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Richard Overy

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Beschreibung

Richard Overy zeichnet ein umfassendes, neues Bild des Zweiten Weltkriegs – als das letzte Aufbäumen des Imperialismus. Er zeigt ihn als den alles Vorangegangene übertreffenden imperialistischen Krieg – in dem Achsenmächte ebenso wie Alliierte danach strebten, Imperien zu festigen, zu verteidigen, zu erweitern oder auch erst zu schaffen. Ein weltumspannendes, zeitlich weit ausgreifendes Geschehen und eine Perspektive, in der etwa der Krieg im Pazifik stärker als bisher üblich in den Blick gerät; beginnend bereits 1931 mit dem Einfall des Japanischen Kaiserreichs in die Mandschurei, der die Richtung vorgab für das exzessive Expansionsstreben Italiens und Nazideutschlands. Overy schildert die Ereignisse, die in die Katastrophe führten, ebenso wie die Folgen für die neue Weltordnung nach 1945; er zeigt die geopolitisch-strategische wie die menschliche Dimension dieses Krieges, mit dem das imperialistische Zeitalter sein Ende finden sollte. Das Opus magnum eines der bedeutendsten Historiker des Zweiten Weltkriegs, das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung – und eine Neubewertung dieses zerstörerischsten aller Kriege, die uns auch unsere Gegenwart mit anderen Augen sehen lässt.

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Seitenzahl: 2565

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Richard Overy

Weltenbrand

Der große imperiale Krieg, 1931–1945

 

 

Aus dem Englischen von Henning Thies und Werner Roller

 

Über dieses Buch

Richard Overy zeichnet ein umfassendes, neues Bild des Zweiten Weltkriegs – als das letzte Aufbäumen des Imperialismus. Er zeigt ihn als den alles Vorangegangene übertreffenden imperialistischen Krieg – in dem Achsenmächte ebenso wie Alliierte danach strebten, Imperien zu festigen, zu verteidigen, zu erweitern oder auch erst zu schaffen. Ein weltumspannendes, zeitlich weit ausgreifendes Geschehen und eine Perspektive, in der etwa der Krieg im Pazifik stärker als bisher üblich in den Blick gerät; beginnend bereits 1931 mit dem Einfall des Japanischen Kaiserreichs in die Mandschurei, der die Richtung vorgab für das exzessive Expansionsstreben Italiens und Nazideutschlands. Overy schildert die Ereignisse, die in die Katastrophe führten, ebenso wie die Folgen für die neue Weltordnung nach 1945; er zeigt die geopolitisch-strategische ebenso wie die menschliche Dimension dieses Krieges, mit dem das imperialistische Zeitalter sein Ende finden sollte.

Das Opus magnum eines der bedeutendsten Historiker des Zweiten Weltkriegs, das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung – und eine Neubewertung dieses zerstörerischsten aller Kriege, die uns auch unsere Gegenwart mit anderen Augen sehen lässt.

Vita

Richard Overy, geboren 1947 in London, zählt zu den bedeutendsten Zeithistorikern unserer Tage. Er lehrt Geschichte an der University of Exeter und lebt in London. Mehrere seiner Bücher, darunter «Russlands Krieg» (2003) und «Die Diktatoren» (2005), gelten als Standardwerke. «Weltenbrand», Overys große Geschichte des Zweiten Weltkriegs, wurde zum «New York Times»-Bestseller; das Buch stand auf der Shortlist des Gilder Lehrman Prize und wurde mit der Duke of Wellington Medal for Military History ausgezeichnet.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Blood and Ruins. The Great Imperial War, 1931–1945» bei Allen Lane, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Copyright © Richard Overy, 2023

Karten Peter Palm

Fachberatung Prof. Dr. Winfried Heinemann

Covergestaltung Frank Ortmann

Coverabbildung akg-images

ISBN 978-3-644-01276-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

Wir sind ins klassische Zeitalter des Kriegs getreten, des gelehrten und zugleich volkstümlichen Kriegs im größten Maßstabe.

Friedrich Nietzsche, 1881

Vorwort

Im Dezember 1945 erhielt der ehemalige amerikanische Außenminister Cordell Hull den Friedensnobelpreis. Aus gesundheitlichen Gründen verhindert, den Preis persönlich in Empfang zu nehmen, ließ er eine kurze Dankesrede verlesen, in der er das Streben nach Frieden nachdrücklich unterstützte – zumal nach der «heftigen Feuerprobe durch den räumlich umfassendsten und grausamsten Krieg aller Zeiten».[1] Hull war für seine vollmundige Rhetorik bekannt, doch in diesem Fall wirkt die von ihm gewählte Ausdrucksweise auch nach mehr als fünfundsiebzig Jahren noch angemessen. Denn die Ära, die Hull gerade durchlebt hatte, war geprägt von einem globalen Krieg, der bis dahin unvorstellbare Ausmaße angenommen hatte. Die zahlreichen kriegerischen Konflikte, die heute unter dem Sammelbegriff «Weltkrieg» zusammengefasst werden, verursachten fast grenzenloses Leiden, Entbehrungen und Tod. Nie zuvor und auch seither nicht mehr gab es einen Krieg wie diesen; er übertraf auch den Ersten Weltkrieg. In Zukunft, so Hull in seiner Dankesrede, könne es sogar noch weitere Weltkriege geben – mit dem Potenzial, «unsere ganze Zivilisation auszulöschen». Bislang sind wir davon verschont geblieben.

Ein derart ausufernder und grausamer Krieg stellt für Historiker in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung dar. Seit den 1940er Jahren ist so viel Zeit vergangen, dass es immer schwerer fällt, sich eine Welt auszumalen, in der mehr als hundert Millionen Männer (sowie eine deutlich geringere Zahl von Frauen) eine Uniform anlegten und in den Kampf zogen – mit Waffen, deren Zerstörungskraft, im Ersten Weltkrieg geschärft, sich in den folgenden Jahren nochmals dramatisch steigern sollte. Genauso schwer fällt es heute, sich vorzustellen, wie es großen Staaten gelingen konnte, ihre Bevölkerung davon zu überzeugen, bis zu zwei Drittel ihres Nationaleinkommens für Kriegszwecke auszugeben; davon, dass Hunderte Millionen Menschen sich mit kriegsbedingter Armut und Hunger abzufinden hätten; oder davon, dass Wohlstand und Ersparnisse, in Friedenszeiten angesammelt, den unersättlichen Anforderungen des Konflikts zu opfern seien. Dieses riesige Ausmaß an Entbehrungen, Enteignungen und Verlusten durch Bombardements, Deportationen, Beschlagnahmung und Diebstahl ist heute kaum mehr nachzuvollziehen.

Darüber hinaus fordert dieser Krieg auch unser modernes Empfinden heraus, unser Bemühen, zu erfassen, wie weit verbreitet damals Gräueltaten, Terrorismus und Kriegsverbrechen waren, begangen von Hunderttausenden, die in den meisten Fällen, um die einprägsame Charakterisierung des Historikers Christopher Browning zu zitieren, «ganz normale Männer» waren, weder Sadisten noch Psychopathen.[2] So alltäglich Gräueltaten heutzutage in diversen Bürgerkriegen und Aufständen auch sein mögen, das Zeitalter des Zweiten Weltkriegs erlebte eine massive Ausbreitung von gewaltsamen Zwangsmaßnahmen, Inhaftierungen, Folterungen, Deportationen und Massentötungen bis hin zum Genozid, ausgeführt von uniformierten Soldaten, Sicherheits- oder Polizeikräften, aber auch von Partisanen und irregulären Milizen, Männern wie Frauen.

Früher reichte es aus, diesen Krieg als militärische Reaktion friedliebender Nationen auf die imperialen Ambitionen Hitlers und Mussolinis in Europa sowie des japanischen Militärs in Ostasien zu erklären. Wie die offizielle Kriegsgeschichtsschreibung der Sowjetunion konzentrierten sich die westlichen Standarddarstellungen auf den militärischen Konflikt zwischen den Alliierten und den Achsenmächten. Die Geschichte dieser Auseinandersetzung ist heute in vielen ausgezeichneten Werken gründlich aufgearbeitet und dokumentiert. Sie wird deshalb hier nicht nochmals vollständig ausgebreitet.[3]

Allerdings lässt die Konzentration auf den militärischen Ausgang des Krieges, so wichtig er auch sein mag, zu viele Fragen hinsichtlich der umfassenderen Krise offen, die diesen Krieg überhaupt erst hervorbrachte. Aus dem Blick geraten dabei nämlich die unterschiedliche Natur der vielen militärischen Konflikte sowie der politische, ökonomische, soziale und kulturelle Kontext des Krieges – und letztlich auch die unterschiedlich ausgeprägte Gewalt, die 1945 noch lange nach dem formellen Ende der Kriegshandlungen andauerte. Vor allem aber sieht die konventionelle Darstellung des Krieges in Hitler, Mussolini und im japanischen Militär eher die Ursachen der großen Krise statt deren Resultat, das sie in Wirklichkeit waren. Eine angemessene, schlüssige Erklärung der Ursachen, des Verlaufs und der Folgen des Krieges ist nicht möglich ohne ein Verständnis der umfassenderen historischen Kräfte, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts über Jahrzehnte hin zu sozialer, politischer und internationaler Instabilität führten – erst dadurch wurden die Achsenmächte letztlich dazu verleitet, reaktionäre Programme für imperiale Territorialeroberungen in Angriff zu nehmen. Die Niederschlagung dieser expansiven Ambitionen ebnete dann langsam den Weg zurück zu relativer globaler Stabilität und – in den Territorialimperien – zur Endphase der großen Krise.

Die hier vorliegende neue Geschichte des Zweiten Weltkriegs basiert auf vier zentralen Thesen. Erstens: Die konventionelle Chronologie dieses Krieges ist obsolet geworden. Die Kämpfe begannen bereits in den frühen 1930er Jahren in China und endeten in China, Südostasien, Osteuropa und im Nahen Osten erst im Jahrzehnt nach 1945. Die Kriegshandlungen zwischen 1939 und 1945 mögen das Herzstück der Erzählung bilden, doch die Geschichte des Konflikts reicht mindestens bis zur japanischen Besetzung der Mandschurei 1931 zurück und voraus zu den letzten Aufständen und Bürgerkriegen, die vom Krieg veranlasst, aber 1945 noch nicht beendet waren. Darüber hinaus beeinflussten der Erste Weltkrieg und die Gewalt, die ihm vorausging und folgte, die Welt der 1920er und 1930er Jahre zutiefst, was für die Behauptung spricht, dass man kaum etwas damit gewinnt, wenn man die beiden Großkonflikte des Ersten und Zweiten Weltkriegs voneinander trennt. Vielmehr kann man beide Kriege als Etappen eines zweiten Dreißigjährigen Krieges sehen, in dem es um die Neuordnung des Weltsystems in einer Endphase der imperialen Krise ging. Die Struktur des Buches spiegelt diese eher unkonventionelle zeitliche Perspektive wider. Die Darstellung enthält viel über die 1920er und 1930er Jahre, weil das Wesen dieses globalen Krieges und die Art und Weise, wie er ausgefochten und damals verstanden wurde, anders nicht angemessen zu erklären ist.

Zweitens: Der Krieg sollte als globales Ereignis verstanden werden, nicht als eines, bei dem es allein um die Niederringung der europäischen Achsenmächte ging, mit dem Pazifikkrieg als Anhängsel. Alle politisch instabilen Regionen in Mitteleuropa, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten sowie in Ostasien trugen zu einer umfassenden globalen Stabilitätskrise bei, weshalb die Kampfhandlungen eben nicht auf die großen Staaten in den genannten Weltregionen beschränkt waren, sondern auch so abgelegene Gebiete wie die Aleuten im Nordpazifik, Madagaskar im südlichen Indischen Ozean oder die Inselstützpunkte in der Karibik einbezogen. Der asiatische Krieg mit seinen Folgen war für die Schaffung der Nachkriegswelt genauso wichtig wie die Niederlage Deutschlands in Europa, wenn nicht gar wichtiger. Schließlich gingen dort die Entstehung des modernen China und die Auflösung der Kolonialreiche im Zeitalter der Weltkriege Hand in Hand.

Drittens: Der Konflikt muss neu definiert werden als ein Spektrum unterschiedlicher Kriegsarten. Hauptsächlich handelte es sich um die üblichen Kriege zwischen Staaten, um Angriffs- oder Verteidigungskriege, denn nur Staaten konnten ausreichende Ressourcen mobilisieren und in großem Maßstab bewaffnete Konflikte durchhalten. Es wurden jedoch neben dem großen militärischen Konflikt auch Bürgerkriege ausgetragen – in China, in der Ukraine, in Italien, in Griechenland – sowie «Kriege der Zivilisten», sei es als Befreiungskriege gegen eine Besatzungsmacht (wozu auch die Alliierten zählten), sei es als Kriege ziviler Selbstverteidigung, vor allem, um mit den Auswirkungen des Bombenkriegs fertigzuwerden. Manchmal überschnitten sich diese verschiedenen Formen, manchmal fielen sie mit den zwischenstaatlichen Kriegen zusammen – etwa beim Partisanenkrieg in Russland oder bei den Kämpfern der Résistance in Frankreich. In jedem Fall aber waren die Partisanenkriege, Bürgerkriege und Aufstände kleinere Parallelkriege, in denen hauptsächlich Zivilisten zu ihrem Schutz oder für ihre Befreiung kämpften. Diese Mobilisierung der Zivilisten trug im Zweiten Weltkrieg maßgeblich dazu bei, dass er zum «totalen Krieg» wurde. Sie spielt darum in der folgenden Darstellung eine große Rolle.

Viertens: Alle drei Gesichtspunkte – Chronologie, Kriegsschauplätze und unterschiedlich definierte Kriege – ergeben sich aus der hier verfolgten Argumentation, dass der lange Zweite Weltkrieg der letzte imperiale Krieg war. Die meisten Gesamtdarstellungen dieses Krieges konzentrieren sich auf den Konflikt der «Großmächte» und auf die Rolle der Ideologie. Sie übersehen oder vernachlässigen dabei jedoch die Bedeutung der Territorialimperien – ein zentraler Punkt, wenn man das Wesen dieses langen Krieges, der sich von 1931 bis zu den ungeordneten Nachwehen des Jahres 1945 erstreckte, ergründen will. Die hier gewählte Perspektive ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einer engen marxistisch-leninistischen Weltsicht. Es wird lediglich gebührend zur Kenntnis genommen, dass damals eine imperiale Weltordnung existierte, in die all die unterschiedlichen Schauplätze und Konfliktformen eingebunden waren. Diese imperiale Weltordnung wurde im Wesentlichen von Briten und Franzosen beherrscht, erregte und beflügelte jedoch in Japan, Italien und Deutschland, den angeblich «zu kurz gekommenen» Nationen, die phantastischen Ambitionen, ihr nationales Überleben zu sichern und ihre nationale Identität zur Geltung zu bringen, indem auch sie zusätzliche eigene imperiale Zonen eroberten.

Erst in jüngerer Zeit haben sich Historiker der These gewidmet, die Achsenmächte hätten sich ihre eigene globale Verbindung («Nexus») geschaffen, um die älteren Kolonialreiche zu imitieren, an deren Stelle sie treten wollten.[4] Imperiale Entwürfe und imperiale Krisen bildeten seit dem Ersten Weltkrieg – und sogar schon früher – den Rahmen für Entstehung und Verlauf des zweiten kriegerischen Großkonflikts, so wie letztlich der Ausgang des Zweiten Weltkriegs auch das Ende eines halben Jahrtausends Kolonialismus nach sich zog und die Konsolidierung der Nationalstaaten förderte.[5] Jahrhunderte unerbittlicher europäischer Expansion wichen der Verengung auf Europa. Was von der traditionellen Kolonialherrschaft noch übrig war, brach in den Jahrzehnten nach 1945 schnell zusammen, als die neuen Supermächte USA und Sowjetunion den Entstehungsprozess einer neuen Weltordnung dominierten.

Der Inhalt des Folgenden wird von den vier genannten Ansatzpunkten bestimmt. Fünf Kapitel sind einer breit angelegten Erzählung gewidmet (Prolog, Kapitel 1 bis 3 und 11), sieben sind eher thematisch ausgerichtet (Kapitel 4 bis 10). Die ersten Kapitel erkunden die langfristigen Faktoren, die die Krise der 1930er Jahre und den heraufziehenden Krieg bestimmten, wobei die Wurzeln in den imperialen und nationalen Konkurrenzkämpfen des späten 19. Jahrhunderts und in der Zeit des Ersten Weltkriegs lagen. Ein zweiter Krieg war nicht unvermeidlich, aber die Fragmentierung des Welthandels- und Finanzsystems in den 1920er Jahren, verbunden mit einer wachsenden Unsicherheit des globalen imperialen Systems und dem Aufstieg eines völkischen Nationalismus, ließen massive Spannungen und Ambitionen entstehen, die durch Zusammenarbeit kaum noch aufzulösen waren. Eine Mischung aus ultranationalistischer Ideologie, Wirtschaftskrise und sich plötzlich ergebenden Chancen ermutigte Japan, Italien und Deutschland, den Kurs eines «Neuordnungs»-Imperialismus einzuschlagen.

Für die etablierten Kolonialreiche – also das britische, das französische, das niederländische und auch das belgische Imperium – führte dies zu einer schweren Katastrophe durch eine unerwartete Serie von Niederlagen zwischen 1940 und 1942. Obwohl die Staaten, die auf eine «Neuordnung» aus waren, ihre regionalen Imperien lieber ohne eine unmittelbare Konfrontation mit der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten errichtet hätten, mussten sie feststellen, dass sie ihre Ambitionen letztlich nicht erreichen konnten, ohne diese Mächte zu besiegen oder wenigstens zu neutralisieren – daher das «Unternehmen Barbarossa» und der Pazifikkrieg, daher auch der Sonderfall des Völkermordkriegs gegen die Juden, denen vom Hitlerregime vorgeworfen wurde, den globalen Konflikt zu orchestrieren und Deutschlands nationale Selbstbehauptung zu hintertreiben. Die ersten Kapitel des Buches beschreiben also eine Welt internationaler und politischer Unsicherheit, in der es kurzzeitig so aussah, als könnten die neuen Imperien triumphieren, bevor die Kräftepotenziale der USA und der Sowjetunion mobilisiert werden konnten.

Die nächsten Kapitel beschreiben dann einen weltweiten Krieg, in dem die territorialen Ambitionen der neuen Imperien zunichtegemacht wurden. Zugleich wurden die Bedingungen für eine stabilere Weltordnung geschaffen, die auf den Prinzipien des Nationalstaats statt auf denen des Imperiums basierte, aber auch auf der Wiederherstellung eines globalen Handels- und Finanzsystems, das in den 1930er Jahren zusammengebrochen war. Dieser Übergang ist auf die wirtschaftliche und militärische Macht der Amerikaner und Sowjets zurückzuführen. Bedeutsam war dabei, dass beide Supermächte aus ideologischen Gründen (kommunistischer oder liberaler Prägung) gegen das Überleben der traditionellen Kolonialreiche eingestellt waren, was übrigens auch für China, einen weiteren wichtigen Alliierten, galt. Sie trugen also in den späten 1940er und den 1950er Jahren aktiv dazu bei, dass eine Welt aus Nationalstaaten entstand. Zwar dominierten die Supermächte im Zeitalter des Kalten Krieges in etlichen Fällen die ihnen untergeordneten Nationalstaaten, aber sie wählten für ihre Machtausübung nicht mehr die Form eines territorialen Kolonialreichs.

Deutschland und Japan kämpften im Krieg bis zum bitteren Ende, weil sie ihre nationale Auslöschung befürchteten. Doch auch ihnen wurde eine erneuerte nationalstaatliche Existenz gestattet, nachdem die auf territoriale Expansion gerichteten Kräfte im Innern dieser Länder besiegt worden waren. In diesem Abschnitt des Krieges gab es an der Niederlage der Staaten, die für eine Neuordnung der Welt eingetreten waren, nichts mehr zu deuteln, obwohl ein solcher Verlauf nicht von vornherein abzusehen gewesen war. Die größten Opfer an Menschen und Ressourcen mussten alle Seiten in den letzten beiden Kriegsjahren erbringen, bevor klar war, wer Sieger und wer Verlierer sein würde. Gewaltsame Auseinandersetzungen lebten, wenngleich in kleinerem Maßstab, in den Jahren nach 1945 weiter fort, bis die verbliebenen politischen und ideologischen Konflikte aus den Kriegsjahren unter dem verblassenden Stern von imperialen und Supermachtambitionen gelöst waren, wenn auch nicht in allen Fällen. Diese Entwicklungen sind Gegenstand des Schlusskapitels. Die traditionellen Kolonialreiche zerfielen schließlich, und es entstand die heutige Welt der Nationalstaaten.

Dieser Abriss des letzten imperialen Krieges bildet den Rahmen für die thematischen Kapitel. Hier werden Schlüsselfragen zu weitergehenden Kriegserfahrungen untersucht, mit denen Millionen Soldaten im Kampf ebenso konfrontiert waren wie die Zivilgesellschaften, die das Engagement für den totalen Krieg mitzutragen bereit waren.[6] Wie mobilisierten die Staaten die kolossalen menschlichen und materiellen Ressourcen, die sie benötigten, und mit welchen Resultaten? Wie und mit welcher Wirkung organisierten und nutzten die betroffenen Streitkräfte diese Ressourcen? Wie rechtfertigten Staaten, Parteien und Individuen die Kriege, in denen sie kämpften, und wie erhielten sie den Einsatz des Volkes bei opferreichen und oft barbarischen Schlachten aufrecht, selbst im Angesicht der Niederlage? Warum entwickelten sich parallel Bürger- oder «zivile» Kriege und mit welchen sozialen und politischen Folgen?

Dem schließen sich drei Kapitel über die Schäden an, die der Krieg bei allen beteiligten Menschen hinterließ. Was hier «emotionale Geographie des Krieges» genannt wird, ist ein Versuch, aufzuzeigen, was der Krieg emotional und psychisch bei all jenen anrichtete, die in ihn hineingezogen wurden, vor allem aber bei den mehr als hundert Millionen Männern und Frauen, die direkt an den Kämpfen beteiligt waren. Verhalten und Erwartungen veränderten sich durch den Krieg, wobei die Triebkräfte ein weites Spektrum menschlicher Gefühle waren: einerseits Furcht, Hass, Ressentiments und Wut, andererseits Mut, Willen zur Selbstaufopferung, Ängste und Mitleid. Hierbei handelt es sich um einen historisch kaum zu beschreibenden Teil der Kriegserfahrung, der gleichwohl zentral ist für jeden Versuch, zu erklären, was der Krieg bei denen bewirkte, die sich unter dem ständigen Druck eines Ausnahmezustands befanden – auf dem Schlachtfeld wie abseits des Kampfgeschehens.

Als Letztes werden die exzessive Gewalt und die Kriminalität beschrieben, die durch den Krieg provoziert wurden und zu weitverbreiteten Grausamkeiten und Zigmillionen Toten führten, in der Mehrzahl Zivilisten. Hier stellen sich zwei zentrale Fragen: Warum war die Todesrate unter Soldaten und Zivilisten so hoch – rund fünfmal höher als im Ersten Weltkrieg –, und warum waren die Täter willens und in der Lage, in einem solchen Ausmaß grausame Gewalt jeglicher Art auszuüben, und zwar auf allen Kriegsschauplätzen? Beide Fragen hängen eng miteinander zusammen, sind aber voneinander unterschieden. Der Tod kam in vielerlei Gestalt und aus vielen Gründen, er war ein gnadenloser Begleiter der Konflikte.

 

Die Quellen für jede neue Geschichte des Zweiten Weltkriegs sind inzwischen zu umfangreich, als dass man alle gebührend berücksichtigen könnte. Vor vierzig Jahren, als ich begann, über diesen Krieg zu schreiben, war es noch möglich, das meiste von dem zu lesen, was über ihn vorlag und Brauchbares zu sagen hatte. In den letzten vier Jahrzehnten konnte man jedoch beobachten, wie die historische Fachliteratur zu allen Aspekten des Zweiten Weltkriegs und der ihn umgebenden Jahre weltweit förmlich explodierte. Das hat die Lage grundlegend verändert: Man kann nur noch einen Teil der vorhandenen Literatur lesen und auswerten. Ich habe mich hier auf das Material konzentriert, das die zentralen Argumente des Buches stützt, statt enzyklopädische Vollständigkeit zu suggerieren. Eine endgültige Geschichte des Zweiten Weltkriegs in nur einem Band ist nicht mehr möglich, nicht einmal in mehreren. Die 2015 veröffentlichte Cambridge History of the Second World War benötigte drei stattliche Bände und konnte selbst darin nicht alles unterbringen.

Meine Faustregel lautete, vorrangig Material zu benutzen, das in den letzten Jahren veröffentlicht wurde, weil diese Werke meistens den Wissensstand einzelner Teilgebiete enthalten – wobei ich mich bemüht habe, wichtige Studien älteren Datums nicht zu vernachlässigen. Insbesondere habe ich das Glück, dass ich von einer Fülle neuerer Literatur zum Themenbereich «Imperium und Imperialismus» profitieren kann, aber auch zur Geschichte Asiens im Zeitraum des Krieges. Beide Gebiete wurden in der Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg lange vernachlässigt. Wo mir in Bereichen, in denen ich selbst intensiv geforscht habe, hilfreiche Archive zur Verfügung standen, habe ich diese genutzt. Historiker können sich inzwischen auch einer großen Fülle persönlicher Erinnerungen bedienen, die in Buchform oder in Tonarchiven zur Verfügung stehen – um zu beleuchten, gelegentlich auch zu widerlegen, was Historiker über Kriegserfahrungen zu sagen haben. Ich habe auch auf diesen Fundus zurückgegriffen, wenngleich sparsamer als viele jüngere erzählende Darstellungen über diesen Krieg.

Es lässt sich nicht vermeiden, dass, wie die Leserinnen und Leser gewiss feststellen werden, vieles ausgelassen oder nur summarisch behandelt wird. Sie werden auch bemerken, dass manche vertrauten Themen gestückelt werden, um sie in den thematischen Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten – Bombenkrieg, Holocaust oder Kampfkraft sind hier naheliegende Bereiche. Ich hoffe, dass im Kern dennoch klar genug wird, was dieser Krieg historisch bedeutete. Die vorliegende Darstellung ist als eine Geschichte gedacht, die große Fragen zu den Kriegsjahren stellt – in der Hoffnung, dass individuelle Erfahrungen mehr Sinn ergeben, wenn die Rahmenbedingungen, in denen die Beteiligten handeln mussten, besser verstanden werden. Es ist auch eine Geschichte des Todes, des Terrors, der Zerstörung und der Verarmung – dessen, was Cordell Hull eine «heftige Feuerprobe» nannte. Blut und Zerstörung waren der bittere Preis, der zu zahlen war.

 

Richard Overy

Prolog«Blut und Zerstörung» – Das Zeitalter der imperialen Kriege

Der aus dem 19. Jahrhundert bekannte Imperialismus ist nicht mehr möglich, und die Frage lautet nur, ob er friedlich zu Grabe getragen wird oder mit Blut und Zerstörung.

 

Leonard Woolf, 1928[1]

Das voranstehende Zitat stammt aus Imperialism and Civilization, einem Buch des britischen Nationalökonomen und Verlegers Leonard Woolf, geschrieben mit dem Ziel, die große Bedeutung des modernen Imperialismus für Analyse und Darstellung der modernen Zivilisation im frühen 20. Jahrhundert aufzuzeigen. Woolfs These lautet, die westliche Welt habe in den hundert Jahren bis zu den 1920ern eine außergewöhnliche Revolution durchlaufen; Industrialisierung, Massenpolitik und der Niedergang des Adels habe die Gesellschaft grundlegend verändert. Diese Transformation habe den Nationalstaat im modernen Sinne hervorgebracht, allerdings auch zu einer bemerkenswerten Welle imperialer Eroberungen geführt, die zur Zeit der Niederschrift des Buches noch nicht an ihr Ende gelangt sei. Woolf betrachtete diese neue Zivilisation als eine «kriegerische, kreuzzugsaffine, eroberungssüchtige, ausbeuterische und missionierende» Kultur. Große Teile der Geschichtsschreibung über den Imperialismus hätten dieses Urteil bestätigt. Die Beherrschung der Welt durch eine Handvoll Kolonialmächte sei ein einzigartiger Moment in der Weltgeschichte.[2] Für Woolf war die imperiale Expansion eine gefährliche explosive Kraft, deren Zusammenbruch, wenn es so weit komme, wahrscheinlich mit großer Gewalt verbunden sein werde. Dies war der Kontext, der zum Ersten Weltkrieg führte – und zwei Jahrzehnte später zu einem weiteren, der sogar noch weltumspannender und zerstörerischer war.

Woolf hatte auf jeden Fall recht mit seinem Argument, dass die tiefen Wurzeln jener globalen Gewalt, die in den 1940er und 1950er Jahren mit dem Zusammenbruch der Territorialimperien an ihr Ende kam, bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurückreichten – also in eine Zeit, in der sich das Tempo der ökonomischen und politischen Erneuerung in der ganzen sich entwickelnden Welt beschleunigte. Die umfassende Industrialisierung und Urbanisierung in Europa, Nordamerika und Japan fiel mit einem gesteigerten Nationalbewusstsein zusammen, das dadurch noch weiter beflügelt wurde. Zwei dieser sich modernisierenden Staaten, Italien und Deutschland, waren als Nationalstaaten noch vergleichsweise jung; Italien erreichte seine nationale Einheit 1861, Deutschland erst zehn Jahre später. Auch Japan, der einzige Staat in Asien, der einen Modernisierungskurs nach europäischer Vorstellung einschlug, war in einem ganz realen Sinn eine «neue» Nation – begründet durch die Meiji-Restauration von 1868, als unter Tennō Meiji das traditionelle Tokugawa-Shogunat zugunsten einer neuen Elite aus ökonomischen und militärischen Reformern abgesetzt wurde. Wirtschaftliche Modernisierung in Verbindung mit erhöhter Bildung, rapider sozialer Mobilität und der Herausbildung eines zentralstaatlichen Apparats waren die Mittel, die Bindekraft der Nation zu vergrößern.

Diese Prozesse schufen auch in wesentlich älteren Nationen ein neues Gefühl nationaler Identität und ein Gespür für genuin nationale Politik. Sozialer Wandel brachte politische Massenorganisationen und die Forderung nach liberalen Reformen und stärkerer politischer Vertretung des Volkes hervor. Mit Ausnahme des russischen Zarenreichs erhielten alle sich modernisierenden Staaten bis 1900 ein Parlament (allerdings mit beschränktem Wahlrecht); für alle als Staatsbürger Klassifizierten galt die Herrschaft des Rechts. Für die etablierten politischen und wirtschaftlichen Eliten war dieser Prozess gleichbedeutend mit einer Unterminierung der traditionellen gesellschaftlichen Machtverteilung und deren politischen Autorität. In diesem Umfeld schnellen und unberechenbaren Wandels stürzten sich die in Entwicklung begriffenen Industriemächte in eine neue Welle des Territorialimperialismus, um jene Teile der Welt unter sich aufzuteilen und zu beherrschen, die noch außerhalb des Netzes vorhandener Kolonialreiche lagen. Im Lichte dieser finalen Dynamik zur Gründung von Imperien lassen sich die langzeitlichen Ursprünge des Zweiten Weltkriegs wohl am besten verstehen.

Was Woolf als den «neuen Imperialismus» der vier Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 ansah, war in mancherlei Hinsicht nur eine Ausdehnung vorhandener imperialer Strukturen. Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal und die Niederlande besaßen schon lange vor dem «neuen Imperialismus» ein Sammelsurium von Territorien auf der ganzen Welt: Kolonien, Protektorate, Einflusssphären, Umschlaghäfen, privilegierte Handelszonen. Gleichwohl war diese neue imperialistische Welle von anderer Natur als frühere Eroberungen, denn sie rührte von einem wachsenden Gefühl der Konkurrenz zwischen den sich modernisierenden Nationalstaaten – zum Teil, weil diese nach neuen Material- und Nahrungsmittelressourcen und nach neuen Absatzmärkten suchten; zum Teil, weil ein Imperium im späten 19. Jahrhundert als Profilierungsmittel galt, um die Identität des eigenen Nationalstaats als fortschrittliche Kraft der «Zivilisierung» im Rest der Welt zu forcieren. Zum Teil spielte auch nationales Prestige eine Rolle. Letzteres war besonders bei den neuen Nationen der Fall, deren Identität noch fragil war, weil alte regionale Loyalitäten und soziale Konflikte zu Spannungen und Spaltungen führten.

Im Dezember 1894 verkündete der neue deutsche Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst: «Die Aufrechterhaltung unseres Kolonialbesitzes ist ein Gebot der nationalen Ehre und ein Zeichen unseres nationalen Ansehens.»[3] In Italien ließ 1885 das Außenministerium verlauten, im «veritablen Wettrennen um Kolonialbesitz in allen Teilen der Welt» müsse Italien seine «Bestimmung als Großmacht» finden, indem es eigene Kolonien erwerbe.[4] Für die japanischen Reformer an der Spitze des neuen Meiji-Staates galt irgendeine Form von Imperialismus als essenzielle Demonstration des neuen «nationalen Weges» (kokutai). Die Besetzung der Kurilen, der Ryūkyū- und Bonin-Inseln in den 1870er Jahren war der erste Schritt zur Errichtung des sogenannten Großjapanischen Kaiserreichs (Dai Nippon Teikoku).[5] Im folgenden halben Jahrhundert waren es diese drei Staaten, deren Bestreben, Großreiche zu errichten, in den Weltkrieg der 1940er Jahre führte.

Die Verbindung zwischen dem Aufbau einer modernen nationalen Identität und Erwerb oder Ausweitung eines kolonialen Imperiums wurde in den Jahren vor 1914 zur Normalität, selbst für die traditionellen dynastischen Reiche in Osteuropa – für die Romanows in Russland ebenso wie für die Habsburger, deren imperiale Ambitionen auf dem Balkan letztlich zum Ersten Weltkrieg führten. Bei allen Nationen, die bestrebt waren, ein überseeisches Kolonialreich zu konsolidieren oder zu errichten, war das Zusammenspiel von nationalstaatlicher Festigung und imperialistischer Expansion offenkundig. Die Verwendung des Begriffs «Nationalimperium» anstelle von «Nation» kennzeichnet jene Staaten, die am territorialen Gerangel beteiligt waren. Die «Nationalisierung des Imperialismus» blieb bis in die 1930er Jahre von entscheidender Bedeutung, bevor dann eine letzte Welle gewaltsamer Territorialeroberungen einsetzte.[6]

Imperiale Gesichtspunkte spielten auch bei der Definition der zentralen Macht eine wichtige Rolle, ging es doch um die angeblichen Kontraste zwischen Bürgern und Untertanen, Zivilisierten und Primitiven, Modernem und Archaischem – Polaritäten, die in imperialen Staaten das Denken über die Völker und Territorien unter ihrer Kontrolle bis in die 1940er Jahre bestimmten. Diese Weltsicht, die auf einer fast vollständigen Missachtung vorhandener Kulturen und Werte in den besetzten Gebieten basierte, war allen imperialen Mächten gemein.

Meistens waren die Hoffnungen auf die segensreichen Wirkungen des Imperiums, etwa was neue Abnehmer von Waren oder religiöse Bekehrungen anging, übertrieben. Was die Historikerin Birthe Kundrus «imperiale Phantasien» nannte, spielte als Wettbewerbsanreiz zwischen den Staaten eine große Rolle, selbst wenn offensichtlich war, dass die Kosten des Imperiums den oft begrenzten Nutzen des Kolonialbesitzes überstiegen.[7] Es handelte sich um mächtige Phantasien – von der Besiedlung wilder Grenzgebiete, von der Aussicht auf den sagenhaften Reichtum eines Eldorados, von einer übersteigerten «Zivilisierungsmission» oder von der Erfüllung eines vorherbestimmten Schicksals zur Wiederbelebung der Nation. All diese Ideen bestimmten die Perspektive, mit der man das Imperium, das Großreich, in den folgenden fünf Jahrzehnten betrachtete.

Die Phantasien, die der neuen Welle des Imperialismus zugrunde lagen, entstanden nicht im luftleeren Raum. Sie entstammten intellektueller und wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Imperium, der sie ihrerseits neue Impulse lieferten – einer Art Gemeingut der vielen imperialen Staaten. Die Vorstellung vom Wettbewerb der Nationen verdankte viel dem darwinistischen Paradigma vom Überleben des Stärkeren und war von der Ansicht geprägt, dass die Konkurrenz zwischen modernen Staaten naturgegeben sei. Vor 1914 wurden solche Argumente weithin und lebhaft diskutiert. Hinzu kam eine herrschende Denkweise, die mit einigen von Darwins bedeutendsten Nachfolgern verbunden ist: «Gesunde» Nationen seien von der Natur dazu ausersehen, minderwertige Völker ihrer Herrschaft zu unterwerfen.

In einem Vortrag aus dem Jahr 1900 mit dem Titel «National Life from the Standpoint of Science» (Das Leben der Nation aus Sicht der Naturwissenschaft) ließ der britische Statistiker Karl Pearson seine Zuhörer wissen, die Nation müsse «vor allem durch Krieg gegen unterlegene Rassen und im Kampf mit gleichwertigen Rassen um Handelsrouten, Rohstoffquellen und Nahrungsmittelversorgung» auf einem hohen Effizienzniveau gehalten werden, dies sei «die naturgeschichtliche Sicht der Menschheit».[8] Der deutsche General Friedrich von Bernhardi erklärte in seinem 1912 erschienenen und in viele Sprachen übersetzten Buch Deutschland und der nächste Krieg den Wettkampf der Nationen in einer Begrifflichkeit, die vielen damals als selbstverständlich erschienen sein muss: «Die Formen überdauern, die sich die günstigsten Lebensbedingungen zu schaffen und sich im Gesamthaushalt der Natur zu behaupten vermögen. Das Schwache unterliegt.»[9]

Ein Schlüsselelement bei der Anwendung darwinistischer Theorien war der Kampf um Ressourcen, wofür nach allgemeiner Annahme letztlich mehr Kolonialland benötigt wurde. Ende des 19. Jahrhunderts prägte der deutsche Geograph Friedrich Ratzel den inzwischen in Verruf geratenen Begriff «Lebensraum». Er argumentierte, die modernen «höheren» Kulturen müssten sich räumlich ausbreiten, um für eine wachsende Bevölkerung Nahrungsmittel und materielle Ressourcen zu sichern, was nur auf Kosten von Völkern möglich sei, die auf einer «niederen» Kulturstufe stünden. Die Schlussfolgerungen aus Ratzels Buch Politische Geographie – veröffentlicht im Jahr 1897, als Hitler noch ein österreichischer Schuljunge war – wurden in den 1920er Jahren vom späteren Diktator mit seinem engen Weggefährten Rudolf Heß eingehend erörtert.[10]

Das Gefühl kultureller Überlegenheit, das den europäischen Imperialismus prägte, rührte auch von der damaligen naturwissenschaftlichen Theorie her, dass es eine natürliche Hierarchie der Rassen gebe, die auf genetischen Unterschieden basiere. Dieser Theorie zufolge bedeutete der vermeintliche Zustand primitiver Rückständigkeit oder offener Barbarei, in dem die kolonisierte Welt angeblich verharrte, dass die materiellen Ressourcen und das Land nur verschwendet wären, wenn sie nicht von den fortgeschrittenen Nationen übernommen würden, deren Aufgabe es sei, den exotischen und dekadenten Völkern die Früchte der Zivilisation zu bringen. Diese Entgegensetzung galt als selbstverständlich, und sie war die Grundlage, um Strategien für rassistische Diskriminierung und einen Dauerzustand der Unterwerfung zu rechtfertigen.

Im Jahr 1900 behauptete Lord Curzon, der britische Vizekönig von Indien, «all die Millionen, die ich zu regieren habe», stünden auf einer niedrigeren Stufe als britische Schulkinder. In Deutschland wurde diese Ansicht sogar auf die osteuropäischen Nachbarn des Reiches ausgeweitet; diese Gebiete seien, wie die Leipziger Volkszeitung 1914 ausführte, ein «Hort der Barbarei».[11] Was aber weit gefährlicher war: Diese Annahmen der Überlegenheit – ob biologisch oder moralisch begründet – dienten dazu, die extrem hohe Gewaltbereitschaft im Zuge der neuen imperialistischen Welle zu rechtfertigen.

Wann immer etablierten politischen Gemeinwesen ihr Land entrissen wurde, geschah dies mit mehr oder weniger großem Einsatz von Brutalität oder Bedrohung. Das Schicksal der indigenen Völker Nordamerikas oder der australischen Aborigines galt schon vor 1914 als bedauernswerte, gleichwohl unausweichliche Folge der Eroberungswelle der Weißen. Auch die massenhafte Gewalt im Gefolge der Expansion ins Innere Afrikas und Asiens seit den 1870er Jahren wurde so gewertet: als notwendige Gewalt beim Export der Zivilisation – letztlich zum Vorteil der Gewaltopfer –, wobei aber dieser Konflikt bei den weißen Zeitgenossen keine moralischen Bauchschmerzen verursachte. 1904 konnte ein Kolonialpolitiker in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) schreiben: «Diese endgültige Lösung [der «Eingeborenenfrage»] kann aber nur darin bestehen, dass die Macht des Eingeborenen vollständig und ein für alle Mal gebrochen wird.» Die «Endlösung» war also wie der «Lebensraum» keine Erfindung der Nationalsozialisten, mögen Historiker solche Verbindungslinien zwischen beiden Epochen und jeden möglichen kausalen Zusammenhang auch noch so skeptisch beurteilen.[12] Auch war ein solcher Sprachgebrauch in den Jahren vor 1914 keineswegs auf das Deutsche beschränkt. Die im Imperialismus der 1930er und 1940er Jahre dominante gedankliche Verbindung von «race and space» (Rasse und Raum) geht auf eine Periode vor dem Ersten Weltkrieg zurück, in der man ausgiebig über Funktion und Handlungsnotwendigkeiten des Britischen Empires nachdachte.[13] Gleichzeitig wurden entgegengesetzte moralische Universen für die Frage entworfen, wie man mit der eigenen Bevölkerung – als privilegierte Agenten des Empires – und den unterworfenen Völkern umzugehen habe. Galten für Letztere Zwangsmaßnahmen und Willkürjustiz als statthaft, wäre eine derartige Behandlung der Menschen im dominierenden Zentrum undenkbar gewesen.

 

Die «mentale Landkarte» der Beziehung zwischen dem modernen Nationalstaat und seinem Territorialimperium passte allerdings nur selten zur historischen Realität der Aufbaujahre neuer Nationalimperien. Vielmehr existierte über den gesamten Zeitraum bis zur Auflösung der Territorialimperien nach 1945 eine Kluft zwischen dem Imperium als «imaginierter Gemeinschaft» und den tatsächlichen Kosten und Risiken für die nationalstaatlichen Gemeinschaften, die doch ihre moderne Identität gerade durch ein Nationalimperium finden sollten. Das galt sogar für die beiden wichtigsten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich, die beide beträchtliche Ressourcen dafür einsetzen mussten, immer größere Territorien zu erobern und zu verteidigen.

1911 herrschte Großbritannien über ein Kolonialgebiet von 31 Millionen Quadratkilometern mit einer Gesamtbevölkerung von 400 Millionen Menschen. Frankreich kontrollierte ein Gebiet von 12,5 Millionen Quadratkilometern mit 100 Millionen Menschen, ein Gebiet, das zwanzigmal größer war als das Mutterland.[14] Für die neuen Nationalstaaten, die sich erstmals auf den Weg des Imperialismus begaben, erwies es sich als noch schwerer, in ihren Bevölkerungen Begeisterung für überseeische Kolonien zu entfachen, die kleiner und weniger profitabel waren als die der älteren Kolonialreiche und deshalb auch weniger Anreiz für Kapitalinvestitionen und Emigration boten.

Die gescheiterte italienische Invasion in Abessinien im Jahr 1895 brachte Italien nur Teile von Somalia und Eritrea als neues Kolonialgebiet ein, dafür aber die heftige Ablehnung der heimischen Bevölkerung, sich auf weitere imperiale Abenteuer einzulassen. In diesem winzigen Kolonialreich gab es nur ein paar Tausend Italiener, während 16 Millionen italienische Emigranten zu anderen Zielen aufbrachen. Als sich Italien 1911 in den Krieg gegen das Osmanische Reich stürzen wollte, um die Kontrolle über Tripolitanien und die Cyrenaika (das heutige Libyen) zu gewinnen, warnte ein junger radikaler Journalist namens Benito Mussolini, jede Forderung einer Regierung nach Blut und Geld, um diese Eroberung zu ermöglichen, werde einen Generalstreik auslösen. «Krieg zwischen Nationen wird so zum Klassenkampf werden», behauptete er. Diese Meinung galt auch später noch für seinen eigenen Imperialismus, wenn er zwischen «proletarischen» Nationen wie Italien und reichen plutokratischen Mächten unterschied.[15]

In Deutschland war die Einstellung zu einem überseeischen Kolonialreich vor 1914 ähnlich ambivalent. Enthusiasmus für überseeische Kolonien fand sich vorwiegend in bürgerlichen Kreisen unter Geschäftsleuten, Vertretern der Kirchen und des Bildungswesens. 1914 hatte die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) schätzungsweise 40000 Mitglieder und damit mehr als doppelt so viele wie die Zahl der Deutschen, die sich tatsächlich in den überseeischen Kolonien niederließen.[16] Schule und Populärkultur hatten vor 1914 dazu beigetragen, Interesse an den exotischen und romantischen Aspekten der Kolonisation in Übersee zu wecken, doch das Interesse an einem kontinentalen Sehnsuchtsreich im «Osten» war deutlich größer. Diese Präferenz wurde zum langfristigen Leitmotiv deutscher Vorstellungen von Territorialgewinn – bis hin zu den tatsächlichen Bestrebungen, ein solches europäisches Reich in den 1930er und 1940er Jahren zu errichten. Dies ist es wert, eingehender betrachtet zu werden.

Die Bildung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 hatte Gebiete des östlichen Preußen mit einem hohen polnischen Bevölkerungsanteil eingeschlossen – das Ergebnis der polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert unter Beteiligung Russlands und Österreichs. Dieses Gebiet wurde zunehmend als wichtiger Wellenbrecher gegen den drohenden Ozean von Slawen im Osten betrachtet. 1886 führte der deutsche Reichskanzler, Otto von Bismarck, die «Königlich Preußische Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen» ein, deren Ziel es war, die polnische Bevölkerung so weit wie möglich in den russischen Teil Polens abzudrängen und das Territorium mit deutschen Siedlern zu besetzen. Deren Aufgabe sollte es sein, die vermeintlich primitiven Formen der Landwirtschaft (die verachtete «polnische Wirtschaft») auszumerzen und ein stabiles Grenzregime gegen jede weitere Bedrohung zu errichten. Für diese «innere Kolonisation» wurde weithin geworben. 1894 wurde der Ostmarkverein gegründet, um den Kolonisierungsprozess zu fördern.

Die Vorstellung von «Rasse und Raum» ließ sich auf den Osten leicht anwenden, und so entwickelten sich schon vor 1914 Phantasien, das Deutsche Reich weiter nach Osten auszudehnen, in Bereiche, die man für kolonisationsreif hielt. Hier könne die moderne Zivilisation Ordnung und Kultur in ein Land bringen, das gegenwärtig «in tiefster Barbarei und Armut» versunken sei.[17] In diesem Kontext stand eine Literatur von sogenannten Ostromanen, die es den Deutschen ermöglichte, überseeischen Imperialismus mit der Kolonisation der Ostgebiete zu verschmelzen. Um die koloniale Perspektive zu verstärken, wurden Polen in solchen Romanen irreführend als «dunkel» – dunkle Haut, dunkle Augen, dunkles Haar – und somit als die «Anderen» dargestellt, im Gegensatz zu den kultivierten Deutschen. In einem der berühmtesten dieser Ostromane, Clara Viebigs Das schlafende Heer (1904), klagt ein polnischer Schäfer mit kupferfarbenem Teint verbittert über die «weißen Eindringlinge mit gelben Haaren».[18] 1912 wurde eine Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation (GFK) gegründet, deren Zeitschrift Archiv für innere Kolonisation Vergleiche zwischen den deutschen Kolonien in Afrika und dem polnischen Osten zog und argumentierte, die gesunde deutsche Rasse müsse sich in beide Richtungen ausdehnen, um sich den benötigten Raum zu verschaffen.[19]

Ein wesentlicher Faktor bei der Entwicklung des «neuen Imperialismus» waren inhärente Instabilität und weitverbreitete Gewaltanwendung; diese Merkmale prägten die ganze Epoche der imperialen Expansion zwischen den 1870er und den 1940er Jahren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs drehte sich ein Großteil der Diskussionen zum Thema Imperialismus um strategische Notwendigkeiten im weithin als naturgegeben betrachteten instabilen Konkurrenzkampf zwischen den vielen Nationalimperien. Von grundlegender Bedeutung waren auch die Sicherheitsbedürfnisse in den jeweiligen Einflusszonen und in den beanspruchten Wirtschaftsräumen, wo imperialer Druck häufig zu gewaltsamen Gegenreaktionen der örtlichen Gemeinschaften geführt hatte.

Die Vorstellung von der Vorkriegszeit in Europa als einer «Belle Époque» ist eine europazentrische Täuschung, denn damals wurde Gewalt aus Europa in alle Welt exportiert. Der Aufstieg der sich modernisierenden Staaten war das Resultat einer sich plötzlich beschleunigenden Entwicklung von Transportverbindungen und modernen Waffen, die in Verbindung mit Kapital und Ausbildung fast immer zu erheblichen militärischen Vorteilen der imperialen Mächte führte. Japan imitierte nach 1868 schnell die europäische Organisation militärischer Streitkräfte und übernahm dabei die fortschrittlichste Technologie, war jedoch der einzige Staat in Asien oder Afrika, der dazu in der Lage war. Ansonsten war der Sieg über die traditionellen Gesellschaften total, ganz gleich, ob es in Südafrika gegen die Zulus oder Matabele ging, in Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) um die gewaltsame Eroberung des Sultanats Aceh oder um das heutige Vietnam, wo die Franzosen damals Annam und Tonkin eroberten. Gewalt war in allen Kolonialbeziehungen expliziter Bestandteil, bis in die Endphase des imperialen Zerfalls nach 1945.

Bedeutsamer für die spätere Geschichte der Weltkriege waren allerdings die imperialen Konflikte zwischen annähernd gleich starken Gegnern und den fortschrittlichen Staaten. Wenn gemeinhin das Jahr 1914 als Ende einer Friedensperiode wahrgenommen wird, so ist das völlig irreführend. Denn die zunehmend globalisierte Welt, wie sie sich vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte, wurde permanent durch umfassende Konflikte (und akute Krisenmomente) destabilisiert. Dies hatte nicht nur massiven Einfluss auf die Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten, sondern auch auf die Zukunft Asiens. Am signifikantesten waren hier die von Japan geführten Kriege, beginnend 1894 mit Übergriffen auf Korea, das China gegenüber tributpflichtig war. Diese Aktionen weiteten sich zu einem Großkonflikt aus, den Japan mit seiner inzwischen schlagkräftigen Armee und Marine gewann. Korea wurde japanisches Protektorat, die große Insel Formosa (heute Taiwan) japanische Kolonie. So entwickelte sich das japanische Kaiserreich quasi über Nacht zum gewichtigen Akteur auf großer kolonialer Bühne.

Den zweiten Krieg führte Japan gegen das russische Zarenreich, dessen Herrscher Japan daran gehindert hatten, nach dem Sieg über China einen Teil der nordchinesischen Provinz Mandschurei zu annektieren; dabei hatte es russische Interessen in der Region nachdrücklich zur Geltung gebracht. Im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 wurden dann eine große russische Armee und fast die gesamte russische Kriegsflotte – die vergeblich auf eine 30000 Kilometer lange Reise von der Ostsee ins Japanische Meer geschickt worden war – vollständig besiegt. Japan eignete sich nun die ausgedehnte russische Wirtschaftszone in der Mandschurei an. Der Krieg kostete Japan 81500 Tote und 381000 Verwundete, mobilisiert worden waren zwei Millionen Soldaten. Damit war dies der größte außenpolitische Konflikt, den Japan jemals entfesselt hatte. Seine Rolle in der Region veränderte sich nachhaltig.[20]

Der Krieg von 1898/99 zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten war eigentlich kein imperialer Krieg, doch die spanische Niederlage brachte den USA den vorübergehenden Besitz der Philippinen, Puerto Ricos, Guams und einer Reihe weiterer kleiner Inseln im Pazifik ein. Die Idee, ein «größeres Amerika» zu schaffen, wurde kurzzeitig erwogen, doch als der Supreme Court urteilte, die neuen Territorien seien nicht Bestandteil der Vereinigten Staaten, ließ das Interesse am Aufbau eines amerikanischen Imperiums rasch nach. Die Stützpunkte im Pazifik hatten strategischen Wert, aber die Spanien abgenommenen Territorien verharrten nun in einer Art Schwebezustand. Sie gehörten formal zu keinem Empire, waren jedoch von den amerikanischen Besatzern abhängig.[21]

Ebenfalls 1899 brach ein größerer Krieg zwischen Großbritannien und den beiden unabhängigen Burenrepubliken in Südafrika, Transvaal und Oranje-Freistaat, aus. Der Burenkrieg von 1899 bis 1902 war Großbritanniens größter militärischer Konflikt im Laufe eines halben Jahrhunderts. Rund 750000 Mann wurden mobil gemacht, 22000 fielen. Großbritannien kämpfte in diesem Fall gegen weiße europäische Siedler und wurde dafür von anderen Europäern weithin scharf kritisiert. Doch letztlich gewann es den Krieg und konnte so seinen afrikanischen Besitzungen beträchtliche Territorien und große Ressourcen hinzufügen. Dieser Fall unterstrich überdies die neodarwinistische Maxime, dass neues imperiales Territorium nur durch Kampf zu gewinnen sei.[22]

 

Koloniale Fragen dienten als wichtige Katalysatoren für die zentralen Entscheidungen im Vorfeld des Kriegsausbruchs von 1914. Die Allianzen, die sich seit den 1880er Jahren bildeten, verdankten sich vor allem strategischen Ängsten angesichts der rasch zunehmenden Macht und militärischen Fähigkeiten der sich rasant modernisierenden, politisch aber instabilen neuen Großmächte. Solche Ängste wurden allerdings auch durch imperiale Rivalitäten gespeist. Russlands Demütigung durch Japan lenkte den Fokus des Zarenreichs zurück auf seine Interessen in Südosteuropa und auf die Beziehungen zum Osmanischen Reich. Der koloniale Interessenkonflikt zwischen Frankreich und Großbritannien führte zur anglo-französischen Entente cordiale von 1904, ähnliche Unsicherheiten dann drei Jahre später durch ein russisch-britisches Abkommen zur Erweiterung als Triple Entente. Dieses Dreierbündnis prägte, als es anschließend zum Kriegsausbruch kam, das europäische Geschehen.

Der Schutz globaler Interessen, nicht nur europäischer, beflügelte die zunehmende Ausweitung militärischer Konkurrenz und Stärke. Speziell das Wettrüsten von Großbritannien und Deutschland im Bereich der Kriegsflotten war nur im Kontext zunehmender Globalisierung der Interessen beider Nationen sinnvoll. Und der deutschen Beteiligung an ernsten internationalen Verwicklungen vor 1914 lag die Überzeugung zugrunde, ein neuer ambitionierter Nationalstaat benötige als Symbol seiner Weltmachtgeltung ein Kolonialreich. Zu nennen sind hier vor allem die Marokkokrisen von 1905 und 1911, in denen Deutschland versuchte, an bereits getroffenen Vereinbarungen zwischen Großbritannien, Frankreich und Spanien hinsichtlich der Protektoratsrechte zu rütteln.

Genauso wichtig wie Marokko war allerdings 1911 die Entscheidung der italienischen Regierung unter Giovanni Giolitti, unter innenpolitischem Druck der Nationalisten der Türkei den Krieg zu erklären und zu besetzen, was in Nordafrika vom Osmanischen Reich übrig geblieben war. Nationalistische und kolonialistische Lobbyisten argumentierten, die Konsolidierung des neuen italienischen Nationalstaats erfordere nach der Demütigung in Abessinien eine imperiale Expansion, um den Großmachtstatus zu behaupten. Einer der Wortführer, Enrico Corradini, bezeichnete ein Italien ohne angemessenes Imperium als «proletarische Nation» – und genau diesen Begriff sollte später Mussolini verwenden, um den neuen italienischen Imperialismus der 1930er Jahre zu rechtfertigen.[23] Dieser Kolonialkrieg diente dem Handels- oder Territorialgewinn ebenso sehr wie dem Prestige, schließlich feierte Italien 1911 gerade den fünfzigsten Jahrestag seiner nationalstaatlichen Einigung. Aus Sorge – vergleichbar mit den Befürchtungen Deutschlands bezüglich Marokkos –, Frankreich und Großbritannien könnten jeden weiteren Versuch Italiens blockieren, in Afrika ein Imperium zu errichten, ging die italienische Regierung hier beträchtliche Risiken ein. Letztlich hielten die beiden Kolonialmächte Italien aber nicht zurück.

Das Ergebnis war allerdings nicht der erhoffte kurze Kolonialkrieg. Vielmehr musste Italien, wie zuvor schon Russland 1904, feststellen, dass es sich im Kampf mit einer anderen Großmacht befand.[24] Der Krieg dauerte ein Jahr, von Oktober 1911 bis Oktober 1912, und die Türken gaben Tripolitanien und die Cyrenaika nur deshalb auf, weil der Krieg in Nordafrika die bereits unabhängigen Balkanstaaten ermutigt hatte, die türkische Ablenkung in Nordafrika auszunutzen und einen Angriff auf die letzten in Europa verbliebenen türkischen Territorien zu starten. Die Italiener nannten ihre neue Kolonie Libyen, in Anknüpfung an den Namen des Gebiets im Römischen Reich, und stellten anschließend neue Forderungen, um Briten und Franzosen Zugeständnisse in Ostafrika abzuringen.[25] In der Ägäis besetzten die Italiener die türkischen Dodekanes-Inseln (mit der Hauptinsel Rhodos) als Faustpfand und übernahmen damit eine halbkoloniale Verantwortung für europäische Untertanen. Die Eroberung Libyens bestärkte – ähnlich wie im Fall Japans die Siege über China und Russland – eine ganze Generation in der Überzeugung, für imperiale Neulinge bleibe zum Aufbau eines Kolonialreichs nur der Krieg, selbst gegen große Gegner.

So spricht, auch wenn man dieses Argument nur selten hört, einiges dafür, dass die italienische Hybris in Nordafrika mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Auslöser des Ersten Weltkriegs wurde als die normalerweise vorgebrachten Gründe. Die auf den türkischen Verlust Nordafrikas folgenden Siege der Balkanländer vertrieben die Türken auch aus den meisten ihrer europäischen Gebiete und eröffneten dadurch Serbien die Perspektive, auf dem Balkan zum großen Mitspieler aufzusteigen. Allerdings waren die beiden – zunehmend mit innenpolitischen Krisen beschäftigten – dynastischen Reiche Russland und Österreich-Ungarn nicht bereit, ihre strategischen Interessen in der Region aufzugeben. Und weil Italien seit 1882 mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet war, erhöhte die italienische Besetzung der Dodekanes-Inseln im Jahr 1912 das Risiko für Russland, beim Streben nach einem sicheren Zugang zum warmen Wasser des Mittelmeers auf neue Hindernisse zu stoßen. Mit einer aktiven Intervention auf dem Balkan hingegen konnte Russland seine Chancen auf einen Zugang zum Mittelmeer vergrößern.

 

Der Ende Juli und Anfang August 1914 ausgebrochene Krieg in ganz Europa wird üblicherweise den Großmachtrivalitäten zugeschrieben, befeuert durch heftige nationalistische Aufwallungen in den jeweiligen Ländern und durch eine Mischung aus Überheblichkeit und Unsicherheit bei den wichtigsten Akteuren. Doch die Probleme beim Aufbau neuer Imperien und generell das Selbstverständnis der modernen Nationalstaaten als Nationalimperien sind ebenfalls gewichtige Faktoren, wenn man erklären will, warum selbst Staaten, die viel zu verlieren hatten, einen europäischen Krieg für unvermeidlich hielten. Wenn jedoch Serbien im Juli 1914 das österreichische Ultimatum akzeptiert hätte, würden Historiker heute nur von einer weiteren kurzen Krise des Imperialismus sprechen, einem weiteren Vorfall in einer langen Reihe gleichartiger Krisen seit den 1890er Jahren.[26]

Es liegt also klar auf der Hand, dass der Erste Weltkrieg tatsächlich ein imperialer Krieg war – alle Staaten, die sich 1914/15 daran beteiligten, waren Großreiche, entweder traditionelle dynastische Reiche oder Nationalimperien mit überseeischem Kolonialbesitz. Je mehr sich der Konflikt in einen langen Abnutzungskrieg verwandelte, desto höher wurde der Einsatz, um den es ging, bis letztlich der nackte Überlebenskampf des Nationalimperiums die Art der Kämpfe bestimmte. Die Konzentration auf das lange, blutige Patt des Stellungskriegs an der Westfront hat dazu geführt, dass der Blickwinkel auf den Konflikt eng und nationalistisch wurde, obwohl der Krieg tatsächlich auf der ganzen Welt tobte und die verfolgten Ziele eindeutig imperialistisch waren.[27]

Russland hoffte, seinen Einfluss zulasten des Osmanischen Reiches auf den östlichen Mittelmeerraum und den Nahen Osten ausdehnen zu können. Im Gegenzug erklärte das Osmanische Reich, das sich mitten in einer nationalistischen Revolution befand, im Oktober 1914 den Alliierten den Krieg – das heißt, den britischen, französischen und russischen Imperien – und hoffte, auf diese Weise den Erosionsprozess des Türkenreichs im Nahen Osten und in Nordafrika stoppen zu können. Italien war zwar durch den Dreibund von 1882 formal mit den sogenannten Mittelmächten, dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, verbündet, entschied sich jedoch 1914, nicht am Krieg teilzunehmen. Stattdessen schlug sich die italienische Regierung – nach Aushandlung eines vage formulierten Abkommens in London im Frühjahr 1915, worin Italien eine Entschädigung durch imperialen Territorialgewinn auf dem Balkan und im Mittelmeerraum in Aussicht gestellt wurde – auf die Seite der Alliierten.

Obwohl Italien vor allem die Niederlage des habsburgischen Reiches erhoffte – wodurch die Gebiete im Nordosten der italienischen Halbinsel, die damals noch österreichisch waren, aber als italienisch beansprucht wurden (Venetien, Istrien etc.), endlich «befreit» würden –, war sein Ehrgeiz ebenfalls imperialistisch. In Libyen mussten sich italienische Streitkräfte nach 1912 mit einer ausgedehnten Rebellion auseinandersetzen, die von der Türkei geschürt wurde. Während man in Italien noch stritt, ob man in den Krieg eingreifen solle, führten zwei größere Niederlagen in Libyen zu italienischen Verlusten von 3000 Gefallenen. Rund 40000 Soldaten waren nun in dieser Kolonie gebunden, um sie gegen einen im November 1914 in Konstantinopel ausgerufenen Dschihad zu verteidigen. Bis 1918 konnte sich Italien in der libyschen Küstenregion halten, doch die Hauptstadt Tripolis befand sich praktisch im permanenten Belagerungszustand.[28]

Auch die britischen und französischen Kriegsanstrengungen hatten eine global-imperialistische Dimension. Sofort nach Einsetzen der Kämpfe in Europa attackierten und besetzten die Alliierten deutsche Kolonialgebiete in Afrika und im Pazifik. Togo fiel im August 1914, Deutsch-Südwestafrika im Mai 1915 und Kamerun im Mai 1916; Deutsch-Ostafrika geriet, wenngleich es nie vollständig erobert wurde, 1916 weitgehend unter alliierte Kontrolle. Im Pazifikraum rief Großbritannien Japan aufgrund eines 1902 ausgehandelten Vertrags dazu auf, die Nördlichen Marianen (Nan’yō) – sie waren durch den Deutsch-Spanischen Vertrag von 1899 Teil von Deutsch-Neuguinea geworden – und das deutsche Pachtgebiet Tsingtau (heute Qingdao) in China einzunehmen. Japan erklärte also Deutschland den Krieg und besetzte Ende 1914 die genannten Gebiete, wodurch es seinen imperialen Einfluss in China weiter vergrößerte und sich zum ersten Mal einen ausgedehnten pazifischen Horizont erschloss.[29]

1915 präsentierte die japanische Regierung China ihre «21 Forderungen», darunter Konzessionen in der Mongolei, in der Provinz Fujian und in der Mandschurei – in der Tradition der ungleichen Verträge, wie sie China vor 1914 von anderen Kolonialmächten aufgezwungen worden waren.[30] Japan hatte erkannt, dass die anderen Mächte der Ausdehnung des japanischen Einflussgebiets wenig entgegenzusetzen hatten, solange sie durch den Krieg in Europa gebunden waren. Die «21 Forderungen» enthielten auch die, dass China den europäischen Kolonialmächten keine weiteren Häfen oder Inseln abtreten solle. So wurde schon hier das Muster für die weitere imperiale Durchdringung Chinas durch Japan festgelegt, welches die folgenden Jahrzehnte bestimmte.

Das wichtigste imperiale Kräftemessen außerhalb Europas fand jedoch im Nahen und Mittleren Osten statt. Von Ägypten ausgehend, das von den Briten 1884 besetzt und 1914 zum britischen Protektorat erklärt wurde, kam es zu einem langen und komplizierten Krieg gegen das Osmanische Reich, um die Kontrolle über das Gebiet vom östlichen Mittelmeer bis nach Persien zu gewinnen. Die imperiale Strategie der Briten konzentrierte sich auf die Gefahren, die für ihr gesamtes Weltreich entstehen könnten, wenn es einer anderen Macht gelänge, die Kontrolle über diese Region zu erlangen. Im Laufe dieses Krieges zeigte sich Großbritannien entschlossen, Wege zu finden, um auf die eine oder andere Art Kontrolle über den gesamten Bogen von Südasien zur arabischen Welt, von Palästina bis Afghanistan zu erlangen.[31]

Der ursprüngliche, im Sykes-Picot-Abkommen vom Januar 1915 festgeschriebene Plan sah vor, das Osmanische Reich in Einflusssphären aufzuteilen: Das zaristische Russland sollte Einfluss auf Konstantinopel und das türkische Kerngebiet Anatolien erhalten, für Frankreich war eine locker definierte Sphäre in einem künftigen Großsyrien vorgesehen und für Großbritannien Einfluss auf einen Bereich von Palästina bis Persien. Doch bevor es überhaupt so weit kommen konnte, mussten erst einmal die osmanischen Angriffe auf den Suezkanal, die Lebensader des Britischen Empires, abgewehrt werden. Aber als die Streitkräfte des Britischen Empires die Türken endlich nach Syrien und in den Nordirak zurückgedrängt hatten, war Russland in der Folge der Oktoberrevolution von 1917 bereits aus dem Krieg ausgeschieden. So blieben nur Großbritannien und Frankreich als die einzigen imperialen Erben des gesamten Nahen Ostens übrig.

Der deutsche Verbündete hatte die imperialen Bemühungen der Türkei nicht nur mit Ausrüstung und Militärberatern unterstützt, sondern auch im gesamten Kolonial- und Einflussgebiet Großbritanniens und Frankreichs religiöse und nationalistische Aufstände angestachelt, vor allem in Indien, Afghanistan, Nordafrika und im Iran.[32] Doch all diese Versuche schlugen fehl. So war 1918 klar, dass der gesamte Nahe und Mittlere Osten an Großbritannien und Frankreich fallen würde, die das Gebiet wahrscheinlich unter sich aufteilen würden. Sie hatten sich damit eine Schlüsselregion für die Ausdehnung und Konsolidierung ihrer imperialen Hegemonie gesichert.[33]

Durch den Verlust sämtlicher Kolonien und die Seeblockade der Alliierten blieb den deutschen Imperialisten nur noch, sich der Idee eines größeren europäischen Reiches und insbesondere einer umfassenden deutschen Herrschaftssphäre im Osten zuzuwenden. Dass es sich keineswegs nur um eine imperiale Phantasie handelte, belegt die Tatsache, dass deutsche Streitkräfte 1915 schon tief im russischen Teil Polens standen und Gebiete des zum Zarenreich gehörenden Baltikums besetzt hatten. Sie verschoben die Grenze zum «Slawentum» immer weiter nach Osten, zumal schon in der Vorkriegszeit die Ansicht vertreten worden war, eine Art Ostkolonisierung sei notwendig. In den von Deutschen militärisch besetzten Regionen im Osten dominierten Herrschaftsmuster, die an koloniale Umgangsformen in europäischen Überseebesitzungen erinnerten, vor allem die Unterscheidung zwischen Bürgern und Untertanen. Die Bevölkerung der besetzten Gebiete unterstand anderen gesetzlichen Bestimmungen als die Besatzer: Die Einheimischen mussten grüßen und sich verbeugen, wenn deutsche Beamte vorbeigingen, und sie galten überdies als willkommenes Reservoir von Zwangsarbeitern.[34]

Nach Gründung der rechtsradikalen Deutschen Vaterlandspartei im Jahr 1917 erfreuten sich Vorstellungen von einem großräumigen kolonialen Siedlungsgebiet im Osten einer wachsenden Popularität. Er sehe sein Vaterland auf dem Gipfel der Macht als das europäische Reich, sagt der Held einer patriotischen Erzählung für junge Deutsche.[35] Die Präsenz deutscher Soldaten auf russischem Territorium verstärkte die weitverbreiteten Vorurteile von Russland als primitivem Staatswesen, das reif sei für die Kolonisierung, während die von den Besatzern gewählte Sprache das Kolonialvokabular der Überseeimperien widerspiegelte. Man finde keine Worte, wurde 1914 von der Ostfront berichtet, um die «Vulgarität» und «Bestialität» der Bevölkerung auf der russischen Seite der Grenze angemessen zu beschreiben.[36]

Gipfelpunkt der deutschen imperialen Ambitionen war im März 1918 der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, dem die Revolutionsregierung der Bolschewiki gezwungenermaßen zustimmte. Nun eröffnete sich ein deutsches Besatzungsgebiet, das den gesamten Westen des russischen Zarenreichs umfasste: Belarus, das Baltikum, Russisch- Polen, die Ukraine und die Kaukasusküste am Schwarzen Meer – mehr noch, als Hitlers Heer fünfundzwanzig Jahre später erobern konnte. Die Aussichten, die sich aus diesem Vertrag für die Briten ergaben, waren ein imperialer Albtraum: ein geschlossener deutsch-osmanisch-habsburgischer Landblock, der das eurasische Kernland und den Mittleren Osten beherrschte.

Verschlechtert wurde die Lage noch durch den Beginn der letzten deutschen Offensive an der Westfront im März 1918, bei der die Armeen der Alliierten zurückgedrängt wurden und eine katastrophale Niederlage drohte. «Wir sind nahe am Zusammenbruch», warnte Sir Henry Wilson, Militärberater der britischen Regierung. Und Lord Milner, einer der sogenannten Prokonsuln des Britischen Empires, sagte dem Premierminister David Lloyd George, es sehe ganz so aus, als würden die Mittelmächte jetzt zum «Herrn über ganz Europa und Nord- und Zentralasien». In verbreiteten Angstvisionen sahen die Briten auch ein Deutsch-Afrika vom Atlantik bis zum Indischen Ozean kommen, verbunden mit einer deutschen Annexion von Belgisch-Kongo.[37] Diese Krise zeigt unmissverständlich die imperialen und globalen Dimensionen des Ersten Weltkriegs – eines Krieges, in dem um die Zukunft des Imperiums ebenso gekämpft wurde wie um das Überleben der Nation.

Großbritanniens imperiale Albträume wurden jedoch niemals Wirklichkeit. Die schwächeren Verbündeten Deutschlands brachen 1918 zusammen, die Märzoffensive schlug fehl. Nachdem die USA den Mittelmächten im Jahr 1917 den Krieg erklärt hatten, gelang es den Westalliierten mit Unterstützung amerikanischer Truppen, die deutschen Armeen bis zur deutschen Grenze zurückzudrängen. Am 11. November 1918 ging der Krieg in Europa zu Ende, was den Zusammenbruch dreier großer Reiche nach sich zog – des deutschen Kaiserreichs, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches. Vorangegangen war der Zusammenbruch des russischen Zarenreichs.

 

Großbritannien und Frankreich betrachteten ihren Erfolg als imperialen Sieg. Die britischen Kolonien hatten eine bemerkenswerte Zahl an Soldaten gestellt, zusätzlich zu Geld und Ressourcen, die vom Mutterland auf dem globalen Schlachtfeld benötigt wurden. Die Kolonien der weißen Siedler stellten 1,3 Millionen Mann, in Indien wurden 1,2 Millionen mobilisiert. Aus den afrikanischen Kolonien kamen Hunderttausende von Arbeitern, von denen schätzungsweise 200000 starben.[38] Das französische Kolonialreich beteiligte sich mit 500000 Soldaten (größtenteils aus Französisch-West- und Nordafrika) und mit mehr als 200000 zwangsverpflichteten Arbeitern, daneben mit 1,6 Milliarden Francs als Kriegsbeitrag und 5,5 Millionen Tonnen an Versorgungsgütern.[39]

Die Solidarität des Kolonialreichs wurde zum Zentralmotiv der Kriegspropaganda, und die beiden größten Kolonialmächte erwarteten paradoxerweise, dass der Krieg nicht nur die Welt sicher für die Demokratie machen würde, sondern auch das Überleben des undemokratischen Kolonialreichs sichere. Dieses Paradoxon ist bedeutsam, wenn man die Dilemmata verstehen will, mit denen alle Imperien nach 1918 zu kämpfen hatten. Und es trägt ebenfalls zum Verständnis dessen bei, was der Imperialismus zur Entstehung des zweiten großen Weltkriegs zwei Jahrzehnte später beitrug.

Das Hauptproblem für die überlebenden Kolonialreiche lag nach dem Ersten Weltkrieg in der Schwierigkeit, das Prinzip der Nationalität und des Nationalstaats mit den Vorstellungen vom Imperium zu versöhnen – eine Herausforderung, die gemeinhin mit dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, einem Demokraten, in Verbindung gebracht wird, der in einer Rede im US-Kongress am 8. Januar 1918 mit seinen berühmten «14 Punkten» die Rahmenbedingungen für eine neue internationalistische Weltordnung entworfen hatte. Quasi über Nacht wurde diese Rede weltberühmt, weil Wilson im letzten Punkt die «politische Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit der großen wie der kleinen Staaten» ansprach. Am Ende seiner Rede wiederholte Wilson nochmals, dass alle Völker und Nationen gleichermaßen das «Recht» hätten, «Freiheit und Sicherheit zu genießen». Der Begriff «Selbstbestimmung» (self-determination) kommt bei Wilson zwar nicht vor, doch ließ die Unklarheit seiner Formulierungen diese Interpretation zu. In der Folgezeit wurde Wilson mit Petitionen überhäuft und von Lobbyisten und Einwohnerabordnungen aus den Kolonien bestürmt, die seine Aussagen missverstanden hatten. Sie unterstellten, der US-Präsident wolle für ihre politische Emanzipation eintreten.[40]

Die Idee der Selbstbestimmung, die man aus Wilsons Botschaft herauslesen wollte, ging in Wahrheit auf die russischen Revolutionäre des Jahres 1917 zurück, nachdem diese im März das zaristische System entmachtet hatten. Da die provisorische Regierung der Revolutionäre den Krieg weiterführen wollte, rief sie am 9. April 1917 als vorrangiges Kriegsziel die «Errichtung eines permanenten Friedens auf der Grundlage der Selbstbestimmung der Völker» aus. Ein Jahr später, nachdem die Bolschewiki, der radikale kommunistische Flügel der sozialistischen Bewegung in Russland, im November 1917 die Macht erobert hatten, rief Lenin, der neue Regierungschef, zur «Befreiung aller Kolonien» auf, zur «Befreiung aller abhängigen, unterdrückten und nicht souveränen Völker».[41] Dieser Appell der russischen Kommunisten, die sich bald darauf, 1919, in der Kommunistischen Internationalen (Komintern) organisierten, beunruhigte die westlichen Kolonialmächte so sehr, dass sie 1918/19 Interventionstruppen schickten, um die belarussischen Truppen (Menschewiki) in ihrem Kampf gegen die Bolschewiki zu unterstützen. Japan – über einige jüngere Konflikte selbst mit Russland verbunden – schickte 1918 70000 Soldaten nach Sibirien und erwog für kurze Zeit sogar, eine abhängige sibirische Provinz zu installieren – mit 250000 japanischen Soldaten im Rücken –, um auf diese Weise das japanische Großreich nach Norden zu erweitern. Die militärischen Erfolge der Bolschewiki und die innenpolitische Instabilität Japans führten 1920 jedoch zum japanischen Rückzug.[42]

Die ersten Anzeichen einer heraufziehenden Krise des Britischen Empires und der anderen Kolonialmächte im Zuge der angedachten Selbstbestimmung der Völker wurden sichtbar, als der Frieden kam. Denn nun erwartete eine Reihe kolonisierter Völker, dass ihre Beiträge zum Sieg der Alliierten durch politische Zugeständnisse der Kolonialmächte, deren Kriegsanstrengungen sie unterstützt hatten, honoriert würden. Andere erwarteten, dass die Wilson’sche Rhetorik ihnen dabei helfen würde, unliebsame imperiale Fesseln abzuschütteln, die teilweise erst aus jüngerer Zeit datierten. Im Frühjahr 1919 wurden Wilson und seine Delegation bei der Pariser Friedenskonferenz massenhaft mit Forderungen und Petitionen konfrontiert, wobei viele Länder die volle Souveränität und ein Ende der imperialen Anmaßung forderten, der zufolge die unterworfenen Völker zur Selbstherrschaft nicht in der Lage seien. Zu diesen Bittstellern gehörten Persien, der Jemen, Libanon, Syrien, Tunesien, Französisch-Indochina (heute Vietnam, Laos und Kambodscha), Ägypten und Korea. Der indische Nationalist Lala Lajpat Rai, Mitbegründer der India Home Rule League of America, schickte Wilson ein Telegramm, in dem er dafür dankte, dass der Präsident eine neue Charta der Freiheit für «alle kleinen, unterworfenen und unterdrückten Nationalitäten der Welt» gewähre. Das amerikanische Eingreifen ins Kriegsgeschehen, beharrte Rai, habe «die imperialen Mächte Europas in den Schatten gestellt».[43]

Doch keine der vielen Petitionen wurde zufriedenstellend beschieden, und so kam es im Jahr nach Kriegsende zu weitverbreiteten, oftmals gewalttätigen Protesten gegen die Kolonialherrschaft. In Korea wurden solche Demonstrationen im März 1919 rücksichtslos niedergeschlagen; in Indien gingen in der Stadt Amritsar Aufstandsversuche im Kugelhagel unter, dem 379 Menschen zum Opfer fielen; und in Ägypten wurden die Anführer der Nationalisten ins Exil verbannt und 800 Menschen bei antibritischen Protesten getötet. «Ist das hier nicht hässlichster Verrat?», schrieb einer der ägyptischen Delegierten in Paris. «Ist das nicht die fundamentalste Zurückweisung der Prinzipien?»[44] Allein in Irland hatten die Nationalisten Erfolg, indem sie den dort stationierten 110000 britischen Soldaten Widerstand leisteten, sodass 1922 schließlich der Irische Freistaat weitgehende Unabhängigkeit für einen Teil der Insel erlangte.

Letztlich lagen die Prioritäten der Pariser Friedenskonferenz darin, in Ost- und Mitteleuropa unabhängige Nationalstaaten zu schaffen, die an die Stelle der zusammengebrochenen dynastischen Reiche traten: Polen, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und ein Rumpfstaat Österreich waren das Resultat. Doch nirgendwo sonst kam das Prinzip der politischen Selbstbestimmung zur Geltung. Es gelang den britischen und französischen Delegationen sogar, Wilson dazu zu bewegen, dass er im Entwurf der Völkerbundsatzung den Begriff «Selbstbestimmung» strich und durch eine Verpflichtung ersetzte, die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit der bereits existierenden Staaten zu garantieren. Der Völkerbund mit Sitz in Genf sollte Hauptakteur einer internationalisierten Weltordnung werden.[45]