Wenn der Pfau weint - Irina Badavi - E-Book

Wenn der Pfau weint E-Book

Irina Badavi

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Beschreibung

Eine Jesidin in Deutschland – mehr als ein Erfahrungsbericht

»Wenn ich nicht weggehe, sind wir bald tot!« Die Lebensgeschichte der Jesidin Irina handelt von Zwangsheirat, Demütigung, Gewalt und Verfolgung. Mitten in Deutschland war sie den Mechanismen einer kruden Parallelgesellschaft ausgeliefert. Doch die junge Frau wehrt sich und befreit sich aus der ihr aufgezwungenen Ehe mit einem unfassbaren Überlebenswillen, viel Mut und einer Kraft, die aus Wut, Entschlossenheit und der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung erwächst. Auf diesem Weg hatte sie das Glück, in entscheidenden Momenten die richtigen Menschen zu treffen, die ihr geholfen haben. Eine zentrale Frage dieses Buches ist auch, warum sich gerade in unserer liberalen und offenen Gesellschaft immer wieder frauenverachtende Parallelgesellschaften bilden können.

Info:
Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit im nördlichen Irak mit mehreren hunderttausend Angehörigen. Im Zentrum dieses monotheistischen Glaubens steht u.a. Melek Taus, der »Engel Pfau«.

  • - Ein Einblick in die verschlossene Welt der Jesiden
  • - Zwangsheirat, Gewalt, Verfolgung und Befreiung: die erschütternde Geschichte einer starken Frau

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Seitenzahl: 269

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Irina Badavi

mit Angela Kandt

Wenn

der Pfau

weint

Wie ich mich als Jesidin

aus der Gewalt einer

Parallelgesellschaft

in Deutschland

befreien konnte

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Andrea Speer / corbis

ISBN 978-3-641-19848-0V001

www.gtvh.de

Dieses Buch widme ich euch, meinen lieben Kindern.

So frühes Leid hat bei uns allen Spuren hinterlassen,

aber es hat uns auch stark gemacht,

weil wir immer zusammengehalten haben.

Ich bin froh und stolz, eure Mutter zu sein.

Der Engel Pfau im Jesidentum

Der allmächtige Gott schuf aus seinem Licht sieben Engel. Der erste dieser Engel war Tawusi Melek, der Engel Pfau. Er war nicht nur der größte, sondern die Tradition lehrt, dass er neben Gott auch an der Schöpfung beteiligt war. Durch diese außerordentliche Bedeutung wurde er jedoch hochmütig, und Gott verdammte ihn in die Hölle, wo er 7.000 Jahre mit seinen Tränen das Höllenfeuer löschen musste. Erst danach durfte er sich wieder in die Schar der Engel einreihen.

Der Engel Pfau wird von den Jesiden verehrt, da er aus ihrer Sicht für die Sünden der Menschheit gebüßt hat. Dieser Mythos löst bei den Gläubigen eine solche Angst vor der Hölle aus, dass selbst das Aussprechen des Wortes Shaitan (Teufel) als Tabu gilt.

Inhalt

Über dieses Buch

Prolog

1. Georgien

2. Deutschland

3. Zwangsheirat

4. Unterdrückung und Gewalt

5. Widerstand und Befreiung

6. Frauenhaus

7. Prozesse

8. Mein eigenes Leben

Träume

Danke

Über dieses Buch

Als die Jesidin Irina Badavi mir ihre dramatische Geschichte erzählte, horchte ich auf. Es war Spätsommer 2014 und wenige Wochen zuvor waren Tausende von Jesiden im Nordirak durch Truppen des IS ermordet, vertrieben, Frauen verschleppt, vergewaltigt und versklavt worden. Bis dahin war diese Religion in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Ebenso wie die Tatsache, dass seit der offiziellen Anerkennung der Jesiden als bedrohtes Volk in den 90er-Jahren gerade Deutschland zum bevorzugten Ziel jesidischer Flüchtlinge geworden war. Nach Schätzungen leben gegenwärtig 60.000 bis 100.000 Jesiden vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.

Die Jesiden, deren Ursprung nach Persien verortet wird, haben sich in den vergangenen Jahrhunderten als Folge von Flucht und Vertreibung in vielen Ländern des Nahen Ostens niedergelassen: im Irak, in Syrien, im Libanon, in der Türkei, aber auch in Georgien und Armenien. Sie gelten ethnisch überwiegend als Kurden und haben eine eigene, viele tausend Jahre alte, monotheistische Religion. Es gibt Mutmaßungen, dass ursprünglich alle Kurden Jesiden waren und die meisten im Laufe der Jahrhunderte zwangsislamisiert wurden.

Da das Jesidentum keine Buchreligion wie Judentum, Christentum oder Islam ist, existieren Riten, Regeln und Traditionen, die das religiöse und soziale Leben in der Gemeinschaft regeln, nur in mündlicher Überlieferung. Dazu zählt, dass Jesiden ausschließlich innerhalb ihrer Religion und ihrer drei Kasten heiraten dürfen. Frauen müssen jungfräulich in die Ehe gehen, eine Scheidung ist nicht möglich, Männer betrachten Frauen und Mädchen als ihren Besitz. Dieses, aus dem patriarchalisch geprägten Umfeld der Herkunftsländer mitgebrachte Denken und Verhalten führt nicht nur zu Konflikten innerhalb der jesidischen Familien, sondern kollidiert mit den individuellen Freiheiten und Rechten in Deutschland. Um ihre tradierte Lebensweise zu erhalten, ziehen sich viele jesidische Gemeinschaften in Parallelgesellschaften zurück.

Als Irina Badavi und ich entschieden, die Geschichte über ihr Leben und ihre Befreiung aus einer derartigen Parallelgesellschaft zu veröffentlichen, war uns klar, dass wir mit diesen Schilderungen aus einer weitgehend abgeschotteten Welt ein Tabu brechen würden.

Irina Badavi kam im Alter von 15 Jahren mit ihrer Familie aus Georgien nach Deutschland. Mit 16 wurde sie mit einem wesentlich älteren, ihr unbekannten Mann zwangsverheiratet, in den Folgejahren gedemütigt, sozial isoliert, ihrer Rechte beraubt, bedroht, vergewaltigt und immer wieder geschlagen. Innerhalb der jesidischen Gemeinschaft war niemand, der ihr zur Seite stand. Ein Einzelfall? Zahlen belegen, dass überdurchschnittlich viele jesidische Frauen sich hilfesuchend an Frauenhäuser und Behörden wenden. Verzweiflung, Selbstmordversuche, Selbstmorde, sogenannte Ehrenmorde – Irina kennt viele Frauenschicksale aus den jesidischen Gemeinschaften.

Sie möchte mit diesem Buch die jesidische Religion und das jesidische Volk nicht pauschal anklagen, sondern die frauenverachtenden Traditionen, die sie in Georgien erfahren hat und die sich in der jesidischen Parallelgesellschaft in Deutschland erhalten haben. Ihre Geschichte zeigt, was passiert, wenn ein Staat sich nicht um die Integration von geflüchteten Menschen kümmert. Sie zeigt zugleich, welche Schwierigkeiten Menschen aus traditionellen patriarchalischen Verhältnissen und autoritären politischen Systemen haben, wenn sie in der freien westlichen Welt Fuß fassen möchten, ohne die eigene Identität aufzugeben. Darüber hinaus macht sie deutlich, was für eine Integration notwendig und unverzichtbar ist.

Das Buch ist ein Plädoyer, sich ernsthaft und ohne Tabuisierung und falsch verstandene Toleranz mit dem Thema Integration auseinanderzusetzen und offene Fragen zu diskutieren: Wie können sich andere Kulturen in unsere Gesellschaft eingliedern? Wie sind ihre religiösen Traditionen mit den Werten der Demokratie und mit dem Grundgesetz zu vereinbaren? Das Grundgesetz sichert allen Glaubensrichtungen, so auch den Jesiden, freie Religionsausübung zu, verpflichtet sie aber auch zur Anerkennung der Menschenwürde und gleicher Rechte für Männer wie Frauen.

Irina Badavi möchte mit ihrer dramatischen Geschichte Frauen in ähnlicher Lage Mut machen, sich zu wehren und zu befreien. Sie hat selber erfahren, dass dies möglich ist.

Um Irina, die noch bedroht wird, ihre Kinder, ihre Freunde und alle in diesem Buch erwähnten Wegbegleiter zu schützen, haben wir sämtliche Namen geändert.

Angela Kandt

Sommer 2016

Prolog

»Wie bitte? Was möchten Sie?« Der Mitarbeiter in der Ausländerbehörde starrt mich an, als ob ich um etwas Ungeheuerliches gebeten hätte. Und ich rufe dieses Ungeheuerliche erneut über den Schreibtisch. »Ja, ich will die Abschiebung!«

Der Mann mit dem schütteren blonden Haar nimmt seine Brille ab, mustert mich verdutzt. »Wissen Sie«, sagt er dann langsam, »normalerweise kommen Menschen zu mir und bitten mich, bleiben zu dürfen ...« Er schüttelt den Kopf. »Hier wird niemand so einfach abgeschoben.«

Meine Beine beginnen zu zittern in dieser Endstation Hoffnung. Halt suchend umklammere ich die kleinen Hände meiner beiden Kinder. Ich schaue erst Sophia an, dann Lukas, sehe ihre ängstlichen Augen, spüre, wie sie sich ganz nah an meinen langen schwarzen Rock schmiegen. »Aber ich muss weg, weg aus Deutschland!« Nur noch stammeln kann ich diese Worte, während mühsam zurückgehaltene Tränen über meine heißen Wangen laufen.

Der Beamte schaut auf die Tischplatte, räuspert sich kurz und fragt schließlich mit gedämpfter Stimme: »Aber was ist denn passiert?«

»Wenn ich nicht weggehe, sind wir bald tot!«, schluchze ich heraus und will eigentlich schreien: Bitte, bitte rettet uns!

Der Beamte schaut mich mit aufgerissenen Augen an. »Gut«, sagt er nach einer Weile, setzt seine Brille wieder auf und greift zum Telefonhörer. Mein Deutsch ist nicht besonders gut und ich verstehe nicht so recht, wen er anruft und was da vor sich geht. Aber innerhalb weniger Minuten betreten ein Mann und eine Frau das Büro. Sie stellen sich als Mitarbeiter des Jugendamtes und als Frauenbeauftragte vor. Als wir schließlich eng zusammengerückt an einem kleinen Tisch sitzen, fordert mich die Frauenbeauftragte auf: »Jetzt erzählen Sie einmal!«

In holperigem Deutsch beginne ich zu sprechen, suche mit all den Worten, die ich kenne, nach so viel mehr Dingen, die ich erzählen möchte. Anfangs geht das mühselig, aber nach wenigen Minuten sprudelt es aus mir hervor. Ich vergesse jede Grammatik, aber das ist mir egal. Und ich erzähle alles.

Jahrelang verschwiegene Ereignisse stürzen mir über die Lippen, bis der Wasserfall meiner Worte irgendwann zu einem Rinnsal verebbt. »Bitte, bitte, nicht zurück zu meinem Mann.«

Erschöpft, leer und müde sitze ich zusammengesunken wie ein schlaffer Ball, aus dem jegliche Luft entwichen ist, auf meinem Stuhl. Noch nie habe ich so viele Sätze hintereinander gesprochen, noch nie hat mir jemand so lange zugehört, ohne mich zu unterbrechen.

Diese fremden Menschen neben mir am Tisch starren mich an, meine Kinder starren mich an. Niemand sagt etwas, bis nach einem langen Moment bleierner Stille ein »So« aus dem Behördenmitarbeiter hervorbricht.

»Natürlich werden Sie nicht abgeschoben, aber Sie müssen auch nicht zurück in diese Familie. Wir können Sie in ein Frauenhaus bringen. Das ist ein Schutzhaus für Frauen, wo Sie zunächst mit Ihren Kindern unterkommen können.« »Ja, da will ich hin«, sage ich hastig, ohne lange zu überlegen und denke: Hauptsache weg.

Mittlerweile hat sich eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle neben mich gesetzt. Sie erklärt mir etwas von Gesetzen, Verordnungen und Möglichkeiten für mich und die Kinder. So viele Worte, die ich noch nie gehört habe. Ich verstehe kaum die Zusammenhänge. Es wird viel telefoniert. Aus den Worten höre ich heraus, dass es schwierig ist, so schnell einen Platz in einem Frauenhaus zu finden. Panik kriecht mir in den Nacken. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Wie weggeblasen ist der kleine Hauch Hoffnung, und ich höre mich schreien: »Ich kann vielleicht morgen überleben, aber übermorgen nicht mehr – wir werden alle drei sterben!«

Es wird weiter telefoniert und mich umschwirren Satzfetzen. Ein Frauenhaus in Süddeutschland kann uns aufnehmen, aber erst am Montag. Heute ist Donnerstag. Bis dahin kann ich in ein Frauenhaus nicht weit weg von hier. So nah am bisherigen Wohnort sei das zwar nicht ideal, aber nur über das Wochenende würde es gehen. Mir ist alles gleich. Ich will nur weg, weg aus dieser Familie, weg von diesem Mann, weg von diesen Schlägen, weg von diesem Hass.

»Alles klar«, sagt schließlich der Mann von der Behörde, »Aus dem Frauenhaus kann Sie leider niemand abholen – aber wir organisieren den Transport.«

Er lächelt mir aufmunternd zu: »Was Sie schaffen müssen, ist morgen sicher und heil aus dem Haus zu kommen und möglichst alle Papiere mitzubringen. Ist das möglich?« Ich nicke stumm.

Erschöpft, aber mit festen Schritten gehe ich mit meinen Kindern nach Hause. Erst jetzt fällt mir auf, dass Sophia und Lukas die ganze Zeit keinen Ton gesagt haben.

1.

Georgien

Es war einer der ersten warmen Sommertage in Tiflis. Die einfallende Sonne tauchte den Krankenhaussaal in helles freundliches Licht, und die vor dem Fenster im leichten Wind sich sanft wiegenden Sträucher warfen weiche Schatten an die gekalkten Wände. In einem der zwanzig Betten lag eine schöne Frau, fast noch ein Mädchen. Langes schwarzes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht, das so weiß war wie das Kissen unter ihrem Kopf. Ihre müden braunen Augen schienen sich zunächst an dem strahlendblauen Himmel hinter der Fensterscheibe zu freuen und glitten dann zögernd weiter zu dem kleinen Bündel neben sich. Still lag es da, und hätte das dicht gewickelte weiße Tuch nicht ein winziges Gesicht frei gelassen, hätte man nicht für möglich gehalten, dass ein Mensch in diesem Bündel eingewickelt war. Nach vier Tagen Wehen hatte die junge Frau das kleine Wesen in die Welt gepresst, und niemand war da. Niemand, der sie und ihr Neugeborenes anschauen mochte. Niemand, der diesen Fehler sehen wollte: Es war ein Mädchen.

Das Mädchen war ich.

Als zweite Tochter war ich eine Enttäuschung, eine Pein für meinen Vater. Einer, der auch als zweites Kind eine Tochter bekommen hatte, konnte ja wohl nicht Manns genug sein! Und eine Mutter, die selbst bei der zweiten Geburt keinen Stammhalter hervorbrachte, hatte versagt. So dachte man 1980 in meiner Familie in Georgien. Und so begann mein Leben neben einer enttäuschten Mutter als Bündel, das niemand haben wollte.

Mein Vater war damals 18, meine Mutter 17 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor hatten die beiden geheiratet. Es war eine arrangierte Ehe und Liebe nicht einmal ein Wort. Schließlich geht es bei den traditionellen Kurden jesidischen Glaubens immer nur um eines: den Fortbestand der Familien und der Kasten. Dies hat zur Folge, dass Jesiden ausschließlich untereinander heiraten dürfen und nur innerhalb ihrer drei Kasten.

Bei der Wahl der Ehepartner wird geklärt, ob die Kaste passt, ob das Alter passt und wo die beiden wohnen sollen. Offiziell heißt es zwar, dass beide Partner zustimmen müssen, aber in Wahrheit treffen oft allein die Väter die Entscheidung. So war es in unserem Clan üblich. Vielleicht, weil wir zur Kaste der Pire gehören. Die Pire bilden neben der Kaste der Scheichs die religiöse Führung innerhalb des jesidischen Kastensystems. Während die meisten Jesiden zur dritten, der untersten Kaste der Murid, gehören, gibt es nur relativ wenige Familien von Scheichs und Pire. Deshalb war die Auswahl in der Regel umso kleiner und der Druck, jemanden zu finden, umso höher. Vor diesem Hintergrund hatte es meine Mutter völlig normal gefunden, ohne ihre Zustimmung verheiratet zu werden. »Das war eben so – und ich wäre nie auf die Idee gekommen, den Willen meines Vaters infrage zu stellen«, hat sie mir später immer erzählt.

Ein Jahr nach der Hochzeit kam meine Schwester Lena zur Welt und jetzt eben ich, Irina. Das war zumindest der Name, den mein Vater damals in der Geburtsurkunde hat eintragen lassen. Georgien erlaubte nur russische oder nordisch klingende Namen – orientalische waren verboten. Diesem Gesetz beugten sich auch die Jesiden – zumindest nach außen. Zu Hause und in der ganzen Sippe hieß ich Djamila.

Wir wohnten damals in einem Plattenbau am Rande von Tiflis. Wir, das war die gesamte Großfamilie: meine Großeltern, mein Vater und seine drei Brüder mit ihren Ehefrauen und Kindern. Wir waren eine eingewanderte Flüchtlingsfamilie aus der Türkei.

***

In unserer Familie wurde erzählt, dass wir ursprünglich aus Syrien stammten, aber bereits Jahrzehnte in der osttürkischen Region von Kars gelebt hatten, ehe dort Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts die »Fermana Türkiye«, die Verfolgung, begann. Offiziell lebten Armenier und Jesiden hier zwar frei, fühlten sich aber zunehmend schikaniert. Türken kamen in das Dorf. Die Ernte wurde zerstört, Jesiden wurden zur Armee eingezogen und dort »zufällig« erschossen. Es gab auch im Dorf Schießereien, Männer wurden verschleppt, einige fand man später tot im Dorfbrunnen. Die Türken behaupteten, dass sie dort einfach hineingefallen seien, doch die Jesiden wussten es besser. Sie fühlten sich zunehmend nicht nur als Kurden, sondern darüber hinaus mit ihrem jesidischen Glauben verfolgt. Muslimische Türken beschimpften sie als »Teufelsanbeter«.

Ein Vorwurf, der sich hartnäckig bis heute hält, aber doch nur ein Missverständnis ist. Die Jesiden glauben wie andere monotheistische Religionen an den einen Gott. Um ihn herum sind sieben Engel versammelt. Der erste dieser Engel ist der Tawusi Melek, der Engel Pfau. Er war nach dem jesidischen Mythos mit Gott an der Schöpfung beteiligt, wurde jedoch durch diese Stellung allzu hochmütig. Zur Strafe verdammte ihn Gott in die Hölle, wo er 7.000 Jahre mit seinen Tränen das Höllenfeuer löschen musste. Danach war er rehabilitiert und durfte sich wieder in die Schar der sieben Engel einreihen.

Seiher wird er von den Jesiden verehrt als der Engel, der für die Sünden der Menschen gebüßt hat. Dieser Mythos löst bei den gläubigen Jesiden so große Furcht vor dem Abfall in die Hölle aus, dass selbst das Wort »Shaitan« für Teufel nur auszusprechen, als Tabu gilt. Die meisten von ihnen haben große Angst vor dem Teufel und würden z. B. niemals Kopfsalat essen. Sie glauben, dass dort tief drinnen der Teufel wohnt.

Als die Übergriffe und Feindseligkeiten in dem kleinen Bauerndorf nicht aufhörten und sich zu der Todesangst die Furcht vor einer erzwungenen Islamisierung gesellte, entschieden mein Großvater und seine Brüder wegzugehen. Sie gaben damals dem Drängen meines Urgroßvaters nach.

»Ihr müsst gehen und dafür sorgen, dass unsere Familien und unser Volk weiterleben«, hatte er sie gemahnt. »Es ist egal, wie lange ihr unterwegs seid. Aber es ist nicht egal, ob ihr von muslimischer Hand getötet werdet! Das Leben von uns Alten ist nicht mehr so wichtig.« Er würde sich in Zukunft allein um die Felder, die kleine Ziegenherde, die Schafe und die Rinder kümmern.

Es war Spätherbst und nachts bereits sehr kalt. Die Flüchtenden mussten sich daher beeilen, um noch vor dem ersten Schnee das nahe Gebirge Richtung Osten zu überqueren. Mein Großvater war wie seine Brüder Analphabet, hatte nie eine Schule besucht und keine Ahnung von Geografie, aber mein Urgroßvater hatte ihnen erzählt, dass dort hinter dem Gebirge das Land Armenien sei. »Dort seid ihr sicher.«

Das wusste der Urgroßvater, weil bis zum Genozid an den Armeniern während des ersten Weltkrieges auch in diesem osttürkischen Dorf Armenier gelebt hatten. Anfänglich hatten jesidische Nachbarn ihnen noch geholfen, sich zu verstecken, doch dann wurde es für alle immer lebensbedrohlicher, und die Armenier flohen über die Berge. Seither gab es zwar keine Armenier mehr im Dorf, aber eine alte Verbundenheit, und einige der alten Dorfbewohner sprachen sogar noch ein bisschen Armenisch. Einer von ihnen konnte sogar schreiben und malte meinem Vater mit großen Lettern auf einen weißen Zettel den armenischen Satz »Ich bin Flüchtling«. Er gab ihnen den Rat: »Sobald ihr nach dem Überqueren der Berge in das erste Dorf kommt, geht ihr zum Bürgermeister und legt ihm diesen Zettel vor. Dann wird man euch weiterhelfen.«

Sorgfältig packte mein Großvater das zusammengefaltete Papier in die Innentasche seiner weiten Jacke. Dort lag bereits Gold- und Silberschmuck, den ihm mein Urgroßvater aus dem kleinen Familienvermögen mitgegeben hatte. Gold und Silber waren in unserer Kultur immer die eiserne Reserve, die man nur antastete, wenn es um absolute Notfälle ging. Und diese Flucht war ein solcher Notfall.

Im Schutz der Dunkelheit machten sie sich schließlich auf den Weg. Mein Großvater mit seinen drei Brüdern, den Ehefrauen und den Kindern. Ein kleiner Treck von zwanzig Menschen schlich leise davon aus diesem Dorf, das sie noch nie zuvor verlassen hatten. Mein Vater war damals zweieinhalb Jahre alt und wurde von seiner Mutter im Tuch auf dem Rücken getragen. Die älteren Kinder mussten selber laufen.

Sie hatten Brot eingepackt, mit Reis gefüllte Weinblätter, weißen Käse, ein paar Kanister Wasser. Mehr nicht. Ein kalter Wind kam von den Bergen herüber, doch es gab keinen Regen und auch noch keinen Schnee. Gottseidank. Sie hörten das Plätschern des nahen Flusses. Das war eine gute Orientierung in der Dunkelheit. Über eine kleine Holzbrücke stapften sie im Gänsemarsch auf die andere Seite. Dort hob sich das Gebirge schroff in einen sternenklaren Himmel wie eine dunkle Wand. Der Aufstieg war schwierig. Sie trugen nur einfache Sandalen, und die Wege waren nicht nur schmal, sondern sehr steinig, uneben und steil.

Am dritten Tag passierte das erste Unglück. Sie machten eine kleine Pause, um etwas zu essen und zu trinken. Einige legten sich kurz hin, um zu verschnaufen. Nach einer Stunde rafften sie alles wieder zusammen und gingen weiter. Plötzlich schrie die Schwägerin meines Großvaters:

»Aziz – wo ist mein Mann? Wo ist Aziz?«

Aziz war einer der Brüder meines Großvaters und damals 25 Jahre alt. Alle standen wie erstarrt. Dann suchten die Männer die Umgebung ab. Es gab ziemlich viel unwegsames Gestrüpp, tiefe Abgründe jenseits des Ziegenpfades, über den sie zum Berg hinaufstiegen. Irgendwann gaben sie die Suche auf. Er wurde nicht gefunden, aber man vermutete, dass er irgendwo abgerutscht war, vielleicht schon während der Rast, als er hinter einem Felsen sein Geschäft erledigte. Sie entschieden weiterzuziehen. Fatme, seine Frau, war untröstlich, und aus dem Flüchtlingstreck wurde ein Trauerzug.

Am nächsten Tag geschah das zweite Unglück. Fatme wand sich plötzlich vor Schmerzen, fasste sich in den Bauch, setzte sich hin – und ein Fluss aus Blut strömte ihr aus dem Unterlieb. Sie hatte eine Fehlgeburt. Das war für die Landfrauen damals keine Seltenheit. Fehlgeburten gehörten für sie zum Leben wie Geburten, weil sie überhaupt keine Schonung kannten. Oft wussten sie erst, dass sie überhaupt schwanger waren, wenn der Bauch anfing zu wachsen.

So hatte auch Fatme keine Ahnung, dass sie schwanger gewesen war. Der kleine Flüchtlingstreck gönnte der Frau einen Tag Erholung, dann drängten die Männer zur Weiterreise. Sie hatten nicht mehr so viel Proviant und fürchteten den einbrechenden Winter mit seinen Schneefällen.

Nach zehn Tagen erreichten sie das kleine Bauerndorf, von dem mein Urgroßvater gesprochen hatte. Es hieß Schamiran. Sie gingen gleich zum Bürgermeister, und mein Großvater holte das weiße Papier hervor.

Der Bürgermeister schaute diese müden Menschen vor sich an, schüttelte dann bedauernd den Kopf.

»Hier könnt ihr leider schlecht bleiben. Es gibt keine Arbeit, und wir können euch kein Ackerland verkaufen. Die Menschen haben gerade genug, um selber über die Runden zu kommen.«

Er gab meinem Großvater den Rat, weiterzuziehen in die Hauptstadt Yerevan und anschließend noch weiter in den Norden nach Georgien. Georgien war damals eine aufstrebende Sowjetrepublik. In der Hauptstadt Tiflis würden sehr viele Häuser und Straßen gebaut. Dort gäbe es auf jeden Fall Arbeit, und Flüchtlinge würden gern aufgenommen.

Zunächst enttäuscht, wussten sich mein Großvater und seine Brüder keinen anderen Rat, als dem Hinweis des Bürgermeisters zu folgen. Weil sie jedoch ziemlich müde und erschöpft von dem Bergstieg waren, aber so schnell wie möglich weiter wollten, organisierte mein Großvater für den nächsten Tag Pferdekutschen. Gegen ein bisschen Gold und Silber brachten zwei Männer aus dem Dorf den gesamten Treck nach Yerevan. Einen Tag waren sie unterwegs.

Am Rande von Yerevan ließen sie sich absetzen, übernachteten auf einer Wiese unter freiem Himmel, wie sie es schon die ganze Zeit gewohnt waren. Am nächsten Tag machten sie sich wieder zu Fuß auf den Weg. Die Frauen trugen die Kinder auf dem Arm, die etwas größeren hielten sie an der Hand. Die Männer trugen den Proviant für den Tag. Mehr hatten sie nicht. So liefen sie von einem Dorf zum anderen, ließen sich immer wieder den Weg erklären, kauften den Bauern gegen etwas Silber etwas zu essen und zu trinken ab, schliefen im Freien, passierten irgendwann die grüne Grenze nach Georgien und erreichten nach zwölf Tagen Tiflis.

Froh, endlich anzukommen, waren sie geschockt von dem, was sie sahen. Niemals zuvor hatten sie eine so große Stadt gesehen. Sie erschraken vor den Hochhäusern, vor den Autos, sie hielten sich die Ohren zu wegen des Lärms in den breiten Straßen. Mein Großvater hat mir später erzählt, dass er am liebsten sofort zurückgekehrt wäre. Doch weil sie alle entsetzlich müde und erschöpft waren, hat er seinen kleinen Treck zunächst, wie man ihnen unterwegs geraten hatte, zur nächsten Polizeistation gebracht. Dort wurden sie registriert und anschließend in ein Lager gebracht.

Nach drei Wochen, die sie zum größten Teil zu Fuß zurückgelegt hatten, nach all diesen kalten Nächten unter freiem Himmel schliefen sie zum ersten Mal wieder unter einem schützenden Dach. Man versorgte sie mit Brot, Wasser und gab ihnen Essensgutscheine. Während einige aus der Sippe gleich weiter nach Kanada und in die Schweiz ziehen wollten, weil man ihnen erzählt hatte, dass es dort bereits jesidische Gemeinschaften geben würde, entschied mein Großvater mit seiner Familie, seiner Frau und den vier Kindern, in Tiflis zu bleiben.

Ihm gefielen die Konditionen. Der zur kommunistischen Sowjetunion gehörende junge Staat Georgien stellte meinem Großvater eine Wohnung in einem Plattenbau am Rande der Stadt zur Verfügung: zwei Zimmer, Küche. Im Hausflur gab es ein Gemeinschaftsbad und eine Gemeinschaftstoilette, die sich mehrere Familien teilen mussten. Das alles war kostenlos. Nur den Lebensunterhalt sollten sie allein bestreiten.

Mein Großvater, der bis dahin als Bauer sein eigenes Land bewirtschaftet und damit für sich und seine Familie ein einfaches Leben ermöglicht hatte, wurde innerhalb von wenigen Wochen ein einfacher Lohnarbeiter im Straßenbau. Dieses Schicksal teilte er damals in Georgien mit den meisten Einwanderern ohne jegliche Schulbildung. Als mein Großvater fast dreißig Jahre später, Anfang der neunziger Jahre, starb, sagte meine Großmutter, es sei gut, dass er gestorben sei. »Er war immer so traurig und hat die Flucht aus dem Dorf und den Verlust des eigenen Landes niemals wirklich überwunden. An das laute Leben der Großstadt konnte er sich nie gewöhnen.«

Es war nicht nur das laute Leben, es war auch die andere Kultur, die andere Sprache, es war die völlige Fremde. Die Amtssprache Russisch lernten meine Großeltern wie auch die anderen jesidischen Einwanderer, die in den sechziger Jahren nach Georgien kamen, sehr schnell. Zugleich wuchs jedoch ihre Angst, die eigene Sprache, das nordkurdische Kurmandschi, zu verlernen und die Religion, die Traditionen zu verlieren. Im November gab es eine neuntägige Fastenzeit, im April das Neujahrsfest. Aber wann waren die genauen Termine? In ihrem Dorf in der Türkei hatten sie sich immer nach der Sonne, nach Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, gerichtet.

Sie fragten sich, wie verheiraten wir die Kinder? Wer kümmert sich um die Beerdigungsrituale? Wer soll das Taufritual durchführen und dem Neugeborenen nach neun Monaten eine Locke abschneiden?

Einige religiöse Handlungen konnten auch Mitglieder der Pire durchführen, aber für die meisten brauchte man einen Scheich. Weil sich jedoch unter den Einwanderern niemand aus dieser Kaste befand, beschloss mein Großvater gemeinsam mit Männern aus anderen Clans in Georgien nach Armenien zu reisen. Sie hatten gehört, dass es dort in einigen Dörfern genügend jesidische Scheichs gäbe. Tatsächlich endete ihre Suche erfolgreich, und sie konnten eine Scheichfamilie überreden, nach Tiflis umzuziehen.

Für die Jesiden war das Leben in der Diaspora damit wieder in Ordnung. Und weil die Männer der Clans nach den Verfolgungen in der Türkei sowieso beschlossen hatten, in Abgrenzung zu den Moslems die Beschneidung für Männer und das Kopftuch für Frauen abzuschaffen, war es für sie kein Problem, vor allem das Kopftuchverbot in Georgien zu akzeptieren.

Weil der Staat Georgien sich darüber hinaus nicht in die religiöse traditionelle Praxis einmischte, pflegte meine Familie in ihrem privaten Leben das überlieferte gesellschaftliche Ordnungssystem mit den Kasten. Sie pflegte ihre sittlichen Traditionen und sah ihre Religion weiterhin als einzig gültige Anleitung zur rechten Lebensführung mit all ihren Geboten und Verboten wie einst in ihrem türkischen Dorf. Mit der modernen georgisch-kommunistischen Gesellschaft gab es so gut wie keine Berührungspunkte.

***

Als ich 1980 in diese traditionelle Familie hineingeboren wurde, war aus der Kleinfamilie meiner Großeltern längst eine Großfamilie geworden. Wie die meisten Jesiden damals in Tiflis lebte auch meine Sippe mit ihren einzelnen Familien nah beieinander. Wie einst in ihrem Dorf. Da die Zwei-Zimmerwohnung für die Großeltern und die erwachsenen mittlerweile verheirateten Söhne zu klein geworden war, hatte der Staat ihnen eine Fünf-Zimmer-Wohnung zugewiesen. Wieder kostenlos. Meine Großeltern und die vier Söhne mit ihren Familien hatten jeweils ein Zimmer. Alle zusammen teilten sich ein Bad und eine große Küche.

Während die Männer das Geld im Straßenbau und in einer Brotfabrik verdienten, kümmerten sich die Frauen um die Hausarbeit. Hausarbeit, das hieß damals sehr viel mehr, als wir heute darunter verstehen. Neben Einkaufen, Putzen und Kochen stellten die Frauen viele Dinge selber her: Sie nähten fast die gesamte Kleidung, Decken und Matratzen, sie bestickten Tischdecken und Kissen. Wenn die Männer abends von der Arbeit nach Hause kamen, musste das Essen auf dem Tisch dampfen.

Das Leben in meiner jesidischen Großfamilie lief nach festen Regeln ab und das Regiment führte meine Großmutter. Sie war die Chefin des Hauses. Bei ihr mussten die Söhne das verdiente Geld abliefern. Sie entschied, wofür es ausgegeben wurde. Die jungen Ehefrauen hatten in diesem System nichts zu sagen.

Für meine Mutter war es nach meiner Geburt besonders schwierig. Mein Vater als ältester Sohn der Familie würde nach dem Tod meines Großvaters die Führung des Clans übernehmen und darüber hinaus das Heiligste eines Piren-Clans bewahren: die Schale aus Gold, prächtig bemalt mit einem blauen Pfau. Darin war das heilige Wasser aus Lalisch. Das ist der Ort im Osten des Irak, wo sich seit dem 12. Jahrhundert das Grab von Scheich Adi befindet. Er gilt als wichtigster Heiliger und Erneuerer der Jesiden.

Jede Sippe innerhalb der Kasten der Scheichs und der Pire hat eine derartige Schale, und sie wird stets an den ältesten Sohn weitervererbt. Die Schale hat einen Deckel, und niemals hätte jemand aus unserer Familie gewagt, diesen abzunehmen um nachzuschauen, was da wirklich drin war. Sie wurde in der Wohnung unter einem Stapel von sieben Bettdecken aufbewahrt. Zwischen den einzelnen Decken lagen jeweils andersfarbige Tücher und über allem eine große bunte Decke. Das Ganze stellt für die Jesiden den heiligsten Ort der Wohnung dar. Wann immer man in der Wohnung an ihm vorbeikommt, hat man sich kurz zu verbeugen. Das galt auch für unsere Besucher.

Für meinen Vater war es also vorbestimmt, diese Schale irgendwann an seinen ältesten Sohn zu vererben. Wenn er keinen Sohn bekommen würde, bekäme sein jüngerer Bruder mit seinem Sohn die Schale. Für meinen Vater wäre dieser Fall eine unerträgliche Demütigung gewesen.

Seit ich als zweites Mädchen auf die Welt gekommen war, hing diese Demütigung wie eine schwarze Wolke über meinem Vater und entlud sich im Zorn gegen meine Mutter. Er begann, sie immer häufiger anzuschreien. Meine Mutter, die selber aus einer sehr traditionellen Familie kam und wie die anderen meist ungebildeten Jesiden in Georgien nicht wusste, dass das Geschlecht eines Neugeborenem dem Zufall zu verdanken war, schämte sich entsetzlich.

»Ich fühlte mich komplett wertlos – was hätte ich tun sollen?«, sagte sie mir später.

Als sie Babysachen für mich und nach der Schwangerschaft für sich neue passende Kleider brauchte, fragte sie meinen Vater um etwas Geld. Er schaute sie an, sagte keinen Ton. Stattdessen wandte er sich um und ging in das Zimmer nebenan zur Großmutter, um ihr zu erzählen, was meine Mutter gerade erbeten hatte.

»Ach, deine Frau bekommt bloß eine Tochter und beschwert sich auch noch, dass sie Kleider braucht? Und du tust nichts dagegen?«, ereiferte sich meine Großmutter.

Daraufhin schlug mein Vater meiner Mutter ins Gesicht. Immer wieder. So sehr, dass ihr Geschrei überall in der großen Wohnung und darüber hinaus zu hören war. Später sagte meine Mutter, dass diese ersten Schläge noch richtig wehgetan hatten. Nach diesem Tag wurde die Gewalt meines Vaters gegenüber meiner Mutter zur Normalität. Und die Schläge kamen noch häufiger, nachdem meine Mutter drei Jahre später Marina, meine zweite Schwester, zur Welt gebracht hatte.

Niemand interessierte sich für dieses Neugeborene, das da eingewickelt auf der Matratze lag. Wieder ein Bündel, das ab und zu von meiner Mutter gestillt wurde. Mehr nicht. Mein Vater war als ältester Sohn mit drei Töchtern sozial gedemütigt, und die Weitergabe der Schale rückte in noch weitere Ferne. Meine Mutter, die sich kurz zuvor noch erfolglos bei ihren Eltern über ihren prügelnden Ehemann beschwert hatte, wagte jetzt überhaupt keinen Ton des Klagens oder Bittens mehr. Sie war in der familiären Hierarchie ganz unten angekommen und wir Töchter mit ihr.

Einmal, ich war fünf Jahre alt, stritt ich mit Lena, meiner zwei Jahre älteren Schwester. Das war wohl ziemlich laut, und meine Mutter kam aus der Küche zu uns ins Zimmer gelaufen.

»Streitet nicht, man redet freundlich miteinander!«

Ich starrte sie an und verstand überhaupt nicht, was sie meinte. In den hellhörigen Räumen des Plattenbaus kannte ich nur lautes Anschreien und das Klatschen von Schlägen. Dass Erwachsene untereinander und mit Kindern freundlich reden und sogar lachen, erlebte ich das erste Mal einige Zeit später.

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Ich war gerade sechs Jahre alt geworden. Geburtstage wurden in unserer Sippe zwar nicht besonders gewürdigt oder gefeiert, aber ich wusste durch meine zwei Jahre ältere Schwester, dass dies eine magische Zahl war. So magisch, dass sie mir Zugang zu einer anderen Welt verschaffen würde, einer Welt, die ich mir gar nicht vorstellen konnte. Diese andere Welt hatte den Namen Schule.

Bis dahin hatte ich mitten im sowjetischen Georgien ausschließlich in der jesidischen Gemeinschaft gelebt. Wenn wir Kinder das Haus verließen, dann nur zusammen mit der Familie. Manchmal besuchten wir mittwochs, das ist der jesidische wöchentliche Feiertag, Verwandte in Tiflis. Im Sommer fuhren wir hin und wieder mit dem großen russischen Auto, das sich mein Vater gekauft hatte, aufs Land, um bei Verwandten, die als Bauern in einem kleinen Dorf lebten, einzukaufen: Obst und Gemüse zum Einkochen für den Winter, außerdem zumindest einmal im Jahr eine ganze Kuh. Diese wurde noch im Dorf geschlachtet, zerlegt, und zu Hause wurde das Fleisch in einer riesigen Kühltruhe eingefroren.

Kontakte zu Menschen außerhalb unserer jesidischen Gemeinschaft waren uns verboten. Als ich einmal wagte zu fragen, ob ich auf den Spielplatz unten am Haus gehen dürfte, warf mir meine Großmutter einen strengen Blick zu: »Das geht nicht. Wir Jesiden müssen uns isolieren, das ist besser für uns. Lass deshalb auch niemals Georgier oder Russen ins Haus, die gehören nicht zu uns!«