Wenn der Verstand Pause macht, höre auf dein Herz - Ingrid Metz-Neun - E-Book

Wenn der Verstand Pause macht, höre auf dein Herz E-Book

Ingrid Metz-Neun

0,0

Beschreibung

Immer wieder passieren Dinge im Leben und kommt es zu Begegnungen, die einen zwingen, eine Entscheidung zu treffen. Gut, wenn man dann eine starke innere Stimme hat und auf sie hört. Aber besonders in jungen Jahren ist man gern unvernünftig und macht genau das nicht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 141

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Immer wieder passieren Dinge im Leben und kommt es zu Begegnungen, die einen zwingen, eine Entscheidung zu treffen. Gut, wenn man dann eine starke innere Stimme hat und auf sie hört. Aber besonders in jungen Jahren ist man gern unvernünftig und macht genau das nicht.

Ingrid Metz-Neun, Jahrgang 1950, Schauspielerin, Sprecherin, Regisseurin, Autorin. Lebt nach vielen Großstadtjahren in einem kleinen Ort an der Nordsee. Sie schreibt Geschichten, Gedichte und kleine Romane über das Leben.

Jede große Liebe ist die Geschichte großer Geduld.

Anonym

Liebe vermehrt sich, wenn man sie unter mehrere Männer aufteilt.

Jeanne Moreau

Inhaltsverzeichnis

Uli

Erwachen

Fred

Bad Homburg

Der abend

Theaterprobe

Risikofaktor

Premiere

Uli

Zauberfee

Die Tournee

Weihnachten

Die Entführung

Èze

Prag

Abschlussprüfung

Gabi

Helmut

Heirat

Briefe

Das Haus

Niederkunft

Doppelleben

Scheidung

Mein Sohn

Der Laden

Jahre später

Strandspaziergang

Gerhard

Wiedersehen

Zehn Jahre zuvor

In der U-Bahn

Das Telefonat

Seine Stimme

Nordstrand

Wind und Wellen

Die Entscheidung

Das Schiff

Gerhard

Melanie

Neuanfang

Sie

In der Bahn

Im Hotel

ULI

ERWACHEN

Hey, wo war ich denn hier gelandet? Ich traute meinen Augen nicht. So betrunken konnte ein Mensch doch gar nicht sein … Ich biss mir auf die Unterlippe. Nein, ich befand mich in der Realität. Aber in welcher? Mein Erinnerungsvermögen ließ mich im Stich. Ich schaute mich vorsichtig um und inspizierte die Umgebung in allen Einzelheiten. Mein Kopf fühlte sich an wie ein zu groß geratener Kürbis, deshalb versuchte ich, jede Bewegung zu vermeiden.

Daran bestand jedoch kein Zweifel: Ich lag nackt in einem Bett von ungeheuren Ausmaßen. Es war aus ziegelroten Backsteinen gebaut. Die Bettwäsche war aus dunkelrotem Satin. Das Muster der Kissenbezüge kam mir irgendwie bekannt vor. Natürlich! Eine Freundin besaß ein Seidentuch, das ähnlich aussah. Ganz stolz hatte sie es in der Schauspielschule allen gezeigt, die es sehen wollten – oder auch nicht.

„Das hat mir mein Freund, der Fabrikant, aus Paris mitgebracht. Ein echtes Hermès-Tuch!“ Und bei der Aussprache von Hermès hatte sie – ganz französisch – das H nicht mitgesprochen. So viel also zu den Kissen.

Am Fußende des Bettes befanden sich rechts und links schmiedeeiserne Pfosten. Über einem hing ein wunderschöner, seidener Morgenmantel. Halb auf dem Bett und halb auf dem Boden lag eine große Felldecke. Sie erinnerte mich an den abnehmbaren Fuchskragen auf dem schwarzen Wintermantel meiner Mutter. Der tote Fuchs konnte sich in den Schwanz beißen, und dann war der Kragen geschlossen. Als Kind hatte ich schreckliche Angst davor und war froh, wenn er den Sommer über eingewickelt in ein Leinentuch auf dem Dachboden verbringen musste.

Also wenn es Fuchs war, dann musste für diese Decke ein ganzes Rudel geopfert worden sein. Gegenüber dem Bett befanden sich riesige Einbauschränke, die bis unter die Decke reichten. Einzelne Türen, die offen standen, waren innen und außen verspiegelt. Aber damit nicht genug. Über dem Bett hing ein Spiegel, mindestens zwei auf zwei Meter, mit einem üppigen goldenen Rahmen, der sehr gut in den Spiegelsaal eines Louis XV. gepasst hätte. Diese Anhäufung von „nackter Venus“ unzählige Male über, vor und neben mir half keineswegs, meinen Kürbiskopf klarer zu bekommen. Ich beschloss, vorsichtig aufzustehen und mich auf die Suche nach einem Badezimmer zu begeben. Denn ich musste mal dringend.

Nachdem ich drei falsche Spiegeltüren geöffnet hatte, landete ich schließlich in einem, ganz in verschiedenen Grüntönen gekachelten Raum und erblickte zu meiner Freude eine Toilette. So schnell ich darauf saß, so schnell war ich auch wieder aufgesprungen, denn beim Hinsetzen neigte sich die Klobrille und gab ein komisches Geräusch von sich, außerdem wurde ich abwechselnd mit warmem Wasser berieselt oder mir wurde Luft zugefächelt.

Ich ging zum Waschtisch. Automatisch kam lauwarmes Wasser aus einem goldenen Hahn. Ich wusch mir das Gesicht und während ich mich mit einem flauschigen goldenen Handtuch abtupfte, kam ich langsam wieder zu mir.

Nachdem ich mich an den ungewöhnlichen Toilettensitz gewöhnt hatte, unternahm ich einen zweiten Versuch. Erst jetzt bemerkte ich, dass leise Musik spielte, die, wie ich später herausfinden sollte, beim Betreten des Bades automatisch einsetzte.

Allmählich setzte auch meine Erinnerung wieder ein. Gleichzeitig verspürte ich einen unbändigen Durst, und deshalb nahm ich mein Herz in die Hand, schlüpfte in den wunderschönen seidenen Morgenmantel und erkundete weiter das Haus.

Die Küche war in den Wohn- und Essbereich integriert. Auf der Theke lag eine Nachricht. Ich war begeistert von dem Schriftbild. Meine „Sauklaue“ konnte selbst ich manchmal kaum entziffern. Diese hier sah aus wie eine Grafik.

Da stand in Großbuchstaben:

LIEBE ZAUBERFEE! ICH DANKE IHNEN FÜR DIE WUNDERBAREN STUNDEN, DIE ICH IN IHRER GESELLSCHAFT VERBRINGEN DURFTE. LEIDER MUSS ICH SEHR FRÜH AUS DEM HAUS, BRACHTE ES ABER NICHT ÜBERS HERZ, IHREN SÜSSEN SCHLAF ZU STÖREN.

WENN SIE DIE KAFFEEMASCHINE AUF „ON“ STELLEN, HABEN SIE GLEICH DUFTENDEN KAFFEE. CROISSANTS LIEGEN IM BROTKASTEN.

WENN SIE DAS HAUS VERLASSEN, BRAUCHEN SIE NUR DIE EINGANGSTÜR HINTER SICH ZUZUZIEHEN. DIE ALARMANLAGE IST DANN AUTOMATISCH AKTIVIERT. ALSO DANN BITTE NICHT MEHR TÜR ODER FENSTER BERÜHREN, SONST WIRD ALARM AUSGELÖST.

ICH WÜNSCHE IHNEN EINEN ERFOLGREICHEN TAG UND WERDE MIR ERLAUBEN, SIE HEUTE ABEND ANZURUFEN.

IHR ERGEBENSTER ULRICH.

Ich stellte die Kaffeemaschine auf „on“, und während mir der würzige Duft in die Nase stieg, dachte ich, auf die gekachelte Arbeitsplatte gestützt, nach. Ulrich. Wie war das gestern gewesen?

FRED

Ich hatte nach der Schauspielschule geduscht, Haare gewaschen und mich sorgfältig geschminkt und frisiert. Dann hatte ich eine Auswahl an Kleidern über den Arm geworfen, Handtasche und Schminkkoffer geschnappt und war in Windeseile die fünf Stockwerke hinuntergerannt, weil ich mit einem Blick zur Wanduhr festgestellt hatte, dass ich mal wieder zu spät dran war. In meinem klapprigen R4 fuhr ich zu der verabredeten Stelle, einem Park mit Kinderspielplatz, wo Fred, der Fotograf, bereits ungeduldig wartete. An der Art, wie er seine Zigarette austrat, merkte ich, dass er etwas stinkig war.

„Das geht so nicht, Baby“, raunzte er mich an, „gewöhn dir doch mal an, pünktlich zu sein. Ich hab noch einen Anschlusstermin. Außerdem ging es mir um ein ganz bestimmtes Licht. Das fangen wir jetzt nicht mehr ein.“

„Was soll ich anziehen? Ich bin schon geschminkt. Sind meine Haare so okay?“

„Ja, bleib so. Geh mal da rüber zu dem Ginkgo und knöpf deine Bluse auf“, knurrte er schon etwas versöhnlicher.

„Meinst du diesen Baum hier?“

„Na klar, was denn sonst.“

„Entschuldige, aber du weißt doch, ich bin blond und blöd.“ Und dann knöpfte ich brav meine Bluse etwas weiter auf und lehnte mich an den Baum mit den hübschen Blättern, die ähnlich einem Herz, nein fast wie ein Fächer aussahen, brach eines ab und spielte versonnen damit.

„Ja, bleib so“, sagte Fred, während er in den verdrehtesten Stellungen vor mir kniete, um gekonnt ein Stückchen Himmel, Baum und Mädchen einzufangen.

Ich war beileibe nicht schön, aber ich ließ mich angeblich gut fotografieren. Nicht im Ganzen, wie ich bemerkt hatte, sondern in Teilen. Ja tatsächlich, mein Gesicht, meine Haare, meine Hände, meine Brüste, meine Füße waren für sich betrachtet wunderschön, aber irgendwie schien alles zusammen nicht zu meinem Körper zu passen.

Egal, Fred fotografierte für verschiedene Illustrierte. Eines Tages war er in die Schauspielschule gekommen und hatte angeboten, kostenlose Set-Karten von denjenigen zu machen, die er dann mittels seiner Kartei vermarkten durfte.

Ich hatte Glück gehabt, als ich schon kurze Zeit später auf der Titelseite einer drittklassigen Teenie-Zeitschrift erschien, die scheinbar von genügend Leuten gelesen wurde, die mit Werbung zu tun hatten. Jedenfalls verdiente ich mir mein Schulgeld nun mit Aufnahmen für ein neues Topf-Set oder Nagellackentferner oder eben für jenen wunderwirkenden Ginkgo-Saft aus den Blättern des chinesischen Ginkgo-Baumes, der als Nacktsamer mit den Nadelhölzern verwandt ist und sowohl vorbeugend gegen Alzheimer und Demenz als auch bei Durchblutungsstörungen und Migräne helfen soll, wie mir Fred lang und breit erläuterte.

Jedenfalls hatte er lange gesucht, bis er ein solches Exemplar bei uns gefunden hatte, und schoss jetzt in affenartiger Geschwindigkeit ein Foto nach dem anderen.

„Sag mal, hat das auch was mit dem Ginseng-Saft zu tun, den manche bei uns in der Schule trinken? Der soll unheimlich scharf machen“, wollte ich wissen.

„Nein, natürlich nicht“, belehrte mich Fred. „Der wird aus der Wurzel des Ginsengs gewonnen, und das ist ein Efeugewächs aus China. Ginkgo ist ein Baum, der kommt auch aus China, ist aber in Europa äußerst selten. Du bist wirklich blöd.“

Wir mussten beide lachen, denn er wusste, dass ich seine lehrerhafte Art mochte. Außerdem gibt es nichts Besseres, als sich beim Fotografieren zu unterhalten, denn dadurch werden die Bilder viel natürlicher.

„Schade, es wird zu dunkel. Komm, wir machen Schluss. Es müsste was dabei sein.“

Damit packte er seine Kameras und unzähligen Objektive ein.

„Ich muss noch nach Bad Homburg zu einem Industriellen, dessen Yacht heute Abend getauft wird. Komm doch mit, wenn du Zeit hast. Ist bestimmt ganz interessant.“

„Meinst du, ich kann da einfach so mitkommen?“

„Klar, als meine Assistentin.“

BAD HOMBURG

Gesagt, getan. Als ich jedoch hinter Fred die Privatstraße zu dem pompösen Anwesen herauffuhr, wurde mir ganz mulmig. Große Limousinen parkten einträchtig nebeneinander, darunter diverse Rolls Royces und etliche Exoten, die ich nicht kannte. Am liebsten hätte ich mich jetzt doch verkrümelt, aber dann siegte die Neugier. Zumal ein netter Herr auf mich zukam und mich fragte, wohin ich wollte, und mir sofort einen Parkplatz zuwies, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich die Assistentin von Herrn Möller sei.

Pflichtbewusst trug ich dann die Alukoffer und ging Fred zur Hand, der in aller Ruhe seine Stative aufbaute und genau im richtigen Moment mit seinen Vorbereitungen fertig war, als ein weißhaariger, hagerer Mann eine Flasche Champagner über der auf Holzbohlen aufgebockten Yacht ausgoss, eine kurze Rede hielt und mit den Worten endete: „Und so taufe ich dich auf den Namen Christina!“

Dezenter Applaus und Bravo-Rufe des erlesenen Publikums, das sich dann bald im Garten zerstreute, wo unter unzähligen Lampions ein Buffet aufgebaut war.

Das Motorboot gehörte jetzt uns, und Fred fotografierte jedes Detail. Ich hatte so etwas Tolles noch nie gesehen und konnte mir nicht verkneifen, mich in die schneeweißen Lederpolster gleiten zu lassen und zärtlich über das Walnussholz zu streicheln.

„Gefällt es Ihnen?“, fragte eine angenehme Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und erblickte einen Herrn von nicht weniger angenehmer Optik. „Oh ja“, hauchte ich ehrfürchtig.

„Es war schon eine Herausforderung, auf so kleinem Raum all meine Ideen unterzubringen.“

„Haben Sie es gebaut?“, fragte ich.

„Ja, entworfen und gebaut. Morgen früh bringen wir es runter nach Marseille. Bin gespannt, ob es auf dem Wasser hält, was es verspricht.“

Zum Glück rief in dem Moment der Gastgeber nach ihm und er meinte rasch: „Verzeihen Sie, ich bin gleich wieder da.“

„Kennst du den?“, fragte ich Fred.

„Klar, das ist der kreative Kopf hinter diesem Imperium. Dem Weißhaarigen gehören zweihundert Firmen. Christina ist seine dritte Frau, seine ehemalige Sekretärin. Er ist sehr krank. Der kann sein ganzes Geld gar nicht mehr genießen. Aber der van Uhlen, Ulrich van Uhlen, das ist der große Blonde, der dich gerade angesprochen hat, der ist ein Genie. Von Haus aus Architekt, aber eher ein Erfinder. Du, der kommt zurück, sei nett zu ihm. Ich mach mich dann langsam auf die Socken, bin soweit fertig. Hanne wartet auf mich.“

Und ehe ich noch etwas sagen konnte, hatte Fred seine Alukoffer geschnappt und war bereits auf dem Weg zu seinem Auto.

DER ABEND

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so habe stehen lassen …“ „Aber ich bitte Sie, das macht doch nichts. Wir sind fertig mit unserer Arbeit, und ich möchte mich verabschieden“, antwortete ich schnell.

„Das kommt gar nicht in Frage, Sie haben ja noch nichts gegessen. Schauen Sie sich das herrliche Buffet an.“

Ein kurzer Blick sagte mir, dass es bereits ziemlich leergefegt war, und ich musste lächeln. Gleichzeitig knurrte genau in dem Moment mein Magen so laut, dass es sich wie ein Hilferuf anhörte. Wir schauten uns in die Augen und mussten beide lachen.

„Ich bin doch gar nicht entsprechend angezogen und würde mich nicht wohlfühlen. Herzlichen Dank für die Einladung. Auf Wiedersehen.“

„Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen …“

„Nicht nötig, danke schön.“

Ich winkte ihm zu und wollte mit einer flinken, eleganten Bewegung von den Holzbohlen hüpfen, auf denen wir noch immer standen, als ich mit meinem Absatz hängen blieb und mich im letzten Moment gerade noch auffangen konnte. Wie peinlich!

„Kommen Sie, ich repariere Ihnen das gleich.“

Ulrich reichte mir seine Hand, eine große raue und doch zarte Hand, und ich humpelte – meinen Absatz umklammernd – hinter ihm her.

Ein Kloß steckte mir im Hals. Dieser Mann faszinierte mich. Nur zu gern ließ ich mich von ihm entführen. Er sah aus wie der Schauspieler Curd Jürgens, nur jünger, und er hatte eine so angenehme tiefe, weiche Stimme, dass es mir Schauer über den Rücken jagte.

„So, da sind wir schon“, lachte er, als wir nach ein paar Metern vor einem Haus stehen blieben, und erst als er ein paarmal vergeblich versucht hatte, mit dem Schlüssel das Türschloss zu treffen, merkte ich, dass er bereits einen gehörigen Schwips hatte.

„Setzen Sie sich, ich bin gleich wieder da“, rief er mir über die Schulter zu und verschwand samt Schuh und Absatz. Ich blickte mich um. Von außen hatte das Haus wie ein überdimensionaler Pferdestall ausgesehen, allein die Eingangshalle war riesig. Mir gefiel diese Mischung aus Schlichtheit und Eleganz ungemein. Auf dem Steinfußboden lag ein wertvoller Teppich. Zwei uralte bequeme Sofas luden zum Verweilen ein. Daneben ein schlichter Tisch und eine alte Truhe, über der in einem dunklen Rahmen zwei Kühe weideten. Eine Skulptur in der Ecke interessierte mich besonders. Sollte das eine halbfertige mollige Frau sein oder ein Fisch senkrecht? Ich grübelte.

„Schauen Sie, wie neu“, damit reichte er mir meinen intakten Schuh.

„Sehr lieb von Ihnen, Herr –“

„Van Uhlen, Ulrich van Uhlen, und Sie sind …?“

„Juliane Karg!“

Beinahe hätte ich einen Knicks gemacht, wie damals bei der Aufnahmeprüfung zur Schauspielschule. Männer einer gewissen Statur und Ausstrahlung flößten mir einfach Respekt ein.

„Was halten Sie davon, wenn ich uns etwas zu essen mache? Kommen Sie, leisten Sie mir Gesellschaft. Ich habe keine Lust mehr, zu den anderen zurückzugehen. Ich rufe ein paar Freunde an.“

Ohne meine Antwort abzuwarten, begann er zu telefonieren. Wenig später stand er in der Küche, brutzelte Steaks und zeigte mir, wie er die Tomaten und Gurken für den Salat gern geschnitten haben wollte.

Seine Freunde trafen ein.

„Uli, das war eine tolle Idee, dass du uns von der langweiligen Party weggeholt hast!“

„Ihr dürft mich aber nicht verraten.“

„Na, wir doch nicht.“

„Darf ich euch Juliane Karg vorstellen.“

Ein vielstimmiges „Hallo“ und „nett, Sie kennenzulernen“ hob an und war der Auftakt eines ungemein feuchtfröhlichen Abends. Da ich nichts im Magen hatte, wirkte der Alkohol sofort.

Ich erinnerte mich, dass irgendwann alle Gäste gegangen waren und Uli mich auf seinen starken Armen davontrug, und dann musste ich eingeschlafen sein. So sehr ich mich anstrengte, ich wusste nicht mehr, ob wir miteinander geschlafen hatten oder nicht. Ich wusste nur, dass ich mich irrsinnig in diesen Mann verknallt hatte, in seine Stimme, in seine Art. An seine Hände erinnerte ich mich dann doch und an seine Küsse. Ja, geküsst hatten wir uns – und mehr?

Ich las immer wieder seine Zeilen. „Zauberfee“ nannte er mich, aber er duzte mich nicht. Was war bloß geschehen? Langsam trank ich den Kaffee. Dieser Mann war fast doppelt so alt und ein paar Nummern zu groß für mich, das war klar, aber ich wollte ihn unbedingt wiedersehen. Hoffentlich war das nicht nur eine Höflichkeitsfloskel: „Ich erlaube mir, Sie heute Abend anzurufen.“

Er wollte doch nach Marseille. Und überhaupt, dass er mich einfach so zurückließ und scheinbar keine Angst hatte, ich würde ihm das Haus ausräumen. Ich musste mir alles noch einmal in Ruhe ansehen. Es war wirklich zu irre.

Hinter dem großzügigen Eingangsbereich verjüngte sich der Raum zur Diele mit Garderobe und Gäste-WC. Daneben seine „Werkstatt“, wie er angemerkt hatte. Durch die Diele kam man in den Wohn- und Essbereich mit der offenen Küche. Meine Güte, da standen so viele Geräte, deren Zweck ich noch nicht mal kannte. Ich wusste, wie eine Brotbackmaschine, ein Mixer und ein Entsafter aussah, aber der Rest? Und dann erst die Sammlung diverser Messer in einem riesigen Holzklotz.

Im Essbereich befand sich, neben der aus alten dunklen Hölzern gezimmerten Bar, die alle Raffinessen aufwies, ein großer, runder heller Tisch mit einer Drehplatte in der Mitte. „Die hat Uli mal während eines Fondue-Essens erfunden, als er nicht schnell genug an die verschiedenen Soßen herankam. Jetzt genügt ein Dreh, und die gewünschte Schale steht vor dir“, hatte mir ein Freund am Vorabend erzählt und demonstriert.

Jenseits dieses Bereichs, ein paar Stufen tiefer, war die gemütliche Kaminecke. Während eine Treppe mit Geländer, breit genug, um als Bücherregal zu dienen, hinauf zu einer Galerie mit überdimensionalem Schreibtisch führte.