wächst unterdessen noch weiter, doch auch dies wird sich schon bald ändern.

Wir sind bereits mitten in einer historischen Entwicklung, in der die Menschheit einen Phasenübergang in ihrer Evolution erlebt, das Grundmuster des Bevölkerungswachstums sich ändert und, einer inneren Logik folgend, ändern muss. Damit fände eine Erfolgsgeschichte sondergleichen ihren Abschluss, und vieles würde anders werden. Wir haben das Privileg, Zeuge eines spannenden Übergangs zu sein, der nicht ohne Gefahren ist. Wie wir ihn bewältigen werden und was danach kommt – niemand weiß es.

Ein Leser, der im Jahr 1950 geboren wurde, war Zeuge einer gewaltigen Zunahme der Bevölkerung: von 2,5 Milliarden Menschen auf heute rund sieben Milliarden. Gleichzeitig hat er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Steigerung der Weltwirtschaft um das Siebenfache[11] erlebt. Nach den beiden Weltkriegen folgten drei Jahrzehnte, die Historiker das Goldene Zeitalter nennen. In Europa, Nordamerika und in Japan erfuhren breite Bevölkerungsschichten einen Wohlstand, der zu Zeiten ihrer Großeltern nur Millionären vorbehalten war, mit Telefon, eigener Waschmaschine und Auto. Wer 1950 geboren wurde, hat eine Steigerung des globalen Wasserverbrauchs um das Dreifache, des Kohlendioxidausstoßes um das Vierfache und der Anlandung von Fisch um das Fünffache erlebt. Demgegenüber hat die ökologische Kapazität der Erde, also die Basis für die Erzeugung dieses Wohlstands, sogar etwas abgenommen. Und würden alle Menschen auf dem Konsumniveau eines Europäers oder Amerikaners leben, bräuchten wir mittlerweile drei oder sogar fünf Planeten.

Werden unsere Kinder, die im Jahr 2000 geboren wurden, bis 2050 ein ähnliches Wachstum erleben? Zunächst wird die Weltbevölkerung weiter auf neun bis zehn Milliarden Menschen zunehmen. Ungefähr in der Mitte des 21. Jahrhunderts dürfte ihre Größe hoffentlich den Höhepunkt erreichen. Allein in China und Indien werden jeweils etwa 1,5 Milliarden Menschen leben. Zusammengenommen entspricht das der Anzahl der Weltbevölkerung von 1965.

Wächst auch die Wirtschaft weiter? Selbstverständlich führt eine steigende Anzahl der Menschen fast automatisch zu einem absoluten Wachstum der Wirtschaftsleistung. Und dann hat die Aufholjagd bevölkerungsreicher Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien oder Indonesien und damit das Wachstum der Wirtschaftsleistung pro Kopf in diesen Ländern erst richtig begonnen. Die Ressourcenknappheiten zeichnen sich parallel dazu allerdings schon heute deutlich ab. Die weltweiten Fischgründe sind am Limit. Die ertragreichen Böden werden weniger beziehungsweise verlieren an Qualität, und die Grundwasserspiegel fallen auf allen Kontinenten. Für Nahrungsmittel braucht man Wasser: die überraschend große Menge von 1000 Litern, um ein Kilogramm Brot zu erzeugen, 4000 Liter für ein Kilogramm Reis und 13.000 Liter für ein Kilogramm Rindfleisch. Wasser wird immer knapper und kostbarer.[12]

Der Förderhöhepunkt von konventionellem Öl ist nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris bereits erreicht[13], ob nichtkonventionelles Öl, zum Beispiel aus Ölsanden, die Lücke schließen kann, ist zweifelhaft. In absehbarer Zeit wird die Nachfrage das Angebot gewaltig übersteigen. Die Ära der billigen Energie auf Basis fossiler Rohstoffe geht unweigerlich zu Ende. Auch die Klimaveränderung schreitet zügig voran.[14] Nicht nur unsere Kinder werden die daraus sich ergebenden Folgen erleben, sondern wohl die allermeisten, die dieses Buch lesen. Gemeinsam werden wir damit fertig werden müssen.

Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist noch nicht erreicht, aber er ist in Sicht. Um das Jahr 2030 herum würden wir unter Beibehaltung der alten Wachstumsmuster alle Grenzen sprengen. Weil das nicht geht, ändern sich jetzt bereits die Entwicklungsmuster. Das ist naturgesetzlich unvermeidbar! Prozesse, die einmal Millionen Jahre gedauert haben, durchlaufen wir nun in ein oder zwei Generationen. Was wir gerade durchleben, geschieht in bisher unvorstellbar kurzen Zeiträumen. Die Eigenzeit des Systems Menschheit schrumpft zusammen, und die Dichte der Ereignisse steigt. Unterdessen nimmt die allgemeine Geschwindigkeit – der Entstehung neuer Ideen, der Verbreitung von Ideen, des Warenaustauschs, der Innovationen und unseres Alltags – weiter zu.

Der historische Übergang, den wir derzeit durchleben, und die aktuellen Schwierigkeiten, denen wir ausgesetzt sind, haben wesentlich etwas mit Grenzen zu tun. In der Sichtweise des Club of Rome sind es die durch die Ressourcenknappheit vorgegebenen Begrenzungen, die durch die Aufholprozesse von Schwellenländern im Rahmen der Globalisierung erheblich verschärft werden.[15] Andererseits macht uns ein zu hohes Tempo der sozialen und kulturellen Veränderung, die wir in kürzester Zeit bewältigen müssen, zu schaffen. Früher wurde das Neue immer von den Kindern und Enkeln akzeptiert und durchgesetzt, die Eltern durften bleiben, wie sie waren. Heute dagegen sind wir gezwungen, lebenslang zu lernen und uns immer wieder und immer schneller anzupassen. Und das bei erheblichen Unterschieden in den Erfahrungen und vor allem kulturellen Perspektiven, die nun gnadenlos und brutal aufeinandertreffen, ohne dass große Distanzen oder Anpassungszeiträume dazwischen lägen und dämpfend wirken könnten. Vor allem im kulturellen Bereich scheinen die Spannungen geradezu zu explodieren. Warum? Das Neue verdrängt das Alte, was früher galt, das gilt nicht mehr, Erfahrung wird entwertet, ja teilweise zum Hemmschuh, zum Problem.

Ein Beispiel: Kinder lieben ihre Großmutter. Wenn die Großmutter etwas erzählt, das für ihr Leben wichtig war, bewahren ihre Enkel dies tief im Herzen. Wenn nun aber die Werte der Großmutter zerstört werden, wenn sie die Welt nicht mehr versteht, dann ist dies auch für die Kinder und Enkel nur schwer zu bewältigen. Das Neue kann emotional sehr wehtun, wenn es das Alte entwertet, lächerlich macht oder gleich beseitigt.

Ein Problem der Globalisierung heutigen Typs ist, dass sich die dominanten Kulturen sehr rasch verbreiten und Menschen mit anderem Hintergrund tiefgreifende Veränderungen aufzwingen. Aus der Perspektive der bedrängten Kultur stellt sich das wie eine Vergewaltigung dar und ist vollkommen inakzeptabel. Stellen wir uns eine Frau vor, die ihr ganzes Leben lang in der Öffentlichkeit verschleiert war, das für sich akzeptiert und unermüdlich daran gearbeitet hat, dies auch ihren Töchtern zu vermitteln. Was läuft in ihr ab, wenn sie im Fernsehen Bilder westlich gekleideter oder fast nackter Frauen sieht und ihr vermittelt wird, sie habe bisher alles falsch gemacht, solle sich auf das Neue freuen und es als Fortschritt begreifen? Manche werden sich umstellen, andere nicht. Konflikte untereinander und mit der Tradition, die am Althergebrachten festhält, es verteidigt und Andersdenkende als Überläufer behandelt, sind unvermeidlich die Folge.

Chaotische Zustände?

Zukunft hat Herkunft. Nur wer die Vergangenheit begreift, kann das Kommende richtig einschätzen. Dazu hat die Systemwissenschaft in den vergangenen Jahren entscheidende Beiträge geleistet. Heute ist es uns möglich, die Geschichte der Menschheit als Ganzes zu lesen. Danach werden die abstrusen, die brutalen, die mannigfaltigen Geschehnisse, von den ersten Hominiden über den Lehnsherrn im Mittelalter bis hin zum heutigen Investmentbanker, als ein Prozess der Entwicklung der Menschheit als Superorganismus[16] verstanden. Wir sehen die Entwicklung dieses »Lebewesens« Menschheit als einen Wachstumsprozess, der zu unseren Lebzeiten seinen quantitativen Höhepunkt erreicht. Ein Muster endet, ein neues wird folgen. Es steht ein Phasenübergang an, von dem wir noch nicht wissen, wohin er führen wird. Wir befinden uns bereits in einem nahchaotischen Zustand. Nicht wir bestimmen die Entwicklungen, die Entwicklungen nehmen ihren Lauf. Ein solcher Zustand ist nicht zu verantworten, weder mit Blick auf die natürlichen Ressourcen noch auf die weltsoziale Situation und die interkulturelle Balance. Ein solcher Zustand ist auch mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit nicht zu vereinbaren. Einzelne Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder die Ölkatastrophe 2010 im Golf von Mexiko charakterisieren ihn – wie auch unsere Hilflosigkeit. Werden wir nun zudem noch den Übergang in ein vollchaotisches Stadium erleben, in dem die Dinge überhaupt nicht mehr zu steuern sind?

Der Motor der Geschichte: Kommunikation und Interaktion

Die Atmosphäre des Planeten Erde ist ein offenes komplexes System. Sie wird aufgeheizt von der Sonne und befindet sich in Interaktion mit der Oberfläche der Kontinente und Ozeane auf einem sich drehenden Globus. Die Formen der Selbstorganisation der Atmosphäre sind vielfältig. Wirbelstürme, Tiefdruckgebiete und Wetterfronten sind am besten aus großer Höhe zu sehen. Die Bilder der Wettersatelliten zeigen solche Muster sehr klar, aber von der Erdoberfläche aus gesehen bleiben diese Zusammenhänge verborgen. Es ist für selbstorganisierte Systeme typisch, dass man aus großer Nähe ihr Wesen und ihr Funktionieren nicht erkennt, denn die Struktur erschließt sich erst aus größerer Distanz. Die Turbulenzen, durch die die Menschheit derzeit geht, kann man wie einen Klimawandel verstehen, es ist eine Verschiebung des gesamten Systems und seiner Regelwerke.

Für den russischen Physiker Sergey Kapitza[17], Mitglied des Club of Rome, ist die Menschheit ein offenes System, weil die Menschen von ihrem Biotop, dem Planeten, und von seinen Ressourcen leben. Die Wechselwirkung mit dem Biotop ist Voraussetzung für das Leben der Menschen. Kapitza beschreibt die Bevölkerungsentwicklung von den allerersten Anfängen bis heute und hat eine spezifische mathematische Formelstruktur dafür entwickelt. Diese führt zu einer überraschenden Sicht auf die Geschichte der Aborigines in Australien, der Neandertaler, der Eskimos, der Urwaldindianer am Amazonas: Wie kann man ihre Art, sich als Gesellschaft zu organisieren, ihre »Selbstorganisation«, auf einen Nenner bringen? Was haben sie gemeinsam?

Um dies zu beantworten, muss man in die Distanz gehen. Welche Parameter sind universell, welche bestimmen die menschliche Geschichte? Zunächst einmal geht es um Zeit, im Wesentlichen verstanden als ein Maß zur Beschreibung von Wachstumsprozessen. Und dann um die Anzahl der Menschen, die als grobes Maß für die Leistungsfähigkeit der Menschheit zum jeweiligen Zeitpunkt gelten kann. Das Bevölkerungswachstum beschreibt Kapitza als eine hyperbolische, also der mathematischen Grundform der Hyperbel folgende Entwicklung. Dabei tut sich über lange Zeit hinweg scheinbar gar nichts, das Wachstum erscheint linear mit ganz geringer Steigerung, dann wächst die Kurve merklich, überlinear, erst langsam, dann immer schneller, plötzlich explosionsartig, sogar überexponentiell, und endet schließlich fulminant. Mathematisch ausgedrückt vollzieht sie eine Entwicklung gegen unendlich. Es hat mehrere Millionen Jahre gedauert, bis die menschliche Population im frühen Paläolithikum auf 150.000 Menschen angewachsen war – diese Anzahl schaffen die Menschen heute jede Nacht als Zuwachs!

Mittlerweile leben auf der Erde rund sieben Milliarden Menschen. Sieht man einmal von Haustieren ab, schlagen sie damit vergleichbar große Säugetiere zahlenmäßig um einen Faktor 1000 und mehr. Wenn diese Menschen nur hochentwickelte Tiere wären, Teil der Biosphäre, wie viele andere Arten, zum Beispiel unsere nächsten Verwandten, würden sie wie diese in einem eng begrenzten Territorium leben, in einer ökologischen Nische. Sie befänden sich dann im Zustand eines dynamischen Gleichgewichts mit ihrer Umgebung. Das Gegenteil aber ist der Fall: Es herrscht kein Gleichgewicht, sondern der Zustand permanenten Wachstums. Mit dem Auftauchen des Menschen während der Evolution geschah etwas völlig Neues. Was ist es? Worin liegt das Geheimnis dieser hyperbolischen Kurve?

Es liegt in der Sprache, in der Kommunikation und der Interaktion. Wissen und Technik, Gebräuche und Fertigkeiten, Kunst und Religion und schließlich die Wissenschaft – all das ist charakteristisch für Menschen und ihre Gesellschaft, und genau darin liegt auch der entscheidende Unterschied zum Tier.

Mathematisch betrachtet wächst die Anzahl der Kommunikationsbeziehungen im Quadrat zur Anzahl der Teilnehmer am Geschehen. Es handelt sich dabei um einen typischen Netzwerkeffekt. Erfindungen und ihre Wirkungen nehmen durch die Quadrierung der Wechselwirkungen sehr viel schneller zu, als die Anzahl der Menschen selber wächst. Und es ist das Quadrat dieser Anzahl, das über die erhöhten Wechselwirkungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Potenziale zum Austausch und zur Kombination von Wissen direkt in technisch-organisatorische Möglichkeiten der Menschen eingeht, was sich wiederum auf die Wachstumsgeschwindigkeit bezüglich der Größe der Menschheit auswirkt. Kapitza beschreibt diese fundamentalen Zusammenhänge im Gesetz des quadratischen Wachstums, das er mit einer hyperbolischen Grundstruktur verknüpft.

Kern des Gesetzes ist eine Kopplung zwischen Wachstum und Entwicklung, genauer gesagt: ein numerisches Wachstum der Anzahl der Menschen im Verhältnis zu ihrer Interaktion untereinander und damit von Wissens- und Erfahrungsaustausch. Die Menschheit wird in dieser Sichtweise zu einem Wissen generierenden, Wissen verbreitenden und Wissen tradierenden System, zu einem Lebewesen sui generis und zu einem intelligenten Superorganismus. Wissen zieht sich dabei durch das gesamte System, durch die ganze Bevölkerung und erreicht schließlich jeden Einzelnen. Es erstreckt sich von den ersten Hominiden, die von Afrika aus in die Welt zogen, bis in die Gegenwart, in der die Menschen über Handy und Internet in Kontakt miteinander stehen. Stets wachsen die Kommunikationsmöglichkeiten quadratisch, weil jeder mit jedem kommunizieren kann und es quadratisch viele mögliche Paarbeziehungen gibt.

Eine praktische Konsequenz ist, dass die Menschen immer sehr eng über persönliche Beziehungen und deren Verkettung miteinander verknüpft waren und es bis heute sind. Alle sieben Milliarden Menschen sind maximal neun Handschläge voneinander entfernt, selbst der einsamste Indianer im brasilianischen Regenwald von dem einsamsten Eskimo. Auch der einsamste Eskimo kennt nämlich wenigstens einen normal vernetzten Eskimo, und der kennt einen Eskimohäuptling. Der wiederum ist mit dem Eskimobeauftragten des Landes bekannt, und dieser mit dem Staatspräsidenten. Der Staatspräsident kennt natürlich den Präsidenten von Brasilien und dieser den Regierungsbeauftragten für die Indianer des Landes, der wiederum einen direkten Kontakt zu jedem Häuptling hat, und so weiter. Die Menschheit war und ist ein einziges System mit enger Verknüpfung seiner Elemente.

Der Superorganismus Menschheit hat auch grausame Seiten, denn die Menschen kommen und gehen, aber die Menschheit als Superorganismus bleibt bestehen. Das ist mit unserem Körper vergleichbar: Die Zellen kommen und gehen, solange wir leben. Für die einzelne Zelle ist es bedeutsam, dass gerade sie lebt und vergeht, für den gesamten Körper ist diese »Perspektive« der einzelnen Zelle vergleichsweise nebensächlich. Wir selbst bemerken es gar nicht. Was auf Dauer bleibt, ist – in Analogie – nur der Superorganismus Menschheit, nicht der einzelne Mensch. Der Superorganismus lebt seit mehr als vier Millionen Jahren und wächst stetig. Wir sind die einzige biologische Spezies, die das vermag: dauernd aus eigener Kraft zu wachsen, obwohl das Biotop uns immer wieder Grenzen setzt.

Die Geschichte der Menschheit begann nach Kapitza vor etwa 4,5 Millionen Jahren mit dem Auftauchen der ersten Hominiden in Afrika, die damals in überschaubaren Horden oder Clans lebten. Geschichtliche Entwicklungen vollzogen sich in dieser Anfangsphase unendlich langsam. Während der ersten Epoche, die etwa drei Millionen Jahre dauerte, war das Wachstum äußerst bescheiden. Die Vorläufer der Menschen waren eher noch Teil der Natur, und der quadratische Wachstumsfaktor spielte noch keine spürbare Rolle. Vor 1,6 Millionen Jahren trat Homo habilis auf, das war ein entscheidender Schritt in der menschlichen Entwicklung. Nun hatte die Interaktion, etwa beim Gebrauch von Werkzeugen, ein hohes Niveau erreicht, und die ersten Stufen des systemischen Lernens und auch der organisierten Weitergabe von Erfahrungen setzten ein. Auch wenn es noch keine entwickelte Sprache gab, tauchte zum ersten Mal so etwas wie genuine menschliche Intelligenz auf. Entscheidend dafür sind Austausch, Interaktion und Kommunikation. Dies war der Beginn des spürbaren quadratischen Wachstumseffekts, der bis heute anhält, aber in unseren Zeiten abrupt einbricht und einbrechen muss.

Wohl die größte »Innovation« der menschlichen Geschichte war das Aufkommen der Sprache im Paläolithikum. Wie viel leichter war es jetzt, Ideen weiterzutragen! Dies geschah nun über Worte und Sätze und nicht mehr nur über Gesten, Laute, Schläge oder gemeinsames Tun. Sprache ist Kommunikation pur. Wer sich heute in einem fremden Land sprachlich nicht verständigen kann, sondern nur »mit Händen und Füßen«, der bekommt ein Gefühl dafür, was fehlt, selbst wenn es bei einer Vielzahl alltagspraktischer Fragen mit Händen und Füßen auch irgendwie funktioniert.

Selbst Krieg ist eine Form der Wechselwirkung und der Kommunikation. Und das gilt ebenso für Plünderung, Vergewaltigung und Terror, die teils sogar als Mittel der Kommunikation sehr wirksam sind. Und wenn jemand kein Gehör findet oder seine Sicht der Dinge ausgeblendet wird, dann ist ein Selbstmordanschlag eine Mitteilung, die nicht so einfach »überhört« werden kann.

Kommunikation und Interaktion sind überlebenswichtig. Sie sind Teil eines Prozesses, mit dem sich überlegene technisch-organisatorische Möglichkeiten ständig durchsetzen. Stellen wir uns einmal vor, dass eine Hominidengruppe sehr erfolgreich eine neue Jagdmethode beherrscht. Dadurch erweitert sie ihren Lebensraum und drängt andere Gruppen in ihren Möglichkeiten zurück. Wild, das diese anderen zum Überleben brauchen, wird für sie unerreichbar; es sei denn, sie übernehmen die neue Technik. Beides ist Kommunikation – Verdrängung wie Übernahme. Und schon vorher ist klar, dass die neue Technik sich durchsetzen wird. Mord und Totschlag sind dafür meist nicht erforderlich.

Vergleichbare Abläufe kennen wir aus der Frühgeschichte im Nebeneinander von Neandertaler und modernem Menschen oder in der Neuzeit bei der Besiedelung Nordamerikas, Südamerikas oder Australiens. Die selbständige Kultur der Prärieindianer war endgültig verloren, als der weiße Mann mit neuen Gewehren innerhalb von wenigen Jahren etwa fünf Millionen Bisons getötet hatte, denn die indianische Lebensweise basierte auf dem Vorhandensein einer ausreichenden Zahl von frei lebenden Büffeln.

Kapitza führt ein weiteres Beispiel verheerender Kommunikation an. Im Jahre 1345 belagerten die Türken den Genueser Handelsposten Kaffa am Schwarzen Meer. Zwei Jahre lang hatten die Italiener dem Ansturm bereits widerstanden. So lange, bis die Türken zu einer Form der bakteriologischen Kriegsführung[18] übergingen und infizierte Ratten in die Festung warfen. In der Folge brach die Pest aus. Die Überlebenden flohen auf Schiffen zunächst nach Konstantinopel, dann nach Genua, und nahmen die Pest mit. Von dort aus verbreitete sich die Epidemie über den ganzen Kontinent. In einigen Ländern Europas haben die Pestepidemien des Mittelalters die Hälfte der Bevölkerung dahingerafft. Es hat einige Zeit gedauert, bis die Verluste kompensiert waren – ähnlich wie nach einem Weltkrieg oder während der Eiszeit. Solange aber das erreichte Wissensniveau gerettet und weitergegeben werden konnte, wurde die Lücke rasch wieder gefüllt. Denn die Obergrenze der Anzahl von Menschen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt ernährt werden können, wird im Wesentlichen durch das Wissen und die Technologie definiert, über die die Menschen verfügen. Davon hängt es ab, was man aus dem Biotop an Nahrung herausholen kann.

Wenn also viele Menschen starben, bedeutete das nicht unbedingt, dass die Menschheit einen prinzipiellen Schritt zurück getan hätte. Solange nämlich die Innovationen, die sie bis dahin hervorgebracht hatte, nicht verloren waren, solange ihr Wissen noch in Form eines kulturellen Gedächtnisses vorhanden war, konnten die nachfolgenden Generationen daran anknüpfen. Das ist der Grund, weshalb die Zahl der Menschen rasch wieder wuchs und die Geschichte der Menschheit, trotz aller Gräuel, Kriege und Katastrophen, einem Grundmuster quadratischen Wachstums gefolgt ist.

Das kollektive Gedächtnis kann geografisch aus dem eigenen Kulturraum ausgelagert werden. Deshalb war es für das Wachsen der Menschheit auch nicht hinderlich, dass Europa ein dunkles Mittelalter durchlebte. Das Wissen der Antike wurde in dieser Zeit mit dem Wissen Persiens und Indiens verknüpft, in Arabien vorgehalten und weiterentwickelt und gelangte später über die spanische Halbinsel, über Sizilien und Venedig wieder nach Europa zurück. An welchen Orten und in welchen Kulturen das Wissen im Superorganismus Menschheit gespeichert und tradiert wird, ist nicht entscheidend, Hauptsache, es »lebt«, wird kommuniziert und tradiert. Gefährlich wird es für Kulturen dann, wenn sie sich isolieren und aus dem Austausch verabschieden. In Zeiten der Globalisierung steigen die Risiken, die eine solche Isolation in sich birgt, sogar noch weiter. Denn gegen das Innovationspotenzial der großen Zahl kann ein isoliertes, kleineres Subsystem auf Dauer nicht bestehen.

Seit einiger Zeit hat sich das Wort von der Informationsgesellschaft eingebürgert; demgegenüber zeigt Kapitza, dass die menschliche Gesellschaft bereits von Beginn an informationsgetrieben gewesen ist, denn Interaktion ist ihr entscheidendes Merkmal. Die Informationsgesellschaft ist also nicht erst mit den Computern entstanden, nicht einmal mit dem Aufkommen der Sprache, Interaktion war immer zentral für die Menschheit und ihre Entwicklung.

Zurzeit erleben wir allerdings eine Potenzierung der Kommunikations- und Interaktionsprozesse und des Tempos und Umfangs, in dem die Menschheit als Superorganismus ihr eigenes Nervensystem entwickelt. Mit den Möglichkeiten der Telefonie, der Medien und des Internets entsteht eine globale Informations- und Kommunikationsstruktur, die in ihrem Potenzial der Übertragungskapazität, der Schnelligkeit und in ihrer globalen Verteiltheit alles Bisherige in den Schatten stellt. Zugleich werden in diesem globalen Netzwerk mit Multimedia die Voraussetzungen geschaffen, um auf technischen Wegen beliebige Sensorsignalinformationen zu identifizieren, zu nutzen, zu generieren, zu integrieren und weiterzuverarbeiten. Und zwar völlig unabhängig davon, ob es sich um Bilder, Töne, haptische Eindrücke etc. handelt. Der Superorganismus Menschheit wird hinsichtlich seiner Informationskapazität in Kürze auf sämtlichen Ebenen sogar weit über das hinausgehen, worüber Menschen von Natur aus verfügen. Parallel dazu läuft ein Prozess, in dem Wissens- und Datenbanken ungeahnter Mächtigkeit entstehen und immer mehr Vorgänge der Wissensverarbeitung automatisiert werden. Darunter sind auch solche, die hohe Intelligenz verlangen. Damit sind weitere Schritte in eine Welt neuer Möglichkeiten getan worden, deren Auswirkungen wir heute noch gar nicht in ihrem vollen Umfang überblicken können.

In der Summe kann man es vielleicht so formulieren: Die Menschheit musste wachsen und dem Druck des Wachstums ausgesetzt sein, um das Wissen zu produzieren, das es ihr erlaubte, anschließend weiterzuwachsen. Die vielleicht wichtigste Leistung technischen und organisatorischen Fortschritts bestand darin, immer mehr Menschen auf einem immer höheren Niveau lebensfähig zu halten.

Der Mensch hält das hohe Tempo nicht mehr aus

Die Existenz von heute knapp sieben Milliarden Menschen ist vor allem eine Folge des Wissenschafts- und Techniksystems des Superorganismus Menschheit. Kapitza hat eine Philosophie der Zeit entwickelt, die uns hilft, die Beschleunigungsprozesse zu begreifen und damit den Stress besser einzuordnen, dem wir heute ausgesetzt sind. Er unterscheidet nämlich zwischen der objektiven Zeit der Gestirne, also der Newton’schen oder Einstein’schen Zeit, und der subjektiven, inneren Zeit der menschlichen Erfahrung im historischen Prozess. Letztere nennt er die Eigenzeit des Systems Menschheit. Sie hängt direkt mit der Bevölkerungsentwicklung zusammen und zeichnet sich durch eine starke Beschleunigung aus. Er definiert die Eigenzeit der Menschheit als die Zeit, die sie braucht, um zehn Milliarden Menschen zu »produzieren«. Zählt man die Gesamtheit der Menschen zusammen, die je gelebt haben, kommt man auf etwa 100 Milliarden. Dabei hat die erste Phase dieses Prozesses Millionen Jahre gedauert, die letzte dagegen gerade einmal 100 Jahre. Mathematisch betrachtet bewegt sich der Prozess auf einen Phasenübergang zu, der sich etwa im Jahr 2030 ereignen wird. Dann läuft die Wachstumskurve gegen unendlich und zugleich gegen ein prinzipielles Problem: dass nämlich die Anpassungszeit der Menschen, das zu lernen, was sie lernen müssen, um den Prozess der rasanten Vergrößerung der Menschheit noch beherrschen zu können, kürzer wird als diejenige Zeitspanne, die notwendig ist, um neue Gehirne mit neuem Wissen in die Welt zu bringen und die Anpassungsprozesse im Bereich Wissen und Technologie zu bewältigen. Bis heute war das nie ein Problem.

Die Hauptthese von Kapitza besteht darin, dass wir uns dem Punkt nähern, an dem die bisherigen Wachstumsmuster der Menschheit zwangsläufig abbrechen, weil der Superorganismus Menschheit die nötigen Innovationen nicht mehr schnell genug liefern kann. In der Sprache der Wirtschaftswelt formuliert, ist das Veränderungstempo mittlerweile so hoch, dass einerseits die Zeit nicht mehr ausreicht, die benötigten Erfindungen rechtzeitig hervorzubringen, und andererseits die Abschreibungsfristen für Innovationen nicht mehr lang genug sind, um Finanzierungen zu ermöglichen. Zugleich halten die Menschen das Tempo nicht mehr aus, denn die Veränderungen geschehen während unserer Lebenszeit und nicht mehr im Laufe der Generationen. Lebenslanges Lernen wird zum Programm, aber wir sind dabei dauernd überfordert. Dass es in großen Firmen heute Motivationsseminare für lebenslanges Lernen gibt, sagt alles. Wir brauchen solche Seminare, weil wir instinktiv ablehnen, was von uns erwartet wird. Es überrascht deshalb nicht, dass viele Manager und Mitarbeiter heute arbeitsbedingt krank sind und sich völlig überfordert fühlen.

Die ultimative Grenze für die Größe der Menschheit ist die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns, der entscheidende Engpass ist die erreichbare Innovationsgeschwindigkeit. Die Innovationen, die heute notwendig wären, um die Probleme der Menschheit bei weiterem Wachstum gemäß der bisherigen Logik zu lösen, würden die »Hardware« des Menschen völlig überfordern. Selbst die jetzt bereits absehbaren Probleme in Bezug auf Ressourcen und Verschmutzung, weltweiten sozialen Ausgleich und weltweite kulturelle Balance, bei einer Stabilisierung der Weltbevölkerung auf neun bis zehn Milliarden Menschen im Jahre 2050, übersteigen möglicherweise schon unsere Lösungspotenziale.

Der schon erwähnte Phasenübergang ist insofern unausweichlich und ähnelt hinsichtlich der Dimensionen des Umbruchs dem Übergang von Eis zu Wasser oder von Wasser zu Wasserdampf, wenn man kontinuierlich die Temperatur erhöht. Das System wechselt in einen fundamental anderen Zustand, wobei – für uns anders als bei den Phasen des Wassers – heute offen ist, wie dieser aussehen wird. Ein Muster, das mehr als vier Millionen Jahre lang erfolgreich war, wird jedenfalls zu Ende gehen. Dass wir in diesem einzigartigen Moment dabei sind, ist nicht so unwahrscheinlich, wie man zunächst glauben mag. Der errechnete Kulminationspunkt kommt zwar erst nach mehr als vier Millionen Jahren Menschheitsgeschichte, aber nach Kapitzas Analysen existiert in der kritischen Übergangszeit ein Zehntel der Menschen, die jemals die Erde bevölkert haben, nämlich zehn Milliarden von 100 Milliarden. Wir leben in einer spannenden Zeit, es ist ein einzigartiger Moment in einem langen geschichtlichen Ablauf.

Achtung Bumerang: Neue Technik gebiert neue Probleme

Das Mittelalter hat als Höhepunkt einer Entwicklung von vielen Millionen Jahren ein leistungsfähiges technisches System hervorgebracht, das sich praktisch ausschließlich aus regenerativ erzeugter Energie speiste. Ob Wasser- oder Windmühlen, ob Holz zum Heizen oder tierische Zugkraft – alle diese Energiequellen sind solaren Ursprungs. Jacques Neirynck[19], ein Technikphilosoph belgischer Abstammung, spricht von »ökologischer Perfektion innerhalb eines technischen Systems«, dessen Wurzeln bis ins Neolithikum zurückreichen, also in eine Zeit vor rund 10.000 Jahren, als die Menschheit Ackerbau und Viehzucht erfand und damit die Tür in neue Größenordnungen öffnete. Das System war ein riesiger Fortschritt, aber es blieb stets im Rahmen erneuerbarer Energien, es lebte vom Fluss der Ressourcen, nicht von der Nutzung endlicher Depots.