Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht - Jan Skudlarek - E-Book

Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht E-Book

Jan Skudlarek

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Beschreibung

»Jan Skudlarek lädt uns dazu ein, das Kindergartenniveau aktueller liberaler Freiheitsvorstellungen zu überdenken. Es geht um nicht weniger als unsere Zukunft.« Max Czollek Ob Impfpflicht, Abtreibungsverbot, Wehrdienst oder Cannabislegalisierung – ethische Fragen betreffen uns alle. Allgemeinwohl vor Eigeninteresse? Oder: Mein Körper, meine Entscheidung? Der Philosoph Jan Skudlarek erörtert die großen Streitfragen unserer Gesellschaft, deckt gängige Irrtümer und falsche Argumentationen auf und entwirft so eine konkrete Handreichung für solidarisches Handeln im Zeitalter der Krisen. Vor über vierzig Jahren erschien das Hauptwerk des Philosophen Hans Jonas, in dem er sich damit beschäftigt, wo die Freiheit des Einzelnen endet: Das Prinzip Verantwortung. Heute ist die Frage nach Freiheit und Verantwortung brennender denn je – und gleichzeitig ungelöst. Was ist das eigentlich, Verantwortung? Warum fällt sie uns so schwer? Und wieso ist eben nicht an alle gedacht, wenn jeder an sich denkt? Ebenso wie ein Mensch mehr ist als die Summe seiner Zellen und eine Stadt mehr als die Summe ihrer Häuser, zeigen uns die gegenwärtigen Krisen, dass die menschliche Gemeinschaft mehr ist als die bloße Summe ihrer egoistischen Individuen. Doch wie gelingt gesellschaftlicher Zusammenhalt in Krisenzeiten? Jan Skudlarek entwirft in diesem Buch ein neues Wir: eines, das sich mit unserem Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung vereinen lässt. Eines, das solidarisch ist. Ein Wir, das trägt und verbindet, statt ausgrenzt und spaltet. »Wenn Freiheit toxisch wird, ist Solidarität die Antwort. Jan Skudlarek entwirft einen neuen Freiheitsbegriff, der uns durch die Krisen unserer Zeit navigiert. Ein kluges, differenziertes Buch.« Pia Lamberty

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Cover for EPUB

Jan Skudlarek

Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht

Streitschrift für ein neues Wir

Tropen Sachbuch

Impressum

Die Torte der Wahrheit Grundpfeiler des liberalen Freiheitsbegriffsvon Katja Berlin stammt aus: DIE ZEIT 13/2022, S. 10, © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Illustration von © FinePic®, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

Lektorat: Julia Matthias

ISBN 978-3-608-50178-0

E-Book ISBN 978-3-608-11914-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Freiheit auf Abwegen

Kapitel 1

Me, Myself and I – Die individualistische Gehirnwäsche

Von Herdentieren zu Einzelmenschen

Die drei Säulen des Individualismus

Ich denke, also bin

ich

Exkurs: Cast Away

Industrialisierung und Urbanisierung

Freiheit als politisches Grundprinzip

Gemeinsam allein

Kapitel 2

My Body, My Choice? – Die Grenzen der Körperautonomie

Das Problem der Körperautonomie

Was ist Autonomie?

Drei Formen der Körperautonomie

Autonomie vs. Autonomismus

Was ich darf – und was nicht

Der Sprung in die Freiheit

Kapitel 3

Über Richtig und Falsch – Die Ethik der Freiheit

Vom Tun und Lassen

Zeigefinger und Spielverderber

Zwischen Pest und Cholera

Das Glück der Meisten

Das Gegenteil von Gut

Looking for Freedom

Die Geschichte reimt sich

Kapitel 4

Das Ich im Wir – Solidarität und Verantwortung

Hauskatzen und Einkaufswagen

Unterwegs ohne Ticket – Das Trittbrettfahrerproblem

Wo sind die Samariter?

K(l)eine Egoisten

Da sein, wo wir gebraucht werden

Kapitel 5

Die Allmende – Leben in einer gemeinsamen Welt

Mehr Allmende wagen

Das Gemeinwohlproblem

Langstreckenethik statt Langstreckenflügen

Ohne Verzicht geht’s nicht

Epilog

Keine Insel

Bonus

Kontrollfragen zur Freiheit

1. Wem schadet es, wenn ich Regel X übertrete?

2. Welche Güter stehen in Konflikt?

3. Mache ich das jetzt einmal – oder immer?

4. Erleidet mein Beruf einen Schaden durch mein Handeln?

5. Fällt das ins Öffentliche oder Private?

6. Steht mir das zu?

7. Was, wenn alle X täten?

8. Wäre ich gern der andere?

9. Was ist mit den Schwächeren?

10. Ist das, was ich tue, gerecht?

Literatur

Anmerkungen

* Die Torte der Wahrheit von Katja Berlin, DIE ZEIT 13/2022, S. 10

Prolog

Freiheit auf Abwegen

»Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.« So lautet ein berühmtes Zitat von Søren Kierkegaard. Doch, seien wir ehrlich, manches versteht man schon mittendrin. Zu Beginn der Corona-Krise wuchs jedenfalls schnell die Erkenntnis, es handele sich nicht nur um eine virale Notlage, sondern auch um eine freiheitliche. Während die Maske im Supermarkt zum kleineren Übel gehörte, regelten Versammlungsverbote und Schulschließungen direkt in unsere persönliche Lebensführung hinein. Bis ins Absurde. Auf traurige Weise berühmt wurde ein Tweet der Polizei aus dem Frühjahr 2020: »Nein, ein Buch auf einer Bank lesen ist nicht erlaubt.«[1]

Plötzlich eingeschränkt und reguliert, sahen wir uns wie zu keinem anderen Zeitpunkt der letzten Jahrzehnte auf unsere eigene körperliche Existenz zurückgeworfen. Der fremde Körper wurde zur potenziellen Gefahrenquelle, jede menschliche Begegnung zum Wagnis. Von dieser Kombination – der plötzlichen Gesundheitsgefahr »Corona«, gepaart mit ganz wesentlichen staatlichen Eingriffen in die soziale Wirklichkeit – wurden viele Menschen mürbe.

Vielerorts zeigte sich: In der Krise ist sich jeder selbst der Nächste. Wir haben einander das Klopapier weggekauft, Masken kaum oder nur widerwillig getragen, heimlich Partys gefeiert, einander leichtsinnig und fahrlässig infiziert. Als der Impfstoff kam, ließen sich viele von uns impfen, allerdings beileibe nicht genug. Gegenmeinungen wurden lauter und die Frage, wie man zu Impfungen steht, plötzlich immer relevanter.

Schon im Januar 2019, also ein ganzes Jahr vor den ersten Corona-Fällen im chinesischen Wuhan, hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die weltweite Impfgegnerschaft zur globalen Bedrohung erklärt. Im Blick der Wissenschaftler waren damals vor allem die Masern und deren Spätfolgen. Die Wissenschaftlerinnen der WHO nannten Impfgegnertum und Impfzögerlichkeit in einem Atemzug mit Ebola, Antibiotikaresistenzen, Klimakrise und Luftverschmutzung. So gefährlich erschien ihnen die Weigerung, sich impfen zu lassen – als Gefahr für die öffentliche globale Gesundheit.[2] Eine Einschätzung, deren soziale Sprengkraft sich bewahrheitete.

Doch das Warnen der WHO beeindruckte keineswegs alle. Selbsternannte Querdenker sangen sogar lautstark das Lied des Widerstands im Kampf gegen eine imaginierte Gesundheitsdiktatur. Ihr Feind: die Regierung. Ihr größter Triumph: das Scheitern der allgemeinen Corona-Impfpflicht. Hat die Pandemie unserer freien Welt Risse verpasst? War prä-Corona alles besser? Waren damals die Grenzen unserer Freiheit, des Machbaren und des Wünschenswerten klar umrissen?

Wohl kaum. Schon vor Corona war der Freiheitsbegriff dauerhaft im Krisenmodus. In den Jahren 2008 und 2009 war es die Banken- und Finanzkrise, die weltweit Menschen zur Verzweiflung brachte. Was als Vorstellung begann, möglichst vielen Menschen zum Eigenheim zu verhelfen, entwickelte sich zum Finanz-Fiasko. Mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers platzte eine spekulative Blase, die sich sowohl an den internationalen Börsen als auch auf den privaten Bankkonten bemerkbar machte.

In Europa ging die Finanzkrise fast nahtlos in die Eurokrise über. Ab 2010 sah sich die Eurozone in ihrer Autonomie und finanziellen Handlungsfähigkeit bedroht. Rekordarbeitslosigkeit in Spanien, Massenproteste in Griechenland. Die Verzweiflung war greifbar, und die Europäische Union – mit ihrem Leitspruch »In Vielfalt geeint« – sah sich, gänzlich uneinig, vor einer Zerreißprobe. Im Rückblick wirkt auch dies bereits wie eine düstere Vorschau: Jene Freiheitskonflikte zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, die wir in letzter Zeit immer wieder zwischen Bürgern und Staat erleben, sahen wir schon damals – nur eben zwischen Staaten und ihrem übergeordneten Staatenverbund.

Und bei genauer Betrachtung entpuppt sich schon die Eurokrise als Summe mehrerer Krisen, als eine Mischung aus Staatsschulden-, Banken- und Wirtschaftskrise. Diese Gleichzeitigkeit mehrerer Problemherde ist durchaus symptomatisch für die Geschichte unseres noch jungen Jahrhunderts. Wir leben im Zeitalter multipler Krisen. Viele davon sind freiheitsbedrohlich. Und vor allem: Politische Krisenzustände treten nicht sukzessiv oder gar voneinander isoliert auf. Im Gegenteil: Sie greifen ineinander, bedingen sich gegenseitig, entwickeln sich chaotisch, drastisch und simultan. Der Essayist Nassim Nicholas Taleb spricht sinnbildlich von »Schwarzen Schwänen«, die unsere Gesellschaften als unwahrscheinliche, unerwartete Großereignisse heimsuchen.[3]

Zum Glück verschwinden viele dieser Krisen nach und nach wieder. Sie werden bewältigt. Andere hingegen flammen wieder auf, bleiben teilweise oder gänzlich ungelöst. Von der Eurokrise ist nicht mehr die Rede. Dafür haben wir jetzt eine Inflation, die jeder von uns an der Supermarktkasse bemerkt. Zeitgleich wird der Wohnraum immer teurer, in Ballungsräumen geradezu unbezahlbar. Und als wäre dies alles nicht genug, griff der russische Präsident Wladimir Putin 2022 nicht nur die Ukraine an, sondern zugleich unsere Weltordnung – inklusive unserer westlichen Vorstellung von Freiheit. In der Folge wachsen die Spannungen zwischen den Großmächten wieder. Der Kuchen wird neu verteilt. Und die nächste Krise zeichnet sich bereits am Horizont ab. Wohin man nur schaut: Freiheit ist ein bedrohtes Gut. Ein Ende des Krisenmodus? Kaum in Sicht.

Der permanente Krisenmodus ist auch im Tagespolitischen sichtbar. Seit Jahren ist zum Beispiel das Tempolimit auf Autobahnen politisches Schreckgespenst für die einen, moralisch geboten und längst überfällig für die anderen. Die Frage nach Fleischkonsum und Fleischverzicht ist notorisch ungeklärt, Kurzstreckenflüge, Bahn- und Kreuzfahrten bleiben umweltethische Streitthemen. Und wie eine fünfte Jahreszeit erlebt Deutschland jedes Jahr aufs Neue eine »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«-Debatte, die sich mal an Pippi Langstrumpf, mal an Winnetou, mal an Schaumküssen (Stichwort N-Wort) und mal an Paprikaschnitzeln (Stichwort Z-Wort) abarbeitet. Vom Böllern bis zum »Blackfacing«, alles ist dabei. Gender-Debattieren, bis die Ärztin kommt.

Die Protagonistinnen in diesem Schauspiel sind immer dieselben: Konservative Kräfte einerseits, die jede noch so kleine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse – sei sie kulinarisch, linguistisch oder automobil – als Verrat an Tradition, als »Untergang des Abendlandes« und als Resultat einer linksgrünen Verbieterei beschreiben. Und auf der anderen Seite progressive Kräfte, die endlich Veränderung wollen, ungeduldig neue Freiheiten herbeisehnen, mehr Umweltschutz verlangen, lautstark ein Ende von Diskriminierung, chauvinistischer Bevorzugung und Altmänner-Privilegien fordern. Es sind vor allem junge Menschen, die innovativen Modellen des Miteinanders eine Chance geben und das Gestern endlich gestern sein lassen wollen, getreu dem Motto: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Der Streit um Freiheitsräume, um den Körper, die Grenzen des Machbaren und die Ethik des Wünschenswerten ist also ein sozialer Dauerbrenner – nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Mutige, meist junge Menschen protestieren ab Herbst 2022 im Iran gegen ein Regime, das ihnen islamistische Körper- und Kleidungsnormen aufzwingt. Auslöser der Proteste ist der Tod von Jina Mahsa Amini, einer 22-Jährigen, die von der sogenannten Sittenpolizei in Teheran festgenommen und misshandelt wird, weil ihr Kopftuch angeblich nicht regelkonform sitzt. Amini und, in Folge der Proteste, viele weitere sterben durch Polizeigewalt.

In Deutschland wiederum blockieren »Klimakleber« die Straßen. Neben Fridays for Future fordert eine Letzte Generation endlich ein Umdenken. Überall rumort es zwischen jenen, die am Bekannten festhalten, und jenen, die auf zu neuen Ufern wollen. Freiheit und ihre Legitimität stehen zur Debatte. Und im Zeitalter der Klimakrise wird das wohl so bleiben. Wir hamstern momentan kein Klopapier mehr, aber weiterhin zeigt sich eine egoistische, vehemente Ich-Freiheit, versteckt unter einer dünnen Decke zivilisatorischer Solidarität. So waren zum Beispiel der Zuspruch und das Mitgefühl für die brutal von Russland überfallene Ukraine zunächst monatelang grenzenlos – bis im Herbst 2022 die eigene Strom- und Gasrechnung stieg. Und während es jedem von uns einleuchtet, dass »wir als Gesellschaft« ökologisch kürzertreten müssen, fällt es jedem Einzelnen von uns – inklusive mir – manchmal schwer zu begreifen, warum »gerade ich« damit anfangen sollte. Die Hölle, das sind die Inlandsflüge der anderen.

Die Individualfreiheit dominiert also weiterhin, während soziale Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht längst bestätigen, dass Pandemiemaßnahmen wie Schulschließungen rechtens und grundgesetzlich legitim waren. Selbst den großen demokratischen Institutionen dämmert, dass manchmal nur schmerzhafte, kollektive Einschnitte das Gemeinwohl gewährleisten. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist vor allem vor dem Hintergrund der Klimakrise überzeitlich aktuell. Neben allen punktuellen Problemen zeigt sich in der Verlangsamung der Erderwärmung die zentrale freiheitsbedrohende Herausforderung unserer Zeit. Und längst hat abermals das Bundesverfassungsgericht – der Linksradikalität unverdächtig – erkannt, dass »notwendige Freiheitsbeschränkungen« durchaus früher oder später ergriffen werden müssen.[4]

Unsere zukünftige Freiheit scheint paradoxerweise gerade deshalb in Gefahr, weil wir aus egoistischen Gründen nichts zu ihrem Schutz unternehmen – da wir uns zu sehr um die gegenwärtige Freiheit sorgen. Während allmählich die Rücksicht mit den Rücksichtslosen bröckelt und die Spaltung der Gesellschaft gefühlt voranschreitet, sind die Fragen, die aufgeworfen werden, immer wieder dieselben. Wie weit darf die Freiheit des Einzelnen gehen? Was ist Solidarität? Was für eine Gesellschaft sind wir, wenn wir selbst in der Krise nicht zu einer Gemeinschaft werden können, ja, werden wollen? Und natürlich die Frage, wie sehr ein Staat seine Bürger nicht nur körperlich einschränken darf, sondern muss. Ist der Staat ein notwendiges regulatives Übel, ein Monster, das man kleinhalten sollte – oder ein erlaubender und verbietender Vater, der sich um seine Kinderlein sorgt?

Knapp vierzig Jahre nachdem der Philosoph Hans Jonas Das Prinzip Verantwortung[5] veröffentlichte, ist nicht nur die Freiheitsfrage wieder mal brennend aktuell und immer noch weitgehend ungelöst, sondern auch die Verantwortungsfrage. Was ist das eigentlich, Verantwortung? Und warum fällt sie uns so schwer? Wieso ist eben nicht an alle gedacht, wenn jeder an sich denkt? Ebenso, wie ein Mensch mehr ist als die Summe seiner Zellen, eine Stadt mehr als die Summe ihrer Häuser und ein Land mehr als die Summe seiner Quadratkilometer, so zeigen insbesondere Krisen uns immer aufs Neue, dass die menschliche Gemeinschaft mehr sein muss als die bloße Summe ihrer egoistischen Individuen. Im Verlauf dieses Buches möchte ich Sie, lieber Leser, liebe Leserin, dazu einladen, gemeinsam mit mir den Freiheitsbegriff zu überdenken.

Lassen Sie uns Schritt für Schritt den Weg zum Wir antreten. Überlegen, wie eine tragfähige Wir-Perspektive heutzutage aussehen könnte. Ein Wir, das sich vereinen lässt mit unserem Drang nach Selbstentfaltung, mit unserem nachvollziehbaren Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Ein Wir, das solidarisch ist. Ein Wir, das trägt und verbindet, statt ausgrenzt und spaltet. Ein möglicher Weg zu diesem Wir kann der Allmendegedanke sein, das heißt das Bewusstsein kollektiv genutzter Ressourcen und Gemeingüter. Und, damit verbunden: eine Vorstellung von der Menschheit als Kultur- und Schicksalsgemeinschaft. Denn während wir selbstredend Individuen mit Freiheitsdrang sind, sind wir zugleich ein voneinander abhängiges Überlebenskollektiv. Ein Kollektiv, das in Gefahrenmomenten aufeinander zählen können muss. Was gefragt ist, ist Zusammenhalt. Wir-Perspektive bedeutet daher nicht politischen Kollektivismus und diktatorischen Zwang, sondern im Gegenteil, ein freiwilliges und vielschichtiges Verständnis der menschlichen Sozialität. Und, daraus abgeleitet, eine praktische Solidarität.

Kapitel 1

Me, Myself and I – Die individualistische Gehirnwäsche

Auf die Bitte des Energieministers Robert Habeck an die Bürgerinnen und Bürger, in Zeiten knapper Ressourcen nicht Ewigkeiten unbesorgt zu duschen, entgegnete FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, damaliger Bundestagsvizepräsident: »Robert Habeck darf gerne so kurz duschen, wie er es für richtig hält. Ich schaue jedenfalls nicht auf die Uhr, wenn ich in der Dusche stehe. Ich dusche so lange, bis ich fertig bin.«[6] Einer der profiliertesten Politiker des Landes prahlte medial mit seinen Duschvorlieben. Ins selbe Horn blies Helmut Markwort, Gründer des Magazins Focus: »Ich komme schamlos durch die Woche. Gestern habe ich trotz der Ermahnungen durch den Aktualitätsphilosophen Robert Habeck ausgiebig geduscht. Ich empfinde keine Spur von Duschscham und denke nicht daran, das erfrischende Wasser in Litern zu messen und zu rationieren. […] Die mündigen Bürger sollen in eigener Verantwortung entscheiden, wie sie mit ihrem Verhalten zum Gemeinwohl beitragen wollen.«[7] Und eine Bild-Kolumnistin wagte gar die kühne These: »Duschen ist die neue Freiheit!«[8]

Der Spott in diesen Zeilen ist kaum zu überlesen. Wir lesen hier nicht bloß die Meinungen von Menschen, die sich nicht in ihrer Handlungspraxis einschränken lassen wollen. Es geht hier nicht nur um Mündigkeit und Freiheit, nein, in diesen Aussagen steckt mehr. Jenseits unbändiger Freiheitsliebe schimmert Verachtung durch für jene, die es auch nur wagen, ihre Mitmenschen an die soziale Dimension des Freiheitskonzepts zu erinnern. Zur Debatte steht offenbar nicht nur, wie »die mündigen Bürger mit ihrem Verhalten zum Gemeinwohl beitragen«, sondern ob sie das überhaupt tun.

Ähnliches sah man während Corona. Abgesehen von einer die Maßnahmen mittragenden und sie aktiv umsetzenden Mehrheit, gab es Millionen Deutsche, die sich nicht haben impfen lassen. Millionen Mitbürger, die die Maskenpflicht ignorierten oder ihre Masken nur halbherzig, vielmehr halbnasig trugen. Der Vordenker der Verweigerung, Helmut Markwort, schrieb im selben Text, aus dem das obige Zitat stammt: »Im Flugzeug lässt sich das Pflichtbewusstsein studieren. Am Flughafen in Frankfurt verkündet der Hallensprecher, an Bord sei eine FFP2-Maske Pflicht. Das ist falsch. An Bord überreichen die Stewardessen den Passagieren eine leichte Maske. Die meisten setzen sie gehorsam auf. Ich stecke sie in die Tasche, weil ich weiß, dass das Bordpersonal nicht mehr kontrolliert.«

Hier lesen wir die Vorstellung heraus, in Krisensituationen ginge es nicht um Krisenbewältigung, sondern allein um Kontrolle und Gehorsam. Das sah auch Verleger Stefan Aust so: »Die Maske muss der Maske wegen getragen werden. Als Symbol für Gehorsam den Maßnahmen der Regierung gegenüber.«[9] Die Idee einer gemeinsamen Kraftanstrengung, einer kollektiven Krisenbewältigung, einer Wendung zum Besseren durch prosoziale Mitarbeit – in Zeilen wie diesen taucht sie nicht einmal ansatzweise auf.

Die Dusch- und Maskendebatten lenken unseren Blick auf ein echtes Problem: Selbst unsere Körper sind politisch. Die Politik macht keineswegs am Körper halt. Auch das Private hat eine offenkundige soziale, ja sozialethische Dimension.[10] Und das Zauberwort, das diese eigennützigen Handlungsweisen begründet, lautet: Individualismus. Weil allerdings mit Individualismus, wissenschaftlich wie alltagssprachlich, allerlei Dinge bezeichnet werden, möchte ich von vornherein präzisieren. Das, was ich hier ausführe und kritisch betrachte, ist nicht der Individualismus an sich, sondern das, was ich »die individualistische Gehirnwäsche« nenne.

Die individualistische Gehirnwäsche besteht in der (post-)modernen, neoliberalen, insbesondere westlichen Überzeugung, der unabhängige Alleinherrscher seiner eigenen, individuellen Wirklichkeit zu sein. Dahinter steckt die Fehlannahme, eine Maximierung des Ichs sei der Inbegriff und ganz und gar identisch mit dem Konzept der Freiheit. Duschen bis zum Umfallen! Nieder mit der Maske! Verzichten sollen die anderen!

Die individualistische Schieflage ist einflussreich und omnipräsent. Um den westlichen Drang, das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen, besser zu verstehen, müssen wir uns ansehen, wie es dazu gekommen ist. Woher stammt die große Selbstverständlichkeit, mit der manche Menschen sich verhalten, als wären sie allein auf der Welt? Woher die Selbstgewissheit, dass es in Ordnung ist, mit den eigenen Bedürfnissen die Interessen anderer zu überschreiben? Wie kommt es, dass ich meinen Körper nicht als einen Körper unter vielen verstehe, sondern als den einzigen, auf den es wirklich ankommt? Um diese Fragen zu beantworten, werfen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit.

Von Herdentieren zu Einzelmenschen

Evolutionsbiologisch gesehen, ist das Einzelleben keineswegs die Norm. Der Homo sapiens ist nicht als Spezies entfernt voneinander lebender Eremiten entstanden. Das Gegenteil ist der Fall: Der Mensch entstammt der Sippengemeinschaft. Wenn wir vom Urmenschen als Jäger und Sammler sprechen, meinen wir nicht verstreute Einzelgänger, die jagen und sammeln, sondern eine arbeitsteilige Jagd- und Sammelgesellschaft.

Dasselbe gilt für die Sesshaftwerdung des Menschen vor circa zehntausend Jahren. Die ersten sesshaften Menschen waren keine einsamen Farmer, die auf sich gestellt Landstriche kultivierten, einsam Vieh hielten und solitär Gemüse anbauten. Die ersten Bauern lebten in Kleingruppen. Und das notwendigerweise: Die soziale Lebensgemeinschaft war eine Überlebensgemeinschaft. Dies änderte erst mal nichts an einer immens hohen Mortalitätsrate. Die allerwenigsten Kinder erlebten das Erwachsenenalter. Das ging bis in die jüngere Vergangenheit: Noch im Deutschland des 19. Jahrhunderts starb jedes zweite Kind. Dass wir Kindheit nicht mehr automatisch mit hoher Sterblichkeit assoziieren, ist die Leistung unseres modernen Gesundheitswesens.

Die Menschheit hat sich vervielfacht und zugleich vereinzelt. Und sie vereinzelt sich weiter: Während es 1991 noch knapp über elf Millionen deutsche Einpersonenhaushalte gab, leben heute, drei Jahrzehnte später, schon um die 17 Millionen Menschen in Deutschland ohne Mitbewohner oder Mitbewohnerin.[11] 17 Millionen ohne Familie, ohne WG, ohne Sippe.

Aus soziologischer Perspektive wurde die Sippschaft im Lauf der Jahrhunderte auf ein Minimum reduziert: die sogenannte Kernfamilie. Statistisch gesehen, sind das heutzutage: Mutter, Vater und ein bis zwei Kinder. Und mittlerweile ist für das Überleben dieser Kinder bestens gesorgt. Die Lage ist keineswegs perfekt, jedoch war sie auch noch nie besser: Die Kindersterblichkeitsrate war niemals niedriger. Laut dem UNICEF-Report zum dreißigjährigen Bestehen der Kinderrechtskonvention »sank die Zahl der verstorbenen Kinder unter fünf Jahren weltweit von 95 je 1000 Lebendgeburten im Jahr 1989 auf 39 im Jahr 2018«.[12]

Ebenso vorwärts geht es aus pädagogischer Sicht. Das gewaltsame Abrichten des eigenen Nachwuchses ist passé. In den meisten Kernfamilien gehört es, spätestens seit der 68er-Revolution, zudem zum guten Stil, Raum für individuelle Entfaltung zu lassen. Der familiäre Gruppenzwang und der umerziehende Kollektivismus früherer Jahrzehnte haben nicht vollständig, aber überwiegend ausgedient. Der Sohn hört Metal, was alle anderen zwar irritiert, aber sie tolerieren es; der Vater werkelt wochenends im Garten, wozu sich sonst niemand so recht begeistert; die Mutter liest Krimis, die abgesehen von ihr keinen interessieren; und die Idole der Tochter sind TikTokerinnen und YouTuber, von denen der Rest der Familie beim besten Willen noch nie gehört hat. Kurzum hat jeder seine eigene Persönlichkeit und sein eigenes individuelles Präferenzverhalten. Und dieses eigene Präferenzverhalten wird – natürlich idealtypisch und nicht immer frei von Konflikten – von den anderen Familienmitgliedern geduldet oder gar gefördert. Jeder macht sein Ding. Auch beim Duschen schaut niemand auf die Stoppuhr, solange man nicht das einzige Bad im Haus blockiert.

Der moderne, vor allem westliche Mensch hat die Qual der Wahl, seinen Berufsweg, seine Vorlieben, sein Privatleben, also seinen gesamten Lebensweg aus einer unendlichen Anzahl von Optionen auszuwählen. Wir probieren uns aus und behalten bei, was zu uns passt. Wohin man auch sieht: autonome Subjekte überall. Freiheit. Wo liegt das Problem?

Die drei Säulen des Individualismus

Von einer aufeinander angewiesenen Überlebensgemeinschaft hin zu einem eher losen Kollektiv von selbstbestimmenden Individualistinnen – dieser Prozess kam nicht von jetzt auf gleich, er hat Jahrtausende gedauert. Bevor es darum geht, warum aus dieser kulturhistorischen Individualisierung des Zusammenlebens nicht nur Win-win-Situationen resultieren, nehmen wir den Prozess der Vereinzelung genauer unter die Lupe.

Die moderne Individualisierung der Gesellschaft kennt drei Wendepunkte: erstens Descartes, zweitens die Industrialisierung und drittens den Liberalismus. Descartes legt das philosophische Fundament für das heutige Ich-Denken. Die Industrialisierung schafft wiederum ökonomische und gesellschaftliche Strukturen, die eine schrittweise Loslösung des Menschen aus seinem Kollektiv überhaupt erst wirtschaftlich ermöglichen. Der Liberalismus sorgt seinerseits dafür, dass Individualfreiheit, Rechtssicherheit und die Abwesenheit staatlichen Zwangs ganz wesentliche Ankerpunkte unserer heutigen Gesellschaft sind. Weil ich zeitgenössische Egoismen und Egomanien schließlich als »toxische Ableitungen« dieser drei modernen Individualisierungsprozesse verstehe, werfen wir einen genaueren Blick auf diese Prozesse.

Ich denke, also bin ich

René Descartes (1596–​1650) ist der Vater der modernen Philosophie. Insbesondere seine Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641) gelten als Meilenstein, der einige wirkmächtige Gedanken versammelt und somit die moderne Philosophie des Geistes begründet. Der französische Philosoph stellt sich ganz grundlegende Fragen des Wissens und Erkennens. Er fängt seine Reise der Erkenntnis damit an, dass er Überflüssiges gedanklich über Bord wirft: »[S]o sehe ich mich endlich gezwungen, zuzugestehen, daß an allem, was ich früher für wahr hielt, zu zweifeln möglich ist – nicht aus Unbesonnenheit oder Leichtsinn, sondern aus triftigen und wohlerwogenen Gründen – und daß ich folglich auch all meine früheren Überzeugungen ebenso wie den offenbar falschen, meine Zustimmung fortan sorgfältig versagen muß, wenn ich etwas Gewisses entdecken will.«[13]

Diese Herangehensweise wurde bekannt als der »methodische Zweifel«. Descartes ist auf der Suche nach dem, was ich sicher wissen kann. Durch gezieltes und eben methodisches Zweifeln schließt er das, was nicht auf einem sicheren Fundament steht, aus. Das Fundament der Erkenntnis verortet Descartes schließlich im erlebenden Ich. Ich bin der, der denkt, und während ich alle Außenwelt in Zweifel ziehen kann, so kann ich jedoch, logischerweise, nicht in Zweifel ziehen, dass ich zweifle. Der Zweifel ist über jeden Zweifel erhaben. Basis der Erkenntnis bildet das erkennende Subjekt selbst: »Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Wesen! Was heißt das? Nun, – ein Wesen, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das sich auch etwas bildlich vorstellt und empfindet.«[14]

Aus diesem erlebten und erlebenden individuellen Denken heraus leitet der Philosoph die Existenz des Individuums ab. So gesehen, ist der methodische Zweifel eine durch und durch individualistische erkenntnistheoretische Position; und Descartes der Vater der subjektivistischen Philosophie. Immerhin heißt es »Ich denke, also bin ich« und nicht »Wir denken, also sind wir«. Im Original schreibt Descartes nicht das weltberühmte »Cogito ergo sum«, sondern das sinnverwandte »Ego sum, ego existo«. Ich bin, ich existiere. Subjektivistischer geht es nicht.

Wir jedoch werden im Laufe dieses Buches den Weg zum Wir antreten. Und versuchen, die grundlegende Vorstellung, dass es in meinem Leben – und Erleben – in erster Linie um mich geht, mit der Vorstellung in Einklang zu bringen, dass dieses Ich nur im Sozialkollektiv stattfindet. Wenn man nicht einer individualistischen Verkürzung zum Opfer fallen will, muss es heißen: Nos sumus, nos existimus. Wir sind, wir existieren.

Exkurs: Cast Away

Bevor es weitergeht, wagen wir ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, dass ein Mann als Einziger einen Flugzeugabsturz überlebt. Mit letzter Kraft schafft er es auf eine kleine, von Menschen unbewohnte Insel im Nirgendwo. Weil das Flugzeug in ein Gewitter geraten und die Funkverbindung abgebrochen war, weiß niemand vom genauen Flugzeugabsturzort. Niemand kommt, um ihn zu holen. Er ist auf sich allein gestellt und muss lernen, auf der einsamen Insel zu überleben. Wird es ihm gelingen, die Wildnis zu bezwingen? Oder bleibt die Natur unbezwingbar?

Das ist unter anderem der Plot des Films Cast Away (2000) mit Tom Hanks. Das Genre nennt sich Robinsonade, also ein Abenteuer im Sinne Robinson Crusoes nach dem gleichnamigen Roman von Daniel Defoe (1719). Die Story gibt es in endlosen Varianten. Eine urbane Variante des Ein-Mensch-ganz-allein-Szenarios finden wir zum Beispiel im Film I Am Legend (2007) mit Will Smith. Dort ist der Held der einzige Überlebende einer Zombieapokalypse. Das Zombie-Genre bietet, seinerseits wiederbelebt durch die Serie The Walking Dead (2010–​2022), diverse Geschichten des einsamen Überlebens. Meist sind sie traurig, oft sind sie grausam.

Tatsächlich ist das einsame Leben überraschend voraussetzungsreich. Wer nicht gerade glücklich an einen Strand gespült wird, sollte schwimmen können. Auf einer einsamen Insel stellt sich dann die Frage, wie man ein Feuer macht. Auch das Jagen von Tieren und die Unterscheidung von essbaren und weniger essbaren Pflanzen ist Wissen, das man idealerweise mitbringt. Wer diese Dinge weiß und kann, lebt länger. Wer nicht schwimmen kann, ertrinkt, wer kein Feuer machen kann, erfriert, und wer außerstande ist, einen Speer zu basteln und treffsicher zu nutzen, verhungert. Von einem Floß müssen wir gar nicht erst anfangen.

Die kulturellen und somit sozialen Voraussetzungen des Eremitentums sind immens. Wir entstammen nun mal der Gruppe und sind nicht für ein Leben in totaler Abgeschiedenheit gemacht. Der Wissenstransfer von einem zum nächsten über Generationen, das heißt über Jahrhunderte und Jahrtausende, hat uns erst an den Punkt gebracht, an dem wir jetzt sind. Müsste jeder Mensch von Neuem herausfinden, was zum Beispiel essbar ist und was nicht – unser Leben wäre denkbar kurz. Der Evolutionspsychologe Michael Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von einem Wagenhebereffekt (ratchet effect). Das heißt, die soziokulturelle Evolution des Menschen basiert auf einer Weitergabe des jeweiligen Erfahrungshorizontes. Jede Generation lehrt die nächste die elementaren Dinge, die wichtigen Fähigkeiten und die unverzichtbaren Fertigkeiten. Und zwar in einem Ausmaß, das es so nur beim Menschen gibt. Wir sind, redensartlich gesprochen, Zwerge auf den Schultern von Riesen.

Die meisten von uns wären verloren in der Wildnis. Da ändern auch ein paar Robinsonaden und Survival-Dokus nichts. Einsamer-Mann-Beispiele wie Cast Away, Robinson Crusoe oder I Am Legend sind Beispiele für Erzählungen, dass manche Menschen auf sich gestellt überleben. Sie sind keine guten Argumente für den Individualismus an sich, und erst recht keine guten Gegenbeispiele gegen die grundlegende Sozialität des Menschen. Im Gegenteil: Überlebensszenarien lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass wir immens viel sozial konstruiertes Wissen in unserem Rucksack mit uns führen. Je besser dieser Rucksack gepackt ist, desto bereiter sind wir für das (Über-)Leben.

Industrialisierung und Urbanisierung

Zurück zu den Grundpfeilern des Individualismus. Dass wir ab einem gewissen Alter weitgehend unabhängig voneinander leben, ist eine Entwicklung der letzten Jahrhunderte. Eine überaus wichtige sozioökonomische Rolle spielen hierbei die Prozesse der Industrialisierung und der Urbanisierung.

Im prä-industriellen Zeitalter war das bäuerliche Landwirtschaftsleben die Norm. Man lebte und arbeitete von morgens bis abends in einer Überlebens- und Arbeitsgemeinschaft, zu der die eigenen Blutsverwandten und, je nach Wohlstand, vielleicht noch ein paar Knechte und Mägde gehörten. Die Bauern waren überwiegend Selbstversorger. Obst, Gemüse, Vieh – Anbau und Ernte in einem überschaubaren Rahmen und unter weitgehend natürlichen Bedingungen.

Die Kindheit als eigenständige, arbeitsfreie Schonzeit gab es im heutigen Sinne nicht. Der Soziologe Klaus Bendel schreibt: »Bis zum 17. Jahrhundert war die für uns heute selbstverständliche Vorstellung von der Kindheit als einer eigenständigen Lebensphase der Entwicklung und des Lernens in Abgrenzung zum Erwachsenenstatus weitgehend unbekannt. Kinder galten vielmehr als kleine Erwachsene, die frühzeitig in die (Arbeits-)Abläufe des Alltags integriert wurden.«[15] Ebenso wenig gab es das Rentenalter als arbeitsfreie Lebensendphase. Es wurde also geschuftet, sobald man konnte und solange man konnte. Davor und danach lag es an der Sippe, die Arbeitsunfähigen mit durchzuziehen. Maximale Mitwirkungspflicht einerseits, maximale Abhängigkeit andererseits. Das war über Jahrhunderte so. Der Historiker Rutger Bregman: »Hätte man einen italienischen Bauern im Jahr 1300 in eine Zeitmaschine gesetzt und ihn im Jahr 1870 wieder in der Toskana aussteigen lassen, so hätte er kaum eine Veränderung bemerkt.«[16] Das Landwirtschaftsleben blieb über Jahrhunderte also weitgehend unverändert. Man schuftete miteinander und füreinander.

Die Industrialisierung beschreibt den Übergang von dieser überwiegend bäuerlichen Landwirtschaftsgesellschaft, die mit schlichten Mitteln und Werkzeugen produzierte, hin zu einer Industriegesellschaft, die nach und nach über immer mehr Wissen und immer mehr Maschinen verfügte und mit immer komplizierteren Werkzeugen und Mitteln immer besser, immer schneller und vor allen Dingen immer mehr produzierte. Arbeitsort und Wohnort entkoppelten sich. Während man es früher nicht weit zur Arbeit hatte, weil man meist dort schlief, wo man arbeitete – der Bäcker, der Schmied, der Bauer; sie alle schliefen dort, wo sie arbeiteten –, führte die schrittweise Ausdifferenzierung der Arbeitswelt dazu, dass sich Privaträume und Arbeitsräume trennten. Der Arbeitsort war nicht mehr notwendigerweise identisch mit dem Wohnort.

Zeitgleich wurde die Stadt als Ballungsraum von Industrien, Menschen und Maschinen immer mehr zu einem Ort, an dem man auch Arbeit fand. Nicht unbedingt gute Arbeit, aber Arbeit, die das Überleben sicherte. Die Industrialisierung zog die Menschen also in die Städte; ein Prozess, den Soziologinnen »Urbanisierung« nennen. Die Urbanisierung ließ also die Städte, und insgesamt die Weltbevölkerung, um ein Vielfaches wachsen. Das bäuerliche Leben, das im Mittelalter der Großteil der Bevölkerung führte, wurde zurückgedrängt. Städtische Lebensformen wurden die Norm.

Urbanisierung und Industrialisierung sind somit zwei wichtige Bestandteile der jahrhundertelangen Vereinzelung der Menschen, die sie aus ihren vorigen, ländlichen und landwirtschaftlichen Bedeutungszusammenhängen lösten. Diese Prozesse sind Quellen des Wohlstandes für einzelne Menschen und ganze Gesellschaftsschichten. Hier sehen wir die Brücke zwischen Ökonomie und Weltanschauung: Erst der Mensch, der sich aus einem wirtschaftlichen Sozialkollektiv, zum Beispiel einer ländlichen Produktionsgemeinschaft, losgelöst hat, kann es sich überhaupt leisten, vollends Individuum zu sein. Solange man existenziell eingebunden ist in vom Schicksal zugeteilte Arbeitsprozesse – der Knecht hat sich sein Leben als Knecht nicht ausgesucht, sondern wurde quasi in seine Rolle hineingeboren –, ist eine ökonomische wie weltanschauliche Loslösung gar nicht denkbar.

Erst mit dem urbanisierten, industrialisierten Lebensweg der Moderne ist Raum geschaffen für eine Weltanschauung, die das eigene Ich priorisiert. Verstädterung und Industrialisierung schaffen also die sozioökonomische Grundlage für den modernen Menschen. Und dieser moderne Mensch sieht sich gemeinhin als Individuum. An sich kein Problem – wäre da nicht die fatale menschliche Tendenz, unser gemeinsames soziales Fundament zu ignorieren.

Freiheit als politisches Grundprinzip

Der Liberalismus ist die dritte Säule des individualistischen Gehirnwäscheprogramms. Verstehen Sie mich nicht falsch: Der liberale Grundgedanke ist wertvoll. Die Idee, dass jeder Mensch ein Einzelsubjekt ist und sich hieraus, philosophisch wie juristisch, Rechtsansprüche auf Grundfreiheiten ableiten lassen – diese Idee ist ziemlich revolutionär.