Wendepunkte - Lange Nächte in Tampere - M. Kruppe - E-Book

Wendepunkte - Lange Nächte in Tampere E-Book

M. Kruppe

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Beschreibung

Kälte. Schnee. Sehr viel mehr fällt M. Kruppe nicht ein zu Finnland, als er im Winter 2022 ein unerwartetes Angebot annimmt und als Residenz-Künstler für einen Monat in eins der nördlichsten Länder der Erde reist. Ohne jede Vorstellung, was ihn, den eher karibischen Typ, wie er selbst sagt, hier erwartet, führt ihn die Reise über Helsinki nach Tampere. Die Menschen, denen er hier begegnet, skizziert er so anschaulich, ehrlich und unterhaltsam wie schon im Kaff der guten Hoffnung, während seine Reise durch ein Land unter Schnee ihn auch immer wieder zu seinen eigenen Stimmen, seinem innersten Ich und zu vermeintlich Vergessenem zurück führt. Mal ernst, mal mit viel Humor, erkundet er die Stadt, die Menschen, ihre Gewohnheiten, eine Sprache, die ständigem Fluchen gleicht (O-Ton Kruppe), und vor allem die Tiefen seines eigenen Seins.

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M. Kruppe

Wendepunkte

Lange Nächte in Tampere

Für Asmo, Corina Gutmann, Peter Peukert, Andreas Hähle und Oliver Baglieri.

(Wo auch immer ihr jetzt seid. In unseren Herzen bleibt ihr.)

Impressum

Oktober 2022

© Edition Outbird, Gera

www.edition-outbird.de

Coverfotografie: M. Kruppe

Covergestaltung: M. Kruppe

Vorlektorat: Claudia Laßlop

Lektorat: Vanessa-Marie Starker, Merri Holste, Tristan Rosenkranz

Buchsatz: Benjamin Schmidt

ISBN: 978-3-948887-46-9

Preis: 6,99 €

Alle Rechte vorbehalten.

1

Ein Prolog

Hier gesteh ich meine Liebe,

ich war und bin in dir!

Wie, wenn ich ewig in dir bliebe?

Ewig jedenfalls bist du in mir!

Kann man sich in eine Stadt verlieben? So, wie man sich in einen Menschen verliebt? Kann man sich mit all seinem Fühlen und Denken in einem Ort verlieren, sich in ihm verlaufen, als verlaufe man sich absichtlich, um nie wieder herauszufinden?

Mir jedenfalls ist es so ergangen. Tampere, in Finnland betont man meist die erste Silbe eines Wortes und das „R“ wird gerollt … tAMmperre … Allein der Klang ihres Namens ist wie eine Melodie …

Tampere, diese drittgrößte Stadt im Südwesten Finnlands, die mich in ihre Wasserarme nahm, die mich umschmiegte mit ihrem Wälderleib, ihrem großstädtischen Kleinstadtcharme und mich nicht mehr losließ. Tampere, herausreißen musste ich mich aus dir und nahm Stücke von dir mit, weil ich nicht gehen wollte. Tampere … Manchester des Nordens. Mit seinen Fabriken und Kneipen, kleinen und großen Häusern aus Stein und Beton und Holz, Holz, Holz. 

Tampere, die Stadt mit ihren eisigen Februarstürmen und den pechschwarzen Schneewänden an den Rändern der viel befahrenen Straßen und mit all ihren Menschen. 

Menschen, wie sie überall sind auf dieser Welt, mit ihren seltsamen Menschlichkeiten. Tampere, die Stadt mit den Verrückten und Bettlern, den nach Flaschen in Müllkübeln suchenden und an Bushaltestellen Kippen schnorrenden, den Gras oder Koks tickenden Menschen, die flüsternd durch die Straßen schwebten und stets ihr leises Mantra sangen: „Kokain, Weed, Meth … Kokain, Weed, Meth…“ 

Tampere, mit seinen Künstlerinnen und Künstlern, den Studierenden, den Schreibenden, den früh Feiernden, weil die Tage zu kurz waren. Tampere, mit seinen betrunkenen Girls, die in den Bussen die Passagiere beleidigen, den ausländischen Menschen, den „urfinnischen“ Männern mit ihren kleinen, knolligen Nasen und den „urfinnischen“ Frauen mit ihren unter Wollmützen versteckten, blonden Haaren, den auch im Winter in knappen, bauchfreien Shirts bekleideten Mädels, den Schweigsamen und den Lauten, den Musikerinnen und Musikern, den Macherinnen und Machern, den Obdachlosen, die man kaum sah, die es aber gab, den Drogensüchtigen und „Druffies“, die auf den Straßen laut sangen oder sprachen, mit Menschen, die nie da waren, und ihren seltsamen Bewegungen, wegen derer man sie anstarrte, wie man überall auf der Welt solche Menschen anstarrt… 

Tampere mit seinen viel zu nüchternen Geschäftsleuten und Büroangestellten, den Normalos und Unnormalos… 

Tampere, diese Stadt mit ihren großartigen Tempeln und ehrfürchtigen alten Gebäuden und den urtypischen Holzhäusern, mit ihren kaputten Straßen, mit ihrem Stadion und dem Aussichtsturm, mit den Tammerkoski Stromschnellen, die die Seen Näsijärvi und Pyhäjärvi verbinden, und mit dem Mumins-Museum…

Tampere, diese fröstelnde und glatte, gleißende und dampfende Stadt, deren Zentrum für mich das Laikku war und meine Haltestelle Keskustori B und dem R-Kioske, in dem ich stets meinen Tabak kaufte und mein Karhu, Papers und die finnische PrePaid Karte mit unbeschränktem Datenvolumen bekam, mein von Keskustori nach Haihara rumpelnder Bus, in dem ich Ängste wie selten zuvor ausstand, und so heimlich wie vorsichtig mein Bier trank, damit ich es mir nicht über die Jacke kippte, wenn einmal mehr ein Schlagloch groß wie eine Badewanne das Gefährt erbeben ließ, und ich es trotzdem oder gerade deshalb so wundervoll fand, in der Öffentlichkeit zu trinken, wo Trinken in der Öffentlichkeit verboten war. 

Tampere, mit deinen Kneipen und dem teuren Bier, deinen ureigenen Mustamakkara und deinen Einkaufszentren und kleinen Cafés, mit deinen Stadtteilen, die wie Dörfer wirkten, aber wie Großstädte klangen, als wärst du ein Stadt gewordenes Puzzle, mit deinen Wäldern, die dich einklemmen, ohne dir deine Freiheit zu nehmen, mit deinen breiten Straßen und engen Gassen, mit deinem Geruch nach Welt und Welt und noch mehr Welt, mit deinem freundlichen Gesicht, mit deinen offenen Wasserarmen, mit diesem Winter, der selbst dir zu schwer war, zu außergewöhnlich, in dem wir uns kennenlernten… 

Du und ich, Tampere, vereint in diesem Februar zweitausendzweiundzwanzig, der dich in seinem Schnee gänzlich zu versenken drohte, und der Arme brach und Beine, weil deine Straßen und Gehwege glatt und schwer passierbar waren, in diesem Februar, der so schicksalsträchtig war, als der Krieg an die Türen zur Welt klopfte und das Klopfen an der östlichen Eintausenddreihundertkilometergrenze deines Landes zu laut wurde und uns allen der Atem stockte… 

Tampere, mit deinem „Central Square“ an der Hämeenkatu, der einst Kauppatori hieß und heute Keskustori, umgeben vom Rathaus und der alten Kirche, dem Theater mit seinem Café, das immer geschlossen war, und dem Laikku, dem Kulturhaus, das mein Zentrum war, und deinem Bahnhof und den defekten Zügen und deinen Taxifahrern, die weder deutsch noch englisch sprachen, mit deinen rotgelb leuchtenden Lichtsmognächten, in denen ich schrieb und schnitt und in Kameras sprach und nachdachte und wanderte und trank und spürte, dass du, Tampere, mir Wendepunkte injiziertest, wie einem Probanden ein noch unerforschtes Serum gegen die Infektion Leben.

Tampere, schon nach wenigen Minuten in dir sang Elvis in mir: Now I’m / falling in love / with you.

Tampere nahm mich an die Hand und führte mich zu mir, als ich im Februar ‘22, anfangs nur des Geldes wegen, in der finnischen Kulturhauptstadt aus dem Zug stieg, mich beinahe widerwillig durch die Kälte schieben ließ, getrieben von einem Muss, denn ich hatte ja keine Wahl. 

Seit Wochen stapelten sich die ungeöffneten Briefe auf meinem Schreibtisch. Briefe von Anwaltskanzleien und Inkassobüros, den Leipziger Stadtwerken, der Hausverwaltung und verschiedenen Verkehrsbehörden. Das Telefon hatte ich meist stumm geschaltet. Weder wollte ich mit Behörden oder irgendwelchen (amtlichen) Gläubigern reden, noch mit Menschen, die Freunde waren oder dachten, dass sie es seien. 

Die Vormittage nutzte ich, um die wichtigsten Dinge abzuarbeiten, aber schon nach zwei Stunden fehlte mir die Kraft und ich asselte auf meiner Couch zwischen Kaffeetassen und leeren Bierflaschen, vollen Aschenbechern, schmutzigem Geschirr und Essensresten, schaute Dokus oder schlief. Selbst das Wachbleiben kostete Kraft. Gelesen hatte ich schon lange nicht mehr, vom Schreiben ganz zu schweigen. 

Ich war mal wieder pleite und der Druck der Schulden lastete auf mir wie die tiefgrauen Wolken an diesem schmutzigen Januarhimmel. Ich rauchte zu viel, ich trank zu viel, ich wollte zu viel und schaffte zu wenig. „Du musst doch nur deinen Arsch hochkriegen“, hatten sie gesagt, die Menschen, die dachten, dass sie Freunde seien und ihre pseudoklugen Ratschläge wie Rezepte verteilten. „Depression? Ich hab mal gelesen, dass Spazierengehen da hilft. Du musst einfach nur rausgehen!“ Ja sicher, Spazierengehen… Die Ultima Ratio gegen eine Lähmung war und ist Bewegung. „Wie, Du sitzt im Rollstuhl? Du musst einfach nur aufstehen und loslaufen!“

Es war eher Zufall, dass ich aufs Display schaute, als das Telefon einmal mehr penetrant vibrierend auf der Glasplatte meines Couchtisches zu wandern begann, als wolle es sich an dessen Rand in den Abgrund stürzen.  

„Ralf“ stand da auf dem Display. Ich hielt das Smartphone in meiner Hand, starrte auf den Namen und ließ es zunächst vibrieren. Irgendwann verstummte das Brummen, die automatisierte Benachrichtigung eines verpassten Anrufes ploppte auf und zeigte, dass Ralf in den letzten beiden Stunden bereits sieben Mal versucht hatte, mich zu erreichen. 

Ich kannte viele Menschen, hatte viele Bekannte, aber nur wenige wirkliche Freunde. Und Ralf war ein wirklicher Freund. Schlechtes Gewissen überkam mich, ich entsperrte den Bildschirm und tippte auf den Rückruf-Button. 

2

Wie das Kind zum Bade

oder:

Ich kam, wie’s Kind zum Bade

nach Tampere im Finnenland

und eines nur ist schade

es hätt’ könn’

sein ein Südseestrand

„Moin Kruppe…, sagte Ralf. „Wie geht’s Dir?“

„Ja, passt schon“, log ich und bereute für einen kurzen Moment, rangegangen zu sein, denn ich fürchtete eins dieser typischen Gespräche, in denen man Befindlichkeiten austauscht und nach zehn Minuten Smalltalk das Gespräch im Nichts verlaufen würde. Aber so war Ralf nicht. Wie ich hasste er Smalltalk und sinnfreie Telefonate. Wenn Ralf anrief, dann hatte das meist einen Grund. Und dass er es bereits sieben Mal versucht hatte, sagte mir, dass es ein triftiger sein musste. Vielleicht hatte er ja einen Job für mich. Seit Jahren arbeitete Ralf als Projektmanager für einen Thüringer Literaturverein, der mehr als sechshundert Lesungen im Jahr organisierte und mir oft schon den Arsch gerettet hatte, wenn mir das Wasser meiner wirtschaftlichen Situation mal wieder bis zum Halse stand.

„Ich hab jetzt mal ‘ne komische Frage“, sagte Ralf und ich hörte das für ihn so typische süffisante Grinsen in seiner Stimme. 

„Na dann schieß mal los. Komische Fragen finde ich immer gut!“

„Du weißt doch, dass der Lese-Zeichen e.V. ab und zu mit dem Deutschen Kulturzentrum Tampere zusammenarbeitet. Wir hatten ja auf Burg Ranis schon einige Veranstaltungen mit den Finnen. Und jetzt kommt’s: Kannst Du Dir vorstellen, ein Stipendium über einen Monat in Finnland anzunehmen?“ 

Ich überlegte kurz. Finnland. Das hieß Winter. Das hieß Kälte. Das hieß Schnee. Ich hasste den Winter. 

Und Finnland… Zur Hölle, ich wusste rein gar nichts von Finnland, abgesehen davon, dass es irgendwo in Skandinavien liegen musste und einige durchaus bekannte Menschen hervorbrachte. Lordi zum Beispiel, oder Apocalyptica, die Leningrad Cowboys, Mika Häkkinen und Aki Kaurismäki. Und waren ABBA nicht auch aus Finnland? Ein Fehler, der viel zu oft passierte und zu den gängigen Klischees gehörte: „Finnland, klar! Ach nee, das war ja Schweden.“  

So etwas wie ABBA konnte ja auch gar nicht aus Finnland kommen, dachte ich, da gibt’s doch nur Metalbands. Und das lag ganz bestimmt daran, dass es in Finnland immer kalt und dunkel ist, dass da viel getrunken wird, vor allem Bier. Da kann man ja nur Metal hören. 

Finnland … das war doch das Land der Elche und Mücken, dessen nördlicher Teil auf der Karte aussieht wie der Kopf eines Lamas?! Und war nicht Finnland das Land, in dem das Handy und die SMS erfunden wurden? Und wo es abgesehen von Eishockey so seltsame Spiele und Sportarten wie Curling, Matschfußball und Frauentragen gab? 

Mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung harrte meiner Antwort. Ich sammelte mich und mir schien das Angebot wenig verlockend. Winter … und dann auch noch in Finnland? Noch nie hatte ich darüber nachgedacht, Skandinavien zu bereisen. Alles, was nördlich der Ostsee lag, war außerhalb meines Interessensgebiets. Die Karibik? Auf jeden Fall! Oder Spanien oder wenigstens Griechenland … ohne zu überlegen hätte ich zugesagt. Aber Finnland?  

„Also ich sag Dir erstmal, dass es ein sehr gutes Honorar gibt“, unterbrach Ralf die Stille und nannte mir eine Summe, die alle Überlegungen, alle Zweifel auf der Stelle in den Wind schlug. Ich dachte an mein leeres Konto, an meine Schulden und daran, dass ich mich mit diesem Honorar beinahe gänzlich rehabilitieren könnte. 

„Auf jeden Fall bin ich dabei“, platzte es aus mit heraus. 

„Da gibt es nur einen Haken“, sagte Ralf.

„Der da wäre?“

„Das ist schon im Februar. Also in zwei Wochen. Die eigentliche Stipendiatin musste aus gesundheitlichen Gründen absagen und wir im Vorstand wussten sofort, dass Du der Richtige dafür wärst.“  

„Bin dabei“, sagte ich entschlossen. „Allerdings muss ich das noch mit meiner Freundin und der Mutter meiner Tochter abklären.“ 

„Na dann mach das mal und melde Dich bestenfalls bis heute Abend. Wir müssen das so schnell wie möglich wissen.“

Eine laute Euphorie schrie die Depression fort, die sich trollte wie ein reuiger Hund, der gerade auf den teuren Teppich gekackt hatte und dabei erwischt wurde. Was könnte ich von diesem Geld nicht alles abbezahlen? Die drückendsten Schulden wären getilgt und selbst das grausame Rot der Zahlen auf meinem Konto würde sich auf einen Schlag in ein herrliches Grün färben. 

Ich blickte auf den Stapel der ungeöffneten Briefe, zeigte ihm mit einem überlegenen Grinsen den Mittelfinger und begann, eine der Hymnen meiner Jugendzeit zu singen: Ganz verloren können wir nicht sein, / vorher fällt uns noch was ein / Wir leben nur einmal! / Schaff dir deine Lebensqualität / was auch immer dir in die Finger gerät / ist alles deins!

Ich suchte in den „häufigen Kontakten“ meines Smartphones die Nummer meiner Freundin und während der Klang des Freizeichens monoton in meinem Kopf widerhallte, schrieb ich in mein Notizbuch: „Alles passiert immer dann, wenn es passieren soll. Und manchmal scheint da über uns, oder vielleicht auch in uns, tatsächlich etwas zu sein, das uns Wege deutet und Hinweise gibt, ob der eingeschlagene Weg, die getroffene Entscheidung richtig ist oder nicht. Und manchmal eilt uns dieses Unbestätigte, diese seltsame Energie zu Hilfe. Alles hat immer (s)einen Sinn. Und wenn du den Dingen vertraust, wenn du der Zeit vertraust, dann kann eigentlich nichts schief gehen…“

Eben noch kam ich von Teufels Küche in Teufels Keller und das Gewölbe über mir drohte einzustürzen, die Depression lockte mit Bildern der Erlösung, Bildern von einem zerfetzten Leib auf einer Bahnschiene, Bildern von Schusswunden in einem Kopf, Bildern von Stricken an einem Dachbalken, und mit einem Fingerschnipp war ich der Hölle entkommen. Plötzlich war Frühling in mir. Frühling mitten im grauen Januar, mitten im düsteren Winter in Leipzig Leutzsch.

Das seltsamste Leben, das ich je hatte.

Die Mutter meiner Tochter war einverstanden, das Wechselmodell für vier Wochen auszusetzen, die Kleine für einen Monat bei sich zu behalten. Meine Freundin freute sich für mich, auch wenn sie wusste, dass es für uns beide, die wir gerade die Phase des Verliebtseins genossen, nicht einfach werden würde, so lange aufeinander zu verzichten. Lange… das war ja auch relativ. „Zeit ist ambivalent“, hatte ich in meiner euphorischen Überschwänglichkeit gesagt, und es gleich wieder bereut, denn es klang wie: „Is mir doch egal.“ Natürlich war es mir nicht egal, und abgesehen davon, dass ich bald im statistisch gesehen kältesten Monat Finnlands in Tampere gegen meinen Hass auf den Winter kämpfen würde, war das das einzige Argument, das gegen den Trip sprach. 

Noch am selben Abend telefonierte ich mit der Vorsitzenden des Deutschen Kulturzentrums Tampere (DKT). Sie freute sich, doch einen Stipendiaten gefunden zu haben, und erläuterte mir meine Aufgaben. Drei, vier Lesungen im Laikku, dem Kulturhaus von Tampere, täglich einen kurzen Text für den Blog, ein Vortrag über Kunst und Kultur im ländlichen Raum Ostdeutschlands, mit Studierenden der Universität ein paar Videos schneiden…

Parallel suchte ich im Netz nach Winterklamotten. Gefütterte Schuhe, Thermohosen und Handschuhe besaß ich längst nicht mehr, und eine Mütze hatte ich zuletzt als Kind getragen. In Deutschland gab es seit Jahren keinen richtigen Winter mehr. Die Klimaerwärmung war schon längst deutlich spürbar.

3

Kassandra, Taxi Berlin und die Relativität der Zeit

oder:

Steh’ auf, wenn dich der Wecker weckt!

Ich bin ganz plötzlich hochgeschreckt

Keine Zeit mehr zu verlieren

Verdammt, das musste ja passieren

Die beiden Wochen vergingen wie im Flug. Je näher der Tag der Abreise rückte, desto drückender lag das Gemisch aus Zweifeln und Angst auf meinen Schultern und drückte mich täglich tiefer in mein Sofa, als wolle es mich festhalten, mich am Gehen hindern, mich davor bewahren, einen großen Fehler zu machen. Alles in mir wehrte sich gegen diese Reise, vor der ich plötzlich eine Riesenangst hatte, weil ich kein Reisender war, weil Bahnfahrten und Flüge mich immer schon stressten. Fahrpläne zu lesen überforderte mich, weil ich nie durchblickte bei all den bunten Linien, all den Zahlen, die Abfahrtszeiten und Ankunftszeiten und Zugnummern und Gleise angaben. Zahlen machten mir grundsätzlich Angst. Wie bei jeder Reise hatte ich Angst, irgendwo anzukommen, wo ich gar nicht hinwollte. Ich hatte Angst vor dem Winter und Angst vor der Einsamkeit. Ich hatte Angst vor mir selbst und Angst vor der Angst. Jeden Tag überlegte ich, ob ich nicht doch absagen sollte. Vielleicht einen Gichtschub als Ausrede vorschieben oder mich gar absichtlich mit Corona anstecken?

Aber ich hatte keine Wahl, denn ich hatte diese Schulden. Und wie es noch zwei Wochen zuvor die Last dieser Schulden war, die mich in mein Sofa drückte, war sie es nun auch, die mich an der Angst und den Zweifeln vorbei aus der Lähmung zog.  

Und so standen wir, meine Freundin und ich, eng umschlungen und erfüllt von Wehmut an Gleis 7 des Leipziger Sackbahnhofes und warteten auf den Moment des endgültigen Abschieds. Der pflichtgemäße PCR-Test, den ich eine halbe Stunde zuvor im Testzentrum hatte machen lassen, war negativ und das war positiv für das scheinbar Negative. Dieser Test hätte die Rettung in letzter Sekunde sein können…

Eng umschlungen im Regen, weil die Raucherinseln hier nicht überdacht waren. Ein Bild gewordenes Klischee, eine Szene aus einer alten Liebesschnulze. Dann eine Durchsage, dann das laute Rauschen des einfahrenden ICEs, dann das noch lautere Quietschen der Bremsen, dann das Signal der sich öffnenden Türen, aus denen die Menschen herausquollen wie überkochende Milch aus ihrem Topf, dann der letzte Kuss, Augenpaare, deren Tränen zurückgehalten wurden, Blicke, die sich trafen, das leise: „Ich muss dann mal…“, und seine traurige Antwort: „Ja, ich weiß…“

Dann saß ich im Zug. Ich war also unterwegs. Unterwegs von Leipzig über Berlin und Helsinki nach Tampere, Finnland. Ein leises Gefühl von Stolz mischte sich in die Angst, in die Aufregung.

In mein Notizbuch schrieb ich: „Ich bin lange nicht mehr geflogen, vor allem nicht allein. Wie geht denn Flughafen eigentlich? Und was, wenn ich in Helsinki in den falschen Zug einsteige? Was, wenn ich statt in Tampere irgendwo im finnischen Hinterland ankomme, ohne jedwede Sprachkenntnis? Aber jetzt ist nicht die Zeit für solche Gedanken. Eine Nacht in einem Hotel in der Nähe des BER steht mir noch bevor.“ Ich kramte mir ein Bier aus dem Rucksack und studierte den Zettel mit den Reisehinweisen für den nächsten Tag, den mir Claudia vom DKT zusammengestellt hatte. Die Abfahrtszeit der S-Bahn vom Hotel zum Flughafen, die Check-in- und die Abflugzeit in Berlin, die Ankunftszeit in Helsinki, die Bahnverbindung vom Airport nach Tikkurilla und von dort nach Tampere. Zahlen … nichts als Zahlen und seltsame Wörter: 

Helsinki Lentoasema — Tampere, keskiviikko 2.2.2022, matkustaja: aikuinen Matkaosuus 1/2 ke 2.2.2022 Kaukoliikenteen jatkoyhteys Maksettu sarjalipulla Helsinki Lentoasema – Tikkurila Voimassa HSL:n junat Voimassaoloaika 13:22 - 13:30 Matkustaja Aikuinen Paikka Vapaa Lemmikki Sallittu Pyörä Sallittu U9Q-8N3-7DOI Tilaus F4010040974764 · CIV Matkaosuus 2/2 ke 2.2.2022 Peruslippu Maksettu sarjalipulla 13:41 14:58 Tikkurila Tampere Juna IC 37, Alakerta Ikkuna Eko-luokka Matkustaja Aikuinen Vaunu 5 Paikka 45 Lemmikki Ei Pyörä Ei U9Q-8N3-7DVN Til

Im Hotel in Berlin stellte ich mir den Wecker auf 3:30 Uhr. Ich bin einer jener Menschen, die die Schlummertaste mehrfach betätigen. Langsam, schlummernd in den Tag kommen. Immer nochmal kurz wegnicken bis zum endgültigen Verlassen des Bettes. Außerdem brauche ich morgens meine Zeit. Zweieinhalb Stunden Vorlauf waren schon immer wichtig. Die Eitelkeit ist die Krone des Grufties, weswegen ich morgens allein eine dreiviertel Stunde im Bad brauche. Das war so wichtig wie der Kaffee und die zwei, drei Zigaretten, um ganz allmählich in die Gänge zu kommen. Zweieinhalb Stunden … die ich jedoch nicht hatte… 

…denn das musste ja passieren. Diese leise Hoffnung darauf, dass die Reise doch ins Wasser fällt, weil ich, wie schon erwähnt, ein bisschen Schiss hatte vor dem Prozedere des Trips, vor der Kälte, dem Schnee, dem Winter, diese leise Hoffnung also hatte sich wohl irgendwo in den Tiefen des Schicksals verfangen. Vielleicht war diese Angst stärker, als ich sie wahrhaben wollte? Und vielleicht verfestigte sie sich in den Tiefen des Ichs, und statt der Stimme der Angst meldete sich mantraartig die des Unterbewusstseins? Und vielleicht löste das diesen Kassandra-Effekt aus? Die sich selbst erfüllende Prophezeiung, aus einem Wunsch heraus geformt, der keineswegs einem bewussten Willen entsprang? 

Ich freute mich doch auf die Reise. Ich freute mich doch auf das Neue, auf ein Land, das ich nicht kannte, auf das Unbekannte, auf seine Gerüche, seinen Klang, seinen Geschmack und darauf, wie es sich anfühlen wird. Ich freute mich auf die Lesungen, auf die Arbeit mit dem DKT, den Studierenden der Uni Tampere, auf all die Projekte, die anstanden. Ich freute mich auf die Abgeschiedenheit, darauf, vielleicht ein bisschen runter, ein bisschen zu mir zu kommen. Ich freute mich aufs Schreiben, auf die Zeit, die ich haben würde, und ja, ich freute mich sogar ein bisschen auf den Winter, auf den Schnee, auf die Kälte.

Pünktlich und ungewohnt früh lag ich also in „meinem“ Hotelbett, mit dem Vorhaben, sehr zeitig aufzustehen, um mich in aller Ruhe fertig zu machen, mich nochmal zu sammeln und rechtzeitig am Flughafen zu sein, damit ich die Prozesse noch einmal beobachten könnte, um mich nicht mit meiner Unwissenheit zu blamieren. Das letzte Mal, als ich geflogen bin, damals 2019 nach Glasgow, war ja alles noch analog. Die zunehmende Digitalisierung aber macht natürlich vor Airports nicht Halt und ich wollte mir ansehen, wie das nun alles vonstatten geht, bevor ich wie der Ochs vorm Tor vor irgendwelchen Scannern stehe und nicht die geringste Ahnung habe, was wie funktioniert. Daraus wurde nichts, denn das musste ja passieren…

3:30 Uhr … Morpheus’ Arme waren von meiner Aufregung befallen und sein Vater zürnte ob dessen. Die Träume waren seltsam und ließen mich immer wieder aufwachen. Fast sehnte ich mich nach dem Klingeln des Weckers. Als der dann das erste Mal sein blechernes Schallen ins Hotelzimmer warf, schmunzelte ich, drückte auf die Snooze-Taste und drehte mich noch einmal um. Noch dreimal Snooze, dann aufstehen, dachte ich und schloss die Augen. Aber das göttliche Duo des Schlafes hatte anderes mit mir vor.

Ich erinnere mich an ein zweites Klingeln des Weckers. Auch daran, dass ich ihm den Befehl gab, mich in zehn Minuten ein drittes Mal zu wecken. Aber verdammt – ja: Das MUSSTE ja passieren…

6:15 Uhr fuhr meine Bahn zum BER. Ich wachte auf und dachte noch: Na…? Hätte der Wecker nicht längst klingeln müssen? Augen auf, Blick auf die Uhr – Schock!

6:02 Uhr! Dreizehn Minuten bis zur Abfahrt der S-Bahn. Logisch, dass ich das nicht schaffen würde. Der Fußweg zur Station dauerte laut Google Maps zehn Minuten. Nun war nicht nur Eile geboten, sondern auch guter Rat teuer. Und wie das immer ist, wenn man ohnehin knapp bei Zeit ist, liefen die Dinge eher suboptimal. Sagte ich es eigentlich schon? DAS, verdammt nochmal, MUSSTE JA PASSIEREN…

Von Null auf hundert in drei Millisekunden. Hochschnellen, ins Bad, Katzenwäsche, beim Anziehen die sieben Sachen in den Koffer, Schuhe an, raus zum Fahrstuhl, runter in die Lobby, auschecken, Kaffee to go bestellen.

Die schlecht gelaunte Rezeptionistin hatte die Jacke noch an. War wohl gerade erst angekommen.

„Frühstück gibt’s erst ab halb sieben!“, sagte sie und bemühte sich nicht einmal, dabei freundlich zu klingen.

„Das macht nichts, ich hab’ kein Frühstück gebucht. Ein Kaffee zum Mitnehmen wäre mir dennoch lieb.“

„Milch? Zucker?“

„Nichts von beidem … schwarz. Aber ich habs ein bisschen eilig. Können Sie mir ein Taxiunternehmen empfehlen?“

„Taxi Berlin.“

„Ok, danke.“

Während die Kaffeemaschine offensichtlich noch warmlaufen musste, was sie mit höllischem Lärm tat, googelte ich nach dem Fuhrunternehmen und wählte die Nummer. Eine männliche Stimme meldete sich:

„Taxi Berlin, einen schönen guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“

„Guten Morgen, mein Name ist Kruppe, ich bräuchte ein Taxi vom Hotel Meininger zum BER.“

„Ich brauche erstmal eine Adresse.“

„Die weiß ich gerade nicht. Meininger Hotel am Bahn…“

„Eine Adresse!“ – herrschte der Telefonist, und die Kaffeemaschine lief auf akustischen Hochtouren.

„Hören Sie, ich weiß die Adresse gerade nicht. Das ist das Hotel…“

„Ich verstehe Sie kaum!“

„Warten Sie, ich google die Adresse, einen kleinen Moment bitt…“

„Ich versteh den Kerl nicht…“ Tut tut tut tut…

Kennst Du das, wenn während eines dringenden Telefonats Dein Gegenüber plötzlich einfach unvermittelt auflegt? 

Ein Blick auf die Uhr. 6:17 Uhr. Wann ist eigentlich „latest check-in“? Keine Ahnung, aber es musste einen Grund haben, dass mir Claudia vom DKT ausgerechnet diese Bahnverbindung herausgesucht hatte. Die Bahn, die ich eh schon verpasst hatte. Die Kaffeemaschine ratterte, brauste, zischte, klapperte, aber Kaffee ließ sie noch nicht aus. Ich schaute auf den Ausdruck mit der S-Bahn-Verbindung. Meine Hände zitterten, mein Herz pumpte, Schweiß auf der Stirn…

Ja, kein Zweifel, viertel sieben Abfahrt, Ankunft am BER 6:51 Uhr.

Verdammt, was mache ich denn jetzt?, dachte ich, während die Kaffeemaschine sich beruhigte und die schlecht gelaunte Rezeptionistin nun zu den Bechern griff. „’N großen oder ‘n kleinen?“, fragte sie.

„Den größten, den Sie haben“, sagte ich und drehte mir eine Zigarette.

„Das macht drei fuffzich!“

„Stimmt so“, sagte ich und reichte ihr einen zerknitterten Fünf-Euro-Schein aus meiner Hosentasche. Bevor sie jetzt noch ewig nach Wechselgeld sucht, wollte ich raus, eine rauchen und einen Plan machen. Ich zündete mir die Zigarette an, verbrannte mir den Mund am viel zu heißen Kaffee, googelte die Adresse des Hotels und versuchte erneut, ein Taxi zu bestellen. Diesmal ging eine Frau ran:

„Taxi Berlin, guten Morgen.“

„Ja, guten Morgen. Kruppe mein Name. Ich brauche ein Taxi von der Alexander-Meißner-Straße 1 zum BER.“

„Wie heißt die Straße?“

„Alexander – Meißner – Straße“, betonte ich sehr, sehr deutlich und fuhr fort: „Das ist das Meininger Hotel am Airport.“

„Mit e-i oder e-y?“

„E-I“

„Mit ß?“

Ich wurde langsam fuchsig, wütend, verzweifelt. Meine Unruhe verdoppelte sich, das Zittern wurde stärker. Ein Schluck Kaffee, wieder verbrannte ich mir den Mund.

„JA, MIT SZETT. Hören Sie, ich hab’s verdammt eilig!“

„Ich find’ die Straße nicht!“

Und wieder ertönte das grausame Tuten. Aufgelegt. Zum verdammten zweiten Mal ließen sie mich hier in der Kälte stehen. Nun begann es auch noch zu schneien. Ich drehte mir eine weitere Kippe und sah mich um. Vielleicht war ja hier jemand auf dem Parkplatz, dem ich einen Zwannie in die Hand drücken und fragen könnte, ob er mich dafür schnell zum Flughafen fährt?

Dunkel lag der Parkplatz vor mir. Keine Bewegung, kein Mensch zu sehen. Dicke Flocken schwebten zu Boden und legten sich säuselnd auf den Asphalt. Mir standen die Tränen der Verzweiflung in den Augen.

Ein dritter Versuch, wieder eine männliche Stimme:

„Taxi Berlin, einen schönen guten Morgen.“

„Guten Morgen. Ich brauche ein Taxi von der Alexander-Meißner-Straße 1 zum BER.“

„Und ich brauche erstmal einen Namen.“

„Oh, natürlich … Kruppe.“

„Wie?“

Ich buchstabierte meinen Namen.

„Alles klar, hab ich. Und wo stehen Sie?“

„Alexander-Meißner-Straße 1.“

„Kleinen Moment bitte.“

Ich hätte am liebsten geschrien: „Ich habe keinen kleinen Moment mehr. Ich habe es scheiße EILIIIIG!“, blieb aber ruhig, verbrannte mir zum dritten Mal den Mund am Kaffee, zog leise fluchend an meiner Zigarette und mahnte mich innerlich, durchzuatmen. Der Taxi-Callboy meldete sich wieder:

„Ich find die Straße nicht. In welchem Bezirk ist das denn?“

„Ich hab nicht die geringste Ahnung! Ich bin kein Berliner! Aber ICH HABE ES VERDAMMT EILIG!“ Nun verlor ich doch fast die Fassung. Ein cholerischer Anfall drohte und fast hätte ich aufgelegt, um einfach wieder nach Hause zu fahren. Doch nun kam Licht ins Dunkel.

„Ahh…“, sagte der Telefonist „Ist das das Meininger Hotel am Airport?“

Nun waren es Tränen der Freude, die meine Augen wässerten.

„Jaaa!“, sagte ich, als hätten wir eben einen Schatz gefunden.

„OK, das ist aber nicht Berlin. Das ist Schönefeld und Schönefeld gehört nicht zu Berlin.“

Sollte der Schatz nur eine alte, leere Holzkiste sein? Gammlig, modrig, stinkend?

„Das wusste ich nicht“, sagte ich „aber kann ich nun ein Taxi bekommen oder nicht? Und wie lang wird es dauern, bis es hier ist? Ich muss nochmal betonen, dass mein Flug gleich geht und ich arg in Eile bin.“

„Ok, ja Moment, ich schau mal. … Der Wagen könnte in zehn Minuten bei Ihnen sein. Wie war nochmal der Name?“

„K R U P P E!!!!!!!!!!!!!!!“

„Wie die Gruppe? Mit G?“

Wenn er neben mir gestanden hätte, hätte er sich spätestens jetzt eine eingefangen. Spätestens jetzt!

Erneut buchstabierte ich meinen Namen.

„Alles klar. Hab ich. Sie bekommen dann gleich noch eine SMS mit dem Kennzeichen des Taxis, wann der Fahrer da ist, und…“

Nun war ich es, der auflegte und vier Minuten später kam schon das Taxi. Geht doch, dachte ich und sah noch einmal auf den Ausdruck mit der Bahnverbindung. Nun stellte ich fest, dass die Route nicht zeitlich aufgelistet war. Der ganze Stress fast für umsonst, denn die Zeitangaben waren nicht etwa die Zwischenstationen der Linie und jene ganz unten nicht etwa die Ankunftszeit am Flughafen, sondern nur weitere Abfahrtszeiten, die auch möglich gewesen wären. 6:51 Uhr war also nicht die Zeit, zu der ich hätte da sein müssen, sondern die letzte Bahn, die ich hätte nehmen können. Jetzt war es 6:50 Uhr. Mit der Bahn hätte ich 15 Minuten gebraucht, das Taxi schaffte es in der Hälfte der Zeit. Ich war also wieder „in time“, war es eigentlich die ganze Zeit. Zwischen Aufwachen und Ankunft vergingen exakt 48 Minuten. Ein Rekord, würde ich sagen.

Ja, das musste ja passieren…  

4

Ankunft in der Einsamkeit

oder:

Da lieg ich nun in diesem Bett

und fühle mich allein

Der Blick zum Fenster raus, ganz nett

Doch netter wär’s zu zwei’n

Drei Minuten nach neun startete der Flieger. Es ist immer wieder ein komisches Gefühl, in so einer Kiste zu sitzen, angespannt … und aufgeregt wartend, dass das Chaos der Platz suchenden und Gepäck verstauenden Passagiere sich legt, alle sitzen, die Türen geschlossen werden, der Kapitän mehr oder weniger verständlich die Verhaltensregeln im Katastrophenfall durchgibt, die die Flugbegleiterinnen pantomimisch demonstrieren, und das Flugzeug langsam, als sei es nicht das, was es ist, auf die Startbahn rollt, gemütlich fast, wie auf einer Besichtigungstour im Doppeldeckerbus. Aber ein Doppeldeckerbus hat keine Tragflächen, keine furchteinflößenden Turbinen, keine detaillierten Sicherheitshinweise vorab, keine Stewardessen und vor allem keine Flughöhe. 

Die Kiste rollt zunächst gemütlich dahin, als gehöre es dazu, Spannung aufzubauen, den Moment hinauszuzögern, in dem die Angst auf die Spitze getrieben wird, es endlich los geht, aus dem Rollen ein Rasen wird, der Schub dich in den Sitz drückt, das Zittern beginnt. Ob ich jetzt noch aussteigen könnte? Eine der Stewardessen anhalten und sagen: „Hömma, ich hab’s mir anders überlegt, ich nehm’ doch das Auto!“ Das Kribbeln im Bauch sagt auch denen, die keinen Fensterplatz haben, dass wir in diesem Augenblick den Bodenkontakt verlieren, abheben und steigen. Steigen, bis in den potenziell sicheren Tod. Bis du dich allmählich daran gewöhnst, vollends ausgeliefert zu sein, vergeht eine ganze Weile. Wenn jetzt etwas passiert, hat sich’s erledigt. Fliegen ist tatsächlich ein bisschen wie Busfahren. Nur ohne Haltestationen. Es rumpelt und ruckelt wie auf einem schlecht ausgebauten Straßennetz, und wenn du zu lange, zu intensiv darüber nachdenkst, mehrt sich die Angst. Ich bin kein Physiker und kann mir dieses unruhige Gleiten, das eigentlich gar kein Gleiten ist, nicht erklären. Und Dinge, die der Mensch sich nicht erklären kann, machen ihm Angst. Mit jedem Ruckeln, mit jeder Turbulenz schießt mir der Schweiß aus allen Poren, die Muskeln spannen sich an und der Blick geht in Richtung Verpflegungswagen. Nur nicht nüchtern sterben! Wie viel Bier kann man eigentlich trinken, wenn so eine Kiste aus 12.000 Meter Höhe Richtung Boden fällt? Und: Gibt’s hier eigentlich auch Schnaps?Berlin zeigte sich unfreundlich. Grau und schmutzig lag es unter mir, als riefe es mir nach: „Ja, verpiss’ dich ruhig!“ Kann ich verstehen. Berlin ist satt. Eigentlich schon übersatt. Die Hauptstadt ist vollgestopft mit Zuzöglingen. Wäre Berlin ein Organismus, er würde längst jedes hinzukommende Wesen unverdaut ausspucken, es im Strahl nach Brandenburg kotzen. In Brandenburg ist Platz. Brandenburg könnte Menschen vertragen. Und Brandenburg lag nun unter mir wie ein ausgetrockneter Schwamm, als wolle es bestätigen, was ich in diesem Augenblick dachte. Ein seltsamer Gedanke. Meist gehe ich seltsamen Gedanken auf den Grund. Aber nicht selten verdränge ich sie auch, ersetze sie durch anderes, hin und wieder Schönes. Doch anstatt mich in Wälder zu denken oder in die Karibik, mir vorzustellen, dass der Flug nach Havanna und nicht nach Helsinki ging, kam mir der Abschied von meiner Freundin am Leipziger Hauptbahnhof in den Sinn. Der letzte Kuss, umspült von einem kalten, feuchten Wind. Das gescherzte Angebot, doch einfach mitzukommen. Nasse Haare vom kalten Regen. Zittern wegen der Kälte. Und vielleicht war da auch ein bisschen Traurigkeit bei. Wieder blickte ich nach unten, auf Brandenburg. Die Eindrücke mischten sich und der Song Himmelblick der Berliner Band Milliarden war mir plötzlich im Kopf.

Wir fliegen übers Kriegsgebiet / Hören beide Musik / Da unten schwarzer Rauch / Ich bild mir ein du guckst verliebt / Weltmeister im Verdrängen / Auch wenn mal Köpfe hängen / Liebe Grüße aus der Falle / Irgendwie tut’s immer noch nicht weh

Nun waren wir also in der Luft. Die Anspannung ließ auch nach zehn, zwanzig Minuten nicht nach. Keine Ablenkung möglich. Alles fokussierte sich auf die Flughöhe, die Entfernung, die Flugzeit, die auf den Monitoren über den Passagieren angezeigt wurden. Zwei Stunden bis zur Landung. Welche Höhe hatten wir gerade erreicht? Bis hierher lief’s noch ganz gut. Das Zitat aus dem Film „La Hain“ war mir immer im Kopf, wenn ich flog. Bis hierher … lief’s noch ganz gut! Und immer wandelte ich ihn ab: Aber das Wichtigste ist nicht der Flug, sondern die Landung!

Aber der Blick, wenn du die Wolkendecke durchbrichst und dir die Sonne näher ist als sie es je sein kann am Boden, während das wattige Weiß unter dir liegt, entschädigt einiges. Dein ganz persönlicher Sonnenaufgang im Zeitraffer. Erst die dunkelgraue Höhe unter den dichten Wolken. Regen, der auf die Fenster spritzt. Dann das Eintauchen, jenes dunkle Grau, das zu einem Schleier wird. Nebel… Und bald wird es heller. Immer heller wird es, fast ist es ein Gleißen. Und dann ist sie da, die Sonne, rotglühend erst, dann in einem unbeschreiblich intensiven Gelb. Das, was eben noch grau war, liegt nun blütenweiß unter dir, sanft und weich, als könne man sich reinfallen lassen, als würde diese wattige Decke alles abfangen. Von hier aus wirkt es, als könne dir nichts geschehen, wenn du aussteigst und dich einfach fallen lässt. Bis hierher lief’s noch ganz gut...

Über den Wolken … jedes Mal, wenn ich fliege, muss ich diesen unsäglichen Song verdrängen. Nicht, weil ich Reinhard Mey per se nicht abkann, nicht, weil der Song per se schlecht ist. Vielmehr erinnert er mich an meine Schulzeit. Deutsch, Russisch und Sport gehörten damals eindeutig zu meinen Lieblingsfächern. Musik hingegen hasste ich. Wie die Pest hasste ich dieses Fach. Und noch heute frage ich mich, wer um alles in der Welt sich diesen Schwachsinn hat einfallen lassen, Talente zu benoten. Musik- und Kunstunterricht. Eigentlich gut und wichtig. Es schadet nicht, sich musik- und kunsthistorisch auszukennen, herangeführt zu werden an die Kreativität, die mit Sicherheit in jedem Menschen versteckt ist. Aber Zeichnen, Malen, Singen zu benoten, ist schlichtweg eine dämliche Idee. Denn sie führt weg vom Eigentlichen. Die Kreativität wird dir nicht nahegebracht. Du lernst sie zu hassen, wenn du andere Talente hast, wenn du auf Zwang etwas künstlerisches gut machen musst, um gute Noten zu haben. Und dann stellt sich ein Mensch vor dich hin und sagt: „Das ist schlecht!“ Oder er sagt es nicht direkt, sondern durch die Blume der Benotung. Weil er sich Lehrerin nennt oder Lehrer. Weil er Schablonen hat, mit denen er misst, was jetzt gut ist und was schlecht. Und dann verlierst du das Vertrauen in die Kreativität und entwickelst eine Abneigung gegen die Kunst. Und dann ist es aus und vorbei. Wenn nicht irgendwann später durch irgendeinen Zufall doch noch einmal dein Interesse geweckt wird. „Mit Kunst kann ich nix anfangen!“ Wie oft höre ich diesen Satz. Und immer wieder denke ich: Das ist das Resultat des Kunstunterrichts. Jedes Lied, das wir damals singen mussten, macht mir noch heute ein sehr unangenehmes Gefühl. Hoch auf dem gel-ben Wa - ha - gen, sitz ich beim Fah - rer vorn. Vor - wärts die Ro - sse tra - ha – ben, lustig schme - het - tert das Horn. Nix lustig. Das war alles andere als lustig. Das war genauso scheiße wie Üüüber den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…

Zwar begriff ich zu jener Zeit und vielleicht sogar durch den Musikunterricht, dass ich eines Tages auf Bühnen stehen will und werde. Aber ich wusste auch damals schon, dass das keineswegs singend geschehen wird. Natürlich hat jedes Kind in seinem Leben eine Phase, in der es Rockstar, Filmstar oder dergleichen werden will, aber singen konnte ich damals nicht, und auch heute klinge ich, wenn ich singe, eher wie ein alter Schiffsmotor, der kurz vorm Verrecken ist. Das wusste meine Klasse, und wenn es darum ging, die Hausaufgaben zu präsentieren, johlten schon alle und verlangten, den Kruppe zuallererst zu hören. Denn sie wussten, dass dann die Stunde gelaufen war. Ich konnte mir noch nie wirklich Texte merken. Das heißt, in der Grundschule, da ging das noch. In den alljährlichen Weihnachtsmärchen, die wir einstudierten, um sie in Pflegeheimen, vor den Eltern, der ganzen Schule, vor der Patenbrigade zu präsentieren, hatte ich stets die Hauptrolle. Ob König Drosselbart oder Schneeweißchen und Rosenrot. Bei Hänsel und Gretel allerdings hab ich’s dann verkackt. Gerade beim Auftritt vor der gesamten Schule, Schülerinnen und Schüler, Eltern und Geschwister, Lehrkörper … alle waren sie da, die Turnhalle war voll und alle waren begeistert. Bis zu jenem Punkt, als Hänsel in seinem Käfig saß und sein Sprechpart begann … der aber ausblieb. Aus Pappe hatten wir diesen Käfig gebaut und mit Lebkuchen behängt. Echten Lebkuchen! Und die schmeckten so verdammt gut. Und ich hatte Hunger. Also aß ich und registrierte erst gar nicht, dass ich dran war. Die Stille kam mir seltsam vor und die Hortnerin, die gleichsam Regisseurin des Stücks war, zischte energisch meinen Namen. Nun begriff ich, dass ich meinen Satz sagen müsste. Jedoch hatte ich gerade den Mund voll. Zu voll, weil ich mir gleich den ganzen Lebkuchen einverleibt hatte, der nun in meinem Mund aufging wie eine Handvoll Hefeteig. Den musste ich runterkauen. Aber das dauerte. Ich versuchte es mit vollem Mund, aber da war kein Wort zu verstehen. Unruhe entstand im Publikum. Ich schluckte einen Teil des Lebkuchens ungekaut, versuchte es erneut, aber noch immer war kein verständliches Wort zu formulieren. Noch einmal hörte ich sie meinen Namen zischeln und diesmal lag ein aggressiver Grundton in der Flüsterstimme meiner Hortnerin… Sollte ich einfach still sein? So tun, als ob ich schliefe? Hätte ja gut sein können, dass ich wegen des anstrengenden Unterrichtstags und des einsam stillen Wartens in meinem Käfig, bis ich wieder dran war, einfach eingeschlafen wäre. Die ersten Gäste begannen zu kichern. Die kleine Schwester von Gretel, die im wahren Leben Jana hieß und in die ich verdammt verliebt war, startete einen Befreiungsversuch. „Meine Jana!“, rief die Dreijährige, die es nicht mehr aushielt, ihre Schwester in den Klauen der Hexe zu wissen. Weinend rannte sie los und stürzte sich todesmutig der Alten entgegen, die eigentlich Michael hieß. „Meine Jaaaanaaa!“ Das brachte das Publikum zum Lachen, was mir wiederum Zeit verschaffte, den Lebkuchen zu kauen und zu schlucken. Ihn einfach auszuspucken, daran dachte ich nicht. Das kam mir erst in den Sinn, als meine Hortnerin hinterher sagte, dass ich nie wieder eine Hauptrolle bekommen würde. Ehe sie also begonnen hatte, war sie schon wieder vorbei, meine Theaterkarriere.  

Vielleicht war das auch der Bruch. Mein Unterbewusstsein wehrte sich seitdem erfolgreich gegen das Auswendiglernen von Texten. Wenn ich kein Theater mehr spielen darf, lass ich’s ganz sein, mir Texte zu merken. Und so war es eben auch im Musikunterricht. Und weil ich mir weder Texte merken noch singen konnte, machte ich einfach eine Performance aus dem Liedvortrag, schäkerte mit meiner Musiklehrerin, in die ich ebenso verliebt war, wie einige Jahre zuvor in Jana, sprach die Textfetzen, die mir einfielen, auf Sächsisch oder Bayrisch oder im Berliner Dialekt, ließ mir immer wieder helfen, bis schlussendlich die Drei im Klassenbuch stand, die auch weniger ich, als vielmehr die Musiklehrerin verdient hatte, sang sie doch das jeweilige Lied am Ende selbst, was ich nur kommentierte. Ein Riesenspaß für die ganze Klasse. Dabei merkte keiner, dass ich das alles nur aus Verlegenheit tat, dass all das keineswegs ein geplanter und einstudierter Stundenauftritt mit kabarettistischen Zügen war, sondern nur meine Verlegenheit, meine Angst, vor der Klasse zu singen, die ich hinter irgendwelchen blöden Scherzen zu verbergen suchte.     

Deswegen hasse ich noch heute alle Lieder, die wir damals auswendig lernen mussten. Hoch auf dem gelben Wagen, Kein schöner Land, Yellow Submarine und eben Über den Wolken. 

Zwei Stunden später landeten wir sanft in Helsinki. Das also war schon einmal geschafft. Jetzt musste nur noch die Hürde genommen werden, vom Flughafen in Helsinki nach Tikkurilla und von da aus nach Tampere zu kommen, ohne in die falsche Bahn einzusteigen. Wie weit ist eigentlich Kairo von Helsinki entfernt? Aber erstmal, und das war das Wichtigste, eine rauchen. Ich rauche ja beinahe viertelstündlich. Deswegen drehe ich mir meine Zigaretten auch sehr dünn. Einfach, um mich selbst ein bisschen zu verarschen. Gerade wenn ich auf irgendetwas oder irgendwen warten muss, rauche ich wie eine alte Dampflock, unentwegt. Kippe aus, Kippe an. Und seit es keine Raucherinseln auf deutschen Flughäfen mehr gibt, ist Fliegen zu einer doppelten Qual geworden. Warten am Check-in-Schalter – ohne Zigarette. Warten im Boarding-Bereich, ein, zwei, drei Stunden – ohne Zigarette. Warten, dass das Flugzeug abhebt – ohne Zigarette. Warten, dass das Flugzeug landet – ohne Zigarette. Warten im Check-Out-Bereich – ohne Zigarette. Warten aufs Gepäck – ohne Zigarette. Und dann aber: den schnellsten Weg zum erstbesten Ausgang finden. Raucherbereich? Mir doch egal. Kaum die Schwelle nach draußen überschritten, zündete ich mir die Zigarette an, die ich bereits im Flieger gedreht hatte. Um die Finger zu beschäftigen. Um die Kippe schonmal in der Hand zu halten. Um sie im Mundwinkel zu haben. 

Es traf sich gut, dass ich im Tabakladen am Hauptbahnhof Leipzig, wo ich mich vor zwei Tagen noch mit Tabak eingedeckt hatte, ein Gasfeuerzeug geschenkt bekommen hatte. Denn ich hatte bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen Berlin an alles gedacht. Die Schlüsselkette nebst Schlüssel, Ringe und Armbänder vorher schon im Rucksack verstaut. Alles, was ich in meinen Hosentaschen, Jackentaschen, Westentaschen hatte (und ich habe immer sehr viel Gerümpel in meinen Taschen), weggeworfen oder verstaut. Rechner, Tablet, Handys, alles, was offen in die Schalen gelegt werden musste, hatte ich beim Sicherheitscheck in die Schalen gelegt. Nur an das Zippo, das in seiner Tasche an meinem Gürtel hing, hatte ich nicht gedacht. Der freundliche Uniformierte meinte, dass ich mit all meinem Kram nochmal raus gehen könne, um die Watte aus dem Feuerzeug zu entfernen und den Feuerstein, um dann erneut den Check zu absolvieren. Ich verstand den Unterschied nicht. Warum darf ich ein Gasfeuerzeug mit mir führen, ein Zippo jedoch nicht? Die Benzin getränkte Watte, die als Brandbeschleuniger dienen könnte, hätte man locker auch durch andere Dinge ersetzen können. „Ich werd’ ’n Teufel tun!“, sagte ich mit einem Lächeln. „Ich stell mich doch hier nicht nochmal an." Am Ende blieb mir vom 60-Euro-Zippo, das ich mir erst drei Monate vorher gekauft hatte, nur das Gehäuse.

Nach drei Zigaretten und gegen meine Befürchtungen meisterte ich den Weg zur S-Bahn nach Tikkurilla, ohne mich zu verlaufen, ohne in einen falschen Zug einzusteigen. Mehrfach und sehr lange betrachtete ich die Anzeigetafeln, verglich die Zugnummern immer wieder mit denen auf meinem Ticket, saß dreißig Minuten und einen Kaffee später im Zug nach Tampere und raste durch Finnland. Vorbei an kleinen Dörfern, vorbei an Städten, vorbei an schneebedeckten Feldern, über denen die Sonne am blauen Himmel stand und deren Strahlen das Land in ein weißes Glitzern tauchte. Und Wald, immer wieder Wald. Schneeschwere Äste, die sich herabbeugten, als flüsterten sie dem samtenen, weißen Boden alle Geheimnisse dieser Welt zu. Landschaftlich hätte das hier auch Deutschland sein können. Es gab optisch keinen großen Unterschied. Abgesehen vom Schnee, den man in Deutschland nur noch selten sieht. Und schon gar nicht in diesen Mengen wie hier. Nur die Gebäude verrieten ein Anderssein. Neben flachen, meist dreistöckigen Neubaublocks in den Städten fanden sich hier vor allem diese typischen Holzhäuser, hier in Gruppen zu einem Dorf formiert, da immer wieder vereinzelt, in Waldgebieten. Rot, blau oder gelb angestrichen. Allgemein schien Finnland wesentlich dünner besiedelt als Deutschland. Keine riesigen Industriegebiete, keine Ballungszentren, als wäre Einsamkeit eine finnische Verpflichtung.   Und natürlich ließen die Beschriftungen an den Bahnhöfen keinen Zweifel daran, tatsächlich in Finnland zu sein. Doch kaum, dass der Zug hielt und ich anfing, zu lesen, wo wir gerade waren, fuhr er auch schon wieder los. Das lag nicht an den kurzen Haltezeiten, sondern an der Kompliziertheit der schriftlichen Sprache. Lange Worte, vor allem aus Vokalen bestehend, nur der Vollständigkeit wegen von Konsonanten unterbrochen, so schien es, machten das Lesen für Ungeübte wie mich beinahe unmöglich.

In Lempäälä stieg dann Claudia zu, meine Betreuerin vom Deutschen Kulturzentrum Tampere, um mich von hier an zu begleiten. Von nun an kann nichts mehr schief gehen, dachte ich und die Anspannung, die mich bis dahin begleitet hatte, fiel von mir ab. Ich war gespannt, wer dieser Mensch war, den ich bis dahin nur von zwei Telefonaten und einigen Mails her kannte. Eine andere, neue Anspannung mischte sich in die Neugier. Jene typische Anspannung, die immer da ist, wenn du neue Leute kennenlernst, wenn du verabredet bist mit einem dir vollkommen fremden Menschen und nichts über ihn weißt. Nicht wie er aussieht, nicht wie er spricht, nicht wie er drauf ist. Ich musterte die Zusteigenden, die sich gelassen durch den engen Gang zwischen den Sitzreihen pressten, einige auf der Suche nach ihrer Sitznummer, andere lauernd, welche Plätze frei bleiben würden. Auch das erinnerte an Deutschland. Auch hier gab es kaum einen Unterschied. Entweder du buchst deine Fahrt mit Sitzreservierung und bist auf der sicheren Seite, oder du schaust, wo du vorerst sitzen kannst, immer auf Habachtstellung bei der Einfahrt in den nächsten Bahnhof, ob jemand kommen und auf seinen Platz bestehen würde. 

Lempäälä, das klang so klein, eher nach einem Dorf. Offenbar jedoch war der Ort größer als ich dachte, denn eine Menge Menschen stiegen hier zu. Claudia hatte das Ticket gebucht, wusste also, in welchem Wagen, auf welchem Platz sie mich finden würde. Unablässig schoben sich Menschen an mir vorbei. Aber anders als in Deutschland wirkten alle gelassen. Als gäbe es das Wort Stress nicht, als sei Hektik im finnischen Wesen nicht vorhanden. Solche Szenen sind bei uns stets eng mit mürrischen Gesichtern verbunden, so dass das Zusteigen wie ein Kampf wirkt, die Verteidigung des Ichs gegen einen unsichtbaren Feind, gegen den Nächsten, der mir stets Böses will. „Warum gehts hier verdammt nochmal nicht weiter?“ „Wieso steht Ihr Koffer hier mitten auf dem Gang, man kommt ja kaum vorbei!“ (Das „Sie Arschloch“ gerade noch unterdrückt.) „Klaut da etwa irgendwer meinen Sitzplatz?“ Die Menschen hier schienen alle gelassen, freundlich, zuvorkommend. Als sei ich auf der Suche nach einer Partnerin, musterte ich die Gesichter der Frauen, bemüht, freundlich auszusehen. Jede dieser Damen hätte Claudia sein können. Und in jedem dieser weiblichen Gesichter erwartete ich diesen Blick, diese typische Mimik des: „Ach, da isser ja.“ Denn im Gegensatz zu mir, der nicht die geringste Ahnung hatte, wie Claudia aussah, kannte sie mich schon von den Fotos und Videos, die ich ihr geschickt hatte, zusammen mit den Beschreibungen meiner literarischen Programme. Das Schieben ebbte ab. Aus der Schlange der Leute, die meinen Platz passierten, wurde ein vereinzeltes Kleckern und meine Nervosität stieg wieder. Saß ich doch im falschen Zug? Immer wieder sah ich auf das Display meines Handys in Erwartung auf die SMS mit der Frage: „Bin da. Wo bist du?“Der Zug rollte an, alle Zugestiegenen saßen oder waren weiter nach hinten gegangen. Aber der erlösende Ach-da-isser-ja-Blick blieb aus. Wir nahmen Fahrt auf. Ich saß noch immer allein auf meinem Sitz, schaute erneut auf mein Telefon. Keine SMS. Empfang? Hatte ich, volle 5G. Eine Hitzewelle jagte die nächste. Schweiß stand mir auf der Stirn. Hinter mir dieses hydraulische Zischen, wenn jemand den Knopf der Türen betätigt, die die Abteile voneinander trennt. Schritte, langsam, also offensichtlich suchend. Nach einem freien Platz? Oder nach der Platznummer? Zu schüchtern, mich umzudrehen, nachzusehen, ob das nun endlich Claudia war. Eine männliche Stimme, die etwas auf Finnisch sagte, schnell, hart, konsequent, und ich sah, wie alle Passagiere in ihren Taschen und Geldbeuteln kramten. Der Schaffner also. Ticketkontrolle. Wieder der Blick aufs Handy. Keine SMS. Also begann ich, eine Nachricht zu schreiben, „Wo bist Du?“, und nahm sie kaum wahr, die Frau, die da von vorn gekommen sein musste. „Da isser ja“, hörte ich eine Stimme sagen. „Entschuldige, ich hab’s fast nicht geschafft und bin gleich vorn in den ersten Wagen eingestiegen. Musste mich erstmal durchkämpfen.“ Aufatmen. Da stand sie. Eine kleine Frau in einem dicken, schwarzen Mantel, einer braunen Strickmütze, die Hände noch in wollenen Handschuhen versteckt. „Ich bin Claudia, hallo.“