Wenn der Spiegel Zerbricht - Jan Coffey - E-Book

Wenn der Spiegel Zerbricht E-Book

Jan Coffey

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Beschreibung

Zwei Frauen, verbunden durch das Schicksal, in einer Stadt, in der Osten und Westen aufeinandertreffen. Eine Geschichte von Verlust, Hoffnung und Erlösung. Christina Hall, die nach einer persönlichen Tragödie trauert, verlässt Kalifornien in Richtung Istanbul, in der Hoffnung, dass die exotischen Sehenswürdigkeiten, Geräusche und Gerüche der antiken Stadt ihr bei der Heilung helfen werden. Doch als sie von einer jungen Kurdin verfolgt und von einem Fahrer bedroht wird, der alles über ihre Familie und ihr Leben zu wissen scheint, muss sie alte Ungerechtigkeiten wiedergutmachen, indem sie die Familiengeheimnisse lüftet, bevor es erneut zu einer Tragödie kommt. Zari Rahman floh vor den Bomben und der chemischen Kriegsführung aus dem  krisengebeutelten  Kurdistan, um Sicherheit und ein neues Leben für ihre neugeborene Tochter zu finden. In Istanbul, obdachlos und verzweifelt, erfährt sie eine unerwartete Freundlichkeit, die jedoch einen hohen Preis hat. Die Leben dieser Frauen kollidieren in der Stadt, in der der Osten auf den Westen trifft, wo sie gemeinsam einen gefährlichen Weg zu Gerechtigkeit und Erlösung beschreiten müssen.  "Wenn der Spiegel Zerbricht"   verbindet die Geschichten von Müttern und Töchtern aus Vergangenheit und Gegenwart zu einer Geschichte über Frauen und Opfer, Gemeinschaft und Ausgrenzung, kulturelle Identität und die Erfahrung von Flüchtlingen.     

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Seitenzahl: 460

Veröffentlichungsjahr: 2025

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WENN DER SPIEGEL ZERBRICHT

When the Mirror Cracks

2ND GERMAN EDITION

JAN COFFEY

withMAY MCGOLDRICK

Book Duo Creative

Urheberrecht

Vielen Dank, dass Sie diesen Roman gelesen haben. Falls Ihnen Wenn der Spiegel zerbricht gefallen hat, bitten wir Sie, die guten Worte zu teilen, indem Sie eine Rezension hinterlassen oder sich mit den Autoren in Verbindung setzen.

Wenn der Spiegel Zerbricht (When the Mirror Cracks). Copyright © 2020 von Nikoo und James McGoldrick.

Deutsche Übersetzung © 2025 von Nikoo K. und James A. McGoldrick

Deutscher Sprachredakteur - Sophie Hartmann

Alle Rechte vorbehalten. Mit Ausnahme der Verwendung in einer Rezension ist die Vervielfältigung oder Verwertung dieses Werkes im Ganzen oder in Teilen in jeglicher Form durch jegliche elektronische, mechanische oder andere Mittel, die jetzt bekannt sind oder in Zukunft erfunden werden, einschließlich Xerografie, Fotokopie und Aufzeichnung, oder in jeglichem Informationsspeicher- oder -abrufsystem, ohne die schriftliche Genehmigung des Herausgebers untersagt: Book Duo Creative.

Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Personen, Orte und Begebenheiten sind entweder der Fantasie des Autors entsprungen oder werden faktisch verwendet und jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen, Unternehmen, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

KEINE KI-TRAINING: Ohne die ausschließlichen Rechte des Autors [und des Verlags] gemäß dem Urheberrecht in irgendeiner Weise einzuschränken, ist jede Verwendung dieser Veröffentlichung zum „Trainieren“ generativer künstlicher Intelligenz (KI)-Technologien zur Generierung von Texten ausdrücklich untersagt. Der Autor behält sich alle Rechte vor, die Nutzung dieses Werks für das Training generativer KI und die Entwicklung von Sprachmodellen für maschinelles Lernen zu lizenzieren.

Umschlaggestaltung von David Provolo

Inhalt

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil II

Kapitel 8

Teil III

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil IV

Kapitel 15

Teil V

Kapitel 16

Teil VI

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil VII

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Teil VIII

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Teil IX

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Teil X

Kapitel 34

Kapitel 35

Teil XI

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Teil XII

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Teil XIII

Kapitel 44

Kapitel 45

Teil XIV

Epilog

Anmerkung zur Ausgabe

Anmerkung des Autors

Über den Autor

Also by May McGoldrick, Jan Coffey & Nik James

Für unsere Kinder

Prolog

Flughafen Istanbul

Du wirst niemals entkommen. Der Tod wartet hier auf dich. Glaube mir, das Schicksal verfolgt jeden deiner Schritte. Es ist das schwankende Spiegelbild auf der Fliese vor dir. Es ist der Schatten auf der Säule, an der du vorbeigehst. Wenn du lauschst, wirst du ihn hinter dir atmen hören. Dein Blick geht an mir vorbei, du erkennst mich nicht mehr. Ich bin derjenige, dessen Leben du weggeworfen hast.

Wie weit du geflogen bist, um zu mir zurückzukommen, um in meine Reichweite zu kommen. Du bist eine tote Frau.

Du hast ein perverses Gefühl der Befriedigung darin gefunden, das Leben anderer zu zerstören. Damit ist jetzt Schluss. Glück und Zufriedenheit werden sich in Asche verwandeln. Dein verschrumpeltes Herz wird dir aus der Brust gerissen und in den Flammen der Hölle geröstet werden.

Du hast mich leiden lassen und ich werde dafür sorgen, dass du leiden wirst. Deinetwegen habe ich die verloren, die mir am nächsten sind. Du wirst die verlieren, die dir am nächsten stehen.

Du hast mich mit einer Zukunft zurückgelassen, die nicht mehr war als eine dunkle, sternenlose Nacht. Du hast angenommen, ich würde sterben, aber ich bin nicht tot. Die ganze Zeit habe ich hier auf deine Rückkehr gewartet und ich werde meine rechtmäßige Rache bekommen.

Ich vergebe dir dann, wenn du tot bist.

TeilI

Ich komme nicht aus dem Osten oder dem Westen,

nicht aus dem Meer oder aus dem Boden,

nicht natürlich oder ätherisch,

nicht überhaupt aus Elementen bestehend.

Ich existiere nicht.

Ich bin weder in dieser noch in der nächsten Welt ein Wesen,

nicht von Adam und Eva oder einer anderen Person

oder Ursprungsgeschichte abstammend.

Mein Ort ist ortlos,

eine Spur des Spurlosen.

Weder Körper noch Seele.

-Rumi

KapitelEins

Christina

Der schwarze Pickup kommt aus dem Nichts und die Scheinwerfer explodieren in einer Glasfontäne. Als sich das Auto dreht, fliegt mein Kopf zur Seite und ich werde hart gegen das Lenkrad geknallt. Nein. Nein. Das Baby. Bitte halt an. Mach, dass das Auto anhält. In einer Welt, die außer Kontrolle geraten ist, versuche ich, mir einen Reim auf das Geschehen zu machen.

Wie eine Stoffpuppe fliege ich von einer Seite zur anderen und schlage hart gegen die Tür, bevor ich nach vorn geschleudert werde. Der Gurt spannt sich um meine Hüfte.

Mein Kind. Reicht der Gurt aus, um das Baby in meinem Schoß zu schützen?

Ich stemme meine Arme gegen das Lenkrad und versuche, meinen aufgeblähten Bauch davon wegzudrücken, etwas Platz zu schaffen und mein Baby abzuschirmen. Ich drücke mich so fest wie möglich gegen den Sitz, bis das Drehen aufhört.

„Uns geht es gut, Schatz. Uns geht es gut.“ Sie muss verängstigt sein. Ich bin verängstigt. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren und dämpft die verzweifelten Schreie der Frau in meinem Auto. Es dauert einen Moment, bis ich erkenne, dass die Stimme zu mir gehört.

Helle Lichter blitzen auf der Beifahrerseite auf, kurz bevor die nächste Lawine des Unglücks hereinbricht. Jemand stößt mit mir zusammen. Die Scheiben zerspringen, mein Gesicht und mein Körper werden mit Glassplittern übersät, und das Auto überschlägt sich. Gott, nein. Lass sie nicht sterben. Bitte nicht. Rette sie. Lass sie nicht sterben. Der Airbag öffnet sich und trifft mich mit einem Schlag ins Gesicht und auf die Brust, wobei meine Arme zurückgeschleudert werden.

Alles kommt zum Stillstand – die Zeit, das hässliche Quietschen und Schleifen der Bremsen, die Autohupen. Wir haben überlebt … oder sind wir tot? Es ist unwirklich. In meiner Vorstellung sitze ich nicht einmal im Auto. Ich bin ein losgelöster Zuschauer, der auf ein zerstörtes Fahrzeug mit einer schwangeren Frau darin starrt.

Rette sie. Bitte rette sie. Ich muss sie rausholen. Meine Füße bewegen sich nicht. Mein Körper weigert sich, den Anweisungen zu folgen. Ich blinzle und schon bin ich wieder im Auto, hängend, aufgehängt an dem Sicherheitsgurt, der sich in meinen Nacken gräbt. Das einzige Geräusch, das ich höre, ist das Knarren des Daches, wenn das Auto auf dem Asphalt schaukelt … und meine eigenen röchelnden Atemzüge. Überall liegen Scherben und Glassplitter und auf dem entleerten Airbag ist Blut.

Dir geht es gut. Uns geht es gut. Sollte ich keinen Schmerz empfinden? Ich komme gerade von Jax’ Beerdigung. Vielleicht bin ich so tot wie Jax.

Der Geruch von Reifen und Benzin verbrennt meine Nase. Der kupferne Geschmack in meinem Mund ist Blut und ich spucke ihn aus.

Schritte kommen näher und jemand stellt gedämpfte, unverständliche Fragen. Ich drehe meinen Kopf in Richtung des Geräusches und meine Kehle kämpft, um die Worte herauszubekommen.

„Ich bin schwanger. Im achten Monat schwanger. Rette sie.“

Eine Hand berührt meine Schulter. Überall ist so viel Blut und ich kann mich nicht auf das Gesicht der Person konzentrieren, die spricht. Wir hätten den Unfall nicht überleben können. Die Hoffnung verdorrt und lässt mein Herz schrumpfen.

„Ein Sarg. Mein Baby sollte mit mir in einem Sarg beerdigt werden.“

„Du schaffst das schon.“

Sirenen und Blinklichter nähern sich. Das Auto ist ein Haufen aus verbogenem Metall und zerbrochenem Glas. Keiner der Insassen kann den Unfall überlebt haben.

„Keine Einäscherung.“

Körperlose Stimmen schließen sich der ersten an. Die Worte werden deutlicher.

„Wir haben Sie.“

Ich schließe meine Augen. Ich möchte ihnen glauben. Sie haben uns. Ich wiederhole die Worte immer wieder in meinem Kopf und wünsche mir, dass mein ungeborenes Kind sie hört. Noch vier Wochen bis zum Geburtstermin, aber der Arzt hatte gesagt, sie könne jederzeit kommen. Sie ist perfekt. Alles sollte gut gehen.

Alles war gut gelaufen, bis heute. Momente aus den letzten acht Monaten kommen mir in den Sinn. Das Hören ihres ersten Herzschlags, der Schluckauf, der meinen ganzen Bauch zum Hüpfen bringt. Das Gefühl, wenn sich ihre Zehen in meine Rippen bohren. Die Tritte. Die ständigen Tritte, die mich daran erinnern, dass sie da ist und sich um mich kümmert, während ich auf sie aufpasse.

Tritt mich jetzt. Bitte tritt mich. Sag mir, dass es dir gut geht.

Sie haben mich aus dem Auto geholt. Alle Sanitäter sprechen gleichzeitig, während sie mich auf eine Trage heben. Das Glas knirscht unter den sich drehenden Rädern und dann liege ich im Krankenwagen.

Scharfe Krämpfe überfallen mich. Meine Unterwäsche ist durchnässt. Ich weiß, was los ist. „Erste Schwangerschaft. Ich habe Wehen.“ Das wollen sie sicher wissen. Meine Stimme ist kratzig und klingt, als käme sie vom Grund eines Brunnens. „Retten Sie sie. Wenn es um sie oder mich geht, retten Sie sie. Bitte.“

„Wir haben Sie. Sie beide.“

Ich bin eine kaputte Schallplatte, sage immer wieder das Gleiche, aber ich spüre, wie mir immer wieder das Bewusstsein schwindet. Jemand fragt mich, wen man anrufen soll. Haben sie Ehemann gesagt oder habe ich mir das eingebildet?

„Nein … kein Ehemann. Kyle will sie nicht.“

Ich zwinge meine Augen auf und blicke in das verschwommene Gesicht einer Frau, die sich neben der Trage bewegt. Das Deckenlicht hinter ihrem Kopf blendet. Wir sind bereits im Krankenhaus, aber ich erinnere mich nicht, wie ich hierhergekommen bin.

„Meine Mutter“, sage ich zu ihr. „Rufen Sie meine Mutter an.“

* * *

Heiße Galle brennt wie Säure in meiner Brust und meine Augen springen auf, als ich mich aufsetze. Ich bin nicht in einem Krankenhaus, aber einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, wo ich bin.

Ich schaue mich um und versuche, mich zu konzentrieren, aber die Erinnerung an den Unfall ist immer noch präsent und lässt mich nicht los.

Der Himmel ist hell vor den offenen Fenstern des fremden Zimmers und der schwarze Bildschirm eines Fernsehers starrt mich von der Wand an. Mein Koffer steht offen auf dem Boden neben einem tragbaren Kinderbett.

Dann fällt mir alles wieder ein. Ich bin in Istanbul. Der Flug aus Los Angeles kam gestern am späten Nachmittag an. Vierzehn Stunden im Flugzeug und zehn Stunden Zeitverschiebung, und ich war erschöpft, aber mein Gehirn weigerte sich, abzuschalten. Irgendwann in der Nacht habe ich das Fläschchen mit den Melatonintabletten hervorgekramt. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich danach geschlafen habe oder nicht. Ich muss es getan haben.

Übelkeit steigt mir in die Kehle und ich renne ins Badezimmer, wo ich mich über die Toilette beuge und mich erbreche. Wo ich gewesen bin, was ich getan habe, wohin ich gehe und was ich tun muss, ist verschwommen. Ich reise mit einem rasenden Zug durch die Zeit. Es gibt keine Stopps. Keine Chance für mich, zu Atem zu kommen. Kein Zurück.

Sie haben ein wunderschönes Mädchen.

Mir schwirrt der Kopf von den Lichtern und den brummenden Geräuschen des Krankenhauses, während ich mich zurücklehne.

Sie wiegt 8 Pfund und ist 55 cm groß.

Meine Finger fahren über die perfekte Nase, das Büschel dunkler, nasser Haare, die runden Wangen.

Mein Körper ist kalt und klamm vor Schweiß, und ich ziehe mich hoch und lehne mich an die Badewanne. Ich atme tief ein und versuche, meinen Magen zu beruhigen.

Durch das kleine Fenster über der Wanne strömen Gerüche herein und ich atme den Duft von türkischem Kaffee und gewürztem, frischem Brot ein. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Vielleicht ist das das Problem.

Wenn ich aufstehe, fühle ich mich wackelig und halte mich am Rand des Waschbeckens fest, bis die Welle der Benommenheit vorüber ist.

Ich stelle die Dusche an und sehe zu, wie das Wasser über die Marmorfliesen läuft. Eine andere Erinnerung blitzt wieder auf. Eine Krankenschwester hält meinen Arm und hilft mir, die wenigen Schritte vom Bett zur Dusche zu gehen. Die Stimme meiner Mutter ertönt aus dem Sessel am Fenster. Mach das alleine, Christina. Sie wird gleich an der Tür sein, wenn du sie brauchst.

Jede Millisekunde des Unfalls quält mich Tag und Nacht. Der Aufprall, das Schleudern, das Überschlagen, immer und immer wieder. Jedes Mal, wenn ich mich hinter das Steuer setze, jedes Mal, wenn ich einen schwarzen Pickup auf der Straße sehe, kommt alles wieder hoch. Im Krankenhaus hatten sie die größte Mühe, meine Venen zu finden, und trotzdem nahmen sie mir jeden Morgen Blut ab. Auf meinem Arm bilden sich blaue Flecken und ich blinzle, um sie verschwinden zu lassen. Ein dichter Nebel verhüllt meinen Geist und ich schiebe es auf die Schlaftabletten. Ich nehme sie nicht gerne, nicht einmal die rezeptfreien.

Mein Magen ist wie verknotet. Ich trete in die Duschkabine und das Wasser sticht wie tausend Nadeln in meine Haut. Will ich es heiß oder kalt? Ich kann mich nicht entscheiden, also stehe ich da, während das Wasser auf mich herabprasselt und die Wirbel und Muster in den Fliesen verschwimmen.

Wenn ich mich auf meine Arbeit konzentriere, muss ich immer an den Rest meines Lebens denken, also denke ich an Externus, Jax und die Firma meiner Mutter. Deshalb bin ich auch in Istanbul. Das Unternehmen steht zum Verkauf und wir müssen uns mit einem Käufer einigen und das Geschäft abschließen. Ich versuche, mich an Daten und Zeitpläne zu erinnern, aber es ist so anstrengend. Ich lehne meinen Kopf gegen die Fliesen und möchte alle Türen meines Lebens schließen, aber mein Gehirn zieht mich immer wieder zu dieser schrecklichen Nacht zurück. Ich kann mich nicht von dem zerstörten Auto und dem Krankenhaus losreißen.

Der Schrei des Babys zerreißt den Nebel und ich hebe meinen Kopf von den Fliesen.

Meine Sicht ist verschwommen, aber mein Körper reagiert sofort. Er weiß, was zu tun ist. Der Instinkt setzt ein. Ich schalte das Wasser ab und greife nach meinem Bademantel. Meine Füße sind nass und ich rutsche auf dem Badezimmerboden aus und stürze beinahe, kann mich aber irgendwie fangen.

Das Baby wimmert zwischen keuchenden Hustenanfällen. Sie wird krank. Der Flug von LA nach Istanbul war zu lang. Sie ist zu jung zum Reisen. Ich hätte sie nicht mitnehmen sollen.

Ich eile ins Schlafzimmer und gehe direkt zum Kinderbett. „Ruhig, Autumn. Ich bin hier, mein kleiner Liebling.“

Das Morgenlicht, das durch das Fenster strömt, blendet mich. Die hauchdünnen Vorhänge heben sich in der Brise. Ein weiterer Erinnerungsblitz taucht auf und Stimmen füllen meinen Kopf.

Du kannst sie nicht jedes Mal in den Arm nehmen, wenn sie weint, Christina.

Sie ist meine Tochter, Mutter. Und ich bin nicht du.

Ich beuge mich über das Kinderbett und bleibe stehen. Ich starre und versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Ein dröhnendes Geräusch steigt in meinen Ohren auf. Das Kinderbett ist leer, die Laken sind stramm über die Matratze gespannt.

„Nein. Nein. Nein. Wo bist du?“

Ich wirble herum und springe zu dem Durcheinander, das ich letzte Nacht in meinem Bett angerichtet habe, und reiße die Decken und Kissen weg.

„ Autumn! Autumn!“ Meine Schreie hallen von den Wänden wider.

Aber ich hörte sie schreien. Wo ist sie? Jemand hat sie mitgenommen. Jemand hat sie abgeholt und mitgenommen. Meine Augen sind überall und suchen den leeren Raum ab. An der Tür ist der Sicherheitsriegel noch vorgeschoben. Panik durchströmt mich. Mein Hotelzimmer liegt im dritten Stock und es ist ein langer Abstieg zum grasbewachsenen Innenhof darunter. Niemand kann auf diesem Weg hereingekommen oder hinausgegangen sein.

Mein Körper zittert und Tränen brennen in meinen Augen. Ich bin hysterisch, als ich den Knopf für die Rezeption drücke. Zum Glück antwortet eine Frau auf Englisch.

„Rufen Sie die Polizei. Holen Sie den Manager her. Bitte! Helfen Sie mir. Ich war unter der Dusche. Mein Baby ist verschwunden. Helfen Sie mir. Sie ist weg. Jemand hat sie mitgenommen.“

Der Tonfall der Frau wird sofort dringlich. Sie gibt den anderen auf Türkisch Anweisungen und durch das Telefon dringen undeutliche Stimmen.

„Der Manager kommt sofort zu Ihnen, Miss Hall. Ich werde die Polizei anrufen. Wir werden sie finden.“

Der Hörer gleitet mir aus den Fingern und ich sehe zu, wie er auf dem Boden knallt. Meine Knie sind steif. Ich kann mich nicht bewegen und mein Kopf droht zu zerspringen.

Wieder Scheinwerfer und der Unfall. Ich bin wieder im Krankenhaus und Kyle ist wütend. Sie gehört zu mir. Und meine Tochter. Ich hätte der Erste sein sollen, den Sie angerufen haben. Ich kann mich nicht wehren, also drehe ich meinen Kopf weg.

„Autumn … Liebling.“ Ich stottere die Worte heraus. „Wo bist du, mein Schatz?“

Es klopft laut an der Tür und Stimmen rufen aus dem Flur. Ich spüre den Boden unter meinen Füßen nicht, als ich zur Tür gehe und sie öffne.

„Wir haben die Polizei gerufen, Miss Hall. Wachen stehen an jeder Tür. Niemand wird das Hotel verlassen …“

Ich will nicht hören, was sie tun. Ich will nur Autumn zurück.

Körper rennen aneinander vorbei. Ich trete zurück, um ihnen aus dem Weg zu gehen, und lasse mich in einen Stuhl sinken. Ich wiege mich hin und her und versuche zu verstehen, was da passiert, aber ich kann nicht denken. Ihre Stimmen sind so laut und sie bombardieren mich mit Fragen auf Türkisch und Englisch.

„Mein Kind. Sie ist weg. Sie war genau dort. Ich stand unter der Dusche. Ich hörte sie weinen. Ich kam aus dem Bad. Sie war weg.“ Ich sage es wieder und wieder. „Ich habe das Zimmer in der Nacht nicht verlassen … Nein .… ich bin eine gute Mutter.“

Ich sehe sie nicht hereinkommen, aber ich erkenne die vertraute Berührung. Es ist eigentlich ein Stupsen. Ich hebe meinen Kopf und spüre, wie die Erleichterung gegen die Qualen ankämpft, die mich innerlich zerreißen.

„Sie ist weg, Mutter. Autumn ist fort.“ Meine Stimme bricht, und ich bekomme einen Schluckauf, während ich mit dem Sprechen kämpfe. „Sie haben sie mitgenommen. Hilf mir, sie zu finden.“

Meine Mutter zieht einen Stuhl heran und setzt sich mir gegenüber. „Christina, atme.“

Ich schüttle den Kopf und schaukle hin und her, ohne zu Atem zu kommen. „Ich muss mich übergeben.“

„Nicht vor all diesen Leuten. Geh auf die Toilette.“

Heiß und kalt, ein Trauma lässt mich zittern. „Ich kann mich nicht bewegen. Sie ist verschwunden!“

„Denk nach, Christina.“ Diesmal ist ihr Ton scharf genug, um Glas zu brechen.

Elizabeth wendet sich abrupt an den Manager und spricht mit ihm auf Türkisch. Eine lange Pause füllt den Raum. Dann nicken die Köpfe und die Augen richten sich auf mich. Es wird noch mehr geflüstert und einer nach dem anderen verlässt den Raum.

„Wohin gehen sie?“

„Ich habe dir gestern Abend gesagt, du sollst den Zimmerservice bestellen. Aber du hast noch nichts gegessen, oder?“ Es ist keine Frage. Elizabeth schließt die Tür und setzt sich wieder hin.

„Was hast du ihnen gesagt? Warum hast du sie weggeschickt? Wo ist Autumn? Was ist mit meinem Baby passiert?“

Sie nimmt meine Hand und streicht eine nasse Haarsträhne weg, die mir über das Auge fällt. „Du hättest diese Leute wegen des Kinderbettes ansprechen sollen, als du eingecheckt hast. Ich hätte selbst etwas zu ihnen sagen sollen. Das war gedankenlos.“

Das Bett? Ich werfe einen Blick auf die Krippe und auf meinen Koffer. Meine Kleidung quillt daraus hervor. Aber es gibt keine Windeln, keine Babykleidung, keinen Kinderwagen.

„Erzähl mir von dem Schrei, den du in der Dusche gehört hast“, fragt sie leise. „Hast du Autumn weinen gehört, Christina?“

Die Panik entweicht langsam aus mir. Doch als die Realität wieder Einzug hält, sticht mir ein scharfer Schmerz in die Brust.

„Nein. Es gab keinen Schrei.“ Ich nehme einen tiefen Atemzug. „Es gab kein Baby. Ich habe sie verloren. Ich habe Autumn verloren … nach dem Unfall.“

KapitelZwei

Christina

An diesem ersten Tag bezeichneten die Ärzte den Ausgang des Unfalls als ein Wunder.

Autumn, die ein paar Stunden nach unserer Ankunft im Krankenhaus geboren wurde, zeigte keine Anzeichen von Stress durch das Trauma. Ihr Apgar-Wert war acht. Als ich sie in meinen Armen hielt, verschwanden die Schmerzen des Schleudertraumas, der Schnittwunden und Prellungen sowie der Dunst der Gehirnerschütterung, die ich bei dem Unfall erlitten hatte. Sie betrachtete mich und ich beobachtete sie, ihre kleine Hand umklammerte meinen Finger, ihr Vertrauen war bedingungslos. Das Glück, das mich durchströmte, war anders als alles, was ich je erlebt hatte. In meinem Kopf waren die Umstände, die mich dazu gebracht hatten, das Baby zu behalten, nachdem ich erfahren hatte, dass ich schwanger war, gerechtfertigt, unabhängig von Kyles Reaktion oder Gefühlen.

Mein Leben war endlich ganz. Autumn verschlang mein Herz; sie lag in meinen Armen. Sie war ein Teil von mir, alles von mir. Ich hatte sie in diese Welt gebracht und sie war alles, was ich mir gewünscht und erträumt hatte.

„Ich empfehle einen mindestens siebentägigen Krankenhausaufenthalt, bevor ich Sie nach Hause entlasse, wenn man alles bedenkt“, erklärte mir der Internist am nächsten Tag.

Was auch immer sie tun wollten, jeder Test, den sie durchführen wollten, war für mich in Ordnung. Ich war zufrieden, solange sie Autumn erlaubten, in meinem Zimmer zu bleiben.

Am dritten Tag gab mein Zustand Anlass zur Sorge. Meine Kopfschmerzen hielten an und der Arzt ordnete eine CT-Untersuchung an.

„Sie werden nur eine Stunde von ihr getrennt sein“, versicherte mir eine sanftmütige Krankenschwester, bevor sie mich wegrollte.

Autumns Bettchen wurde ins Kinderzimmer gebracht. Während des Tests schloss sich eine feste Faust um mein Herz, wie zur Warnung, um mir zu sagen, dass etwas nicht stimmte. Als ich zurückkam, war das Bettchen meiner Tochter leer.

„Der Kinderarzt hat angeordnet, dass sie auf die Intensivstation verlegt wird.“ Dieselbe Krankenschwester begleitete mich dorthin, wo Autumn hingebracht worden war.

Vielleicht machen sie einen weiteren Test, dachte ich. Ich versuchte, eine Brücke der Hoffnung zu bauen, und dachte, ich könnte sie überqueren und mein Baby zurückbringen. Aber mit jeder Stunde, die verging, mit jedem Test, den sie durchführten, wurden die Stützen dieser Brücke schwächer, bekamen Risse und stürzten schließlich ein. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr ich, dass die Struktur von Anfang an fehlerhaft gewesen war.

Einen Tag später starb Autumn.

Tränen brennen in meinen Augen. Dieser Morgen ist eine weitere Erinnerung daran, dass manche Schmerzen nie vergehen. Der Verlust meiner Tochter wird mich für immer begleiten.

Die Ärzte hatten einen offiziellen Begriff für das, was Autumn passiert war: Ein Schädel-Hirn-Trauma. Es war während des Unfalls entstanden. Es gab keine Möglichkeit, es zu erkennen.

„Du solltest die Rezeption anrufen und es erklären.“

Elizabeths Worte sind wie eine Ohrfeige, die sich in meine Gedanken an die Vergangenheit gräbt.

„Mutter, bitte. Nicht jetzt.“ Ich spreche in einem milden Ton, aber sie weiß, was ich durchgemacht habe.

„Du hattest gute Gründe, dich so zu verhalten. Und es war ihre Schuld, weil sie ein Kinderbett in diesem Zimmer stehenließen.“

„Es spielt keine Rolle, wessen Schuld es war. Es ist vorbei.“

Ich vergrabe meinen Kopf in meinen Händen. In den vergangenen zwei Monaten habe ich versucht, mein Leben neu zu gestalten. Stück für Stück. Tatsache ist, dass etwas in mir zerbrochen ist, als meine Tochter starb und ich kann meine Trauer nicht ganz in den Griff bekommen. Schuldgefühle durchziehen meine wachen Stunden und verfolgen mich in unruhigen Nächten.

Der Pickup wechselte die Fahrspur. Es waren weder Alkohol noch Drogen im Spiel, aber ich hätte aufmerksamer sein müssen. Ich hätte schneller reagieren müssen. Ich hätte …

In meinem Kopf schwirren zu viele „Hätte“ herum.

Es gibt keine schnelle Lösung, kein Einschlafen, wieder Aufwachen und Vergessen, was passiert ist. Das leere Kinderbett im Hotelzimmer versetzte mich heute Morgen in das Kinderzimmer des Krankenhauses zurück. Mein erster Gedanke war, dass jemand mein Baby gestohlen hatte. Nachdem ich mit der Krankenschwester gesprochen hatte, erfuhr ich, dass der Kinderärztin auf der Station etwas nicht gefiel, was sie bei der Untersuchung von Autumn gesehen hatte.

„Wir sind für zehn Tage in diesem Hotel eingebucht. Ich will nicht, dass sie schlecht von dir denken. Ruf sie wenigstens an und erklär ihnen, was passiert ist. Sag ihnen, dass du in Trauer bist.“

Meine Nerven werden dünner mit jedem Wort, das sie spricht. „Es ist mir egal, was sie von mir denken.“

„Aber mir nicht“, beharrt sie. „Du hast einen Jetlag. Du wusstest nicht, wo du bist.“

Ich bin ein verdammter Gast in diesem Hotel. Ein zahlender Kunde. Ich brauche von niemandem Verständnis oder Mitleid. Aber ich weiß, dass es keinen Sinn hat, mit Elizabeth zu streiten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Sie tut das um meinetwillen. Um mich zu beschützen. Ihre Art, Liebe zu zeigen, ist, mein Leben in die Hand zu nehmen.

Ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht, stehe auf und suche nach meinem Handy.

„Ein Baby zu verlieren, ist eine sehr traumatische Sache“, sagt sie. „Ich hatte drei Fehlgeburten, bevor ich mit dir schwanger wurde.“

Das hat Elizabeth seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus schon zu oft gesagt. Es ist, als ob sie denkt, dass mein Wissen darüber, was sie durchgemacht hat, meinen Schmerz irgendwie mindern kann. Ich muss sie ablenken, genauso wie ich mich selbst ablenken muss.

Mein Handy liegt zum Aufladen neben dem Bett. Ich schicke eine SMS an Kyle, um ihn daran zu erinnern, dass er mir den aktualisierten Zeitplan für heute schicken soll. Er war in Osaka auf einer Spielemesse, aber er fliegt morgen Abend nach Istanbul. Wir beide sind von meiner Mutter beauftragt worden, den Verkauf von Externus zu beaufsichtigen. Kyle ist für den Verkauf und das Marketing zuständig und ich bin für die Geschäftsstrategie verantwortlich. Wir sind die Stützen, die das kleine Unternehmen zusammenhalten, bis wir es an den nächsten Eigentümer übergeben können.

Elizabeth Hall und Jax York heirateten vor sechs Jahren und gründeten zwei Jahre später das Active-Media-Gaming-Unternehmen. Seitdem besteht das Unternehmen aus fünf Mitarbeitern. Mit Hilfe einer Gruppe von freiberuflichen Programmierern hat sich Externus gut entwickelt. Jetzt, wo Jax nicht mehr da ist, ist meine Mutter die alleinige Inhaberin. Und sie ist bereit zu verkaufen.

„Die Zeit schreitet voran, Christina. Du bist noch jung. Es wird noch viele Babys für euch geben.“

Es hat keinen Sinn, sich mit ihr zu streiten. Kyle und ich arbeiten zusammen und leben zusammen. Wir waren ein Paar, als ich schwanger wurde. Wenn ich zurückdenke, gab es Gespräche zwischen ihm und mir, die wir hätten führen sollen, lange bevor ich ihm den Schwangerschaftstest vorgelegt habe. Es hätte mir klar sein müssen, dass er nicht bereit war, Vater zu werden. Er hat zwar nicht sofort seine Sachen gepackt und ist ausgezogen, aber ich ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis wir getrennte Wege gehen würden.

„Bevor es das nächste Mal passiert, solltest du versuchen, ihn dazu zu bringen, dir einen Ring an den Finger zu stecken.

Bei Elizabeths Worten fühle ich mich billig. Es gibt vieles, was ich ihr gerne sagen würde, angefangen mit der Erinnerung daran, dass auch sie eine unverheiratete Mutter war. Aber das Schweigen siegt. Ich habe mich mit meinen Fehlern abgefunden. Ich hätte mit Kyle kommunizieren sollen. Und auch wenn meine Mutter das Gleiche getan hat, war es falsch, mich ihm gegenüber zurückzuhalten.

Während ich darauf warte, von Kyle zu hören, sitze ich auf der Bettkante und blättere durch meinen Instagram-Account. Mein Daumen schwebt über den Bildern, die ich letzte Nacht gepostet habe, als ich nicht schlafen konnte. Die Luftaufnahme von Istanbul, während das Flugzeug kreiste. Das Foto, das ich gemacht habe, als wir aus dem internationalen Ankunftsbereich des neuen Flughafens kamen. Der Fahrer, der uns abholte, hielt ein Schild mit der Aufschrift Hall. Ich vergrößere das Foto und betrachte die Frau, die ein braunes Kopftuch trägt und neben dem Fahrer steht. Sie haben die gleiche Pose, den gleichen erwartungsvollen Ausdruck. Sie warten beide auf uns.

Elizabeth fährt fort. „Als sie gingen, sagte ich dem Manager, er solle das Kinderbett wegbringen. Ich gehe davon aus, dass sich das Zimmermädchen darum kümmern wird.“

Meine Aufmerksamkeit bleibt auf die Frau im Bild gerichtet. Der Regenmantel bedeckt sie vom Kinn bis zum Knie. Ihr Gesicht ist verwaschen, krankhaft blass. Hohe Wangenknochen dominieren ihr schmales Gesicht. Um ihren Hals ist eine chirurgische Maske drapiert, wie sie Menschen tragen, die sich vor Keimen in öffentlichen Räumen fürchten.

„Sie sieht aus, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Ich hoffe, sie hat eine Verbindung mit ihren Leuten.“

„Von wem redest du?“

Ich stehe auf und reiche meiner Mutter das Telefon. „Sie. Die Frau am Flughafen. Wir haben sie gesehen, als sie aus dem Zoll kam. Sie sieht krank aus. Ich hoffe, sie findet Anschluss an ihre Leute.“

Elizabeth zoomt aus dem Foto heraus und starrt aufmerksam auf den Fahrer und die Frau, die nebeneinander stehen.

„Ich mochte den Fahrer. Wir sollten dieses Unternehmen wieder nutzen. Ich weiß, dass wir mit Geschäftsterminen beschäftigt sein werden, aber ich hoffe, dass wir die Gelegenheit haben werden, uns die Sehenswürdigkeiten anzusehen. Du bist das erste Mal in Istanbul. Es gibt so viel von der Stadt, das ich dir zeigen möchte.“

Ich lasse das Telefon bei meiner Mutter, gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge auf. Das hundert Jahre alte Hotel, in dem wir untergebracht sind, wurde ursprünglich als osmanisches Gefängnis gebaut. Aber bei all den marmorierten Fluren und der plüschigen Einrichtung bezweifle ich, dass ein ehemaliger Gefangener diesen Ort wiedererkennen würde. Und ich möchte hinausgehen und den wahren Puls der Stadt spüren, wenn möglich.

„Wer ist sie?“, fragt Elizabeth und stellt sich neben mich. Sie geht immer noch die Instagram-Bilder durch. „Steht sie auf der Gehaltsliste meiner Firma?“

Elizabeth ist nicht auf meiner Seite, sondern auf der von Kyle. Der Beitrag ist von gestern Abend und das Bild zeigt die Vorderseite des Externus-Standes auf der Messe.

„Sie sehen ziemlich vertraut aus, wenn sie so nah beieinanderstehen.“

Ich versuche, die Welle der Eifersucht zu ignorieren, die mich überrollt. Kyles blondes, mit den Fingern gekämmtes Haar sticht aus dem Meer der dunkelhaarigen Menschen auf dem Bild heraus. Die Frau neben ihm hat tiefschwarzes Haar, das ihr fast bis zur Taille hängt. Sie hat ein geübtes Lächeln und sie strahlt Selbstvertrauen aus. Sie ist eine Frau, die es gewohnt ist, angestarrt und bewundert zu werden.

Ich habe ihr Bild schon einmal auf seinem Konto gesehen. Er hat es vor vier Monaten gepostet, als er das letzte Mal in Japan war.

„Diese Beine“, sagt Elizabeth bewundernd. „Jeder braucht ein kurzes schwarzes Kleid wie ihres. Was meinst du, welche Größe sie trägt? Vielleicht eine Zwei?“

„Ich weiß es nicht.“ Ich greife nach meinem Telefon, aber sie hält es mir vom Leib.

„Hast du das schwarze Kleid dabei, das ich dir letztes Jahr bei Bloomingdale’s gekauft habe?“

„Nein. Ich wiege zehn Kilo mehr als letztes Jahr um diese Zeit. Es passt mir nicht.“

„Vielleicht solltest du eine Diät machen. Es sind schon zwei Monate vergangen.“

Mein Gewicht war schon vor der Schwangerschaft ein Thema für sie. Das ist ein weiteres Gespräch, das ich jetzt nicht führen möchte.

Erleichterung macht sich breit, als eine SMS-Benachrichtigung auf dem Bildschirm auftaucht, und ich schnappe mir mein Handy zurück, bevor ich weggehe. „Kyle sagt, wir haben heute und morgen keine Termine. Das erste ist für Mittwochmorgen angesetzt.“

„Wird er dabei sein?“

„Er wird schon kommen.“ Ich nehme meinen Koffer und lege ihn auf das Bett, sortiere meine Klamotten und lege sie in die Schubladen der Kommode.

Gemütlich. Ich denke über Elizabeths nicht gerade subtile Andeutung nach, dass Kyle etwas mit der Frau auf dem Bild hat. Unsere Beziehung ist definitiv in die Brüche gegangen, seit ich meine Neuigkeiten verkündet habe. Aber als das Baby unterwegs war, hatte ich gehofft … ich hatte gehofft … was, dass er plötzlich beschließen würde, dass er bereit ist, Vater zu werden? Dass er mir verzeihen würde, dass ich nicht offen darüber gesprochen habe, dass ich mir ein Baby so sehr wünsche, dass ich ihn aus der Gleichung herausnehme?

„Was willst du heute machen?“

Elizabeths Stimme macht dem Gedanken an meine zerrüttete Beziehung ein Ende. Ich muss raus und mich bewegen. Vielleicht liegt es an der Geschichte dieses Ortes als Gefängnis, aber die Mauern schließen sich um mich herum.

„Vielleicht einen Spaziergang in der Nachbarschaft machen. Ich sollte auch etwas arbeiten.“

„Nein, wir gehen in ein Hamam. Massage. Verwöhnung. Es gibt nichts Vergleichbares. Du könntest es gut gebrauchen, besonders heute.“

Elizabeth nimmt den Hörer ab und ich höre, wie sie mit der Empfangschefin Türkisch spricht, um alles zu regeln. Es erstaunt mich, dass sie nach so vielen Jahren immer noch fließend spricht. Meine Mutter kennt ihre Sprachen. In jeder Situation kann sie Deutsch, Französisch, Farsi oder Spanisch sprechen. Sie führt das darauf zurück, dass sie als Armeeangehörige überall hin gereist ist. Das und ihre jahrelange Arbeit als Dolmetscherin im Ausland. Vier dieser Jahre verbrachte sie in der Türkei, wo ich auch geboren wurde.

Sie tat ihr Bestes, um mich in Sprachen zu fördern, als ich aufwuchs. Programme nach der Schule. Muttersprachliche Tutoren. Aber ein paar Brocken Highschool-Spanisch sind das Beste, was ich kann.

„Ich habe nach einem guten Ort gefragt, wo Einheimische hingehen. Sie hat uns in einem traditionellen Hamam in der Nähe des Gewürzbasars angemeldet.“

„Ich brauche ein paar Minuten, um mich zu sammeln.“ Ich verschwinde im Badezimmer, um mich anzuziehen.

Ich bleibe vor dem Spiegel stehen und erschaudere. Mein Gesicht ist ganz aufgedunsen. Meine haselnussbraunen Augen sind Schlitze, kaum sichtbar. Ich schaudere vor meinem Haar. Es ist kraus und völlig außer Kontrolle geraten. Ich denke an all die Leute, die vor einer Stunde durch mein Zimmer gelaufen sind.

Ich ziehe mich an und binde mein Haar zu einem Pferdeschwanz. Als ich rauskomme, hat Elizabeth schon eine Tasche für mich gepackt. Beim Hinausgehen, fällt mein Blick wieder auf das Kinderbett. Es stand hier im Zimmer, als wir gestern Abend ankamen. Ein Fehler oder ein Missverständnis des Hotelpersonals. Die Reisedaten, die Dauer des Aufenthalts und das Hotel, in dem wir wohnen, wurden von Jax schon vor Monaten festgelegt. Er und Elizabeth hatten geplant, diese Reise selbst anzutreten. Zu den beiden sollte später noch Kyle stoßen, wenn die Akquisitionsdetails geklärt waren. Ich sollte wegen des Babys nicht an dieser Reise teilnehmen.

„Der Gewürzbasar ist nicht allzu weit von unserem Ziel entfernt. Vielleicht können wir nachher dort noch bummeln.“

„Zeig mir den Weg. Bring mich, wohin du willst. Du bist der Experte.“

Als ich durch die Lobby gehe, schaue ich die Leute hinter dem Schalter nicht an. Ich spüre ihre Augen auf mir. Elizabeth geht neben mir her und plaudert mit allen, als ob nicht die Hälfte des Hotelpersonals heute Morgen oben war und nach meinem imaginären Kind suchte. Ich denke an das, was sie gesagt hat, was die Erklärung angeht. Ich hätte mich wenigstens bedanken sollen. Aber ich war noch zu betäubt. Und es liegt in meiner Natur, immer auf alles zu reagieren, was Elizabeth sagt. Das alles ist Teil einer langen Geschichte unseres Mutter-Tochter-Dramas.

Draußen winkt der Pförtner ein Taxi heran, das sofort vorfährt. Die Sonne scheint. Die Blätter an den Bäumen auf der anderen Seite der schmalen Kopfsteinpflasterstraße beginnen, sich zu färben.

Gerade als das Taxi losfährt, sehe ich sie. Sie steht an der Ecke, neben der Tür des Seven Hills Restaurant. Die Sonnenbrille verdeckt ihre Augen. Die chirurgische Maske hängt um ihren Hals. Eine Gruppe von Touristen steht Schlange, um in das Restaurant zu gehen, aber sie ist nicht dabei. Sie beobachtet uns.

„Da ist sie“, sage ich zu meiner Mutter.

„Wer?“

„Diese Hidschabi-Frau. Ich habe dir ihr Bild gezeigt.“

„Wo?“ Elizabeth ist abgelenkt und zählt ihre türkischen Lira.

Ich schaue aus dem Rückfenster. Ihr Gesicht ist unserem Taxi zugewandt, während wir langsam die Straße hinunterfahren.

„Neben dem Restaurant. Die Frau mit dem braunen Kopftuch und dem Regenmantel.“

„Wir sind in einer Stadt mit achtzehn Millionen Einwohnern.“ Sie zählt die Münzen.

„Ich spreche von einem Gesicht, einer Person. Sie kommt mir bekannt vor. Bist du sicher, dass du sie nicht erkennst?“

Elizabeth dreht sich schließlich um und folgt meinem Blick. „Ich sehe niemanden, den ich wiedererkenne.“

Ich hole mein Handy heraus und suche in den Fotos nach dem Bild am Flughafen.

„Sie.“ Ich zeige auf sie. „Die Frau, die am Tor gestanden hat.“

Elizabeth wirft einen halben Blick auf mein Telefon und verdrängt das Thema. Sie ist mehr daran interessiert, sich mit unserem Fahrer auf Türkisch zu unterhalten. Sie reden über dies und das und beide lächeln.

Sie bemerkt, dass ich sie beobachte, und beschließt, die Rolle des Fremdenführers zu übernehmen.

„Diese Stadt ist seit Tausenden von Jahren das Zentrum der Welt und verbindet den Osten mit dem Westen. Perser, Griechen, Römer, Araber, Kreuzritter, osmanische Türken. Sie alle kamen und eroberten. Eine Zivilisation baute auf der anderen auf. Und unser Hotel liegt mitten im Herzen von all dem.

Das Auto schlängelt sich durch den Verkehr und sie zeigt auf Gebäude. Die Hagia Sophia. Auf der anderen Seite eines riesigen Platzes die Blaue Moschee. Touristen und Einheimische drängen sich auf den Bürgersteigen und Freiflächen. Entlang der Straßen sind Busse aufgereiht. Schilder weisen den Leuten den Weg, wo sie sich anstellen sollen. Reiseleiter, die Schilder tragen, führen ihre Gruppen entlang, weisen sie auf das hin, was sie sehen sollten, und lenken die Aufmerksamkeit von Bettlern und Flüchtlingen ab. So wie ein junges Mädchen mit schmutzigem Gesicht, bekleidet mit einem zerfledderten T-Shirt und einer Hose. Sie hält ein Pappschild an mein Fenster, als das Taxi an einer roten Ampel hält. Darauf steht in gekritzeltem Englisch: Syrerin. Hungrig. Hilfe.

Meine Finger greifen nach meiner Handtasche. Elizabeth drückt ihre Hand auf meine und hält mich auf.

„Tu es nicht. Das Geld geht nicht an sie. Bestärke nicht die Drahtzieher.“

Das Auto fährt in die Kreuzung und biegt in eine Seitenstraße ein. Der Blick in den dunklen Augen des Kindes bleibt bei mir hängen und meine Schultern versteifen sich. Man hat mir gesagt, dass alle Babys mit blauen Augen geboren werden. Auch die von Autumn waren blau, ein dunkles Blau, so wie der Himmel kurz vor Sonnenaufgang. Welche Augenfarbe hätte mein eigenes Baby irgendwann gehabt? Ich werde es nie erfahren.

Die Kopfschmerzen sind zurück. Dieses Auto und diese Straßen kommen immer näher.

Wir biegen erneut scharf in eine belebte Straße ein und ich klammere mich an den abgenutzten Ledersitz des Taxis. Meine Finger rutschen ab.

Heute habe ich eine Tür geöffnet, um an Autumn zu denken, und ich kann sie nicht mehr schließen.

Mein Baby weinte ununterbrochen. Aber sobald ich sie auf den Arm nahm, schmiegte sie sich an meine nackte Haut, lauschte meinem klopfenden Herzen und dann schlief sie ein.

Ich erinnere mich, wie ich ihre Finger zählte, den Geruch ihrer Haut einatmete und die seidige Weichheit ihres hellbraunen Haares spürte.

Kyle kam in der ersten Nacht, in der wir im Krankenhaus waren und blieb lange dort. Er brachte mir eine riesige Vase mit Blumen mit und tat so, als wäre er glücklich. Aber Autumn weinte die ganze Zeit, als er sie im Arm hielt, als wüsste sie, dass diese Vater-Tochter-Sache nicht von Dauer ist.

Für den Rest meines Aufenthalts kam er zu spät oder seine Besuche waren kurz. Er musste arbeiten. Da Jax tot und ich im Krankenhaus war, musste jemand die Leitung der Firma übernehmen. Es ist traurig, dass er nicht da war, als unsere Tochter geboren wurde, und er war nicht zugegen, als sie starb.

„Burası“, sagt meine Mutter.

Der Fahrer schneidet vor einem fahrenden Bus und blockiert den Verkehr, als er an den Bordstein fährt. Als wir aussteigen, sagt Elizabeth etwas. Der junge Mann sagt etwas zurück. Sie lächeln beide. Sie ruft sogar dem Fahrer des Busses etwas zu und wir bekommen ein freundliches Winken.

Im Inneren des Hamam säumenKissen die Wände des mit Teppich ausgelegten Warteraums. In einer Ecke steht ein niedriger Tisch mit einem Samowar und Gläsern für Tee. Neben dem Empfangstresen steht eine getopfte Jasminpflanze, deren süßer, exotischer Duft die Luft erfüllt. Bei ihrem Anblick muss ich an den kleinen Balkon meiner Wohnung denken, wo Jasmin mit seinen sternförmigen Blüten wild wächst. Eine große, kräftige Frau begrüßt uns in gebrochenem Englisch. Ich habe mit genug russischen Programmierern gearbeitet, um ihren Akzent zu erkennen. Sie sieht sichtlich erleichtert aus, als Elizabeth auf Türkisch antwortet.

Während meine Mutter darüber befindet, für welches Paket wir uns entscheiden, schaue ich durch die Rauchglastür auf die belebte Straße hinaus.

Sie steht dort auf der anderen Seite des Weges, neben einem Hochbeet. Die Sonnenbrille hat sie auf den Kopf geschoben und sie trägt dasselbe Kopftuch und denselben Regenmantel. Sie starrt auf das Gebäude.

Ich gehe auf die Tür zu und lege meine Hände an die Glasscheibe. „Sie ist wieder da.“

Elizabeth genießt es, ihr Türkisch zu üben, und redet mit der Rezeptionistin wie ein Wasserfall.

„Sie ist uns hierher gefolgt“, sage ich lauter.

„Ist eine achtzigminütige Massage genug?“

Ich werfe einen Blick über die Schulter zu meiner Mutter. „Ich glaube, ich gehe jetzt raus und rede mit ihr.“

Schließlich kommt sie herüber. „Von wem redest du?“

Die Straße ist überfüllt mit Einheimischen, die in alle Richtungen gehen. Nach dem, was ich gesehen habe, ist Istanbul eine Stadt der Trägerhemden und Hijabs und allem, was dazwischen liegt.

„Die gleiche, die wir auf dem Bürgersteig gesehen haben. Ich glaube, sie verfolgt uns. Bist du sicher, dass du sie nicht erkennst?“

„Ich sehe niemanden, den ich kenne. Du verwechselst wahrscheinlich ein Kopftuch mit einem anderen.“

Sie ist verschwunden. Meine Mutter sagt es nicht, aber aus ihrem Tonfall geht hervor, dass sie glaubt, ich würde mir die junge Frau nur einbilden. Ich weiß, dass ich das nicht tue.

„Vor einer Minute war sie noch da.“

Sie klopft mir auf die Schulter. „Eine achtzigminütige Massage?“

„Was immer für dich in Ordnung ist.“

Meine Füße schleifen, als ich mich von der Tür wegbewege. Die russische Frau gibt jedem von uns ein dünnes, rot-weiß kariertes Handtuch und Frotteeslipper. Während wir ihr folgen, zeigt sie uns verschiedene Flure und erklärt uns, wo alles ist. Marmorböden, Marmorwände, auch die Decken sind weiß. Dieser Ort fühlt sich so steril an wie das Krankenhaus, in das ich nach dem Unfall gebracht wurde.

„Die Hamams sind für Männer und Frauen getrennt“, übersetzt Elisabeth. „Der große Pool, das Dampfbad und die Sauna sind dort drüben. Die Massagen werden in dieser Richtung durchgeführt. Das zentrale Hamam ist durch diese Tür.“

Ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht, was wir hier tun, und es wird mir schnell klar. Dies ist nicht nur eine Massage, sondern ein Hamam, ein öffentliches Bad.

Vor uns kommen zwei Frauen mittleren Alters aus dem Poolbereich und unterhalten sich. Sie lächeln und gehen in die Umkleidekabine. Sie sind nackt. Die Ältere ist birnenförmig und hat ein Muttermal von der Größe einer Vierteldollarmünze auf dem Hintern. Ein rot-weißes Handtuch ist über ihren Arm drapiert. Die Jüngere ist dünn und flachbrüstig und trägt ihr Handtuch wie einen Turban um ihr Haar.

Ich starre auf das Handtuch, das mir die Empfangsdame gereicht hat, und fluche leise vor mich hin, in der Hoffnung, dass Elizabeth einen Badeanzug in meine Tasche gesteckt hat.

In der Umkleidekabine föhnt sich eine andere nackte Frau vor einer Wand aus Spiegeln die Haare. Ich versuche, sie nicht anzustarren. Ich will keinen Augenkontakt herstellen. Sie fühlen sich mit ihrem Körper wohl, aber ich nicht. Ich suche nach einem Raum, der ein wenig Privatsphäre bietet. Es gibt keine, abgesehen von den Toilettenkabinen um die Ecke.

Offensichtlich ist das die Norm und ich bin die Abweichung. Türkische Frauen haben eine ganz andere Einstellung zu ihrem Körper als Amerikanerinnen. In dieser Kultur hat Bescheidenheit wenig mit den Hemmungen westlicher Frauen zu tun. Oder mit meinen Hemmungen.

Die Empfangsdame spricht wieder mit meiner Mutter.

Elizabeth übersetzt für mich. „Sie hat heute Morgen nur eine Masseurin zur Verfügung. Wir müssen einen Termin nach dem anderen machen. Willst du den ersten Termin nehmen?“

„Nein. Du gehst zuerst.“

Ich bin erleichtert, dass ich richtig geantwortet habe, denn sie wehrt sich nicht und geht zur Wand mit den Spinden.

Ich brauche ein wenig Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Meine Erwartungen an einen Hamam waren plüschige weiße Gewänder und eine Masseurin hinter verschlossenen Türen. Wahrscheinlich ist das genau die Erfahrung, die unser Hotel für Touristen bietet, als hätten sie Amerika nie verlassen.

Ich habe Probleme mit meinem Körper und meine Mutter weiß das und reibt es mir gerne unter die Nase. Sie ist vierundsiebzig, zierlich und fit und so durchtrainiert wie eine vierzigjährige Pilates-Trainerin. Ganz im Gegensatz zu ihr habe ich schwere Knochen. Ich hatte nie Größe null, zwei, vier oder sechs. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich vielleicht Jeans in Größe 8 getragen, aber danach nicht mehr. Die Schwangerschaft hat die Pfunde nur noch mehr in die Höhe getrieben.

Ich stopfe meine Tasche in den nächstgelegenen Spind und verschwinde in einer Toilettenkabine. Die Tür reicht bis zum Boden und gibt mir einen kleinen Anschein von Privatsphäre.

Das Geräusch von laufendem Wasser in einem Waschbecken hinter der Tür lässt mich an Autumn denken. Ich hatte ihr im Krankenhaus ein Schwammbad gegeben. Ihre Augen waren die ganze Zeit über weit geöffnet und beobachteten mich. Sie hatte ein Grübchen am Kinn, runde Wangen, einen Engelskuss zwischen den Augenbrauen.

Die Tränen kommen und ich kann sie nicht aufhalten. Tu es nicht. Ich darf nicht zusammenbrechen. Das werde ich nicht. Nicht zweimal an einem Tag. Ich kann damit umgehen. Ich muss damit fertig werden. Ich habe einen Job in Istanbul zu erledigen.

Es klopft an der Tür der Kabine. „Wie geht es dir, mein Schatz?“

Sie hat einen sechsten Sinn. Ich benutze mein Hemd, um mir das Gesicht abzuwischen, und spüle die Toilette, um meine Stimme zu dämpfen.

„Gut. Ich komme gleich raus.“

„Wo willst du zuerst hin?“

„Hamam.“

„Ich kann warten und dir den Weg zeigen, bevor ich zur Massage gehe.“

„Ich werde es finden. Ich kenne den Weg.“

Sie schweigt ein paar Augenblicke, aber schließlich höre ich, wie sie sich mit den Frauen in der Umkleidekabine unterhält. Sie lachen über etwas, das sie sagt. Noch immer vollständig bekleidet, setze ich mich auf die Toilette und warte.

Denk an die Arbeit. Denk an die Arbeit.

Es ist so viel einfacher, an das Geschäft zu denken. Elizabeth hat Kyle und mir einen Bonus versprochen, sobald wir das Geschäft mit Externus abgeschlossen haben. Wir werden zweifellos beide unsere Jobs verlieren, aber wir haben nie darüber gesprochen, was danach passiert. Ich habe keine Ahnung, was er mit seinem Geld vorhat oder was er beruflich machen wird. Ich weiß, was ich tun werde. Das habe ich schon vor Monaten entschieden, noch bevor ich Autumn verloren habe.

Der Föhn stoppt und Elizabeths Gespräch endet. Ich frage mich, ob die Frauen es seltsam finden, dass ich mich in dieser Kabine verbarrikadiert habe.

„Bist du sicher, dass ich nichts für dich tun kann?“ Meine Mutter steht wieder vor der Tür.

„Mir geht es gut. Wirklich. Ich komme jetzt raus.“ Ich höre ihre Schritte, die sich entfernen.

Im Umkleideraum ist es still, jetzt, wo sie weg ist. Ich warte noch eine Minute, bevor ich hinausgehe. Die Frauen sind alle weg. Aber da ist ein junges Mädchen, das in meinen Spind greift.

„Was machst du da?“

Sie springt mit großen Augen zurück und winkt mir mit einem gefalteten Papier zu. „Korkma. O bana verdi.“

Ich weiß nicht, was sie sagt. Ich schaue in den Spind. Mein Portemonnaie ist noch verschlossen. Der Seesack mit meinen Sachen steht daneben. Beide sehen nicht berührt aus. Ich denke an all die Warnungen, die jeder über Taschendiebe und Bettler ausspricht. Aber sie scheint keine von beiden zu sein. Und sie rennt auch nicht weg. Sie fuchtelt weiter mit dem Papier vor mir herum.

„O bana verdi. Amerikalı için.“

„Ich spreche kein Türkisch.“

„Amerikalı mısın?“

„Ja.“

„Bu seninki.“ Sie drückt mir das Papier in die Hand und geht hinaus, als hätte sie mir gerade einen Gefallen getan.

Ich klappe den Zettel auf und starre auf die Worte. Die Schrift ist auf Englisch.

Willkommen zurück, Christina.

KapitelDrei

Zari

Zuvor

Sie gehört mir. Mir. Du kannst mir meine Tochter nicht wegnehmen. Ich werde es nicht zulassen.

Tränen liefen über Zaris Gesicht. Sie wollten nicht aufhören. Sie war nach Istanbul gekommen, in dieses Hotel, vorbereitet mit den Worten, die sie zu sagen hatte, mit dem, was sie zu tun bereit war. Aber sie hatte keine Chance.

Die Reise hierher war ein Albtraum, die Stunden verliefen am Rande von Panik und Verzweiflung. Der Bus aus Ankara hatte eine Panne in einem langen Tunnel, der sich durch die grünen Berge zog. Das Hupen der Autos und Lastwagen war ohrenbetäubend und hallte in der dampfenden Betonröhre wider, in der sie gefangen waren. Zari dachte, sie würde in dieser Dunkelheit sterben. Aus der fünfstündigen Fahrt wurden acht Stunden und der Regen prasselte auf das Dach des Busses und fiel in Strömen, als sie das Goldene Horn überquerten und in die Altstadt von Istanbul einfuhren.

Die Reise war schon eine Qual, aber das hier war noch schlimmer. Sie war zu spät dran.

Sie hielt auf einem Treppenabsatz des hinteren Treppenhauses des Hotels inne. Die Wände um sie herum drückten ihr die Luft aus den Lungen. Aber in Wirklichkeit war es nicht Zari, die nach Luft rang. Es war das Baby in ihren Armen.

„Ich werde dich nicht sterben lassen, Kleines.“

Aufzugeben war nicht die Art der Kurden. Damals in Qalat Dizah in Kurdistan, bevor die Bomben ihr Volk ermordeten, bevor die Panzer und Bulldozer der Armee ihre Stadt dem Erdboden gleichmachten, wuchs Zari mit dem Auswendiglernen von Ferdowsis Shahnameh, demBuch der Könige, auf. Charakter und Beharrlichkeit wurden ihr von Kindheit an eingeimpft.

Sie sah sich selbst immer als die intelligente und unabhängige Sindokht. Als Farangis, die eine Armee aufstellte, um den Tod ihres Mannes zu rächen. Sie war die tapfere Rudabeh, Mutter von Rostam, dem größten aller Helden. Und als Zari gezwungen wurde, ihr Land und alle, die sie liebte, zurückzulassen, war sie Manizheh, die ins Exil ging. Das Blut, das in ihren Adern floss, floss auch in ihren.

Erinnerungen an diese heldenhaften Frauen aus ihrer Geschichte kamen ihr jetzt. Sie verkörperten Weisheit, Hingabe und Mut. Sie prägten Zivilisationen. Sie waren Mütter, die für ihre Familien, für ihr Volk kämpften.

Aber heute hatte sie keine Chance, wie sie zu sein. Sie hatte keine Chance, ihre Stimme zu erheben oder zu kämpfen. Zaris Körper zitterte. Sie war so schnell wie möglich hierhergekommen, aber sie war zu spät. Jedes Fünkchen Hoffnung, an das sie sich geklammert hatte, war nun dahin. Ihr Leben war zerbrochen.

Die Kurden haben keine Freunde außer den Bergen. Es war so wahr. Hier in Istanbul war sie allein. Sie hatte absolut niemanden, der ihr helfen konnte. Niemanden, der mit ihr kämpfte, der ihr zur Seite stand. Sie war nichts weiter als ein Flüchtling, nur einer von Millionen, die gezwungen waren, aus ihrer vom Krieg zerrütteten Heimat wegzugehen.

Aber Zari war nicht weggegangen. Sie rannte. Mit dem Geschrei und der Explosion der Artilleriegranaten um sie herum rannte sie, so schnell sie konnte. Mit beiden Händen ihren geschwollenen Bauch haltend, war sie aus der Stadt, die sie ihr Zuhause nannte, geflohen.

Sie schloss sich einer müden, zerlumpten Gruppe und dann einer anderen an und schleppte sich über die zerklüfteten Pässe. Der Mond glitzerte auf dem Schnee der felsigen Gipfel, als sie nach Norden und Westen in die Türkei reiste. Sie konnte die bittere Kälte der Nacht noch in ihren Knochen spüren. Und am Wegesrand hatte sie die Überreste von kurdischen Landsleuten gesehen, meist Alte und Verletzte, die den beschwerlichen Weg nicht überlebt hatten. Doch als sie an den kleinen, eingewickelten Bündeln vorbeikamen – zu viele, um sie zu zählen –, wandte sie die Augen ab und flüsterte dem Kind in ihrem Schoß beruhigende Worte zu.

Jetzt, hier im Hotel in Istanbul, versuchte Zari, die Faust zu öffnen, die ihr das Blut aus dem Herzen quetschte.

Das Kind schlug mit einem Arm um sich, unfähig, auch nur einen Hauch von Luft in seine Lungen zu bekommen. Der Husten wurde von Stunde zu Stunde schlimmer.

„Atme, meine Liebe. Atme.“

Die Verstopfung war so dick wie Schlamm. Von morgens bis abends und darüber hinaus, vierundzwanzig Stunden am Tag, hatte Zari sie gefüttert, gewickelt, mit ihr gespielt, sie geliebt. Wenn sie nur für sie atmen könnte.

Sie war keine Ärztin, aber sie wusste, dass jeder dieser Momente der letzte sein konnte. Ein letzter, erschöpfter Versuch. Und dann die Kapitulation.

Ein Hustenanfall und das Baby keuchte.

„Bitte tu es. Gib nicht auf, kızım.“

Kızım. Meine Tochter.

Panik kroch ihr den Rücken hinunter. Zari setzte das Kind auf ihre dünne Schulter und klopfte ihm wiederholt auf den Rücken, während sie die Treppe hinunterging. Plötzlich ein harter Husten, und das Kind atmete keuchend und röchelnd. Und dann kreischte es.

Sie eilte hinunter, denn sie wusste, dass der Aufschub nur von kurzer Dauer war.

Am unteren Ende des Treppenhauses schwang die Tür zur Servicegasse auf. Ein uniformierter Hotelwächter trat vor und versperrte ihnen den Weg. Seine Gesichtszüge verdunkelten sich vorsichtshalber.

„Warte.“ Er starrte auf den Schal auf ihrem Kopf, auf die schwere Tasche, die sie um ihre Schulter geschlungen hatte. Sie wandte den Blick ab. „Sie sind kein Gast, und Sie arbeiten nicht hier. Was machen Sie in diesem Hotel?“

Der Wachmann sprach Türkisch. Zari verstand die Sprache gut genug, aber sie konnte es nicht riskieren, sie zu sprechen. Ihre Muttersprachen waren Sorani, Farsi und Arabisch. Keine davon konnte sie jetzt sprechen, denn er würde erkennen, dass sie eine Kurdin und ein Flüchtling war. Seit sie in diesem Land angekommen war, hatte sie hauptsächlich Englisch gelernt und gesprochen. Das musste sie auch. Sie beschloss, das jetzt zu benutzen. „Ich bin gekommen, um eine Freundin zu besuchen, die hier wohnt. Ich dachte, sie wohnt hier.“

„Eine Touristin?“

„Eine Touristin.“

„Woher?“

Zari schloss das Kind fester in ihre Arme.

„Amerika. Aber ich habe mich geirrt.“ Bevor er nach dem Namen fragen konnte, deutete sie auf die Tür hinter den Schultern des Wachmanns. „Ich werde jetzt gehen.“

„Ihr Baby?“ Er schaute misstrauisch von Zaris abgetragener, nasser Kleidung auf den neuen Mantel und die Schuhe des Kindes.

„Ja. Tiam. Tiam Rahman. Sie gehört mir.“

„Du bist keine Türkin. Zeig mir deine Papiere.“

Die Haut an Zaris Hals kribbelte vor Sorge. Sie war illegal.

„Papiere.“ Er streckte seine Hand aus.

Sie konnte die verwirrte, unterwürfige Frau spielen. Das hatte schon einmal funktioniert, als ein Polizist sie auf einer dunklen Landstraße außerhalb von Kayseri anhielt, um sie zu befragen. Vielleicht würde dieser sie passieren lassen, aber sie war das alles so leid. Müde von diesen Männern. In diesem Moment brach ein schrecklicher Husten von dem Kind in ihren Armen aus und erfüllte das Treppenhaus. Es hörte sich an, als würde die Lunge des Babys zerrissen werden. Unwillkürlich wich er zurück.

„Papiere.“

Das Kind schlug mit den Armen und versuchte zu atmen. Das Blut dieser Frauen aus den alten Geschichten flammte in Zaris Adern auf. Heftiger, mütterlicher Zorn ertönte in ihrer Stimme. „Ich kann mich nicht von Ihnen aufhalten lassen. Ich muss sie in ein Krankenhaus bringen. Gehen Sie mir aus dem Weg.“

Zari drängte sich an dem Sicherheitsbeamten vorbei, eilte zur Tür hinaus und bog in die Gasse zur Straße ein, wobei sie betete, dass er ihr nicht folgen würde.

KapitelVier

Zari

Zari rannte durch die Straßen und betete, dass sie noch rechtzeitig Hilfe finden würde. Das Baby rang nach Atem.

Die Stadt war neu für sie, aber als sie in einer Seitenstraße eine Apotheke fand, drängte sie sich an den Passanten vorbei und ging hinein. Einer der Angestellten kam sofort auf sie zu.

„Ich muss ein Krankenhaus finden“, sagte Zari.