Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Schauriges Finale der vierteiligen "Wer braucht schon Zauber…"-Buchreihe mit hohem Gruselfaktor. Der Stoff, aus dem Gänsehautfeeling ist. Wer schafft es, Troja zu schrotten, den Sensenmann aufzureißen, sich mit einem Oger zu kloppen, einen Borg zur Schnecke zu machen, Jack the Ripper zu stalken und von Hulk ohnmächtig geküsst zu werden? Ja genau – Raven. Klingt nicht nur haarsträubend – ist es auch. Im Klartext: Ravens Leben ist nichts für schwache Nerven. Von einem Ohrwurm verfolgt, häufen sich die Gruselmomente, die auch einer Geisterbahnfahrt entsprungen sein könnten. Die Liste des Grauens ist lang. Alles fauler Zauber oder zieht sie doch noch ein Happy End aus dem Hut? Teil 1: Wer braucht schon Zauberworte? Teil 2: Wer braucht schon Zauberfarben? Teil 3: Wer braucht schon Zauberkerle? Teil 4: Wer braucht schon Zaubertricks?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 512
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Marie Lu Pera
Wer braucht schon Zaubertricks?
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Experimente am Himmelsstreuner
Würmchen aus dem Hut
Magische Gruselbox
Übersinnliche Taschenfüllung
Verschwindetrick für Hartgesottene
Flohzirkus des Grauens
Bluffen für Anfänger
Jack the Ripper sucht Knochenjob
Unkrautvertilgung für Vegetarier
Die zersägte Poison Ivy
Diabolische Seelenschnäppchenjagd
Schaurige Herzensangelegenheit
Brandzeichen geben
Schwebeillusion mit Bruchlandung
Gedankenlöschen für Dummies
Voll auf die Murmel
Strumpfmaskenlüftung
Körpertausch
Die grusligen Trillerpfeifen
Scherzkrümel
Impressum neobooks
„Was ist das?“, aus dem Munde einer Frau lässt mich hochschrecken. Okay? Wo bin ich? Mein Blick ist total verschwommen – erst nach mehrmaligem Blinzeln nimmt die Umgebung Gestalt an.
Ich liege auf einem Glastisch inmitten eines abartig hellen Raumes. Kurz habe ich sogar Angst, in einer Gummizelle zu stecken, aber von gepolsterten Wänden fehlt jede Spur, also verwerfe ich den Gedanken gleich wieder.
Neben mir erkenne ich eine ältere Frau, die von solch edler Schönheit ist, dass ich gar nicht anders kann, als sie anzuglotzen.
„Jetzt ist es wach“, erklärt sie, während ihre Augen abschätzig über meinen Körper schwenken. Sie hat mich jetzt nicht gerade „es“ genannt, oder?
Blitzschnell rapple ich mich hoch. Sie weicht sogar mit angewidertem Gesichtsausdruck vor mir zurück.
Ich glaub, ich hab ein Blackout. Da war dieser Typ am Ufer des Michigansees – mehr weiß ich nicht mehr.
„Ich dachte, du könntest mir diese Frage beantworten, Freyja“, von einer männlichen Stimme, löst dann die nächste Zuckung bei mir aus.
In einer Ecke des Raumes steht genau der Typ, der mir am See begegnet ist. Der, der mir ein paar Mal das Leben gerettet hat und aussieht wie der Mann auf dem Bild, das ich meinem Nachbarn geklaut habe. Vollbart, wallendes, hüftlanges, dunkelblondes Haar, aufgeblasene Muskeln, schon ein älteres Semester, aber gut erhalten.
Diesmal bin ich es, die vor den beiden zurückweicht und vom Glastisch springt. Immerhin weiß ich nicht, wo ich hier gelandet bin. So gesehen, kann ein bisschen Sicherheitsabstand nicht schaden.
Der Mann zieht die Augenbrauen hoch, während die Frau genervt erklärt: „Du bringst mir also schon die Streuner, die du von der Straße aufliest.“ Die hat mich jetzt nicht gerade einen Streuner genannt, oder? Na ja, meine Klamotten sind ziemlich hinüber, aber das nennt man Used-Look.
„Wo bin ich?“, will ich wissen, stoße aber auf taube Ohren, denn der Mann wendet sich der Frau zu: „Sie ist eine Anomalie.“ Wie bitte? „Welcher Art, will ich herausfinden“, ergänzt er. Was faselt er da?
Sie taxieren mich mit Blicken, die ich nicht deuten kann, daraufhin schnaubt die Frau erneut auf, hebt ihre Hand in die Richtung des Glastisches und befiehlt: „Sitz.“ Mir steht der Mund offen. Hat sie mich gerade mit einem Hundekommando zurechtgewiesen?
„Seh ich so aus, als wär ich ein verdammtes Schoßhündchen?“, musste an der Stelle auch mal gesagt sein.
Ihr entrüstend gelassenes „Ja“ verblüfft mich dann ganz schön. „So etwas wie dich, halten wir hier als Haustiere, also tust du besser, was ich dir sage – um deinetwillen“, knallt sie mir zuckersüß hinterhältig hin.
„Gut“, stelle ich schulterzuckend fest. „Ich hatte sowieso vor, Ihnen ans Bein zu pinkeln, jetzt finden Sie das sogar noch süß.“ Okay, ich sollte nicht so frech sein, aber ich bin nervös und da bricht immer meine große Klappe durch.
Bei ihr hat Schnappatmung eingesetzt. Bevor sie mir an die Gurgel gehen kann, schaltet sich der Mann ein.
„Wieso setzt du dich nicht einfach?“, bietet er mir mit ruhiger Stimme an.
„Wieso beantworten Sie nicht einfach meine Frage?“, aus meinem Munde, löst einen empörten Laut bei der Zimtzicke aus.
„Dass du es wagst, so mit dem Allvater zu sprechen“, speit sie außer sich vor Wut. Allvater?
„Sind Sie mein Vater?“, falle ich gleich mit der Tür ins Haus.
Die Frau schnaubt so laut auf, dass ich das Gefühl habe, die Luft vibriert synchron zur Schwingung ihrer Nasenflügel. „Du hässliches Ding bist keine Göttin“, knallt sie mir hin. Na ja, das hätt ich dir vorher sagen können. Scheiße, ich bin hier wohl in der geschlossenen Anstalt gelandet.
„Nein, ich bin nicht dein Vater. Ich bin Odin, Allvater der Götter und Hüter Asgards“, antwortet der Mann. Ja, im Traum.
„Hi, Miss Piggy, Ferkel aus der Muppet Show“, stelle ich mich vor.
„Hallo Miss Piggy. Willkommen in Asgard”, sagt er doch tatsächlich total ernst.
„Sie ziehen das echt durch, oder?“, hake ich nach.
„Ich verstehe nicht“, erklärt er.
„Ich bin genauso wenig Miss Piggy, wie Sie der Gott Odin sind. Das hier ist die Klapsmühle, oder? Und ihr zwei seid meine Zellengenossen.“ Für die Hypothese würde auch sprechen, dass sie keine Schuhe tragen und ihre weißen Klamotten auch irgendwie eigenartig aussehen. Meine Latschen hab ich übrigens auch irgendwo verloren.
„Du solltest dem Ding einen deiner Blitze verpassen, damit es vor dir kriecht – wie es sich für einen Wurm gehört“, rät ihm diese alte Schachtel.
„Hey, das war ja gar nicht so böse gesagt, wie es gemeint war“, verteidige ich mich. Außerdem würden Elektroschocks bei mir nichts nützen, denn ich hab einen angeborenen Klappenfehler. Das äußert sich in einer zu großen Klappe. Was soll ich sagen, die ist leider inoperabel.
„Komm“, bietet der Mann an und zeigt zu einer Tür, die von zwei Marmorsäulen gesäumt wird. Da das verdächtig nach Fluchtweg aussieht, schließe ich mich ihm an und dackle hinter ihm her. Außerdem bin ich froh, von dem Biest wegzukommen. Die ist ja echt einem Gruselkabinett entsprungen.
Vor der Tür trifft mich fast der Schlag. Zwischen weißen Marmorsäulen, die das tempelartige Gebäude säumen, entdecke ich eine Wolkenstadt – ohne Scheiß. Die sind in meinem Kopf – ist mein erster Gedanke.
„Das ist nicht real“, hauche ich in Panik, doch die verdammte Wolke, die ich krampfhaft fixiere, ändert ihre Form nicht, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Auch der weiße Marmorboden bekommt kein Karomuster. Verdammt.
„Glaube es ruhig“, stößt der Kerl aus.
„Okay“, verlautbare ich haareraufend. „Nehmen wir mal eine Sekunde lang an, Sie sind der Gott und ich der Wurm, der vor Ihnen kriechen soll. Wieso buddelt der Gott den Wurm aus seinem Grab aus und holt ihn aus der Pestgrube?“
Einige Sekunden mustert er mich mit undurchdringlichem Blick, daraufhin antwortet er: „Du bist eine Anomalie, die es zu untersuchen gilt.“ Klingt ganz nach Klapsmühle, würd ich sagen – oder Alienentführung. Würde auf meiner Liste des Grauens noch fehlen und kommt gleich nach Hühneraugen.
„Was zum Teufel soll das heißen?“, knalle ich ihm hin. Das ist jetzt patziger rübergekommen, als es gemeint war, aber meine Kopfschmerzen bringen mich gerade um, was das ganze Ausmaß dieser Psychose, die mich offensichtlich schon dahinrafft, nicht grad einfacher macht.
„Alles zu seiner Zeit“, verlautbart er. Okay, also wenn das wahr ist, was wieder mal absolut für mein krankes Leben sprechen würde und er seine Worte wahrmacht, laut denen er mich „untersuchen“ will, muss ich hier schleunigst verschwinden. Bei meinem Glück sind das tatsächlich Außerirdische, die meine Schädeldecke knacken, um mal reinzuschauen, was da drin nicht stimmt. Okay, das war abartig – selbst für meine Verhältnisse.
„Okay, wo ist hier der Ausgang?“, will ich wissen.
„Du kannst nicht von hier fort“, erklärt er.
„Und wenn ich nicht untersucht werden will?“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
„Ich brauche dein Einverständnis nicht“, verlautbart er.
„Stimmt ja, ich bin der Wurm und Würmer kriechen, wie es sich für uns gehört“, spotte ich.
„Komm“, verlangt er erneut.
„Keine Chance, Mann“, weigere ich mich und trete ein paar Schritte zurück. Widerworte ist er wohl nicht gewohnt, seinem Blick zufolge.
„Wie ich bereits sagte, ich brauche dein Einverständnis nicht“, wiederholt er. Das macht mir dann doch ein bisschen Angst, was ich ihm nie zeigen würde.
Okay, jetzt ist es sowas von Zeit für ein Ablenkungsmanöver und dann wird der Wurm den Ausgang benutzen. Was schwierig werden könnte – immerhin ist das hier eine Wolkenstadt, aber eins ist klar, ich lass mich nicht von den Aliens kidnappen und dann auf den Operationstisch packen.
Ich täusche ein „Hey, eine Duckente“ an, auf das er – natürlich nicht – reinfällt. Das hält mich aber nicht davon ab, wie eine Irre loszusprinten.
Ich schaffe es sogar relativ weit, bis hinter der Tür zwei, bis auf die Zähne bewaffnete, Riesen stehen, die wie auf Kommando ihre Speere vor mir kreuzen und mir so den Weg versperren.
Blitzschnell stoße ich mich vom Boden ab und katapultiere mich in einen Vorwärtssalto, der mich sauber über die Barriere bringt.
Ohne mich umzudrehen laufe ich weiter – immerhin ist es klar, dass sie mich verfolgen – dem Lärm, den ihre Rüstungen verursachen, zufolge. Ist ja hier wie das Filmset zu Spartakus – schießt mir unentwegt durch den Kopf, als ich durch den Tempel laufe.
Scheiße, ich brauch einen Plan, sonst haben die mich gleich. Im nächsten Moment wird mir klar, dass das hier eine Sackgasse ist, auf die ich zielsicher zusteuere.
Als ich mich schon frage, ob es wehtun wird, wenn sie mit mir kollidieren, tut sich die vermeintliche Sackgasse als Plateau, das nicht ganz so hoch ist und auf dem links und rechts Treppen abgehen, auf.
Ich hüpfe auf die Brüstung, drehe meinen Rücken in Richtung „Abgrund“ – so hab ich weniger Schiss vor der Höhe – und katapultiere mich in einen Rückwärtssalto, der mich gen Boden bringt.
Es war doch höher als ich dachte – dementsprechend tun mir auch alle Knochen weh, aber da mir meine Verfolger gleich hinterherspringen und ein „Haltet sie“ brüllen, das Leute auf den Plan ruft, die hier unten in dieser Wahnsinns-Halle stehen, nehme ich wieder die Beine in die Hände.
Ein Typ versperrt mir von Weitem den einzig erkennbaren Weg, der nach draußen zu führen scheint und sieht echt nicht so aus, als ob es leicht wäre, an dem Schrank vorbeizukommen. Scheiße, Scheiße, Scheiße ... der Kerl ist Goliath und ich David, der gerade seinen Stein nicht dabei hat.
Er streckt schon die Arme weit vom Körper weg, damit er mir so richtig schön den Ausgang versperren kann. Ich brauch einen Plan, denn ich bin gleich bei ihm.
Okay, es hilft nichts, ich muss einen auf Frontalangriff machen und hoffen, dass er ausweicht. Kurz bevor ich auf ihn treffe, schraube ich mich in einen Querspagat hoch, drehe mich in der Luft und hole zu einem Faustschlag aus, der ihn eigentlich niedermähen sollte.
Leider hat er ziemlich gute Reflexe, dreht sich um die eigene Achse, springt ebenfalls hoch und krallt sich im Flug meinen Körper. Dabei zieht er mich so fest runter, dass wir zusammen zu Boden gehen und gefühlte zehnmal übereinander rollen, bevor er auf mir zu liegen kommt.
Mir bleibt die Luft schlagartig weg, weil mich sein Körper zu erdrücken droht. Immer wieder verschwimmt mein Blick, doch ich erkenne einen echt attraktiven, jungen Mann, über mir, der versucht, mich in den Griff zu bekommen, da ich mich mit Händen und Füßen wehre. Er fackelt nicht lange, krallt sich meine Arme und fixiert sie über meinem Kopf.
Sein überhebliches „Was haben wir denn hier?“ lässt Wut in mir aufsteigen. Ich bin kein „was“ sondern ein „wer“, verdammt nochmal.
Mein abgehetztes „Runter von mir“ lässt ihm erstaunt die Augenbrauen hochschnellen.
„Es weiß wohl nicht, wem es hier Befehle erteilt, das Menschlein“, knallt er mir ärgerlich hin. Aliens – ich wusste es.
„Es ist breit wie ein Schrank und schwer wie ein Oger, mehr brauch ich nicht zu wissen“, kontere ich böse funkelnd.
Einige Sekunden braucht er, um meine Frechheit zu verarbeiten, lächelt aber dann hinterhältig. „Dumm ist es auch noch“, ergänzt er, lässt von mir ab, zieht mich brutal hoch und schubst mich grob in die Arme meiner Verfolger, die mich sogleich in die Mangel nehmen.„Bringt es wieder zurück in den Stall, zu den anderen Schweinchen“, war jetzt echt niederträchtig. Sein Blick, der abschätzig über meinen Körper streicht, gibt mir den Rest.
Ich kann mir das „Und wo geht es hin, zu den Hornochsen?“ einfach nicht verkneifen, während ich mich im Griff der Bulldozer winde.
Sein Kiefer zuckt vor Zorn. „Schafft es mir aus den Augen, bevor ich ihm das Fell über die Ohren ziehe“, befiehlt er.
„Schweinchen haben kein Fell“, motze ich. Mein „Hackfresse“, kriegt er nicht mehr mit, denn es geht im Geklimper der Rüstungen meiner Verschlepper unter, die mich gnadenlos zurück an den Start schleifen.
Ungefähr so muss sich Kermit der Frosch auf dem Seziertisch fühlen – wobei wir wieder bei der Muppet Show wären.
Sie haben mich in dem Raum, in dem ich vorhin aufgewacht bin, an Armen und Beinen mit Ketten an der Glasplatte festgebunden. Dieser Typ, der behauptet Odin zu sein, ist auch wieder mit von der Partie und natürlich die Knusperhexe.
Na ja, für eine Halluzination ist das alles schon ziemlich real hier. Ihre komischen Klamotten, die bei näherer Betrachtung irgendwie griechisch aussehen, würden auch Sinn ergeben, wenn diese Göttergeschichte stimmt. Da sie mir gerade einen lebendigen Käfer auf das Handgelenk gesetzt hat, ist die Alienhypothese aber noch nicht ganz vom Tisch.
„Ach du Scheiße“, rutscht es mir raus. Das ist doch so ein fleischfressender Käfer – Skarabäen heißen die glaub ich. Ich hab mal in einem Film gesehen, wie hunderte von diesen Viechern einen menschlichen Körper bis auf die Knochen abgenagt haben – in ein paar Sekunden. Okay, das geht grad gar nicht. Ich wehre mich, bäume mich auf.
Im nächsten Moment schlingen sich Eisenketten auch um meinen Leib und drücken mich so fest auf den Glastisch zurück, dass ich keuche.
Als der Käfer zubeißt, entkommt meiner Kehle ein Schrei, doch da nimmt sie das Ding auch schon wieder von mir runter und setzt das Biest auf eine Art goldene Platte, die zu leuchten beginnt. Das ist wie bei Star Trek. Ich schwörs, wenn sich gleich Mr. Spock um die Ecke beamt, garantier ich für nichts mehr.
Ich frage mich, ob das Ding giftig ist. Die Bisswunde brennt auf jeden Fall abartig, was dafür sprechen würde. Schneiden die mich jetzt auf? Mein Atem geht bereits beim bloßen Gedanken daran stoßweise. Irgendwie geht das hier grad gar nicht.
„Wessen Kind ist sie?“, will Odin von der Tussi wissen. Was?
Ihr Schweigen ruft mich auf den Plan. Als ich den Kopf drehe und erkenne, dass sie mich aus weit aufgerissenen Augen anstarrt, krieg ich Panik, um es gelinde auszudrücken.
„Wieso glotzt sie mich so an?“, will ich völlig außer Atem wissen.
„Freyja?“, holt sie Odin aus ihrer Starre.
Sie räuspert sich leicht und sagt: „Auf ein Wort, Gemahl.“ Okay, jetzt sag nicht, die zwei sind verheiratet. Na viel Spaß mit der Fregatte, sag ich nur.
Sie sind noch keine zwei Sekunden aus dem Raum raus, da beginne ich, wie wild an den Fesseln zu zerren. Die Ketten lösen sich kein Stück, was mich ganz schön runterzieht. Es hindert mich aber nicht daran, meine Wut über diese Scheiße hier an den Dingern abzureagieren. Wie eine Verrückte spanne ich die Muskeln an und stemme mich dagegen, bis ich vor Schmerz brülle.
Okay, ich pack das hier nicht. Die Gefühle, als mich die Efeuranken zu zerquetschen drohten und die Erinnerungen an die Ketten meines Ziehvaters, mit denen er mich an mein Bett in der Villa gebunden hat, kommen hoch.
Mein Atem geht erneut stoßweise, aber ich habe trotzdem das Gefühl, zu ersticken. Wieder stemme ich mich dagegen, bis ich schon Rinnsale spüre, die über meine Hand- und Fußgelenke laufen. Mein Körper bäumt sich unter unsagbaren Schmerzen auf, aber ich mache immer weiter. In meiner absoluten Verzweiflung schreie ich diese ganze Scheiße, die auf meiner Seele lastet, in die Welt hinaus.
Die Tür wird aufgestoßen, doch da bin ich schon total am Durchdrehen, schreie nur noch instinktiv. Odin kommt näher und durchtrennt die Ketten mit bloßen Händen. Ich rolle mich vom Tisch, wanke zurück, bis ich durch eine Wand im Rücken gestoppt werde und taxiere die zwei mit meinen Blicken.
„Beruhige dich“, rät mir Odin. Mein ganzer Körper bebt. Ich glaube, ich hab gerade eine Panikattacke.
„Was hat es denn?“, will diese blöde Emanze wissen.
Ich muss hier raus. Erneut peile ich die Tür an, doch als ich erkenne, welche Blutspur ich bereits ziehe, packt mich ein Schwindel, der mich wanken lässt. Bevor ich mich irgendwo festhalten kann, knicken meine Beine weg. Okay, ab sofort ist klar – ich hab ein Eisenkettentrauma – wo wir wieder bei der Psychose wären.
Ich bekomme noch mit, dass mich Odin abgefangen hat und in seine Arme hebt. Von da an verliere ich immer wieder das Bewusstsein.
„Ich brauch … meinen … Regenwurm“, hauche ich – zumindest glaube ich, es zu tun. Ich hab mich grad nicht so wirklich im Griff, denn ich lache sogar über diesen blöden Gedanken.
Meine Hände krallen sich in sein Hemd und ich versuche, wieder zu mir zu kommen, schaffe es aber nicht. Das macht mich so wütend, dass mir die Tränen kommen, was mich noch wilder macht.
„Hör auf“, hauche ich. „HÖR AUF.“ Meine Stimme bricht und läutet meine Bewusstlosigkeit ein.
Ab heute steht fest: Ich hasse Wolken – ganz offiziell. Ehrlich. Hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass ich nichts anderes von meinem Fensterplatz aus erkennen kann. Überall helle, freundliche Wölkchen, die mich beinahe zum Kotzen bringen. Es liegt auch durchaus im Bereich des Möglichen, dass ich minimalst desillusioniert bin, da man mich in diesem Zimmer eingeschlossen hat und ich das Dasein eines Untersuchungsobjekts friste.
Als ich aufgewacht bin, wollte ich abhauen, aber – Fehlanzeige. Ich bin eine Gefangene, eine Laborratte, die sie in ein Kleid gesteckt haben und rausholen, um damit abartige Experimente zu machen. Na ja, immerhin kann ich die Entführung durch Aliens ab sofort auf der Liste des Grauens als „erledigt“ abhaken.
Oder wer weiß, möglicherweise bin ich ja bereits tot und das ist der Himmel, alias meine ganz persönliche Hölle. Wetten, der Teufel höchstpersönlich kommt gleich durch diese Tür und holt mich ab.
Keine zwei Sekunden später geht die Tür auf, was mich zusammenzucken lässt. Okay, das war echt gruslig. Obwohl, bei genauerer Betrachtung würd ich den Teufel der Zimtzicke vorziehen, die gerade ein „Beifuß“ ausstößt, das mich fast auf die Palme bringt.
Ihr ungeduldiges „Böser Wurm“ macht die Situation auch nicht besser – die gehexte Leine inklusive Halsband, mit der sie mich vom Fensterbrett zieht, übrigens auch nicht.
Ich huste mir die Seele aus dem Leib, als sie mich hinter sich herzieht. Dieses Gefühl, zu ersticken, löst bereits wieder eine leichte Panik in mir aus. Toll, ich schlittere wohl ab jetzt von einem Horrorszenario ins andere.
„Hey, geht’s noch?“, stoße ich fuchsteufelswild aus. Bevor sie mir einen Maulkorb verpasst und mir eine rosa Schleife in die Haare macht, ergebe ich mich.
Auf dem Weg durch den Tempel zerre ich an dem Halsband, kriegs aber einfach nicht ab.
„Lass uns allein“, befiehlt Odin, der auf seinem Thron in der großen, goldenen Halle sitzt, seiner Angebeteten, die empört schnaubt, aber glücklicherweise Leine zieht – wo wir beim Thema wären. Ich versuche immer noch, das blöde Halsband loszuwerden, hab wahrscheinlich schon rote Striemen von dem Ding.
Odin scheint Mitleid mit dem Schoßwürmchen zu haben, denn es ist von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Sofort ist dieses beklemmende Gefühl weg und ich atme erleichtert auf.
Sein „Komm“ reißt mich aus dem energischen Reiben meines Nackens. Da ich sowieso keine Wahl habe – meinen, nicht gerade von Erfolg gekrönten, Fluchtversuch im Hinterkopf habend – stapfe ich in die Richtung seiner ausgestreckten Hand.
Durch eine Flügeltüre erreichen wir einen kleineren Raum. Natürlich lasse ich mich nicht auf der mir angebotenen, gepolsterten Bank nieder, sondern ziehe den Blick aus dem Fenster vor. Hier fühl ich mich bedeutend wohler.
Odin stellt sich neben mich. Kurz verliere ich mich in seinen Zügen, die Weisheit und Vertrauen gleichermaßen ausstrahlen. Jemanden mit so azurblauen Augen hab ich noch nie gesehen. Ich würde sagen, er ist ganz ansehnlich – für einen älteren Mann, versteht sich.
Sein goldener Brustpanzer blendet einen förmlich. Darauf zeichnen sich Muskeln ab, die Superman im Comic Konkurrenz machen. Ob die auch ausgestopft sind?
Kann es sein, dass das wahr ist und es Götter tatsächlich gibt? Das wär echt krass. Na ja, Hexen gibt’s ja auch. Verdammt, ich schätze, ich sollte den gesunden Menschenverstand zusammen mit der Alienhypothese über Bord werfen.
„Miss Piggy“ „Raven“, unterbreche ich ihn. „Mein Name ist Raven“, stelle ich klar. Kurz mustert er mich mit undurchdringlicher Miene, fährt aber dann fort: „Raven, du hast sicher unendlich viele Fragen.“
„Bin ich tot?“, ist auf jeden Fall die dringendste auf der Liste meiner unendlich vielen Fragen. Dass er sie nicht sofort mit einem klaren „Nein“ beantwortet, ist mehr als beunruhigend. Krampfhaft lasse ich die gesamte Luft aus meiner Lunge entweichen. Das ist jetzt nicht wahr. Meine Brust schnürt sich zusammen und ich habe Mühe, meine Tränen zurückzuhalten.
„Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten“, aus Odins Mund, trägt nicht zu einem gesteigerten Wohlbefinden meiner Wenigkeit bei.
In meiner Verzweiflung schmeiße ich die Nerven weg und krächze: „Die Frage ist einfach. Bin ich tot oder lebendig, verdammt nochmal?“ Okay, ich hab grad Odin angemotzt – einen Gott.
Er lässt es über sich ergehen, ohne mir eine mit seinen göttlichen Kräften zu verpassen, bevor er fragt: „Was weißt du über deine Abstammung?“
„Gar nichts. Nur, dass ich das Produkt einer Vergewaltigung bin, aber ob das der Wahrheit entspricht, habe ich nie erfahren.“ Moment mal. Tiberius‘ Worte kommen mir wieder in den Sinn: „Man munkelte, es war kein Hexer, der deiner Mutter Gewalt angetan hat“.
„Es ist also wahr“, hauche ich mehr zu mir selbst, als zu meinem Gegenüber. „Ich bin die Tochter des Teufels“, ergänze ich. Ich bin grad so fertig, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen kann.
„Nein“, dementiert er meine Worte, was mich innerlich aufatmen lässt.
„Seine Braut?“, stoße ich gequält und mit zusammengekniffenen Augen aus.
„Nein.“ Okay, haarscharf an der Hölle vorbeigezogen – hoffentlich, mal sehen, was der Tag noch so bringt.
„Wer bin ich dann? Wieso bin ich hier? Warum kann ich nicht gehen?“, bombardiere ich ihn mit Fragen.
„Was weißt du über deine Eltern?“ Toll, er beantwortet meine Fragen mit Gegenfragen –Zermürbungstaktik also.
„Meine Mutter war eine Hexe“, antworte ich.
„War?“, hinterfragt er.
„Ja. Sie wurde am Scheiterhaufen verbrannt, weil sie versucht hat, mich kurz nach meiner Geburt zu ertränken. Zumindest hat man mir das so gesagt“, stoße ich emotionslos aus. „Aber was erzähl ich das einem Gott. Ihr wisst doch sowieso alles über mich“, ergänze ich patzig.
Seine Augenbrauen schnellen hoch. „Du bliebst vor mir verborgen“, erklärt er.
„Ich weiß nicht, was das bedeutet“, gebe ich zu.
„Wir Götter beobachten die Menschen von Asgard aus“, informiert er mich. Für sowas gibt’s bei uns Facebook – da holt man sich beim Stalken nicht mal ’nen Schnupfen. „So nennen wir den Platz, den du als Himmel bezeichnest. Aber dich konnte ich nicht sehen“, ergänzt er.
„Wie konntet Ihr mich dann finden?“, will ich wissen.
„Ich habe dich gespürt.“
„Inwiefern?“
„Deine Essenz.“
„Ist das so etwas wie Karma?“ Mit der Pechsträhne bin ich wohl sogar schon im Himmel auffällig geworden.
„Ich konnte etwas spüren, aber es von hier aus nicht sehen. Aus diesem Grund bin ich auf die Erde hinabgestiegen, um die Anomalie aufzuspüren.“
„Also mich?“, hake ich nach.
„Ja.“
„Führt es auf die mangelnde Intelligenz, die der Wurm mitbringt, zurück, aber ich habs immer noch nicht kapiert, was Ihr mir sagen wollt.“
„Ich kann jeden Menschen von Asgard aus sehen, Raven – ohne Ausnahme“, klärt er mich auf.
„Ich bin aber kein Mensch, sondern eine Hexe“, korrigiere ich seine Aussage.
„Hexen sind nur Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Auch sie vermag ich zu sehen.“
„Und? Was soll das heißen? Dass ich nicht normal bin – das hätt ich Euch vorher sagen können – es bestätigt sich mit jedem weiteren Tag meines Lebens.“
„Nur ein Teil in dir trägt menschliche Gene in sich“, stellt er fest.
„Und der andere Teil? Den Teufel haben wir ja schon ausgeschlossen. Wenn ich laut Eurer reizenden Gemahlin auch keine Göttin bin, was bleibt dann noch übrig?“
„Du solltest dich setzen“, rät mir Odin. Jetzt machs nicht so spannend, ich geh hier auf dem Zahnfleisch.
„So schlimm also“, mutmaße ich. Oh Mann, bei meinem Glück bin ich hier das grüne Marsmännchen. Unglaublich, dass mir der Spott noch immer nicht vergangen ist – nach allem, was ich schon hinter mir habe.
Als er zögert, ermutige ich ihn: „Einfach raus damit. Hauptsache es ist nicht der Teufel, alles andere ist halb so wild.“ Na ja, zumindest aus jetziger Sicht. Frankensteins Monster oder Freddie Krueger als Dad wären jetzt auch nicht so der Bringer.
„Raven, hast du schon einmal etwas von jemandem gehört, den man den Fährmann nennt?“, haut mir dann fast den Marmor unter den Beinen weg. Okay, jetzt sollte ich mich setzen, denn meine Stelzen werden bereits zu Pudding.
Die Distanz zu dem Bänkchen ist schnell überwunden. Wie ein nasser Waschlappen lasse ich mich darauf fallen. Mein Kopf ist vollkommen leer. Keinen einzigen klaren Gedanken vermag ich zu fassen, so vollkommen überfordert bin ich mit Odins Frage.
„Raven?“ Der Gott hat sich mir gegenüber auf eine idente Bank niedergelassen und sieht mir bei meinem verzweifelten Versuch zu, damit klarzukommen.
„Ist das mein Vater? Der Fährmann?“, hinterfrage ich seine Worte kaum hörbar, weil das grad so surreal ist und mich dermaßen runterzieht.
„Ja“, aus seinem Munde ist dann wie ein elektrischer Schlag, der mir durch Mark und Bein geht.
„Krass“, ist das Dämlichste, was man in so einer Situation sagen kann – kein anderes Wort beschreibt aber das, was ich sagen will treffender. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren, es will aber irgendwie nichts wirklich Produktives dabei rauskommen.
Ohne Plan plappere ich einfach drauflos: „Bin ich jetzt … also halb Fährmann, halb Hexe?“ Man sagt ja immer, es gäbe keine blöden Fragen, aber ich komme zu dem Schluss, dass das nicht so ganz stimmen kann. Das, was ich da ausgestoßen habe, gehört sicher zur Gattung „verdammt blöde Frage“. Deshalb ergänze ich ein vollkommen verzweifeltes „Hhhh“ um meiner Niederschmetterung Genüge zu tun.
„Der Fährmann ist keine Gottheit. Er existiert in der Unterwelt, da er die Verstorbenen mit einer Fähre über den Fluss der Seelen bringt. Jene, die an Altersschwäche oder natürlichen Todes vergehen nach Helheim und die Krieger nach Walhalla. Aber seine Gattung hat keine Bezeichnung, wenn du darauf hinaus willst.“ Okay, vielleicht sind die Fährmanns-Gene ja neutral und ich konnte deshalb schwarze und weiße Magie in mir aufnehmen. Was für ein Chaos.
„Auf den Verdacht hin, dass ich in Mythologie geschlafen habe, was durchaus im Bereich des Möglichen liegen würde, aber ich dachte immer, der Fährmann wär sowas wie ein Matrose und schippert die Toten hin und her. Ich meine, hat er Urlaub auf der Erde gemacht oder wie könnte er sonst auf meine Mum getroffen sein?“ Mann, unglaublich, was ich für Scheiße labere, aber wie soll ich das sonst ausdrücken? Das ist doch hier total schräg.
„Es gab einen Vorfall, der nun über siebzehn Jahre zurückliegt. Du bist siebzehn Jahre alt, nicht wahr?“, mutmaßt Odin.
„Ja“, hauche ich eingeschüchtert.
„Damals ist eine Frau von der Fähre des Fährmanns gesprungen.“ Ach du Scheiße.
„Lasst mich raten, das war meine Mum“, wende ich ein.
„Das vermuten wir.“ Okay, jetzt weiß ich, wo ich den, an mir nagenden, Wahnsinn her habe. Ich wusste immer, dass das genetisch ist.
„Wir?“, hinterfrage ich seine Worte.
„Ich habe den Fährmann diesbezüglich aufgesucht und um eine Unterredung in dieser Sache gebeten. Er hat mir im Zuge dessen von dem Vorfall berichtet.“ Jetzt hat er mit meinem Dad gesprochen – dem Fährmann – toll. Das ist echt abartig.
„Er hat es also bisher verschwiegen“, mutmaße ich.
„Es gab keinen Grund, mich darüber in Kenntnis zu setzen. Dass die Seelen versuchen, durch einen Sprung zurück ins Leben zu gelangen, ist keine Seltenheit“, erklärt Odin.
„Und was war an dieser Situation so besonders? Wahrscheinlich hatte sie Angst vor ihm, weil er ihr Gewalt angetan hat und ist deshalb geflüchtet.“
„Der Fährmann beteuerte, im Besitz des ausdrücklichen Einverständnisses der Frau gewesen zu sein, als sie sich … nähergekommen sind.“ Das kann ja jeder sagen. Aber okay, im Zweifel für den Angeklagten. „Springt eine Seele von der Fähre des Fährmanns, musst du wissen, tragen sie die Fluten zurück zum Ufer, an dem sie auf die nächste Fähre wartet. Es gibt kein Entrinnen aus diesem Kreislauf. Diese Frau jedoch stand nicht am Ufer, als der Fährmann zurückkehrte. Sie ist spurlos verschwunden und ward seitdem nicht mehr gesehen.“ Okay, das ist echt gruslig.
„Wo ist sie hin?“, hake ich nach.
„Das entzog sich unserer Kenntnis – bis jetzt. Wir müssen davon ausgehen, dass sie zurück auf die Erde gelangt ist – über die Hintergründe, wie ihr das gelungen ist, können wir nur Mutmaßungen anstellen.“
„Moment mal“, wende ich haareraufend ein, da mein Gehirn begonnen hat, die Information zu verarbeiten, aber massive Probleme damit hat, die Nuss zu knacken. „Heißt das, meine Mum hat sich auf der Überfahrt den Fährmann aufgerissen und dabei bin ich entstanden? Danach ist sie abgehauen, irgendwie wieder lebendig geworden und hat mich geboren, um mich gleich wieder umbringen zu wollen, wahrscheinlich weil ihr klargeworden ist, dass der Fährmann mein Dad ist?“ Meine letzten Worte sind eher quietschend ausgetreten.
„Das bedeutet es wohl“, fasst er meine Worte total gelassen zusammen, als ob das nicht gerade die Gruselschocker-Story schlechthin gewesen wär.
„Klingt nach meiner Mum. Okay, Auszeit“, verlange ich. „Heißt das, meine Mutter war eine … Tote?“
„Ja.“
„Und … und … und ich … bin ich … tot oder … lebendig?“, stottere ich vollkommen am Ende mit den Nerven.
„Weder noch. Du existierst.“ Ach du Scheiße. Die Info nimmt mich schon ganz schön mit.
„Was … was bedeutet das? Wie ist das möglich?“
„Bis heute war mir nicht klar, dass so etwas wie du tatsächlich existieren kann, aber ich wurde wohl eines Besseren belehrt.“ Da sind wir wohl schon zwei.
„Ich bin ein Jemand, kein Etwas“, stoße ich wild aus, aber er ignoriert es.
Das macht mich unsagbar wütend, aber ich versuche, mich in den Griff zu bekommen und verlange: „Gibt es viele von meiner Art? Ich meine, ist der Fährmann so einer, der in jedem Hafen eine andere Frau hat oder besser gesagt, sich auf jedem Bootstrip mit einer anderen vergnügt?“
„Nein. Der Fährmann hat kein Interesse an den Seelen.“
„Scheinbar doch, sonst wär ich wohl kaum hier“, korrigiere ich ihn mürrisch.
„Auch er ist ein Mann, der wohl einem Moment der Schwäche erlegen ist“, verteidigt er ihn. Na toll, da geht’s mir ja gleich viel besser.
„Und wieso hat er sich dann nie gemeldet, ich meine …“ Mir fehlen die Worte. Irgendwie ist das Gespräch hier total zermürbend.
„Wie ich selbst, wusste er bis heute nichts von deiner Existenz. Ihm war nicht bewusst, dass diese Zusammenkunft mit der Seele deiner Mutter ein Kind hervorgebracht hat.“
„Und wie hat er darauf reagiert? Ich meine, keine Ahnung, streitet er es ab?“, löchere ich Odin mit Fragen.
„Nein. Selbst wenn, wurdest du eindeutig identifiziert. Ihr seid vom selben Blut – zumindest ein Teil von dir. Das hat Freyja überprüft.“ Aha, dazu hat der Käfer angebissen. Ist wohl so eine Art göttlicher DNS-Test.
„Will er mich sehen?“, frage ich einfach drauflos.
Erneut schnellen Odins Augenbrauen hoch. „Willst du das denn?“
„Was ist denn das für eine Frage? Natürlich. Er ist mein Vater“, raune ich.
„Er ist der Fährmann“, korrigiert mich Odin.
„Ja, ist angekommen. Und?“
„Viele fürchten ihn“, erklärt Odin. Ich rolle mit den Augen.
„Kann ich zu ihm?“ Obwohl mir der Gedanke, ihm gegenüberzutreten Angst macht, sehnt sich mein Herz endlich danach, meinen richtigen Vater kennenzulernen. Na ja, ich hab schon gewaltig Schiss – vor allem, wenn er so wär, wie in meiner Vorstellung – ein Skelett-Sensenmann mit Kapitänsmütze und Pfeife.
„Du verstehst nicht Raven, der Fährmann kann dir kein Vater sein. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen, die seine gesamte Zeit in Anspruch nimmt“, desillusioniert er mich mal eben.
„Ja, schon klar. Er ist ein Workaholic. Ich verlange auch keine Alimente von ihm, werd ihm nicht wie ein Klotz am Bein hängen und ihn nicht mit Fragen löchern, aber ich will ihn kennenlernen. Ist ja nicht so, dass ich eine riesige Familie hätte.“ Genaugenommen bin ich ganz allein.
„Also, kann ich ihn sehen?“, verlange ich ungeduldig.
„Alles zu seiner Zeit“, erklärt er erneut.
„Nein, ich hab keine Zeit. Ich warte schon mein ganzes Leben lang darauf, endlich zu erfahren, wer ich wirklich bin. Ich will jetzt meinen Dad kennenlernen, verdammt nochmal.“ Ich hab mich so in Rage geredet, dass mir die Tränen kommen, die ich schnell wegwische.
„Raven, es gibt Dinge, die du erfahren solltest, bevor wir weitere Schritte setzen“, erklärt er.
„Ich bin ganz Ohr“, bestätige ich.
„Dein Vater lebt in der Unterwelt – am Ufer des Flusses der Seelen. Dort vegetieren die Toten dahin, die nicht imstande sind, den Obolus an den Fährmann zu entrichten.“ Klingt ganz nach einem Zuhause, wo man den Tod vor Augen hat. „Dies ist eine Schattenwelt, an dem die Seelen Qualen erleiden – ein Ort der Dunkelheit. Solch einem Ort würde ich dich nur ungern aussetzen. Du würdest den Verstand verlieren.“ An der Stelle sollte ich ihm wohl gestehen, dass das bereits passiert ist – vermutlich bereits nach der ersten Folge von Spongebob, die ich mir reingezogen habe. „Der Fährmann und ich haben entschieden, dass du vorerst hier in Asgard bleibst.“ Schön für euch.
„Ich lebe dort, wo mein Vater lebt. Keine Sekunde will ich mehr das Gefühl in mir tragen, zu niemandem zu gehören und ganz allein zu sein“, stelle ich klar.
„Bedauerlicherweise ist das nicht möglich. Du wirst hierbleiben, wie wir es vorgesehen haben. Der Fährmann bedauert die Umstände, die sein Handeln nach sich gezogen haben.“ Ich fasse es nicht, dass er das gerade gesagt hat.
„Die Umstände?“, krächze ich. „Er bedauert es also, dass er kein Kondom benutzt hat. Nun, das hätte er sich ja mal vorher überlegen können.“ Moment mal, kann es sein, dass … „Er will mich nicht sehen, stimmts? Will nichts mit mir zu tun haben, oder?“, mutmaße ich.
„Ich fürchte, so ist es“, haut mich fast vom Hocker. „Deshalb bittet er dich auch, Stillschweigen über die Angelegenheit zu bewahren.“
„Ich soll also im Klartext niemandem verklickern, wer mein Vater ist“, hinterfrage ich seine Worte.
„So ist es“, bestätigt Odin. Bis zur Schmerzgrenze beiße ich mir in die Lippe, um nicht vor ihm loszuheulen.
„Kann ich mal kurz allein sein?“, verlange ich. Er nickt und verlässt den Raum.
Mit dem ins Schloss fallen der Tür, fallen meine Tränen wie Sturzbäche herab. Ich fasse es nicht, dass er mich nicht sehen will, dass er sich kein bisschen für mich interessiert. Na ja, ich bin ja das Produkt eines Quickies, den er mit einer Toten auf seinem Kahn hatte. Ich lache gequält auf. Wahrscheinlich schämt er sich für das Menschlein, das er gezeugt hat.
Unglaublich, wie viel Scheiße einem einzelnen Individuum zustoßen kann. Gibt’s da keine Obergrenze?
Scheinbar ist mein Leben ein einziges Horrorszenario, korrigiere: Meine Existenz. Lebendig zu sein würde ja voraussetzen, dass ich lebe, was ich ja scheinbar auch nicht tue. Obwohl ich immer noch nicht verstanden habe, was da der Unterschied sein soll. Ich versteh grad gar nichts mehr. Ich brauch dringend mal Urlaub von mir selbst – das hält doch keiner auf Dauer aus.
Obwohl es total irrational ist, wünschte ich in diesem Moment, Fynn wär hier. Ich muss ständig an ihn denken, sehne mich nach seiner positiven Energie. Er würde genau wissen, wie er mich beruhigen kann.
Mein Schluchzen kommt schubweise, ohne es kontrollieren zu können. Ich muss an die frische Luft – das altbekannte Pfeifen in meinen Ohren ist bereits wieder da.
Durch den weißen Vorhang, der meiner Vermutung nach zu einem Balkon führt, stolpere ich förmlich hindurch. Ich hatte recht, es ist das, was ich vermutet hatte.
Irgendwo erhebt sich ein Schwarm Vögel kreischend in die Luft, was so abartig laut ist, dass ich versucht bin, mir die Ohren zuzuhalten.
Mit den letzten Kräften halte ich mich an der Brüstung fest und ziehe krampfhaft Luft in meine Lunge. Du klappst jetzt nicht zusammen. Hör mal, was ist denn los mit dir – mutierst du jetzt zu so einem Mittelalterweibchen? Es ist doch alles halb so wild … und wenn ich es ein paar Mal hintereinander sage, glaub ich das sogar selbst.
Aus irgendeinem kranken Gedankensprung kommt mir Charly – der Friedhofswärter alias Knochensammler – in den Sinn. Er wollte seinesgleichen holen. Junus hatte recht, ich bin eine lebendige Tote.
Gerade wird mir klar, dass die Blumen, die hier an der Brüstung entlang wachsen, verwelken und man sogar dabei zusehen kann, wie sie wegschrumpeln. Der Zerfall setzt sich fort, befällt bereits alle Ranken des orchideenartigen Gewächses.
Schnell ziehe ich die Hände weg, da stoppt der Zerfall abrupt. Die Blumen erholen sich schön langsam wieder, werden auch wieder grün, wo sie doch gerade noch schwarz waren, als hätte eine Feuersbrunst gewütet.
Moment mal. War ich das? Geht das von mir aus? Geht der Tod von mir aus? Mein Herz pocht so schnell gegen meine Brust, dass ich keuche.
Ich trage den Tod in mir, weil meine Mutter bereits tot war, als sie mich empfangen hat. Ach du heilige Scheiße. Ich bin eine Anomalie. Wo wir wieder beim Zombie wären.
Das macht mich grad so fertig, dass ich vor mir selbst zurückweiche. Bedauerlicherweise kann ich nirgendwo hin.
Ich erkenne gerade, wie viel Spaß es macht, sich selbst zu monsterisieren, während man in der Badewanne vor sich hindümpelt. Ich hab auch schon viele passende Namensvorschläge für meine Gattung, die ich Odin bei Gelegenheit unterbreiten könnte. Mein Favorit: Monstermolch. Na ja, Rudi Carrell war ja schon besetzt.
Im nächsten Augenblick wird die Tür so fest aufgestoßen, dass ich zusammenzucke, während ich versuche, mein verschrumpeltes, Nackt-wie-Gott-mich-schuf-Ich vor dieser Zimtzicke zu verbergen. Also jetzt mal ehrlich, wär ich Odin, hätt ich sie bereits abgeschossen.
„Raus mit dir. Beifuß“, befiehlt sie mit erhobenem Zeigefinger. Mann, jetzt kommt sie mir wieder mit den Hundekommandos.
Mein böses Funkeln hält sie nicht davon ab, mir ein „Es zieht sich jetzt an und kommt den Gang entlang, die vierte Türe rechter Hand und es beeilt sich, sonst hole ich die Leine“ vor den Latz zu knallen.
Sie hat mir nicht gerade ein rosafarbenes Kleid an den Kopf gedonnert, das vollständig aus Tüll zu bestehen scheint. Seh ich aus wie ein Bonbon, das man in Folie wickeln muss? Okay, das Kleid geht gar nicht.
Nachdem mir die Schimpfwörter für sie ausgegangen sind, husche ich aus der Wanne und will mich in das Kleid werfen, das ich gestern den ganzen Tag über getragen habe. Nun, wenn ich es finden würde, wär das zumindest hilfreich. Anscheinend hat mir die Zimtzicke das Teil geklaut.
Ich weiß genau, wie ihr krankes Hirn arbeitet – die hats auf mich abgesehen und faustdick hinter den Ohren. Wenn ich nicht aufpasse, wird sie mir Kunststückchen mit Leckerlis beibringen.
Okay, eigentlich ist es mir aber auch egal, was ich anhabe. Ich hau von hier ab, sobald sich die erstbeste Gelegenheit bietet. Deshalb werfe ich mich in diesen rosa Wahnsinn, der mir drei Nummern zu groß ist. Der Spiegel ist gnadenlos – zeigt mir das rosa Etwas, das total durch den Wind ist.
Meine Haare stehen in alle Richtungen ab, was ich korrigiere, indem ich mir was von dem wachsartigen Zeug in die Matte pople, das hier überall in Schälchen herumsteht. Ist glaub ich Götterspeise. Von offenem Feuer sollte ich mich aber trotzdem vorsichtshalber fernhalten – es könnte sich nämlich auch um bunte Feuerschälchen handeln.
Schnell wende ich den Blick von dem bleichen Monster im Spiegelbild ab und mache mich gemäß der Wegbeschreibung auf.
Ich bin noch nicht mal drei Schritte aus der Tür raus, da erregt ein Geräusch meine Aufmerksamkeit. Hört sich an, wie leises Gelächter. Es geht von einem kleinen, blonden Jungen aus, der neben einer Statue steht und mich grinsend zu sich herüberwinkt.
Als ich zögere, tritt er aus seinem Versteck hervor. „Du bist die Neue, oder?“, fragt er grinsend. Er ist ziemlich mager, sieht aber freundlich aus.
„Wer will das wissen?“, antworte ich.
„Luca.“
„Raven“, stelle ich mich vor. Der Junge, den ich für einen Neunjährigen halte, stellt sich vor mich hin und mustert mich angestrengt.
„Das Kleid ist hässlich“, meint er mit gerunzelter Stirn.
„Ist doch egal“, stoße ich gleichgültig aus.
„Deine Haare gehen auch nicht. So kannst du nicht rumlaufen. Die werden dich fertigmachen“, erklärt er.
„Wer denn?“, will ich wissen.
„Wirst schon sehen“, informiert er mich. Der Junge kommt auf mich zu und an der Stelle muss ich zugeben, dass mir schon etwas mulmig wird, als er über meine Hand streicht.
Im nächsten Augenblick hab ich eins dieser weißen Göttinnenkleider an. Wenn gleich Spartakus um die Ecke biegt, lauf ich Amok.
Nun beginnen auch noch meine Haare zu wachsen. Die Locken winden sich über meine Schultern bis weit über meinen Po. Ich werd verrückt – so lang waren die noch nie. Okay, wieder fünfzig Mäuse für den Friseurbesuch in den Wind geschossen. Ich will mich bedanken, aber der Junge ist bereits spurlos verschwunden. Ist ja echt strange der Laden hier.
„Du lässt also Odin, den Allvater auf dich warten, du Wurm“, knallt mir die Zimtzicke hin, da bin ich noch nicht mal durch die Tür durch.
„Er lebt doch sowieso ewig, was sind da schon fünf Minuten“, fand sie jetzt nicht so prickelnd als Antwort – mein Kleid und meine neue Frisur auch nicht, ihrem abschätzigen Blick zufolge, den sie über meinen Körper schwenken lässt.
Odin, der auf seinem Thron sitzt, meldet sich zu Wort: „Wir ließen das Gerücht verbreiten, du seist ein Mensch mit einer besonderen Gabe, die es zu untersuchen gilt. Zu diesem Zweck, so ließ ich verlautbaren, habe ich dich nach Asgard gebracht. Genaugenommen entspricht das der Wahrheit – geht man davon aus, dass die Natur vor dir zurückweicht.“ Er hats also mitgekriegt. Toll. Na ja, ist ja kaum zu übersehen. „Das Detail über deine Herkunft tut nichts zur Sache. Schwörst du, Stillschweigen über deine Verbindung zum Fährmann zu bewahren?“
„Nur im Gegenzug eines Gefallens“, verhandle ich.
Odin hebt die Augenbrauen interessiert hoch. „Der wäre?“, hakt er nach.
„Alles zu seiner Zeit“, knalle ich ihm seine eigenen Worte hin. Naa, wie fühlt sich das an?
„Also gut. Eins sei dir aber gesagt, solltest du deinen Schwur brechen, werde ich dich in aller Härte bestrafen.“
„Okay, ist angekommen.“ Unglaublich, dass er auf den Handel eingegangen ist und mir jetzt einen Gefallen schuldet. Na ja, er kennt mich nicht, sonst hätte er sich darauf nie eingelassen.
„Schwörst du, die Identität deines leiblichen Vaters geheim zu halten, ganz gleich, wer die Preisgabe der Information fordert?“, hinterfragt Odin unsere Abmachung genauer.
„Ja. Ich schwörs“, stoße ich genervt aus. Habs kapiert, mein Dad schämt sich für das Menschlein, das er gezeugt hat. Ist doch echt zum Kotzen.
Er nickt. „Nun gut. Mein Enkelsohn Thorben, Sohn des Thors, wird dich zum Unterricht begleiten, den du jeden Tag besuchen wirst. Er erwartet dich am Fuße des Palastes.“
„Ich muss zur Schule gehen?“, krächze ich ungehalten.
„Natürlich“, stößt er selbstverständlich aus und wirft mich aus dem Thronsaal. Wieso hat eigentlich immer alles einen Haken?
„Ach du Scheiße“, entfährt es mir, als ich am Fuße des Gebäudes den Typen wiedererkenne, der mich bei meinem Fluchtversuch geschnappt hat.
Die Hackfresse, die gerade die Augenbrauen hochzieht, ist jetzt nicht wirklich Odins Enkelsohn und Thors Sohn. Das würd auch den Riesen-Hammer erklären, den er am Gürtel hängen hat. Hab ich ein Glück.
Sein weißes Hemd spannt sich um diesen schrankartigen Körper, der vor Muskelmasse nur so strotzt. Er sieht genauso aus wie sein Opa – nur in jünger.
Bei dem Gott, der breitbeinig und mit einer Lässigkeit auf mich zukommt, die mir sofort unsympathisch ist, regt sich in der Visage der Eindruck der Wiedererkennung.
„Sieh mal einer an, das Schweinchen“, lässt Aggressionen in mir aufsteigen. Verdammt, er sieht ziemlich umwerfend aus und was noch schlimmer ist – er weiß es auch.
Nein, du polierst ihm jetzt nicht die Fresse – an ihm bist du schon mal abgeprallt – und es hat wehgetan. Ohne ein Wort zu verlieren, stapfe ich an ihm vorbei.
Der blöde Wind fährt mir durchs Haar, das ich mir kralle und in alter Manier zu einem seitlichen Zopf flechte. Wahnsinn, wie viel Wolle hat mir der Junge verpasst? Die sind ja megalang, was lästig werden dürfte.
„Spricht es nicht mehr, das Würmchen?“, ertönt es hinter mir.
„Nein, es ignoriert dich bloß. Warts ab, bald wirst du in meiner Gegenwart an deiner Existenz zweifeln“, brennt mir auf der Zunge, was ich soeben freisetze.
Er lacht laut auf. „Hier geht’s lang, Würmchen“, hält er mich zurück und zeigt auf ein Gebäude, das aussieht wie ein Mini-Kolosseum.
Er zieht das jetzt echt mit dem Spitznamen durch, den mir seine Oma Freyja verpasst hat, aber wenn ich mich darüber aufrege, wird er zur Höchstform auflaufen und mich immer weiter damit quälen. Der Name erinnert mich zumindest an meinen Glücksbringer, was die Sache etwas erträglicher macht.
Die positiven Gedanken verziehen sich schlagartig, als ich – hinter dem Typen herdackelnd – auf die Rasenfläche trete, die unter meinen nackten Füßen ihr saftiges Grün verliert und zu einem braunen, verkokelten, toten Gestrüpp wird.
Zahllose Würmer kriechen empor, versuchen sich vor dem Zerfall in Sicherheit zu bringen. Ich bin so geschockt, dass ich sogar stehengeblieben bin, damit ich mir das ganze Ausmaß der Verwüstung antun kann. Dafür dreh ich mich um die eigene Achse. In einem Kreis um mich herum, der sicher ein paar Meter Durchmesser hat, ist alles tot.
Die Regenwürmer bewegen sich auf mich zu, winden sich um meine nackten Zehen, als würd ich sie magisch anziehen. Krass. In der nächsten Drehung um mich selbst pralle ich gegen Thorben, der mich angestrengt mustert.
„Das meinte Großvater also damit“, sagt er mehr zu sich selbst, als zu mir. Ich bin grad nur noch am innerlichen Durchdrehen.
Als dann noch ein Schwarm Krähen Reißaus nimmt, zucke ich sogar zusammen und spiele mit dem Gedanken, mich hinter dem Schrank, alias Thors Sohn zu verstecken. Aber nur kurz, denn er schubst mich im nächsten Moment weiter. Irgendwie hatte er wohl so eine Ahnung, dass ich grad nicht klarkomme und ein bisschen Starthilfe brauche.
Mit pochender Schulter stapfe ich Flüche murmelnd vor ihm her. Mit mir zieht sich die Spur der Verwüstung durch das Gras. An den Stellen, über die ich vorhin gelaufen bin, erholt sich die Vegetation wieder langsam. Okay, zumindest müssen die nicht neuen Rollrasen bestellen, ist ein komplett dämlicher Gedanke, aber zu mir passend. Mann, ich brauch mal eine Hirnspülung. So viel Spott verdirbt doch den Charakter irgendwann mal.
Ich glaub, sogar die Fliegen machen einen Bogen um mich. Es ist, als würde jegliches Leben vor mir zurückweichen. Das zieht mich grad echt runter.
Nur bruchstückhaft bekomm ich mit, dass wir das Amphitheater betreten und mich Thorben vor jemanden schiebt, der aussieht wie ein Gelehrter mit Toga.
„Das ist Raven“, stellt mich der Lehrer vor. „Sie wird hier mit uns studieren. Raven, ich bin Gustus – ich lehre Latein. In diesem Sinne: Te salvere iubeo.“ Hey, hat er mich gerade von der Seite angemacht? Toll. Ich versteh schon mal nur Bahnhof.
Erst jetzt bemerke ich die vielen Augenpaare, die vom Zuschauerbereich der Tribüne auf mich gerichtet sind. Das ist wohl meine Klasse. Mir stockt der Atem. Ich hab ungelogen noch nie so viele wunderschöne Leute auf einmal gesehen.
Die Zimtzicke hat recht, ich bin ein hässliches Ding – zumindest wenn man in die Runde blickt. Da ist einer schöner, wie der andere. Deshalb wende ich auch gleich den Blick ab. Ist ja kaum zu ertragen.
Einige lachen sogar über meinen Anblick. Dass das Efeu, das das Kolosseum überwuchert gerade abstirbt, weil ich mit dem Fuß auf einer der Ranken stehe, scheint mein Freak-Dasein gerade endgültig zu besiegeln.
„Setz dich doch neben Thorben“, schlägt der Lehrer vor. Im Traum. Er sieht auch nicht gerade begeistert aus – eher angewidert. Neben ihm ist außerdem kein Platz mehr frei. Die sind alle von den Schönheiten besetzt, die sich um ihn scharen und ihn von der Seite anschmachten. Unter ihnen auch eine blonde Barbie mit megalangen Haaren, die zur Sorte Topmodel gehört und das auch offen raushängen lässt.
Ich peile stattdessen das hinterste, oberste Eck der kaskadenförmigen Sitzreihen an, damit ich niemanden im Rücken habe. Zum Schluss verpassen sie mir eine mit ihren göttlichen Zauberkräften. Das will ich zumindest kommen sehen. Ich hab echt keinen Bock auf diese Scheiße hier. Schule ist doch echt überall zum Kotzen – selbst im Himmel.
Auf dem Weg nach oben spüre ich ihre Blicke im Rücken. Ziemlich offensichtlich glotzen sie mich an. Insgeheim muss ich lächeln – sowas Hässliches wie mich haben sie wahrscheinlich noch nie gesehen. Bei mir ist das eher umgekehrt. Ich könnte sie die ganze Zeit nur anstarren und verträumt seufzen, weil ihre Züge so perfekt sind – ich tus aber nicht. Ein bisschen hab ich mich schon noch im Griff.
Im Gegensatz zu meinen Schulkameraden, die in angeregtes Tuscheln ausgebrochen sind, das nicht mal verstummt, nachdem der Lehrer laut in die Hände klatscht.
„Könnten wir uns wieder dem Latinum widmen“, ist sein jämmerlicher Versuch, die Aufmerksamkeit von mir abzuziehen – natürlich ohne Erfolg.
Im nächsten Augenblick verstummen alle wie auf Kommando. Jemand trifft gerade ein, der die Stimmung spürbar kippen lässt. Mein Herz macht einen Satz.
Der junge Gott, der auf uns zukommt, hat rabenschwarzes Haar, wie ich. Ich spüre sofort eine Verbindung zu ihm, als wären wir uns schon mal begegnet.
„Sei gegrüßt, Fährmannssohn“, aus dem Munde des sichtlich eingeschüchterten Gelehrten, lässt mich die Fäuste ballen. Mein Dad hat einen Sohn? So viel dazu, dass er mir kein Vater sein kann, aber selbst bereits ein Kind hat, zu dem er steht. Ich frag mich, wann mir Odin die Info stecken wollte, dass ich einen Halbbruder habe.
Seine schwarze Kleidung hebt ihn stark von den anderen ab, die weiße oder beige Klamotten tragen. Er ist schlank und groß. In Sachen Muskelmasse steht er den hier anwesenden Kerlen um einiges nach und er ist viel bleicher als die Götter, die hier leben. Irgendwie sieht er so aus, als würde er der Gothic Szene angehören, nur eben ohne die Piercings. Ich lächle innerlich, denn er passt hier genauso wenig rein wie ich.
Seine Augen schwenken über jeden einzelnen seiner Klassenkameraden, die sich für die Dauer des Blickkontaktes förmlich versteifen. Es ist klar, dass sie gewaltigen Schiss vor ihm haben. An mir bleibt sein Blick etwas länger hängen, wahrscheinlich, weil er mich nicht kennt. Ich muss ihn einfach anglotzen. Er ist von solch wilder Schönheit und jagt einem sofort Respekt ein.
Sogar der Lehrer scheint nervös zu sein, als der Sohn des Fährmanns wie ein Todesengel an ihm vorbeischreitet. Es ist klar, dass sie ihn fürchten. Wahrscheinlich wegen seinem Dad. Wenn man es sich mit dem Fährmann verscherzt, kommt man nicht über den Fluss der Seelen und vegetiert im Nichts dahin. Da ist wohl keiner von ihnen scharf drauf.
Mein Halbbruder tritt die Stufen des Amphitheaters empor und kommt irgendwie verdächtig genau auf mich zu. Zu meiner absoluten Verblüffung stoppt er an meiner Reihe und stellt sich neben mich.
Als ich schon befürchte, er könnte unsere Verbindung ebenfalls spüren, informiert mich der Lehrer: „Raven, du sitzt auf dem Platz des Fährmannssohns. Entferne dich unverzüglich.“ Was? Okay, das ist echt der Hammer, ich hab mir instinktiv den Platz meines Halbbruders ausgesucht. Deshalb haben die so komisch gekuckt, als ich mich gesetzt habe. Krass. Na ja, ich sollte das nicht überbewerten, immerhin hat man von hier aus den besten Überblick.
Eigentlich könnte er sich auch einen anderen Platz suchen, immerhin steht sein Name nicht drauf, aber da ich kein Theater machen will, erhebe ich mich und nutze den kurzen Moment, in dem wir uns gegenüberstehen, um ihn mir genauer anzusehen. Seine Augenfarbe ist anders – sie ist von solch einem Schwarz, dass man das Gefühl hat, es würde einen direkt hineinziehen. Sein Blick ist ausdruckslos auf mich gerichtet, als würde er gerade irgendwo anders sein, bloß nicht im Hier und Jetzt.
Schwermut überkommt mich. Am liebsten würde ich mich in seine Arme schmeißen und ihn nie wieder loslassen. Er ist ein Teil von mir – ein Puzzlestück, das verloren gegangen ist und das ich nun wiedergefunden habe. Aber ich darf niemandem sagen, wer mein Vater ist. Habs sogar geschworen. Ergo schließt das meinen Halbbruder mit ein. Ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit Odin sprechen – da hat er mich ja sauber über den Tisch gezogen.
Bevor ich die einzelne Träne aufhalten kann, ist sie auch schon entkommen und bahnt sich einen Weg über meine Wange.
Schnell trete ich an ihm vorbei. Dabei streicht meine Hand kurz über seinen Handrücken. Seine Haut war warm und die Berührung hat mich mit solch starken Emotionen geflutet, sodass ich die freie Hand zur Faust ballen musste, um nicht durchzudrehen.
Geistesabwesend setze ich mich in die Reihe direkt vor ihm. Auch wenn ich ihm nichts sagen darf, will ich zumindest seine Anwesenheit nahe bei mir spüren.
Vom restlichen Unterricht bekomme ich rein gar nichts mit, da ich nur noch durcheinander bin. Dass die Stunde vorbei ist, checke ich erst, als mir Thorben: „Schläfst du mit offenen Augen, Würmchen?“, zuruft.
Genervt erhebe ich mich und dackle wieder mal hinter ihm her, wobei er ständig nur am Motzen ist: „Unglaublich, dass ich den Babysitter spielen muss. Was denkt sich mein Großvater nur dabei?“ Ob er es bemerkt, wenn ich einfach abhaue?
Lästigerweise ist das mit dem Absterben der Welt um mich herum unverändert, was ganz schön viel Aufmerksamkeit auf mich zieht. Viele Gottheiten, an denen wir vorbeilaufen, drehen sich zu mir um, als wär ich die Frau mit Bart, die sie am Jahrmarkt als Attraktion anglotzen. Meine Fluchtchancen verflüchtigen sich zusehends.
Ich habe nicht mitbekommen, dass Thorben vor mir stehengeblieben ist, daher knalle ich ihm frontal hinten rein, was er mit einem Kopfschütteln gefolgt von „Ich hab mich schon immer gefragt, ob Würmchen Augen im Kopf haben, aber das hat sich ja jetzt erledigt. Du bist noch unbeholfener, als ich dachte“ kommentiert. So das reicht.
„Können wir uns jetzt endlich prügeln?“, knalle ich ihm hin.
Verblüfft reißt er die Augen auf und prustet ein: „Wie bitte?“
„Na auf das läuft es doch hinaus. Du wirst nicht aufhören, mich fertigzumachen und ich werds einstecken, bis alles eskaliert und wir uns an die Gurgel gehen. Ich hab aber keinen Bock auf diese Scheiße, also lass uns den Mittelteil überspringen und uns gleich die Fresse polieren“, schlage ich vor, während ich einen Schritt zurücktrete und die Fäuste hochstrecke. „Lass es uns hinter uns bringen“, verlange ich.
Er lacht so laut auf, dass seine Stimme ein paar Mal über den Platz hallt. „Ich schlag keine Mädchen“, informiert er mich.
„Hast du Angst, gegen mich abzustinken?“, fordere ich ihn heraus.
Sein Ausdruck ist mehr als belustigt, als er verkündet: „Du hast keine Chance gegen mich. Wenn ich meinen Hammer auspacke, wirst du wie ein Angsthäschen davonlaufen.“
Mit angewidertem Gesichtsausdruck glotze ich ihm ziemlich offensichtlich an seine männliche Stelle und verarsche ihn mit einem: „Lass ihn einstecken, Mann.“ Ich weiß natürlich, dass er das Teil meint, dass da an seinem Gürtel baumelt. Sein geschocktes Gesicht ist dennoch ein Bild für Götter – im wahrsten Sinne des Wortes. Das versüßt mir den Tag ganz schön, also bin ich es nun, die sich vor Lachen krümmt.
„Amüsierst du dich gerade auf meine Kosten?“, herrscht er mich an.
Mein „Aber sowas von“ fand er weniger witzig.
„Du weißt schon, dass ich eine Gottheit bin“, mutmaßt er.
„Ist mir nicht entgangen, du lässt es ja ganz schön raushängen“, kontere ich, mit erneutem Blick auf sein Allerheiligstes, was ihn ganz schön wütend macht.
„Da du offensichtlich mit Dummheit gesegnet bist, erlaube ich mir, deinen Status klarzustellen. Du bist ein Menschlein, das mich anzubeten und vor mir zu kriechen hat“, stößt er überheblich aus. Das entzieht mir einen belustigten Laut.
„Ich habe in meinem gesamten Leben noch kein Gebet gesprochen und vorher erstarrt die Hölle zu Eis, bevor ich vor irgendjemandem krieche“, kommt so schnell über meine Lippen, dass ich erst jetzt realisiere, dass ich hier einen Gott anschnauze. Ich hab mich sogar herausgefordert vor ihm aufgebaut und funkle ihn gerade zornig an.
Thorben sieht so aus, als ob er gleich explodieren würde. „Sag das nochmal“, verlangt er wild.
„Der Gott der Aufnahmefähigkeit bist du ja nicht gerade, oder?“, raune ich.
Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich ordentlich durch. „Das ist nicht wahr, oder? Du hast Gebete gesprochen und es nur im Zorn dementiert. Sag mir die Wahrheit!“, verlangt er schnaubend. Ich bin grad so perplex von seinem Übergriff, dass ich eine kurze Ladehemmung meiner Gehirnzellen habe.
„Lass mich los“, schafft es dann doch aus meiner Kehle, bevor ich ein Schleudertrauma erleide.
„Beantworte die Frage!“, fordert er ungehalten.
Mann, was will er denn von mir? Als ob das eine Rolle spielen würde. Bei genauerer Überlegung komme ich aber zu dem Schluss, dass das der absoluten Wahrheit entspricht und nicht einfach so meinem Sarkasmus entsprungen ist.
Selbst als ich am Grab der Frau, die ich für meine leibliche Mutter hielt, gesungen habe, ist mir nie ein Gebet über die Lippen gekommen. Ich habe nie geglaubt, dass es einen Gott gibt, der mein Flehen erhört. Da hab ich mich wohl geirrt. Na ja, hinterher ist man immer schlauer.
„Lass los“, fordere ich erneut, doch er ignoriert mich und zieht mich hinter sich her. Er läuft so schnell, dass ich kaum schritthalten kann.
Mein „Thorben“ soll ihn davon abhalten, mir den Arm auszureißen. Wiederum bleibt er so abrupt stehen, dass ich an seine Brust pralle und mir die Beine wegknicken. Er hält mich aufrecht, zieht mich aber nach einer kurzen, intensiven Musterung meiner Augen, unterdessen ich das Gefühl habe, er würde nach irgendetwas Verborgenem suchen, weiter.
„Du tust mir weh, lass endlich los“, protestiere ich, aber er lässt nicht locker. Ganz im Gegenteil, er erhöht sogar seine Schrittfrequenz, bis wir an eine Brücke in Regenbogenfarben gelangen, die aber plötzlich vor einem Abgrund endet.
Kurz habe ich die Befürchtung, er könnte mich runterschubsen und aus dem Himmel kicken, weil ich ihn nicht anbete, da stoppt er vor einem Mann, der am Fuße des Abgrundes steht und in die Ferne blickt.
„Sei gegrüßt, Heimdall“, erklärt Thorben, während er mich vor den Mann schiebt, dessen Augen von einem grauen Schleier überzogen sind, mit denen er mich förmlich einsaugt, so intensiv nimmt er meine Züge in sich auf. Das ist ein Zweimeter-Hüne mit goldenem Helm, der wie ein Wikinger aussieht.
„Du kannst sie sehen, nicht wahr?“, mutmaßt Thorben.
„So ist es“, antwortet der Mann. Thorben schnaubt laut.
„Was bedeutet das?“, will ich wissen, während ich abwechselnd von einem zum anderen blicke. Dabei fixieren mich nun beide angestrengt. Was ist daran so besonders, ist der Typ etwa blind?
„Komm“, verlangt Thorben, während er mich wieder den Weg zurückzieht.
„Könntest du mal aufhören, mich durch die Gegend zu schleifen?“, verlange ich ärgerlich.
„Nein“, kommt es als Antwort prompt aus seinem Munde. Na ja, einen Versuch wars wert.
„Heimdall kann sie sehen“, erklärt Thorben seinem Großvater, Odin, vor dem er mich abgeladen hat. Opa scheint nicht überrascht zu sein.
Thorben zieht die Augenbrauen hoch. „Du wusstest davon?“, mutmaßt er.
„Wie ich bereits sagte, sie ist etwas Besonderes, Enkelsohn“, stellt Odin fest. „Du solltest Zeit mit ihr verbringen und dich selbst davon überzeugen. Warum zeigst du ihr nicht die Wasserfälle oder einen der zwölf Tempel.“ Geht’s noch? Ich verschwende doch nicht kostbare Lebenszeit an diesen Primaten, der mich gerade ansieht, als könnte er sich eine ansteckende Krankheit holen und seinem Ärger Luft macht. „Was habe ich getan, dass du mich mit ihrer Gesellschaft bestrafst, Allvater? Wieso ist sie bei uns? Sie hat hier nichts verloren. Der Mensch glaubt nicht, hat noch kein einziges Gebet in seinem kümmerlichen Leben gesprochen“, speit mir Thorben förmlich vor die Füße. Wie bitte? Kümmerliches Leben. Na hör mal.
Ich schnaube abfällig. „Wahnsinn, wie viel unsere Götter für uns übrig haben. Anbetungswürdig ist das ja eher weniger, was ich hier sehe.“ Wenn Blicke töten könnten, hätte mich Thorben jetzt abgemurkst.
„Sie zollt uns nicht einmal jetzt den Respekt, wo sie doch nun eine Wissende ist“, schwärzt er mich vor seinem Opa an.