Wer andere jagt wird auch mal müde - Helmut Meinhövel - E-Book

Wer andere jagt wird auch mal müde E-Book

Helmut Meinhövel

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Beschreibung

Was es nicht alles gab! Denkwürdiges und Kurioses aus der Arbeitswelt der 50er bis 80er Jahre lädt zum Schmunzeln und auch zum Nachdenken ein. Episoden schildern in biografischer Form, was der Protagonist namens Kern in einem 40jährigen Berufsleben erlebte. So konnte es durchaus karriereschädigend sein, wenn man zufällig im Lift auf seinen schlecht gelaunten Vorstand trifft und bei einer seiner unverhofften Fragen auf dem falschen Fuß erwischt wurde.

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Für meine Frau

Die mir viel Liebe und Verständnis entgegen gebracht hat, wenn ich mich wieder mal egoistisch in meine Schreibkammer zurückgezogen habe, während sie auf ein Miteinander und auf meine Unterstützung gehofft hatte.

Inhalt:

Ein Wort zuvor

Der Ernst des Lebens beginnt

Der Chef

Personalsachbearbeiter

Ein Betriebsausflug

Als möblierter Herr

Im Großraumbüro

Kerns Schwiegervater

Fortbildung an der VWA Bochum

Einführung der Lochkarte

Umzug und Umorganisation

Die neue Heimstätte

Der Wintermantel des Psychologen

Betriebswirt VWA mit Folgen

In der Personalplanung

Der Mantel des Vorstandsvorsitzenden

Leiter der Personalplanung und -einsatz

Der Junior-Chef

Der Inder

Das am meisten gelesene Buch der Welt

Die Leistungs-Reserve

Der „trockene“ Werkstoffprüfer

Rotstifte

Der Dackel mit der roten Zunge

Die Personal-Reserve

Der tiefe Fall einer Vorstandssekretärin

Vom Sekretär zur Sekretärin

Wer schreibt der bleibt

Humanae Vitae

Personalberater im Haus

Stellvertretender Personalleiter

Der Psychologe

Eine neue Herausforderung

Der Werksdirektor

Techtelmechtel

Personalleiter einer Tochtergesellschaft

Die polnische Beerdigung

Ein Unglück kommt selten allein

Turbulenzen

Leiter Personalbereich AT-Angestellte

Der Hund des Vorstandsvorsitzenden

Teamwork

Personalbeschaffung

Wie Du kommst gegangen

Kreativität gefragt

Flops

Besonderheit Vorstandsfahrer

Jäger und Gejagte

Widerspruch unerwünscht

Ohne Respekt

Eine Erfolgsstory

Eine Versetzung

Gleichberechtigt – doch natürlich anders

Der Exot

Pensionierungen mit Hindernissen

Zeugnisse

Zurück auf Anfang

Rache ist süß und selten legal

Aus Schaden wird man klug

Die verführerischen Putzlappen

Betriebssport

Computer als Schiedsrichter?

Dank

Hinweis:

Bei allen auf mehrere Personen bezogenen Bezeichnungen meint die gewählte Formulierung (z. B. Mitarbeiter) beide Geschlechter. Die männliche Form wurde aus Gründen der leichteren Lesbarkeit gewählt.

Ein Wort zuvor

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt“, sagt Goethe in seinem Werk Faust I. Aber auch: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ (Faust II). Und jeder fleißige und strebsame Mitarbeiter erwartet, dass sich die Mühe für ihn lohnt. Und den hoffentlich gerechten Lohn errechnet ein Lohnbuchhalter in einem Lohnbüro. Der Lohnempfänger erhält nach Abzug der Lohnsteuer und der Sozialversicherungsbeiträge seinen Netto-Lohn. Früher in der Lohntüte.

Die Mitarbeiter in den Zentralen von Großunternehmen sind Angestellte. Sie erhalten ihren Lohn (pauschal) als Gehalt. Sie sind somit Gehaltsempfänger und waren (früher) angestelltenversicherungspflichtig.

Sie bekommen ihr Netto-Gehalt auch erst nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und der Lohnsteuer (nicht etwa Gehaltsteuer). Das hört sich sonderbar an, ist es aber nicht. Auch der Gehaltsempfänger erstrebt und erhält im Idealfall ein gerechtes Gehalt. Hat er dies erreicht, ist er selten zufrieden, sondern wird sich bemühen, eine höherwertige, somit erstrebenswertere Position im Unternehmen zu erhalten. Das scheint im Menschen so angelegt zu sein.

In den Personalabteilungen großer und auch mittelgroßer Unternehmen betreuen spezielle Fachleute die Mitarbeiter von der Einstellung, über die Bezahlung, Ausbildung, Entwicklung, Förderung, bis zur Pensionierung. Sogar darüber hinaus, wenn es betriebliche Altersversorgungsregelungen gibt.

Das sind die Personal-Fachleute, die kompetent, verschwiegen, fleißig, oft unauffällig hinter den Kulissen ihre Arbeit machen. Die viel erfahren, aber nicht darüber reden dürfen. Die sich irren können, aber doch unverdrossen nach Gerechtigkeit streben (sollten) und bei Jüngeren auch mal ein Auge zudrücken können. Die die Interessen des Unternehmens wahrnehmen müssen, aber auch ein Ohr für die berechtigten Belange der Belegschaft haben.

Einer dieser strebsamen und unverbesserlichen Optimisten ist Kern. Ein junger Mann mit Ambitionen, der, beginnend in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit in den 1950er und 60er Jahren, die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten nutzte, die sich ihm boten.

Fast ganze Jahrgänge von jungen Männern, insbesondere die Jahrgänge 1920 – 1925, waren im 2. Weltkrieg gefallen. Dadurch ergaben sich außerordentlich gute Chancen für die wenigen Rückkehrer aber auch für die nachwachsende Generation, schon in jungen Jahren in Leitungsfunktionen aufzusteigen.

Die Chancen, fehlende notwendige theoretische Kenntnisse wettzumachen, sind heute wesentlich größer als damals. Eine berufliche Entwicklung „von der Pike auf“ in eine Führungsposition ist heute selten, obwohl sie Vorteile bietet, wie man sehen wird. Es zeigt sich auch, dass strebende Mühe belohnt wird und wie nah Ernstes und Kurioses nebeneinander liegen .

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder stattgefundenen Begebenheiten wären rein zufällig. Namen sind Schall und Rauch.

Der Ernst des Lebens beginnt

Im Frühjahr 1949 absolvierte Kern die Handelsschule mit gutem Erfolg. Es war der erste komplette zweijährige Lehrgang nach dem Krieg. Die Schule fungierte als Auffangbecken unterschiedlicher Jahrgänge. Der Älteste war bereits 22 Jahre alt. Er wurde als Soldat im Krieg schwer verwundet. Beide Beine unterhalb der Knie mussten ihm amputiert werden.

Kern war noch fünfzehn, voller Tatendrang, hatte aber noch keine Vorstellung über ein wie auch immer geartetes Berufsleben. Lediglich im Kaufmännischen sollte es sein, dessen war er sich sicher.

Das Arbeitsamt, das er jeden zweiten Tag mit dem Fahrrad ansteuerte, machte ihm wenig Hoffnung. Lediglich zwei Stellen als Drogerie-Lehrling waren gemeldet. Obwohl ohne rechte Lust zu diesem Ausbildungszweig, sprach er dort vor. Die Entscheidung wurde ihm schnell abgenommen. Die eine Stelle war bereits vergeben. Beim zweiten Gespräch hätte er eine Hand in seiner Parker-Seitentasche gehabt, wie er später erfuhr, und wurde zweiter Sieger.

Da erreichte ihn ein Brief seiner ehemaligen Handelsschullehrerin, die ihm mitteilte, dass sie ihn empfohlen habe und wenn er Interesse hätte, „dann sprich bitte am Dienstag um 9 ½ Uhr vormittags auf dem obengenannten Büro vor. Du musst Dein Zeugnis mitnehmen und kannst Dich auf mich berufen. Ich benachrichtige gleichzeitig Rösner und Dreischhoff, damit keiner zu kurz kommt.

Hals und Beinbruch!

Recht herzliche Grüße

E. Erkens“

Bot sich hier eine Chance?

Im Vorstellungsgespräch, bei dem auch Herr Gerlach, der Leiter der kaufmännischen Seite des Amtes zugegen war, meinte er, ein besonders freundliches Interesse des Leiters des Amtes erkennen zu können. Zumal dieser fast genau so groß wie Kern selbst war. Auch Herr Gerlach schien nicht abgeneigt zu sein.

Zu Hause angekommen berichtete er seinen Eltern, dass das Vorstellungsgespräch für seine Begriffe ordentlich verlaufen war und er sämtliche Fragen richtig und wahrheitsgemäß beantwortet hätte. Und da sein Zeugnis besser als das von Rösner war und Dreischhoff kein Konkurrent wäre, weil er Bergingenieurwesen studieren wollte, er, aller Wahrscheinlichkeit nach, die Stelle bekommen würde.

Seine Eltern meinten, das wäre noch lange kein Grund derart optimistisch zu sein, da könne noch viel dazwischen kommen.

Es kam aber nichts mehr dazwischen, denn bald hielt er seinen Arbeitsvertrag triumphierend in Händen.

„Hab ich das nicht gesagt? Mein Gefühl hat mich nicht getrogen“. Sein Anfangseinkommen betrug 95,-- DM monatlich, bei 48 Arbeitsstunden pro Woche. Sein Vater bekam netto das Doppelte für die Arbeit über Tage auf der Zeche. Damit konnte er mit 50 % zum Familieneinkommen beitragen, das kaum reichte, um 5 Personen (Kern hatte noch zwei jüngere Geschwister) durchzubringen. Seine Freunde und Altersgenossen, die bereits in der Lehre waren, bekamen im 2. Lehrjahr monatlich 40,-- DM. So freute sich auch die Familie mit ihm.

Die Zeit bis zum Dienstanfang am 2.5.1949 wollte er noch nutzen, um sein Taschengeld aufzubessern. Er hatte sich umgehört, ob es nicht irgendwo noch was zu verdienen gab. Und tatsächlich, Förster Möller suchte Arbeiter für die Wiederaufforstung in der Haard an der Ahsener Straße. Kern schwang sich sofort aufs Fahrrad und fuhr hin. Der Förster war nicht da. Seine Frau musterte Kern eingehend von oben bis unten und bemerkte „Es ist nur noch ein Arbeiter vonnöten, der die Eicheln und Bucheckern an Ort und Stelle zur anderen Seite der Ahsener Straße schafft. Die Säcke sind nicht leicht, zwei Mann haben schon aufgegeben“.

„Kann ich mir die Säcke mal ansehen?“. „Ja, kommen Sie mit.“

Kern hob einen der Säcke an, die mit Saatgut in Sand gefüllt waren und legte ihn sich auf die rechte Schulter. Sie waren etwa 75 cm hoch, hatten aber nur einen Durchmesser von rund 30 cm. „Sie sind nicht leicht, aber es müsste gehen“. Kern war entschlossen, die Arbeit anzunehmen. „Haben Sie keine Schubkarre, der Weg ist ziemlich weit, wie ich gesehen habe?“ „Zurzeit nicht, die Schubkarre hat ihren Geist aufgegeben und ist zusammengebrochen.“ „Ich kriege das hin, irgendwie. Verlassen Sie sich drauf“ drängte Kern, er brauchte das Geld. „Gut, Sie können sofort anfangen, der Stundenlohn beträgt 50 Pfennig. Gearbeitet wird 8 Stunden am Tag. Die Leute arbeiten direkt in Höhe gegenüber unserem Haus. Über die Straße finden Sie sie. Hier ist das Lager, wo Sie die Säcke entnehmen können. Sie haben dafür zu sorgen, dass immer ausreichend Saatgut an Ort und Stelle ist. Fangen Sie mit den Eicheln an!“

Kern legte sich den ersten Sack über die rechte Schulter und ging so schnell er konnte Richtung Arbeitsstelle. Bereits nach 50 m ging ihm die Puste aus und er musste den Sack absetzen. Dann legte er ihn auf die linke Schulter. Etwas außer Atem kam er bei der Truppe an, die ihn grinsend empfingen. Puhh…

„Na, schwere Arbeit, was? Nichts für Bubis, übernimm Dich nicht! Wir brauchen heute noch mindestens 5 Säcke, davon 2 Säcke Eicheln.“ Kern ging mit weichen Knien zurück, hatte sich aber bald wieder gefangen. Den zweiten Sack legte er sich, während er ging, mehrfach wechselnd über die Schultern. Er brauchte dringend eine Pause. Er erholte sich zwar etwas, während er zurückging, aber auf Dauer würde er das nicht durchhalten.

Er sah sich die Schubkarre im Schuppen etwas näher an, ein Holm war durchgebrochen, wahrscheinlich hatte man die Karre überladen.

Nach längerem Suchen fand Kern im Schuppen kurze, schmale Bretter sowie Hammer und Nägel und begann die Schubkarre vorsichtig zu reparieren. Seine weitere Tätigkeit hier an der frischen Luft stand und fiel mit dieser blöden Karre, musste er feststellen.

Dann hatte er es geschafft, die Karre hing zwar auf der einen Seite etwas durch, hatte aber die Stabilität, um zwei Säcke tragen zu können. Von nun an war es eine Freude, den Leuten vor Ort ihr Saatgut zu bringen. Es waren drei Gruppen zu jeweils 2 Personen. Der Eine hackte die Erde in einer Reihe auf, die ein Pflug gezogen hatte, der Andere legte das Saatgut in das Saatloch und machte es wieder mit Erde zu. Das ging 8 Stunden pro Tag so. Die Entfernung zum Försterhaus wurde immer größer. Kern musste sich sputen.

In den Pausen lernte er ein Team etwas näher kennen. Einen Mann, mittelgroß, schlank, ca. 50 Jahre alt und blond sowie eine schwarzhaarige vollschlanke Frau von ca. Mitte 20. Beide sympathisch, freundlich. Der Mann murmelte oft vor sich hin: „Mucha – Fliege – Cosa – Ziege, Mucha – Fliege – Cosa – Ziege“. Zwischendurch lachte er laut. Dann lachte auch die Schwarzhaarige. Die anderen Arbeiter hielten sich zurück, waren lustig, aber Kern gegenüber nicht sehr gesprächig.

Manchmal traf er am vereinbarten Ort niemand an, alle waren verschwunden. Egal, er lud seine Säcke ab, immer bedacht, dass genug Saatgut vorhanden war und die Schubkarre auch durchhielt.

Einmal kam er mit seiner Lieferung an als der Blonde und die Schwarzhaarige gerade Pause machten, im Gras saßen und etwas aßen. Sie lehnten bequem an einem Baum, der inmitten der Aufforstungsfläche stehengeblieben war. Sie zogen Kern in ein Gespräch. Das ihm gleichzeitig angebotene Butterbrot lehnte er ab, es roch nach Knoblauch. Dabei erfuhr er, dass der sympathische Blonde ein ehemaliger Kriegsgefangener aus dem Osten war, der Einiges im Krieg durchgemacht hatte. Seine Hände zitterten, er sprach nur gebrochen Deutsch.

Die Schwarzhaarige war im Bergmannsheil Bochum als Krankenschwester tätig gewesen und musste dort ausscheiden, weil sie ihrem Beruf nicht mehr gewachsen war. Sie assistierte dem Pathologen dort nahezu täglich bei der Öffnung der Brustkörbe verstorbener Bergleute. Dabei wurde als letzter Beweis im Streit um die Anerkennung, der Grad der Silikose in der Lunge festgestellt, der Berufskrankheit der Bergleute, die viel unter Tage vor Kohle gearbeitet hatten. Die auch als „Steinstaub“ genannte Berufskrankheit wurde als Unfall bewertet und führte zu einer höheren Knappschaftsrente. Sie hatte die Aufgabe, den Brustkorb aufzuhalten währenddessen der Arzt die Lunge öffnete. Dabei stieg ein besonderer Geruch hoch, der sie fast süchtig machte, und sie meinte, ohne diesen Geruch nicht mehr leben zu können. Das führte am Ende bei ihr zu einem totalen Nervenzusammenbruch und sie war fortan arbeitsunfähig.

Bei diesem Bericht aß sie munter ihr Butterbrot auf. Kern war dagegen jeglicher eventuell aufkeimender Appetit vergangen und er machte sich mit den Worten „Ich muss wieder los“ mit seiner Karre aus dem Staube. Nur weg von denen, dachte er, und, die fällt schon wieder auf die Füße. Warum nur müssen die Leute ihre ureigensten Probleme wildfremden Menschen offenbaren? Bei dem schönen Wetter fiel es ihm dann doch wieder leicht, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

Die Zeit verging bei der Arbeit besonders schnell. Nach vier Wochen waren die Eicheln und Bucheckern in der Erde. Der Förster war zufrieden. Kern war stolz auf sein erstes beruflich verdientes Geld.

Der Chef

Am 2.5.1949 trat Kern seine erste Arbeitsstelle an, mit noch 15 Jahren. Alle sagten „Du“ zu ihm, er hatte keine Probleme damit.

Seine Einarbeitung bestand zunächst in der Aufnahme von Stenogrammen und Übertragung in die Schreibmaschine und verlief problemlos. Das viele Sitzen am Schreibtisch, seiner Kollegin Wesselbaum gegenüber, fiel ihm allerdings schwer.

Wegen seiner offenen und hilfsbereiten Art übernahm er auch private kleinere Aufgaben, die mit den Worten begannen „Kern, kannste nicht mal, ..würdest Du auch mal für mich, ..bring mir doch das und das mit, wenn Du in die Stadt gehst!“

Auch Frau Wesselbaum bat ihn, doch mal zum Standesamt im Parterre zu Herrn Neumann zu gehen und ihm einen Brief zu übergeben. Froh über die sportliche Unterbrechung seiner sitzenden Tätigkeit rannte er die Treppen hinunter, klopfte an dessen Tür und übergab ihm den Brief, drehte sich auf dem Absatz herum und wollte das Zimmer wieder verlassen.

„Nicht so schnell“, meinte Herr Neumann, „sagen Sie mal, wie kommen Sie denn mit der strengen Wesselbaum klar?“

„Ich komm‘ gut mit ihr aus“ entgegnete Kern lächelnd, ging aus dem Zimmer und schnurstraks wieder nachdenklich zurück zu seinem Arbeitsplatz. Was sollte diese Frage?

Dort angekommen empfing ihn sein Gegenüber. „Was hast Du Herrn Neumann über mich erzählt, ich wäre streng und zickig? Wie kommst Du dazu, das finde ich unerhört!“

Kern war aufs Tiefste betroffen. „Ich habe überhaupt nichts gesagt, wollte sofort wieder gehen, aber er hielt mich auf und wollte mich aushorchen!“ Kern wurde wütend. „Was ist das für ein Mensch, der ist doch nicht normal, zu dem gehe ich nie mehr, darauf können Sie sich verlassen“. „Wir sind uns spinnefeind, deshalb habe ich Dich gebeten, ihm den Brief zu übergeben“. „Ich habe wirklich nichts gesagt, glauben Sie mir“. „Ja, ich glaube Dir, aber lerne daraus!“

Noch mehrere Tage ging ihm der Fall nicht aus dem Kopf, so ein Miststück! Sowas kann doch nicht wahr sein!

Kern beschloss, in Zukunft auf der Hut zu sein. Er berichtete Herrn Gerlach, seinem Vorgesetzten, von seiner menschlichen Enttäuschung.

„Hätten Sie sowas für möglich gehalten?“ Gerlach war ein 60-jähriger, rundlicher Mann, litt unter schwerem Asthma, war sehr erfahren und herumgekommen und hatte viele Dienstjahre auf dem Buckel. Er ging mittags immer nach Hause. Alle 20 – 25 Schritte blieb er stehen, weil ihm die Luft ausging.

„Ach Kern,“ hüstelte er, „Du wirst noch viele Enttäuschungen im Leben erfahren, glaube mir. Das war nun wirklich harmlos, vergiss es!“ Er fuhr fort: „Aber was würdest Du machen, mal so als Beispiel, wenn unser oberster Chef, Oberbaurat Klotz, Dir eine ‚runterhauen‘ würde?“ „Das ist aber eine seltsame Frage, Herr Gerlach, außerdem ist die viel zu weit hergeholt, also da kann man nichts machen“. „Nein, nein, vieles ist möglich. Du nimmst den nächstbesten Stuhl und haust ihm den auf seinen Kopf. Bei Deiner Größe von über 1,90 m sollte das kein Problem sein.“ „Also, Herr Gerlach, Sie machen Witze“. Kern war verwundert.

„Hättest Du den Mut dazu?“ „Wahrscheinlich nicht, ich könnte ihn verletzen. Dagegen wäre eine Backpfeife ein Klacks“.

Gerlach ließ nicht locker. „Du bist sehr groß gewachsen, musst Du oft den Kopf einziehen, sagen wir, auch bei Straßenschildern?“

„Ja, das kommt schon mal vor, ich muss stets vorsichtig sein, um mir nicht den Kopf zu stoßen“. „Dann mache Folgendes: Beim nächsten Straßenschild, das niedriger angebracht ist als Du groß bist, läufst Du davor und legst Dich anschließend lang hin auf den Boden und wartest ab, was passiert“. Gerlach grinste ihn an und hustete.

„Aber, Herr Gerlach, sowas mache ich nicht!“ „Denk mal darüber nach! Das wäre ein richtig schöner Versicherungsfall und alle Schilder in Deutschland würden anschließend höher angebracht.“ Kern lachte und machte sich wieder an die Arbeit.

War Kern nicht ausgelastet mit seiner Arbeit, half er den Technikern bei Terminarbeiten. Er machte Lichtpausen, beschriftete Zeichnungen und konnte auch mit der Ziehfeder und Tusche umgehen. Während die Techniker für jede Unterstützung dankbar waren, sah Gerlach das überhaupt nicht gern und stichelte auf seine Weise: „Wenn die Techniker Dich kritisieren, dann nimmst Du Dir Tusche und schüttest sie quer über die ganze Zeichnung. Dann lassen sie Dich in Ruhe, und zwar für immer.“ Kern lachte dann, aber da er ansonsten mit Gerlach gut auskam, störten ihn dessen Sprüche nicht.

Er machte sich vielmehr zunehmend Sorgen über das übertrieben freundliche Verhalten des Amtleiters ihm gegenüber. Beim Stenogramm, bei dem Kern ihm bisher immer gegenüber am Schreibtisch saß, sagte er plötzlich: „Komm mal mit Deinem Stuhl an meine Seite“. Zögernd folgte Kern der Aufforderung. Während er diktierte, fasst er Kern ans Knie oder legte seine Hand darauf. Kern war sehr irritiert und drückte seine Hand beiseite. „Herr Oberregierungsrat, so kann ich nicht stenographieren.“

Der Chef ließ dann von ihm ab, legte aber immer öfter seinen Arm um ihn, wenn er zu ihm gerufen wurde. Besonders auffällig für Kern war, dass er ihn im Lichtpausraum aufsuchte, der sich auf dem Dachboden in der Mitte des Amtsgebäudes befand. Hier erkundigte er sich nach dem Fortschritt seiner Terminarbeit. Dabei nahm er Kern freundschaftlich in den Arm, drückte ihn und lobte ihn für seinen Arbeitseifer. Bei einem weiteren Besuch presste er Kern an sich und versuchte ihn zu küssen. Erschrocken wich Kern zurück und der Chef verließ den Pausraum.

Kern fühlte sich in seinem Dilemma äußerst unwohl. Einerseits war sein Chef die höchste Respektsperson in seinem Arbeitsverhältnis, andererseits war ihm die Sache suspekt und unangenehm. Wie sollte das weitergehen? Hier oben, allein im Lichtpausraum mit seinem obersten Dienstherrn, der einen Narren an ihm gefressen hatte, warum auch immer. Er musste ihn hier oben irgendwie auf Abstand halten, ohne seinen Arbeitsplatz aufs Spiel zu setzen. Kern wusste schon, wie er störende Besucher abschrecken konnte. Wenn Techniker Zeichnungen brachten oder Lichtpausen abholten, klagten sie fast immer über die schlechte Luft im Pausraum. Das kam vom Salmiakgeist, der in zwei Trocknungskästen verdunstete und der für die Entwicklung der Lichtpausen sorgte. Öffnete er einen dieser Kästen, flüchteten sie und störten ihn nicht zu lange.

An diesen etwas beißenden Geruch hatte Kern sich längst gewöhnt. Angeblich war dieser Dunst sogar gesund, er sollte vor Erkältungen schützen. Bei normalem Betrieb war er gut zu ertragen, da die Verdunstungskästen nur zum Einlegen und zur Entnahme von Pausen geöffnet wurden. Ein zu kleines Fenster sorgte für zu wenig Frischluft.

Kern hatte bereits zu Anfang seiner Tätigkeit festgestellt, dass der Beton-Estrich auf dem gesamten Dachboden leicht vibrierte, wenn ein Besucher darüber ging. Diese leichten Schwingungen spürte er an den Füßen, selbst dann, wenn die Lichtpausmaschine lief. Deshalb meldeten sich seine seltenen Besucher ohne es zu wissen förmlich an. Klotz war ein großer, starker, massiger Mann, nicht ganz so groß wie Kern, aber schweren Schrittes. Er kam, beinahe hätte Kern ihn überhört. Kern riss schnell beide Trocknungskästen auf, ein scharfer Geruch drang in den Raum. Schon stand er in der Tür. „Das ist ja nicht zu ertragen hier, wie hältst Du das nur aus?“ Unsicher schaute ihn Kern an: „Ach, das ist halb so schlimm, da gewöhnt man sich dran“. Klotz nahm Kern in den Arm, küsste ihn auf den Mund und atmete schwer. Kern drückte ihn weg. Die Luft war wohl zu schlecht für ein längeres Verweilen. Mit einem kurzen „Mach weiter!“ verließ er den Pausraum. Kern schloss die Kästen, ging ans kleine Fenster und holte tief Luft. So, das wäre für erste überstanden, so schnell kommt der nicht wieder, dachte er.

Klotz war für längere Zeit auf Dienstreise. Als er zurückkam, diktierte er viel. Kern hatte seine Steno-Fertigkeiten im Stenografenverein weiter gesteigert und Klotz war mit seiner Arbeit zufrieden. Hin und wieder nahm er das Tempo heraus, als wenn er ihn schonen wollte. Ganz anders als Hofer, sein Stellvertreter, der nicht selten die angefangene Seite aus der Maschine riss mit dem Bemerken „schreib einfach weiter!“. Sogar ein privates, fast väterliches Interesse schien er bei Klotz zu bemerken. „Hast Du schon eine Freundin?“ fragte er. „Nicht direkt, eher eine Schulfreundin, mit der ich mich ein paar Mal getroffen habe.“ „Und was macht ihr dann so, wenn ihr euch trefft?“ „Wir gehen spazieren, oder ins Kino, und dann bring ich sie wieder nach Hause“. „Soso, naja, Du bist ja noch so jung.“. „Jetzt komm mal wieder mit Deinem Stuhl zu mir herüber und setz Dich neben mich!“ Widerstrebend gehorchte Kern und saß wieder zu seiner Rechten. Klotz legte, während er diktierte, wieder seine rechte Hand auf Kerns Knie. Kern hatte es geahnt und schob sie beiseite und bemerkte entschieden „So kann ich nicht stenografieren, das stört mich gewaltig.“. Die Hand kam noch öfter auf sein Knie, jedesmal schob er sie weg.

Bei der Vorlage der Unterschriftsmappen musste er jeweils um den Schreibtisch herumgehen und den Deckel der Mappe aufschlagen. Eine kurze Umarmung und ein freundliches Wort waren jedesmal dabei.

Es musste viel getippt werden, z. B. Erläuterungsberichte sowie Kostenberechnungen, bei denen Kern sich amüsierte, weil die Zwischensumme für Teilbereiche jeweils um 10 % erhöht wurden mit dem Text „für Unvorhergesehenes und zur Abrundung“.

Als der Chef wieder im Hause war, ging Kern ihm aus dem Weg, wann es nur eben ging. Dann erhielt er den Auftrag, die bereit gelegten Unterschriftsmappen nach Dienstschluss dem Chef in seine Wohnung zu bringen.

Nun war guter Rat teuer. Augen zu und durch, dachte Kern. Er klingelte an der Haustür. Klotz machte die Tür auf und sagte: „Komm rein“. „Ich muss noch zur Post“, rief Kern aufgeregt, drückte ihm die Unterschriftsmappen in die Hand und weg war er. Puh, das war noch einmal gutgegangen, wer weiß, was der vorhatte.

Kern überlegte, ob er kündigen sollte. So konnte es nicht weitergehen. Er beschloss, zunächst Herrn Gerlach zu sprechen.

„Na, was gibt es?“, fragte Herr Gerlach ihn. „Warum willst Du mit mir sprechen?“. „Herr Gerlach, sind Sie mit meiner Arbeit zufrieden?“. „Ja, aber das weißt Du doch, aber weshalb fragst Du?“ „Hat der Chef sich über mich beschwert? Muss ich kündigen?“. „Nein, wieso? Aber jetzt heraus mit der Sprache!“ „Der Chef küsst mich und nimmt mich oft in den Arm!“ Kern berichtete alles, was vorgefallen war und dass er das nicht länger ertragen kann.

Da haute Herr Gerlach mit der flachen Hand auf den Tisch: „Macht er das schon wieder, das ist ein Arschficker, verstehst Du das?“. „Nein.“ „Bleibst Du bei Deiner Aussage?“ „Ja natürlich, ich habe nur berichtet, wie es mir ergangen ist.“ „Gut, mach‘ Dir keine Sorgen, ich regele das“.

Jetzt war es heraus. Kern atmete auf. Auf Herrn Gerlach war bisher immer Verlass, er wird es schon richten. Kern lag auf der Lauer, wie sollte er sich verhalten, wenn der Chef von seiner längeren Dienstreise wieder zurückkam? Klotz tauchte aber nicht mehr auf.

Der Vorfall trat immer mehr in den Hintergrund. Ein neues Dienstgebäude wurde bezogen. Kern bekam ein Einzelzimmer. Mehrere Ingenieure wurden eingestellt, ebenso ein oberschenkelamputierter Telefonist und Pförtner, sowie ein Hausmeister. Der Hausmeister kam aus Breslau. Er bezeichnete sich selbst als "Breslauer Lerge", was soviel wie Alteingesessener bedeutete. Er war Ende der Zwanziger Jahre Berufssoldat im sogenannten 100.000-Mann-Heer gewesen. Den 2. Weltkrieg hatte er als Soldat und Kriegsgefangener gerade mal so eben lebend, aber gesundheitlich schwer angeschlagen überstanden. Er war oft krank, deshalb musste Kern ihn oft für Botengänge, Lichtpausen oder der Betreuung der Heizung vertreten. In der einstündigen Mittagspause, in der Kurt Bach, der Pförtner und Telefonist nach Hause ging, vertrat er ihn, indem er sein Mittagsbrot im Empfang aß und sich dort eine Stunde lang aufhielt.

Baurat Hofer, der Vertreter des Amtsleiters hielt die Stellung. Er war seit Jahren immer der stets gegenwärtige zuverlässige Vertreter des jeweiligen Leiters gewesen. Die geringe Aussicht, jemals Erster werden zu können, hatte ihn unzufrieden, reizbar sowie übertrieben streng und kleinlich werden lassen. Obwohl er als Mitglied einer philantropischen Gesellschaft doch ein "Menschenfreund" sein sollte, wie Kern meinte, der regelmäßig seine Beitragsüberweisungen an die Gesellschaft mit der Schreibmaschine ausfüllte.

Vor Jahren wäre Hofer noch unausstehlicher gewesen, erzählte man ihm. Einige Techniker hätten ihm sein Verhalten gerne heimgezahlt, fanden aber keine Mittel dazu.

Hofer hinkte. Der Vorfall, der zu seiner Behinderung führte, geschah im Zeichensaal. Hofer stürmte herein. Mit den Worten "Jetzt wollen wir mal sehen, was Sie hier fabriziert haben" trat er ans Zeichenbrett eines Mitarbeiters, drückte ihn an die Seite und fuhr fort: "und was soll das hier bedeuten?". Der Ingenieur trat näher und schob dazu seinen Stuhl etwas zur Seite. Hofer wollte sich setzen, stieß mit seiner Wade an den Stuhl. Durch den leichten Schub rutschte dieser auf dem glatt gebohnerten Linoleumfußboden etwas nach hinten. Hofer setzte sich unverhofft unglücklich auf den Fußboden und brach sich das Becken. Er wimmerte vor Schmerzen, was bei den Umstehenden keineswegs besondere Mitgefühle auslöste. Im Gegenteil, man meinte, er würde wie immer übertreiben, schließlich wäre er selbst Schuld an seiner Misere und hätte es schon länger verdient gehabt.

Man konnte ihn aber auch nicht so liegen lassen und holte die für solche Fälle vorgehaltene Bahre herbei. Zu Zweit hob man ihn an und ließ ihn etwas unsanft auf die Bahre fallen, was zu vermehrten Schmerzausbrüchen bei Hofer führte. Selbst beim Transport in den herbei gerufenen Krankenwagen schaukelte man ihn noch etwas durch. Danach war man ihn endlich für einige Monate los.

Von seinen vielfältigen Aufgaben interessierte Kern vor allem die Lohn- und Gehaltsabrechnung. Eine Lohnsteuerkarte in der Hand haltend sinnierte er: Jeder Mensch auf der ganzen Welt muss irgendwie seinen Lebensunterhalt bestreiten, will er nicht verhungern. Die meisten Menschen sind Arbeitnehmer. Sie arbeiten für Geld, Lohn oder Gehalt genannt. In den großen Unternehmen wird es hauptberufliche tätige Lohn- oder Gehaltsabrechner geben, die für die Berechnung und Auszahlung von Löhnen und Gehältern zuständig sind. Das wäre ein erstrebenswertes berufliches Ziel für mich. Eine Spezialisierung würde sich sicherlich auch finanziell positiv auswirken.

Kern war trotz des insgesamt positiven betrieblichen Umfeldes und der Arbeitsatmosphäre unzufrieden. Das lag daran, dass er noch 1953 nur 175,-- DM monatlich verdiente. Seine Freunde, die ohne Ausnahme eine dreijährige gewerbliche Lehre, wie z. B. zum Maler und Anstreicher, Zimmermann oder Maurer absolviert hatten, erhielten als Gesellen bereits monatlich rund 280,-- bis 300,-- DM brutto. Als Lohnabrechner, z. B. in der freien Wirtschaft, könnte er dieses Einkommen oder auch mehr erzielen.

Er könnte neben seinen beruflichen Erfahrungen immerhin auf seine unbedingte Korrektheit, Vertrauenswürdigkeit und Verschwiegenheit hinweisen. Diese Attribute führten unter anderem dazu, dass er auch private Briefe für mehrere Angestellte im Haus mit der Schreibmaschine schrieb, den Inhalt zur Kenntnis bekam, aber nie darüber irgendeine Andeutung oder Bemerkung fallen ließ, auch nicht in geselliger Runde mit Alkohol im Spiel, z. B. beim Kegeln im Kollegenkreis.

Einige Arbeitskollegen oder deren Frauen gerieten schon mal heftig aneinander, insbesondere die, die vorher besonders eng befreundet waren. Anstatt die Auseinandersetzung verbal auszutragen schrieben sie sich Briefe. Dann kamen sie zu Kern und fragten höflich: Kern, bist Du so nett und schreibst mir mal einen privaten Brief?“. „Ja, selbstverständlich.“ „Ich bin sicher, dass Du den Inhalt für Dich behältst.“ „Da können Sie wirklich sicher sein.“ Der Briefschreiber blieb dann im Zimmer bis der Brief fertig getippt war.

Wie selbstverständlich kam dann der Angeschriebene zu ihm und fragte: „Kannst Du mir mal einen privaten Brief schreiben? Du redest doch nicht darüber?“. „Auf keinen Fall“, sagte dann Kern und schrieb die Antwort auf den vor wenigen Tagen getippten Brief ohne mit der Wimper zu zucken oder einen wie immer gearteten Kommentar abzugeben.

In einer neuen Stelle, z. B. im Personalwesen eines größeren Unternehmens, wäre seine Verschwiegenheit und Vertrauenswürdigkeit von Vorteil. Eine Stelle dieser Art zu bekommen, war gewiss schwierig.

Um meine Chancen zu erhöhen, muss ich meine Ausbildung verbessern, sagte er sich und schrieb sich als Vollhörer bei der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Essen ein und beantragte Dienstbefreiung an drei Tagen in der Woche ab 14:00 Uhr.

Die Dienstbefreiung konnte nicht abgelehnt werden. Kern hatte einen entsprechenden Erlass, veröffentlicht im Gesetz- und Verordnungsblatt für Nordrhein-Westfalen, herausgefunden. Das war ein herber Schlag für den Arbeitsablauf im Amt. Seine Arbeitskraft fehlte spürbar, sodass man beschloss, ihm die nächsthöhere Vergütungsgruppe VIII anzubieten, wenn er sein Studium aufgab und seine normale Arbeitszeit wieder aufnahm. Kern willigte notgedrungen ein, die tägliche Fahrten mit dem Fahrrad von Wohnort zum Dienstort und von dort nach Recklinghausen zum Bahnhof und zurück, d.h. 18 km bei Wind und Wetter, hatten ihn sehr geschlaucht. Das war im Amt nicht verborgen geblieben.

Die Höhergruppierung war zwar ein Erfolg, die damit verbundene Gehaltserhöhung jedoch nur ein Trostpflaster, mehr nicht. Sein Gehalt betrug ab dem 1.2.1955 monatlich 237,80 DM. Die nächste Steigerung um 16,-- DM ab dem 1.5.1956, war bereits vermerkt. Das alles war sehr unbefriedigend und ein Grund mehr, sich umzusehen. Kern stieß auf eine Chiffre-Anzeige in der Tageszeitung „Die Welt“, in der eine „jüngere Kraft“ für die Personalabteilung mit guten Stenound Schreibmaschinenkenntnissen gesucht wurde. Diese Voraussetzungen konnte er vorweisen. Seine Bewerbung hatte Erfolg. Er bekam einen Vertrag ab dem 1.7.1956 als Personalsachbearbeiter in der Stahlindustrie. Das Anfangsgehalt von 400,-- DM, nach erfolgreicher Probezeit 450,-- DM, konnte sich sehen lassen.

Es gab jedoch eine Schwierigkeit. Er konnte die Kündigungsfrist nicht einhalten. Baurat Hofer wollte ihn zu diesem Termin nicht gehen lassen. Kern brachte seine Entschlossenheit zum Ausdruck: „Herr Baurat, diese Chance lasse ich mir nicht entgehen, was auch passiert, ich bitte um Verständnis!“ Baurat Hofer kapitulierte: „Aber nur, wenn Du eine adäquate Ersatzkraft beschaffst.“

Das müsste zu schaffen sein, dachte sich Kern. Er rief seine ehemalige Lehrerin aus der Handelsschule an, auch das Arbeitsamt, und hörte sich unter gleichaltrigen früheren Kollegen um. Er lud Bewerberinnen zur Vorstellung bei sich ein, was zur Empörung bei Hofer führte. Der stürmte in sein Zimmer und schrie ihn an: „Sie spielen sich hier als Leiter des Amtes auf, herzlichen Glückwunsch!“ Er gab ihm die Hand. „Was erlauben Sie sich? So geht das nicht!“

Kern entgegnete betont erstaunt: „Aber Herr Baurat, Sie haben selbst gesagt, ich soll eine Ersatzkraft stellen, das versuche ich, nichts anderes. Übrigens habe ich bereits eine entsprechende junge Dame gefunden.“ „Die will ich erst sehen“, der Baurat verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Fräulein Bellmann hatte nicht nur die besten Zeugnisse, sie machte auch persönlich einen sehr guten und sympathischen Eindruck. Kern hatte ihr sein Arbeitsgebiet genauestens beschrieben, sie war angetan von der Aufgabe, sie wurde eingestellt. Kern war stolz, das war seine erste Einstellung.

Personalsachbearbeiter

Da er noch zwei Tage Resturlaub hatte, trat er seine neue Stelle bereits am 28.06.1956 an. Er wurde schon erwartet. Vieles war liegengeblieben. Sein Chef stellte ihm den Arbeitsdirektor vor, der fragte ihn prompt: Sind Sie Gewerkschaftsmitglied?“ Kern antwortete wahrheitsgemäß: „Nein“.“ Haben Sie etwas gegen Gewerkschaften?“ „Selbstverständlich nicht.“ „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei uns!“

Das Gespräch war beendet, der Arbeitsdirektor gab ihm die Hand, ab 1.7.1956 war Kern Mitglied der IG Metall. Kern hatte die Gehälter von rund 550 Angestellten in der zentralen Personalabteilung abzurechnen. Die Einarbeitung klappte hervorragend, fiel Kern aber sehr schwer. Er musste sich an ein fast ununterbrochenes konzentriertes Arbeiten über acht Stunden täglich gewöhnen, in einem Zimmer mit insgesamt sechs Personalsachbearbeitern und einer Hilfskraft. Schon das ständige Sitzen war anstrengend. Er wurde dem 60 Jahre alten Sachbearbeiter Willibald zugeordnet, der ihn einarbeiten und dessen Aufgabengebiet er später einmal übernehmen sollte. Willibald war schnell von Kern angetan, weil dieser alle ihm erteilten Aufgaben in kurzmöglichster Zeit richtig erledigte. Für Kern war Willibald sehr wichtig, weil er schon Jahrzehnte im Unternehmen tätig war, auch in höherwertigen Positionen außerhalb der zentralen Gehaltsabrechnung, in denen er sich aber nicht durchsetzen konnte.

Bereitwillig, fast väterlich, gab er sein Wissen an Kern weiter. Willibald hatte in seiner Jugend in Sachsen eine vierjährige kaufmännische Lehre absolviert. Er erzählte, dass sein Vater für ihn pro Jahr 30 Goldmark Lehrgeld zahlen musste. Er war im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden. Seine Kopfverletzung konnte man an seiner tiefen Narbe an der Stirn noch gut erkennen.

Willibald war schwerbehindert und genoss als Hirnverletzter einen besonderen Kündigungsschutz. Zu Kern sagte er vertraulich, er hätte einen „Jagdschein“ (ein besonderer Schwerbehinderten Ausweis). Wenn er im Affekt dem unbeliebten Büroleiter Thiem eine „runterhauen“ würde, könnte er nicht verklagt werden.

Kern schaute ihn überrascht an. Wieso kommt der auf sowas? Willibald war für ihn ein besonders friedlicher Kollege.

Seit vielen Jahren musste er für jeden Neuen in der Abteilung die sogenannte „Fechterstellung“ aus seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg zelebrieren. Allerdings immer erst nach mehrfachem, charmanten Bitten und Drängen der weiblichen Kolleginnen. Die organisierten dazu einen Stubenbesen, den Willibald in beiden Händen hielt, die „Kehrseite“ an der rechten Achselhöhle. Damit sprang er martialisch hin und zurück und stieß den Besenstiel wie ein Bajonett nach vorn in einen imaginären Gegner und zog ihn wieder zurück. Hätte es nicht den ernsten Hintergrund gegeben, hätte Kern sich evtl. amüsieren können.

Kriegsversehrt war auch der Zimmerkollege Pitt, allerdings durch den Zweiten Weltkrieg. Ihm musste der rechte Arm amputiert werden. Pitt, Jahrgang 1922, war der unerschrockene Fallschirmjäger geblieben, nichts konnte ihn umwerfen. Einmal bewunderte Kern dessen Nervenstärke besonders. Mittags gingen Willibald, Pitt und Kern regelmäßig gemeinsam zum Essen. Es gab zunächst eine Bouillon. Dass sie glühendheiß war, sah man ihr nicht an. Die Fettschicht verhinderte aufsteigenden Dampf.

Pitt aß als Erster und verbrannte sich heftig die Zunge, ließ sich nichts anmerken und sagte hinterlistig: „Die Suppe ist ja kalt.“ Willibald nahm nichtsahnend einen vollen Löffel Suppe zu sich und schrie vor Schmerz auf, ließ den Löffel fallen, spuckte die Suppe zurück in den Teller und schnappte nach Luft. „Du Schuft!“, schnaubte er. Pitt lachte nur. Kern prüfte vorsichtig mit spitzen Lippen die Temperatur der Suppe. Sie war wirklich außerordentlich heiß. Willibald war noch Wochen danach wütend auf Pitt.

Der Chef war ebenfalls an Beinen und am rechten Arm mit der Folge einer Versteifung des rechten Armgelenks verwundet worden. Er hatte Pitt im Lazarett kennen- und schätzen gelernt, ihre Feldbetten standen nebeneinander, und ihn später zu sich nach Witten geholt.

Auch die Eingewöhnung im privaten Bereich war für Kern zunächst, gelinde gesagt, ungewohnt. Er kam im werkseigenen Ledigenheim unter und teilte sich ein Zimmer mit Matthes, einem Buchhalter. Der war so freundlich, ihn am Ende des ersten Arbeitstages abzuholen und bis ins Zimmer zu begleiten. Er bot sich sogar an, teilweise seinen schweren Koffer zu tragen.

Matthes hatte Grundsätze. Auf dem Weg erklärte er: „Im Heim gibt es einen Mann namens Ungelegen. Wenn Sie mit dem sprechen, sind wir geschiedene Leute.“ Außerdem: “Uns ist ein persönliches Sie lieber als ein unpersönliches Du“. Der Buchhalter war schon älter als er, Kern nahm sich vor, seine Personalakte mal genau zu studieren. „Wenn das alles ist, komme ich schon klar.“ Matthes war befreundet mit Herrn Siegel, einem älteren, erfahrenen und abgeklärten Abteilungsleiter aus dem Vertrieb, der ein Einzelzimmer bewohnte. Von nun an war Kern der Dritte im Bunde. Später kam noch ein Vierter Norddeutschland hinzu, mit dem sich Kern besonders gut verstand.

Ein Betriebsausflug

Bereits am 28.6. statt wie vereinbart am 1.7. anzufangen war für Kern zunächst sehr unbequem, eigentlich zu früh, erwies sich aber in mehrerer Hinsicht als Glückstreffer.

Der Büroleiter, Herr Thiem, ein penibler, schwerhöriger, etwas übertrieben strenger älterer Herr von Mitte 50 teilte Kern zu seiner Über