Wer braucht schon Zauberkerle? - Marie Lu Pera - E-Book

Wer braucht schon Zauberkerle? E-Book

Marie Lu Pera

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Beschreibung

Teil 3 mit der Lizenz zum Verzaubern. Jetzt mal ehrlich, wer braucht schon Kerle, die einem ständig den Kopf verdrehen oder den Hexenmeister raushängen lassen? Jung, bezaubernd, Single – das ist der Stoff, aus dem Abenteuer sind, in die sich Hope alias Raven Hals über Kopf stürzt. Auf dem Weg zum Glücklichsein biegt der Chaosmagnet aber irgendwo falsch ab, denn anstatt des erhofften "normalen" Lebens, hält die Realität einen Wahnsinn nach dem anderen für sie bereit. Wieso fühlt sie sich ständig, als wär sie eine Murmel in einem Flipperautomaten? Was haben ein Regenwurm und eine Käseglocke damit zu tun und könnte ihr mal jemand verraten, warum es Kerle ständig schaffen, sie auf die Palme zu bringen. Jetzt mal im Ernst, man kann doch auch ohne sie glücklich sein … oder? Teil 1: Wer braucht schon Zauberworte? Teil 2: Wer braucht schon Zauberfarben? Teil 3: Wer braucht schon Zauberkerle? Teil 4: Wer braucht schon Zaubertricks?

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Seitenzahl: 484

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Marie Lu Pera

Wer braucht schon Zauberkerle?

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Henry

Thomas

Gillean

Ladartus

Xavier

Randy

Simon

Jean

Fynn

Charly

Victor

Meverick und Habren

Amael

Junus

Der Unbekannte

Beliar

Junus und Artis

Galahad

Odin

Impressum neobooks

Henry

Ich werde am Arm zurückgehalten. Beliars Berührung löst einen Gefühlsschwall in mir aus, der mir fast die Beine unter den Füßen wegzieht. Wenn ich ihm jetzt in die Augen sehe, gibt mir das den Rest, also weiche ich seinem Blick aus.

„Wage es nicht, vor mir davonzulaufen“, herrscht er mich an. Ich bin so perplex, dass ich fast automatisch seinen Blick suche. Fehler, sag ich nur. Seine Augen nehmen mich bereits gefangen – ziehen mich in den altbekannten Bann, aus dem es kein Entrinnen gibt.

„Lass mich los“, fordere ich ungehalten und versuche, meinen Arm aus seinem Griff zu winden – ohne Erfolg.

Energisch zieht er mich an sich. „Du zweifelst an der Ernsthaftigkeit meiner Worte ... also gut ... ich beweise dir, dass meine Gefühle aufrichtig sind. Werde meine Frau, Raven“, verkündet er.

Bei mir hat Schnappatmung eingesetzt. Er hat mir jetzt nicht gerade einen Antrag gemacht, oder?

Mehr als ein vollkommen überzeichnetes „Wie bitte?“ bekomm ich nicht heraus.

Beliar sieht irritiert aus, erklärt aber nach ein paar Sekunden: „Heirate mich, Raven.“

Ich keuche, weil ich sogar kurz vergessen habe, zu atmen. Unbändige, durch Angst geschürte, Wut steigt in mir auf, die mich vor ihm zurückweichen lässt und in einem fassungslosen „Hhhh“ zutage tritt.

Beliar hat meinen Arm unvorhergesehen losgelassen, was dazu führt, dass ich beim Zurückstolpern fast zu Boden gehe. Im letzten Moment kann ich noch verhindern, dass es mich so richtig schön auf den Hintern setzt. Das Gefühlschaos, das nun in mir wütet, ist fast unerträglich.

„Nein.“ Meine Antwort kam nur in Form eines total verängstigten Flüsterns über meine Lippen.

Beliars Blick spricht Bände. Er ist überrascht, wütend, vor den Kopf gestoßen, enttäuscht und verletzt zugleich. Sein Ausdruck ist wie ein Schlag in meine Magengrube, der mich beinahe würgen lässt.

In meiner Verzweiflung wanke ich zurück und ergreife die Flucht. Unter Tränen sprinte ich den Unicampus entlang, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Er hat mir echt einen Antrag gemacht, ich fasse es nicht – ich bin sechzehn, verdammt nochmal.

Unfähig, einen einzigen, klaren Gedanken zu fassen, hab ich den Weg zu meiner Wohnung, dessen Türe ich energisch hinter mir zuschlage, hinter mich gebracht.

Obwohl ich sonst nicht so leicht aus der Puste komme, geht mein Atem stoßweise. Der Aufruhr in meinem Inneren lässt mich mit zitternden Händen nach dem Kräutertrunk greifen, von dem ich mir gleich ein ganzes Fläschchen runterkippe.

Der Druck, der auf meiner Seele lastet, nimmt sofort ab und weicht einer wohligen Wärme. Mein Atem wird ruhiger, der pochende Herzschlag geht wieder in einen gemächlichen Rhythmus über und schlagartig geht es mir besser.

Das Klingeln meines Handys wird mir erst bewusst, als es schon wieder aufgehört hat. Auf dem Display wird das Foto meines Bruders Junus angezeigt, der mir auf die Mailbox gesprochen hat:

„Hey Schwesterherz. Wahrscheinlich kannst du grad nicht ans Telefon, weil du dich mit Beliar in den Kissen wälzt. Ich meine, ich will ja echt kein Klugscheißer sein, aber ich hab dir immer gesagt, er wird sich früher oder später für dich entscheiden.“ Mir entweicht erneut ein gequälter Laut. „Wie dem auch sei, als er bei mir war und mich über dich ausgefragt hat, war das so süß – du hättest ihn sehen sollen. Er war richtig nervös, als er hier weg ist. Ich meine, er ist der mächtigste Hexer, den ich kenne – außer deinem Vater natürlich. Ihn kann normalerweise nichts so schnell aus der Ruhe bringen. Wieder ein Zeichen dafür, dass er total in dich verschossen ist. Meld dich und erzähl mir, wie es war – ich meine den Teil, bevor ihrs wie die Karnickel getrieben habt. Du passt doch hoffentlich auf, ich bin eindeutig zu jung, um Onkel zu werden. Ruf mich an. Du hast schon so lange nichts mehr von dir hören lassen und wir haben uns beinahe vier Monate nicht gesehen. Artis wollte schon Hals über Kopf ins Flugzeug steigen und dich besuchen, weil er sich Sorgen macht. Ich mir übrigens auch. Du fehlst uns. Bye, Kleines.“

In mir baut sich erneut diese innere Unruhe auf, die ich mit dem Leeren des zweiten Fläschchens im Keim ersticke. Von Weitem kicke ich es in den Mülleimer, wo es scheppernd auf die anderen Zeitzeugen meiner, in letzter Zeit relativ häufigen, Momente der Schwäche, die ich mit dem Mittel zu betäuben versuche, trifft.

Das macht mir grad etwas Angst. Ich nehme den Trank täglich. Er hat mich durch die letzten vier Monate gebracht, sonst wär ich glaub ich nicht fähig gewesen, aus dem Haus zu gehen, geschweige denn in der Uni Leistung zu bringen. Zu sehr haben mich die Erinnerungen an die Zeit im Mittelalter inklusive McConnors Gesicht, als er abgedrückt hat, das mich seitdem verfolgt, runtergezogen.

Kurz frage ich mich, ob einem das Zeug schaden kann, aber die runzlige, alte Kräuterhexe, die ihren Marktstand an der Ecke Eastwood hat, hat mir versichert, es sei alles rein pflanzlich und vollkommen ohne Nebenwirkungen. Ist bloß ein natürliches Beruhigungsmittel, damit ich mich besser fühle – waren zumindest ihre Worte. Sie sagte, sie spüre meinen Kummer bereits, da bin ich noch nicht mal um die Ecke, an der ihr kleiner Kräuterstand steht, gebogen. Keine Ahnung, ob das wahr ist oder ob sie mir einfach nur ihr Zeug andrehen will.

Nach einer ausgiebigen Dusche kuschle ich mich auf die Couch und mache die Glotze an. Beim Zappen stoße ich auf eine Sendung über Planetenkonstellationen.

Sofort muss ich an Gillean denken. Das passiert mir in letzter Zeit öfter. Was er wohl gerade macht? Ich spiele mit dem Gedanken, ihm zu schreiben, trau mich aber irgendwie nicht. Seitdem ich ihn aus dem Krankenzimmer verscheucht habe, hab ich nichts mehr von ihm gehört. Kunststück, er kann ja nicht in meine Zeit kommen – zumindest nicht ohne magische Hilfe. Und seien wir uns mal ehrlich, welcher Hexer würde freiwillig den Großinquisitor per Anhalter durch den Steinkreis mitnehmen?

Ich fühl mich mies, weil ich mich nicht mal für seinen Besuch bedankt habe. Immerhin hat er seinen Vater verloren und trauert sicher um ihn.

Als mich der Lord angeschossen hat, haben ihn einfach zu viele Flüche getroffen. Er war tot, bevor sein Körper den Boden erreicht hat.

Wie kann man nur so egoistisch sein, tadle ich mich selbst. Ich bin in all der Zeit nicht auf die Idee gekommen, ihm mein Beileid auszusprechen, geschweige denn, ihn zu fragen, wies ihm geht. Zu sehr war ich mit meinem eigenen Kummer beschäftigt.

Kurzerhand schalte ich den Fernseher aus, kralle mir ein Stück Papier und schreibe einfach drauflos:

Gillean,

Wusstest du, dass sich die meisten Planeten gegen den Uhrzeigersinn drehen? Wenn ich mich selbst aber im Uhrzeigersinn drehe, wird mir dann weniger schwindlig, als würde ich mich in Richtung der Erddrehung bewegen?

Ich muss immerzu an das denken, was passiert ist.

Können wir uns sehen?

Raven

Gerade wird mir klar, dass ich ihm den Brief gar nicht mit einer Taube schicken kann, denn ich hab ja keine Zauberkräfte mehr. Wieso vergess ich das immerzu? Das passiert mir in letzter Zeit ständig. Manchmal fange ich sogar an, zu singen und stoppe dann abrupt. Ich hoffe, da bricht einfach nur mein Hexeninstinkt durch. Das, oder mein Gehirn ist durch das Koma verbruzzelt. Dementsprechend genervt knülle ich das Papier zusammen und versenke es im Mülleimer.

Ich frage mich gerade, wie lange ich eigentlich noch verdrängen will, dass mir Beliar vorhin einen Heiratsantrag gemacht hat. Auf jeden Fall noch ein bisschen.

Bei dem Gedanken an ihn baut sich in mir wieder dieses Unruhegefühl auf – die Wirkung des Tranks scheint bereits nachzulassen. Toll, normalerweise betäubt das Zeug meine Gefühle länger. Verdammt. Jetzt fühl ich mich wieder in die Zeit vor vier Monaten zurückversetzt und das ist ein Scheißgefühl, über das ich bereits hinweg war – zumindest habe ich es erfolgreich verdrängt. Jetzt kommt alles wieder hoch.

Wieso hab ich „Nein“ gesagt, als er mir den Antrag gemacht hat? Die Frage schießt mir unentwegt durch den Kopf. Aber noch viel beängstigender ist, dass ich darauf keine Antwort habe. Verdammt – hör auf, dich fertigzumachen.

Ich spiele mit dem Gedanken, mir noch ein Fläschchen runterzukippen, verdränge ihn aber aus Angst, mir eine Überdosis von diesem Zeug zu holen und kralle mir meine Jacke, um beim frische Luft Schnappen den Kopf freizukriegen.

Ich bin noch nicht mal zur Tür raus, da sehe ich unentwegt Beliars verletztes Gesicht vor mir. Tränen fluten bereits meine Augen, da brülle ich vor Zorn und schnappe mir erneut eins von den Fläschchen, das ich in einem Zug leere. Nach ein paar Atemzügen setzt dieses Gefühl wieder ein, als wär alles halb so wild. Ich lächle sogar, weil das so guttut.

Im Flur kollidiere ich beinahe mit meinem Nachbarn, Mister Jankins, einem alten, zotteligen Hexenmeister, der mich quietschvergnügt anlächelt.

Ich gehe – wie immer – stumm an ihm vorbei. Er sieht so aus, als sei er der nette Opa von nebenan. Solche Leute haben es meist faustdick hinter den Ohren. Irgendwie habe ich, seitdem ich mich in meinem Onkel so getäuscht habe, Probleme, anderen zu vertrauen.

Manche mögen mich vollen Spottes als Einsiedlerkrebs bezeichnen – ich nenne es eine gesunde Portion Misstrauen gegenüber magischen Wesen.

Durch mein Amulett, das mir Junus zurückgegeben hat, erkenne ich Hexer schon von Weitem. Da stellen sich mir immer die Nackenhaare auf und ein Schauer zieht über meinen Rücken.

Keine drei Schritte später erfasst mich ein Schwindel, der es ganz schön in sich hat. Bevor ich mich irgendwo festkrallen kann, wird mir schon schwarz vor Augen.

Etwas klopft unaufhörlich gegen meine Wange. Genervt grummle ich und schlage die Augen auf. Als ich in das grinsende Gesicht meines Nachbars blicke, rapple ich mich wie vom Blitz getroffen hoch. Okay, was ist hier gerade passiert? Plötzlich wurde mir irgendwie übel, danach bin ich glaub ich zusammengeklappt. Scheiße, ich hätte die dritte Flasche von dem Kräuterzeug nicht runterkippen sollen.

„Ihr jungen Dinger“, stößt der Hexer belustigt aus. „Nichts auf den Rippen und dann bei der kleinsten Anstrengung ohnmächtig werden.“

Erst jetzt erkenne ich die fremde Umgebung inklusive der Couch unter mir. Das ist definitiv die Wohnung eines Rentners. Meine Fresse, hat er mich etwa hier reingeschafft, als ich bewusstlos war?

Meine Alarmglocken läuten. Fast automatisch sucht meine Hand nach meinem Amulett, das sich glücklicherweise noch an seinem Platz befindet. Mister Jankins zieht neugierig die Augenbrauen hoch.

„Hast du etwa Angst vor mir? Rose, nicht wahr?“, will er amüsiert grinsend wissen. Hoffentlich hat er meine Handgelenke nicht kontrolliert, an denen ich immer reichlich Armreifen und -bänder trage, um die Tattoos zu verbergen.

„Ähm“, stoße ich lahm aus, um Zeit für die Suche nach einer anderen Antwort zu schinden, denn den frechen Kommentar: „Was mir Angst macht, ist Ihre Schmuddelcouch, dessen Geruch anhaften bleiben wird“, den ich auf Lager hatte, verkneif ich mir lieber.

Plötzlich bleibt mein Blick an einem Gegenstand im Raum hängen. Es ist ein Bild von einem Mann – nein, einem Krieger mit Vollbart, der auf einem Streitross sitzt. Sein wallendes, hüftlanges Haar schlingt sich um seine nackte Brust, dessen Muskeln so aufgeblasen dargestellt sind, dass das Bild schon fast eine Karikatur sein könnte.

„Wer ist das?“, frage ich, ohne nachzudenken.

„Ähm Jesus“, stößt der alte Mann aus. Er hält mich echt für total dämlich. Das ist doch nicht Jesus.

„Du bist merkwürdig“, stellt er fest, nachdem er mich ausgiebig gemustert hat. Dabei kneift er die Augen zusammen, als würde er durch mich hindurchsehen wollen. Fühlt er etwa, dass ich auch eine Hexe bin?

„Wie charmant“, spotte ich, ohne mir mein Unbehagen anmerken zu lassen.

Er lächelt verschmitzt, steht auf und kramt in einer Schublade. „Wo hab ich denn … ah“, spricht er zu sich selbst.

Meine Glieder versteifen sich, denn er könnte eine Waffe rausziehen. Fast automatisch greift meine Hand in die Jackentasche, in der ich immer ein Messer mit mir rumtrage. Was soll ich sagen, ich bin ein gebranntes Kind.

Als er mir die Karte zur Identifikation von Hexen vor die Nase hält, lockere ich meinen Griff sogleich.

„Was siehst du darauf?“, will er wissen.

Natürlich sehe ich den Raben nur zu deutlich, aber lüge: „Nichts.“ Ich will lieber inkognito bleiben.

Er nickt nachdenklich. Blöderweise weckt die verdammte Karte Erinnerungen. Bilder fluten meinen Geist – glückliche Momente, die ich mit Beliar hatte, als ich noch dachte, ich wär Hope.

„Können Sie mir sagen, wie man Gefühle betäuben kann?“, sprudelt es aus mir heraus. Ja ich weiß, das ist feige, aber ich will nichts mehr fühlen. Es tut so weh, an ihn zu denken.

Der Hexer runzelt die Stirn. Sichtlich vor den Kopf gestoßen erklärt er: „Wieso sollte jemand Gefühle wegschließen wollen? Sie sind doch das, was uns lebendig macht.“

„Was, wenn sie einem Höllenqualen bereiten?“, frage ich ihn.

Einige Sekunden schweigt er nachdenklich. „Verspürst du Höllenqualen?“, will er wissen.

„Ja“, gebe ich zu.

„Aber du siehst nicht so aus. Ganz im Gegenteil. Du wohnst jetzt schon vier Monate hier und jedes Mal, wenn ich dich sehe, machst du einen ganz gefassten Eindruck. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, du wärst glücklich und zufrieden“, teilt er seine Beobachtung mit mir. Tja, ist alles Tarnung.

„Ich bin genauso wenig glücklich und zufrieden, wie der Typ auf dem Bild Jesus ist“, knalle ich ihm vor den Latz.

„Ich wusste es, dass mit dir etwas nicht stimmt“, erklärt er etwas unbehaglich.

„Haben Sie Angst vor mir?“, fordere ich ihn heraus. Kurz sieht er etwas ertappt aus, lächelt aber gleich daraufhin.

„Touché“, gibt er sichtlich beeindruckt zu.

„Wissen Sie jetzt, wie man Gefühle betäubt oder nicht?“, verlange ich ungeduldig.

Er taxiert mich mit seinem Blick, versucht abzuschätzen, was genau an mir seltsam ist, sagt aber dann: „Möglicherweise.“

„Ich höre“, fordere ich.

„Was bietest du im Gegenzug für die Information an?“

War ja so klar. „Was wollen Sie?“

Der Mann lächelt. „Einen Gefallen.“

„Welcher Art?“, verlange ich.

„Ich habe einen Enkelsohn, der sich über ein Rendezvous freuen würde. Er hat ein Auge auf dich geworfen, als er dir vorigen Sonntag im Flur begegnet ist, nachdem er hier zu Besuch war.“ Was?

„Das ist ein Scherz?“, pruste ich mit erhobenen Augenbrauen.

„Keineswegs. Er hat dich sogar angesprochen, aber du bist in Gedanken versunken an ihm vorbeigelaufen, als wäre er Luft“, meint der Hexer. Das muss mir wohl entgangen sein. Naja, vielleicht war der Typ ja unscheinbar oder, was viel realistischer ist, ich hab wieder auf Grübelmodus geschaltet, was mich üblicherweise komplett von der Außenwelt abschottet.

„Wo ist der Haken?“, will ich wissen.

„Es gibt keinen Haken. Mein Enkel ist ein Gentleman, wohlhabend, gutaussehend – ein wahrer Charmeur“, schwärmt der Hexer.

„Da haben wir den Haken“, verkünde ich. „So einen Typen gibt’s nicht. Die Beschreibung ist zu schön, um wahr zu sein. Außerdem, wieso braucht er seinen Großvater, um an Dates zu kommen, wenn er doch solch ein Traummann ist? Äußerst verdächtig, wenn Sie mich fragen. Also ist er entweder ein Herzensbrecher, ein arrogantes Arschloch oder beides.“

„Ich gebe zu, der Hang zum Herzensbrecher ist bei ihm minimal ausgeprägt, was er übrigens von mir geerbt hat“, erklärt der Alte augenzwinkernd. Ich muss lächeln, weil sein Herzensbrecher-Dasein sicher schon ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Mann, was für ein Kuppler.

„Krieg ich jetzt die Information oder setzen Sie gleich Kaffee auf und holen die Babyfotos von Ihrem Enkel raus?“, fordere ich mit einem Hauch Sarkasmus.

„Gehst du mit ihm aus, wenn ich es dir erzähle?“, hakt er nach.

„Na schön, aber nur ein Date und Sie quatschen mich deshalb nicht an. Denken Sie bloß nicht, wir wären jetzt Freunde, nur weil wir einen Handel eingegangen sind.“

Er grinst schief und sagt: „Also gut, Efeu gemischt mit anderen Kräutern wie Johanniskraut und Saft der Passionsblume bewirken eine vorübergehende Betäubung von Angstzuständen und innerer Unruhe. Das Mittel heißt Ambrosia – wie die Götterspeise.“ Er hat echt Efeu gesagt – verdammt.

„Ich dachte immer, Efeu wäre giftig“, wende ich ganz nebenbei ein.

„Ist es auch, aber in kleinsten Mengen verabreicht, wirkt es betäubend auf Körper und Geist. Es versetzt einen in eine wahrliche Glückseligkeit“, klärt er mich auf. Mann, her mit dem Zeug.

„Wie lange hält der Trank an?“, will ich wissen.

„Oh, es ist kein Trank – eher ein Mittel, das ins Blut injiziert wird. Je nach der Stärke der negativen Gefühle, wirkt es zwei bis vier Tage lang“, informiert er mich.

„Wo bekommt man so etwas?“

„Nur auf dem Schwarzmarkt“, stellt er fest.

„Auf dem Schwarzmarkt?“, hinterfrage ich seine Aussage.

„Ja klar. Es ist eine Droge“, sagt er doch tatsächlich. Meine Alarmglocken läuten erneut.

„Ich nehm keine Drogen“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.

„Sehr vernünftig“, lobt er mich. Hey, was soll das?

„Das ist die Information? Sie empfehlen mir Drogen?“, stoße ich aufgebracht aus.

„Glaubst du, Gefühle, die Höllenqualen auslösen, kann man so einfach mit einem Tee betäuben?“

„Woher wissen Sie eigentlich so gut über das Zeug Bescheid? Sind sie Dealer?“

„Nein, mein Enkel nimmt das manchmal auf Partys“, antwortet er.

„Ihr Enkel ist ein Junkie?“, pruste ich krächzend. Wo wir wieder beim Haken wären.

„Natürlich nicht. Das sind harmlose Jugendgeschichten. Er ist … stark und bei starken … ähm Menschen hat das Zeug eine … gemäßigte Wirkung“, stottert er. Also das heißt im Klartext, auf Hexen wirkt das Zeug anders, als bei Menschen. Wahrscheinlich werden wir davon nicht süchtig – davor schützt uns möglicherweise die Magie in uns. Klingt logisch. Ich sollte seinen Enkel auf jeden Fall dahingehend ausquetschen.

„Kaffee?“, bietet mein Nachbar an.

„Nein danke. Ich sollte gehen“, erkläre ich. Schnell weg hier. Der Kerl ist mir nicht geheuer.

„Ja, mach dich zurecht. Mein Enkelsohn ist schon auf dem Weg hierher“, informiert er mich. Was? Moment mal.

„Wie kann er auf dem Weg sein, wenn er doch noch gar nichts von dem Date weiß“, wende ich ein.

Sichtlich ertappt redet er sich mit „Er kommt mich … also, heute besuchen, … ganz zufällig … da könnt ihr zwei doch gleich um die Häuser ziehen“ raus. Das war gelogen – sicher stehen sie in mentaler Verbindung oder kommunizieren irgendwie anders miteinander.

Ich nicke, denn ich hab keine Lust, meine Tarnung als Mensch zu verlieren. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist Aufmerksamkeit in der Nachbarschaft zu erregen.

Der Hexer bringt mich zur Tür und hält mich mit den Worten „Du bist ein ganz besonderer Mensch, Rose. Das spüre ich“ zurück. Tja, vielleicht, weil ich kein Mensch, sondern eine Hexe ohne Zauberkräfte bin.

„Wow, danke“, stoße ich überspielt freundlich aus.

Im nächsten Moment setzt er mich schon grinsend vor die Tür. Toll, jetzt hab ich mir doch tatsächlich eine Verabredung mit einem Hexen-Junkie eingehandelt – am Tag meines Heiratsantrages. Mein Leben ist schon irgendwie schräg.

Aber das mit diesem Glückszeug klingt interessant. Diese blöde Kräutermischung vom Markt scheint keine Wirkung mehr zu zeigen – zumindest nicht die, die ich mir erhoffe.

Eine halbe Stunde später klingelt es an meiner Tür, die einen lässig am Türrahmen lehnenden Anzugträger Marke Schönling freigibt. Schlagartig muss ich laut lachen, was ihm sein aufgesetztes Grinsen schlagartig von der Backe fegt. Er ist sexy, aber ein ziemlich von sich eingenommener Modeltyp, der obendrein überhaupt nicht mein Typ ist.

Beliar, der genau mein Typ ist, schafft es erneut, in mein Bewusstsein vorzudringen, aber nur kurz, bevor ich mich am Riemen reiße und die Gedanken verbanne.

„Dein Großvater hat nicht zu viel versprochen“, konnt ich mir jetzt einfach nicht verkneifen.

Sein Blick wird wieder lauernd. „Wir sind uns bereits begegnet, aber du hast mich keines Blickes gewürdigt, Schönheit“, schleimt er.

„Lass mich raten, das bist du nicht gewohnt“, war jetzt nicht die Antwort, die er erwartet hatte.

Er ist noch gefühlsmäßig hin- und hergerissen, ob er die Herausforderung, mich abzuschleppen annehmen oder unter einem Vorwand das Weite suchen sollte – entscheidet sich aber dann für Letzteres. „Ich bin Henry.“

„Rose“, erkläre ich. Er setzt zum Handkuss an, den ich ihm so richtig schön verwehre.

„Damit eins klar ist, ich gehe nur mit dir aus, um deinem Opa einen Gefallen zu tun“, kläre ich die Fronten sogleich. „Es gibt keinen Kuss, kein Rummachen und schon gar keinen Sex, also mach dich locker.“ Dabei klopfe ich ihm freundschaftlich an die Schulter.

Henry ist so perplex, dass er kaum reagieren kann. Nach gefühlten Sekunden hat er sich halbwegs gefangen.

Ich frage mich, wie weit ich gehen kann, bevor ihm der Geduldsfaden reißt, immerhin ist er ein Hexer und ich ein Mensch – zumindest so gut wie, so ganz ohne Zauberkräfte.

„Mein Großvater sagte mir bereits, du wärst etwas Besonderes. Ich verstehe nun, was er damit gemeint hat“, erklärt er interessiert.

„Nur weil ich nicht gleich dahinschmelze und schmachtend an deinen Lippen hänge, bin ich noch lange nichts Besonderes“, knalle ich ihm hin, ziehe die Jacke von der Garderobe, schließe ab und frage: „Können wir?“ Ich sollte ihn vielleicht weniger anmotzen. Er bereut sicher bereits, mit mir ausgehen zu müssen.

Henry nickt und dackelt mir hinterher. Vor dem Haus steht ein protziger, schwarzer BMW, an dem er mir galant die Tür aufhält. Unbeeindruckt, als würde ich in einen rostigen VW Käfer steigen, nehme ich Platz.

Bevor er den Wagen startet, mustert er mich interessiert von der Seite aus. „Du bist wunderschön“, haucht er fasziniert. „Ich mag dein schwarzes Kleid.“

„Hör auf, deine Abschleppnummer abzuziehen. Auf so etwas hab ich keinen Bock“, fahre ich ihn zickig an.

„Auf was hast du denn Bock?“, sagt er so offensichtlich obszön, dass ich beinahe kotzen muss.

„Tanzen“, schwärme ich sehnsüchtig.

Er lächelt und startet den Motor. „Kannst du haben, Baby.“

„Nenn mich nicht nochmal so“, raune ich wild.

„Du bist ganz schön frech für meinen Geschmack“, stellt er sichtlich erbost fest.

„Wer sagt, dass ich deinem Geschmack entsprechen will“, kontere ich.

Zu meiner Verblüffung lächelt er, dreht sich zu mir und verlangt mit beinahe hypnotisch verstellter Stimme: „Du tust, was ich dir sage.“ Er wollte mich gerade verhexen, denn die Gänsehaut zieht in Wellen über meinen Körper. Bin ich froh, dass ich das Amulett trage. Er will also spielen, kann er haben.

Monoton antworte ich: „Ja.“

Der Hexer wendet den Blick ab und verlangt: „Zieh dein Höschen aus.“ Mann, was für ein Primat. Langsam dämmert mir, wie sehr man als Mensch Freiwild für die Hexer ist – besonders als Mädchen. Ich bin sicher, er zieht das jede Nacht mit einer anderen ahnungslosen, jungen Frau ab. Es wird Zeit, ihm eine Lektion zu erteilen. Ich fasse es nicht, dass ich das jetzt tue, aber es dient einem höheren Zweck.

Brav greife ich unter mein Kleid und ziehe mir das Höschen über die Knie, das er mir fast brutal aus der Hand reißt, um es sich in die Jacketttasche zu stopfen.

Er beobachtet mich aus dem Augenwinkel. „Sind das halterlose Strümpfe?“, will er wissen.

„Ja“, antworte ich.

„So mag ich das. Schieb den Rock hoch, damit ich sie sehen kann“, befiehlt er herrisch. Darauf bedacht, ihm das Messer, das ich an meinen Oberschenkel gebunden habe, nicht zu zeigen, schiebe ich den Saum hoch.

Seine Hand greift an mein Knie und wandert meinen Schenkel entlang. Seine Berührungen sind mir unangenehm, aber da muss ich jetzt durch.

Glücklicherweise biegen wir bereits auf den Parkplatz eines Nachtclubs mit dem Riesenschild „Trance“ ein.

Er öffnet mir die Tür und wir betreten den noblen Schuppen, der nur so vor Magie zu pulsieren scheint. Gänsehaut zieht schlagartig über meinen gesamten Körper. Okay Hexenclub, war irgendwie klar.

Gerade beschleicht mich das ungute Gefühl, dass es vielleicht doch keine so gute Idee war, mit einem Hexer auszugehen, den ich kaum kenne. Ich versuche, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, vertraue auf das Amulett um meinen Hals und bemühe mich, die Tatsache zu verdrängen, ohne Höschen rumzulaufen.

Die Tanzfläche ist gut besucht – sie spielen Rave Rhythmen, die mich bereits locken. Ich will mich bewegen – jetzt.

Blöderweise zieht mich Henry schnurstracks an die Bar, setzt sich auf einen Hocker und bugsiert mich vor sich. Mit beiden Händen an meiner Hüfte presst er mich an sich.

Ich spüre einige interessierte Blicke der männlichen Anwesenden auf mir haften. Henry scheint es auch bemerkt zu haben und drückt mich besitzergreifend an sich, um mir ein „Du gehörst mir. Hast du mich verstanden“ ins Ohr zu flüstern. Der letzte Satz war übrigens keine Frage – es war eher ein Befehl.

Jede Zelle in mir sträubt sich gegen seine Worte, aber ich hauche ein „Ja“, schütte den Drink, den er für mich bestellt hat, in einem Zug runter, winde mich lächelnd aus seinem Griff und laufe auf die Tanzfläche. Ich will jetzt tanzen, nicht quatschen. Die Hoffnung, er sei ein Tanzmuffel, war zugegebenermaßen etwas unrealistisch, immerhin ist er Hexer. Tanzen ist für ihn eins der wichtigsten Rituale.

Schlagartig bin ich in meinem Element, bewege meinen Körper aus tiefster Seele. Das bringt mir, ganz zum Leidwesen meines Dates, interessierte Blicke der anderen Hexer ein, die ich kaum wahrnehme, weil ich bereits wie in Trance bin. Passend zum Namen des Clubs.

Immer wieder kommt Henry näher und grapscht mir an den Arsch, aber ich schubse ihn brutal weg. Er ist sichtlich herausgefordert und erregt von meinem Tanz. Nicht nur er, bald tanzen mich weitere Hexer an, was meinem Begleiter nicht zu gefallen scheint.

Der Nebel, den sie auf die Tanzfläche sprühen, schlingt sich um meinen Körper, als würde er mit mir tanzen, mich überall liebkosen.

Die Männer tauschen irritierte Blicke aus. Sie verstehen nicht, wie ein nichtmagisches Wesen so etwas bewirken lassen kann – ich auch nicht, denn eigentlich hab ich keine Kräfte mehr. Es ist mir auch egal – ich will tanzen, sonst nichts.

Nun wagen sich die ersten Männer näher an mich heran. Ich spüre schon Hände an meiner Hüfte. Energisch brülle ich den Mann, der mich berührt hat, wie eine Verrückte an.

Er stolpert sogar verblüfft zurück. Ich lache laut, drehe mich im Kreis. Erste Handgemenge brechen aus.

Mein Begleiter will mich von der Tanzfläche ziehen, doch ich wehre mich dagegen. Er ist aber stärker als ich, hebt mich in seine Arme und verfrachtet mich – unter lautstarkem Protest seiner Mitstreiter – in einen Nebenraum, in dem er mich runterlässt und mit seinem Körper an die Wand presst.

„Was bist du?“, haucht er halb fasziniert, halb irritiert.

„Ein Monster“, antworte ich böse funkelnd. Er hält es für einen Scherz, drückt sich an mich und küsst meinen Hals.

„Blas mir einen“, fordert er gebieterisch.

Energisch brülle ich ein „NEIN“ und schubse ihn weg. Widerworte ist er wohl nicht gewohnt – seinem Gesichtsausdruck zufolge. Dass sein Zauber keine Wirkung zeigt, realisiert er gerade haareraufend. Jetzt geht seine anfängliche Verblüffung in Wut über, die er an mir auslässt.

Blitzschnell bekommt er meinen Arm zu fassen und stößt mich auf eine der weißen Liegeflächen, die mitten im Raum stehen. Bevor ich reagieren kann, ist er bereits über mir und drückt mir mit einer seiner Pranken die Handgelenke in die Polsterung über meinen Kopf.

Mein Herz schlägt viel zu schnell. Unbändige Wut steigt in mir auf. Als er schon an seiner Hose nestelt, entweicht meiner Kehle ein ohrenbetäubender Schrei, der ihn zurücktaumeln lässt. Wahrscheinlich hat er sich vor der Lautstärke erschrocken. Daraufhin packt ihn jemand von hinten und donnert ihn an die Wand.

Ein Türsteher-Hexer versenkt eine schwarze Kugel in seinem Allerheiligsten. Das hatte Henry wohl nicht kommen sehen, denn er geht stöhnend in die Knie.

Der Bulldozer zieht mich in eine aufrechte Position und lächelt mich scheu an. Ich erwidere es, immer noch mit zittrigen Knien. Wow, das war haarscharf an einer Vergewaltigung vorbeigeschossen.

Nach ein paar Sekunden hab ich mich halbwegs im Griff, sodass ich zumindest aus meiner Schockstarre erwache. Der Ärmel meines Kleides ist abgerissen. Netterweise hängt mir der Türsteher Henrys Jackett um die Schultern, das er ihm gerade vom Leib gehext hat. Da er den Schmerz augenscheinlich noch immer nicht überwunden hat, scheint es ihn nicht zu stören oder er hat es gar nicht mitbekommen.

Dass mich der Gorilla aus dem Club begleitet, beruhigt mich ungemein. Vor allem, weil ich doch lästig viel Aufmerksamkeit errege.

Ich steige in Henrys BMW, dessen Schlüssel ich aus seiner Jacke ziehe und brause davon. Erst jetzt scheint mein Körper die volle Tragweite der letzten paar Minuten zu realisieren. Mein Zittern intensiviert sich, geht in ein Beben über. Da ich schon bald das Lenkrad nicht mehr ruhig halten kann, fahre ich rechts ran.

Wie dumm kann man eigentlich sein, tadle ich mich selbst. Ich geh echt mit einem Wildfremden in einen Hexenclub – ohne Zauberkräfte. Das sieht mir gar nicht ähnlich. Normalerweise passe ich besser auf mich auf. Ich halte diese Scheiße nicht mehr aus – genau davor wollte ich mich schützen, indem ich die Magie in mir losgelassen habe.

Erschöpft lehne ich den Kopf ans Lenkrad. Mein Schluchzen kommt schubweise und geht in heiße Tränen über, die meine Wangen herunterlaufen.

Die morgendliche Dämmerung gibt den Blick auf den Michigansee frei, den ich neben der Straße erkenne. Aus einem Impuls heraus steige ich aus und stapfe das Ufer entlang.

Eiskalter Wind bläst mir entgegen, aber das macht mir nichts aus. Es ist eine Abwechslung, mal etwas anderes als den Schmerz in meinem Inneren zu fühlen, auch wenn es nur die beißende Kälte ist. Aber selbst sie vermag es nicht, mich zu betäuben. Es gelingt mir kaum, meinen Gefühlen Herr zu werden. Wie Wellen schwappen sie über meinen Körper hinweg, zwingen mich in die Knie, sodass sich der Sand in meine Handflächen gräbt.

Ein mir bis jetzt unbekanntes Gefühl erfüllt mich, nachdem ich mit zitternder Hand die Ampulle von Henrys Jackentasche herausgezogen habe. Das neue Gefühl besteht aus Angst, die mit einem Schuss Sehnsucht versetzt ist.

Es ist eine gläserne Spritze, auf der Ambrosia steht, deren Entdeckung ich machte, als ich vorhin nach den Autoschlüsseln gesucht habe.

Meine böse, innere Stimme ermutigt mich, einmal all meine Selbstbeherrschung über Bord zu werfen, aber mein Verstand rät mir davon ab.

Irgendwie treten auf einmal Lord Thalis‘ Worte in mein Bewusstsein: „Wir haben gerade über absolute Körperbeherrschung gesprochen. Für einen Magier ist es notwendig, nicht nur seinen Geist, sondern auch seinen Körper zu kontrollieren. Ich finde, du bist dafür ein gutes Beispiel, Hope“. Ist es das, was ich bin – ein verklemmtes, kontrolliertes Monster, das von seinen Emotionen übermannt wird?

Lass einfach los – sage ich mir wie ein Mantra. „Ich will glücklich sein. Nichts weiter“, ist mein einziger Gedanke, als ich mir die Spritze in die Vene jage.

Das Serum breitet sich wie ein Buschfeuer in meinem Inneren aus, flutet mich mit einer inneren Wärme, wie ich sie noch nie zuvor verspürt habe. Meine Ängste sind wie weggeblasen. Glücksgefühle treten an ihre Stelle, lassen mein Herz höher schlagen. Eine ganzheitliche Euphorie erfasst mich, bringt mich zu herzhaftem Lachen. Ich will tanzen, Spaß haben – einfach leben.

Energisch streife ich mir das Jackett und daraufhin das Kleid ab, weil mich diese Hitze durchflutet, die unglaublich guttut.

Vollkommen befreit stürze ich mich in die Fluten, die meine Haut prickeln lassen. Das Wasser ist wie eine kalte Dusche, die meinen Körper belebt. Vergnügt wirble ich herum, bin einfach frei. Lasse einfach los.

Plötzlich erhebt sich das Wasser vor mir in einer unnatürlichen Form. Einen Wimpernschlag später baut sich eine männliche Gestalt, die vollständig aus Wasser zu bestehen scheint, vor mir auf und streckt mir die Hand entgegen, als würde sie mir anbieten, sie zu ergreifen. Obwohl das hier gerade voll gruslig ist, muss ich trotzdem lächeln. Wow, was für ein Trip, das Zeug haut ja voll rein.

Die Gestalt erwidert mein Lächeln und kommt auf mich zu. Komisch, ich verspüre keine Angst, obwohl mir irgendetwas sagt, dass ich sie empfinden sollte. Gesunder Menschenverstand vielleicht, der bei mir mit über Bord gegangen ist.

Die Hand der Kreatur streicht über meine Wange. Die Berührung ist kalt, aber dennoch nicht unangenehm.

Im nächsten Atemzug spüre ich einen sanften Druck an meiner Hüfte. In den Zügen der Wassergestalt liegt eine Faszination, die mich schlagartig in einen Bann zieht. Ohne Gegenwehr lasse ich es zu, dass mich diese Kreatur an ihre kalte Brust zieht.

Kurz flackert eine unterschwellige Emotion auf, die mich erinnert, dass mich dieser Typ unter Wasser ziehen kann, aber sie schafft es nicht, mich aus der Ruhe zu bringen. Das Glücksgefühl in mir überwiegt, verdrängt jede Furcht.

Mein Atem geht stoßweise, als der Wassermann über meinen Rücken bis hin zu meinem Nacken streichelt und mich mit sanftem Druck näher an sich heran zieht.

Eine Welle schwappt an meinen Rücken und überbrückt den Abstand zu seinem Mund sogleich.

Kurz schrecke ich zurück, weil sich sein Kuss so kalt anfühlt, aber meine erhitzten Lippen vermag das kaum zu kühlen. Seine sanften Berührungen nehmen mir die Scheu vor diesem Wesen. Ganz im Gegenteil, in mir lodert ein Durst auf, den ich kaum zu stillen vermag. Das klarste Wasser, das ich jemals gekostet habe, rinnt mir die Kehle hinab.

Sein Griff schließt sich fester um meinen Körper und auch dem Wassermann scheinen diese Berührungen zu gefallen, denn sein Kuss wird fordernder.

Ich schließe die Augen und fühle nur noch seinen nassen, festen Körper, während ich von seinen reinen Lippen koste. Eine nächste Welle trifft meinen Körper. Es fühlt sich so an, als würde ich von den Fluten fortgetragen werden.

Ich lasse es zu, dass er meinen Körper in seine Arme hebt und mich im seichten Wasser des Ufers ablegt.

Als er sich über mich legt, bin ich wie in Trance. Das Wasser schwappt immer wieder über meinen Körper und zieht sich in stetem Rhythmus zurück. Während mich der Wassermann bis zur Besinnungslosigkeit küsst, ist er stets darauf bedacht, meinen Kopf vor den brechenden Wellen zu schützen, damit ich kein Wasser schlucke. Sie müssen von ihm ausgehen, denn der See ist keinen Gezeiten ausgesetzt.

Das kühle Nass ist überall auf meinem Körper. Ich will mehr, trinke wie eine Verdurstende. In seinen klaren Augen lese ich dieselbe Leidenschaft. Ich bin nur noch am Fühlen – lasse mich in einem Meer aus Empfindungen treiben.

Thomas

Etwas kitzelt meine Nase. Ich öffne kichernd die Augen und blicke in das Gesicht einer Möwe, die munter drauflospikt. Panisch zucke ich zusammen. Okay, Totalabsturz.

Sag mal, hatte ich Halluzinationen? Das, oder ich hab tatsächlich mit einem Wassermann geknutscht. Ich lächle – nein, da ist wieder meine kranke Phantasie mit mir durchgegangen oder ich war einfach nur high.

Ganz sicher bin ich hier zusammengesackt und hab geträumt. Obwohl es schon komisch ist, dass ich nackt unter einem Algenteppich liege. Überall suche ich nach meinem Kleid, das wohl den Fluten zum Opfer gefallen ist. Wenigstens liegt Henrys Jackett in Reichweite, sonst wären die Wagenschlüssel auch dahin gewesen.

Auf meiner kühlen Haut zeichnet sich ein leichter Seegeruch ab, was mich überzeugt, dass ich wohl baden war und dabei meine Unterwäsche verloren habe. Die Strümpfe hab ich aber noch an. Mann, ich war wohl echt total hinüber.

Das Jackett reicht gerade mal so über meinen Arsch und gibt ziemlich viel Dekolleté frei. Trotzdem hab ich ein Dauergrinsen aufgesetzt – ich fühl mich wie neu geboren.

Vergnügt schließe ich die Wohnungstür auf und erkenne meine Brüder, die sich synchron von meiner Couch erheben. Ich stoße einen Freudenschrei aus und laufe Artis direkt in die Arme.

Mit einem „Ufff“ quittiert er meinen Frontalangriff, schließt mich aber nach einer Schrecksekunde in seine Arme. Dabei streift er meinen Po, der durch meine gestreckten Arme um seinen Hals vollkommen frei liegt.

„Ähm, Raven?“, setzt er irritiert an, aber da falle ich schon Junus um den Hals, der ebenso überrascht zu sein scheint.

„Bist du darunter nackt?“, fragt mich Artis, der seine Stimme wiedererlangt hat.

„Jap“, pruste ich fröhlich.

„Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“, stößt Junus beinahe krächzend aus. Ich ignoriere ihn lächelnd. Tja, das ist mein neues Ich. „Wo warst du und wieso gehst du nicht ans Telefon?“, fährt Junus fort.

„Wo ist der Mann, der zu dem Jackett gehört?“, will Artis daraufhin wissen.

Ich löse mich von meinem Bruder, ziehe die Schultern hoch und erkläre: „Keine Ahnung.“

„Wer bist du und was hast du mit meiner Schwester gemacht?“, fragt mich Junus etwas zu ernsthaft für meinen Geschmack.

„Bist du betrunken?“, fragt Artis, bevor ich darauf eingehen kann.

„Nein“, antworte ich grinsend.

„Hat dir jemand was ins Glas getan?“, geht die Fragerunde lustig weiter, während Junus meine Pupillen beäugt.

Ich stoße ihn sanft von mir und verteidige mich: „Macht euch mal locker, ich war bloß aus und hatte jede Menge Spaß.“ Naja, zumindest ab der zweiten Hälfte der Nacht.

„Das sieht man. Ich hoffe, du hast aufgepasst, Fräulein“, tadelt mich Junus.

„Ja, Dad“, spotte ich lächelnd.

„Eigentlich hätte ich mit einem Häufchen Elend gerechnet, als die Tür aufgegangen ist. Nicht mit dieser Partymaus, die ein Dauergrinsen im Gesicht hat“, stellt Junus fest.

„Wieso denn das?“, will ich wissen.

„Man munkelt, du hast Beliar abgeschossen. Er hätte dir sogar einen Heiratsantrag gemacht, den du abgelehnt hast“, informiert mich Artis. Woher wissen sie das?

„Ich habe niemandem davon erzählt, wie kann es da schon Gerüchte geben?“, will ich halbherzig wissen.

„Also ist es wahr“, stößt Artis aufgebracht aus. „Du hast tatsächlich den Antrag des mächtigsten, weißen Hexers abgelehnt.“ Auf den Schreck hin muss er sich erstmal setzen.

Ich kuschle mich fest an ihn, weil ich ihn so vermisst habe. Dabei entblöße ich wohl mehr, als sich ziemt, denn Artis rückt räuspernd das Jackett zurecht. Ich kichere sogar, weil das so amüsant ist, wie er auf mein Outfit reagiert. Scheiße, hab ich echt gerade gekichert?

„Das waren sicher diese verdammten Whisperer“, mutmaßt Junus haareraufend.

„Was soll das sein?“, frage ich grinsend, während ich mit Artis‘ Haaren spiele.

„Die sind wie Paparazzi, nur eben magisch“, klärt mich Junus auf.

„Du willst mich verarschen“, pruste ich ungehalten.

„Keineswegs“, verlautbart Junus.

Artis ist immer noch vollkommen fertig. „Wieso hast du überhaupt ‚Nein‘ gesagt? Ich dachte, du liebst Beliar.“ Mann, hak es ab. „Hast du dir das nicht die ganze Zeit über gewünscht?“, fragt er etwas versöhnlicher, während er mir über die Wange streicht.

Junus stößt einen belustigten Laut aus und verkündet: „Ich habe ihm geraten, Raven seine Liebe zu gestehen, nicht, dass er ihr gleich einen Antrag macht. Sie ist sechzehn. Man heiratet hier nicht so früh. Wahrscheinlich hat er sich auch angestellt wie ein Tölpel. Immerhin hat er Raven damit sicher vollkommen überrumpelt. Da hätte ich auch ‚Nein‘ gesagt.“

Artis‘ Zornesfalte tritt hervor. „Die Whisperer sind Beliar wahrscheinlich gefolgt, als er hier aufgetaucht ist oder sie beschatten Raven bereits seit geraumer Zeit. Bald weiß es jeder. So etwas ist mehr als ein Schlag ins Gesicht für einen Mann, der im Mittelalter lebt. Er wird zum absoluten Gespött in seinem Zirkel werden“, wirft ihm Artis vor.

„Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Immerhin geht’s hier um unsere Schwester. Sie hatte sicher ihre Gründe. Noch dazu hat er sie sitzengelassen, als sie aus dem Koma erwacht ist“, kontert Junus. Naja, daran war ich nicht ganz unschuldig, immerhin war ich es, die ihn fortgeschickt hat.

„Er hat die Herrschaft über den Zirkel für sie aufgegeben. Wenn das kein Liebesbeweis ist, weiß ich auch nicht mehr“, funkelt Artis zornig. Ich seh nur von einem zum anderen Bruder, fasziniert davon, wie lange sie noch so tun wollen, als wär ich nicht anwesend.

„Was weißt du schon von Liebesbeweisen“, erklärt Junus hochnäsig.

Artis zieht krampfhaft die Luft ein und sieht total verletzt aus. Junus realisiert gerade, was er im Streit gesagt hat.

Wieso hab ich eigentlich immer das Gefühl, alle auseinanderzubringen? Dabei tu ich doch gar nichts.

Das zieht mich gerade dermaßen runter – dieses Unruhegefühl baut sich erneut in mir auf. Die Wirkung der Substanz scheint auch schon wieder nachzulassen, aber ich schaffe es noch, das warme Gefühl in mir zu konzentrieren, schnappe Junus‘ Hand und ziehe ihn neben mir auf die Couch. Nun nehme ich meine Brüder in den Schwitzkasten und presse sie fest an mich.

„Was soll das werden?“, protestiert Junus.

„Gruppenkuscheln. Ihr sollt euch liebhaben, nicht streiten“, soll sie in die richtige Stimmung bringen.

„Du solltest dir lieber etwas anziehen“, tadelt mich Artis, der erneut versucht, mit Stoff gegen meine nackte Haut anzukämpfen und zu retten, was noch zu retten ist.

Plötzlich hämmert jemand wild an meine Wohnungstür und brüllt: „Mach die Tür auf Miststück oder ich trete sie ein.“ Ups. Das ist Henry.

„Wer ist das?“, will Junus aufgebracht wissen.

„Ähm, der Typ, der zu dem Jackett gehört?“, gestehe ich grinsend.

Plötzlich schwingt die Tür mit einem Knall auf. Hey, ich dachte, meine Schutzkräuter würden die Harmonie drinnen und Hexer draußen halten – stand zumindest auf der Packung.

Ein fuchsteufelswilder Henry stapft zur Tür rein, die er hinter sich zuwirft. Erst jetzt scheint er meine ebenso wütenden Brüder zu bemerken, die alarmiert aufgesprungen sind und schaltet einen Gang runter.

Artis knurrt verächtlich. „Hast du gerade meine Schwester ein Miststück genannt und ihre Tür eingetreten?“ Seine Stimme ist ruhig – schlechtes Zeichen.

Henry schluckt laut, hebt die Arme beschwichtigend in die Höhe und erklärt: „Hey, Mann. Die hats faustdick hinter den Ohren. Außerdem hat sie mein Auto geklaut.“ Beide meiner Brüder blicken gleichzeitig auf mich und fordern mimisch eine Erklärung von mir.

„Die Schlüssel sind im Briefkasten deines Großvaters“, informiere ich ihn.

„Hast du meine Schwester angefasst?“, schaltet sich Junus ein, dem gleich Dampf aus den Ohren schießt, so rot ist sein Schädel.

„Nein, Mann. Ich schwörs. Zuerst hat sie mich aufgegeilt und dann herumgezickt, als ich sie flachlegen wollte“, beschwichtigt Henry.

„Falsche Antwort, Arschloch“, raunt Junus und will auf Henry losgehen, der einen Feuerball in seiner Hand erzeugt. Ich stelle mich zwischen sie und verlange: „Hört auf. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“ Ich spüre förmlich die Aggressionen, die von Junus ausgehen. Sie prickeln über meine Haut wie elektrische Schläge.

„Du hast zwei Sekunden, um zu verschwinden, bevor ich dich windelweich prügle. Und wenn du meiner Schwester nochmal zu nahe kommst, lernst du mich kennen“, droht ihm Artis.

„Sie hat noch etwas, das mir gehört“, verlangt Henry mit ausgestreckter Hand. Es geht ihm nicht um seine Jacke, er will seine Drogen zurück. Tja, da wird er sein blaues Wunder erleben.

Ich lächle, knöpfe das Teil auf und lasse es mir über die Schultern rutschen. Henry hat gerade Stielaugen bekommen und den Kiefer runtergeklappt.

Und nicht nur ihm ergeht es so. Meine Brüder haben denselben Gesichtsausdruck drauf. Wie gebannt starren sie auf meine nackte Haut – besser gesagt meine Tattoos. Tja, ich hatte in den letzten vier Monaten eine leichte Identitätskrise, muss ich an dieser Stelle zugeben. Da sind noch ein paar Symbole dazugekommen. Dunkle Symbole, wohlgemerkt – passend zu meiner Stimmung – also bevor ich pure Sonne in Form der Götterspeise getankt habe.

Als ich Henry sein Jackett zuwerfe, blinzelt er zum ersten Mal wieder, doch da hab ich mich schon wieder umgedreht und mache mich daran, Kaffee aufzusetzen. Ich kann nur noch hören, wie die Tür ins Schloss fällt und meine Brüder krampfhaft Luft ausstoßen.

„Raven, du machst mir Angst“, gibt Junus zu.

„Du hast mich doch schon so oft nackt gesehen. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir monatelang ein Bett geteilt – ebenfalls nackt“, werfe ich ein.

„Wer hat dir das tätowiert?“, will er wissen.

„Galahad“, stoße ich selbstverständlich aus. Ich habe ihn ein paar Mal hier in Chicago getroffen.

„Ich bring ihn um“, raunt Junus ärgerlich. Ich drehe mich lächelnd um und summe vor mich hin, während ich den Tisch für ein Frühstück decke.

Artis krächzt alarmiert. „Wo sind deine Haare?“ Sag bloß, ihm ist mein Kurzhaarschnitt erst jetzt aufgefallen. Sein geschockter Blick auf meine privateste Stelle erklärt dann, welche Haare er meint.

„Einem Brazilian Waxing zum Opfer gefallen“, antworte ich.

„Du bist sechzehn“, tadelt mich Junus.

„Wusste nicht, dass man dafür einundzwanzig sein muss. Das hat mir Bob vom Schönheitssalon um die Ecke wohl verschwiegen“, verarsche ich sie. Junus hab ich gleich so weit, dass er an die Decke geht, bei Artis dauerts noch ein bisschen.

„Könntest du dir bitte etwas anziehen? Das passt so gar nicht zu dir, dass du dich vor einem wildfremden Hexer entblößt“, tadelt mich Artis.

„Er wollte sein Jackett zurück. Außerdem ist er nicht wildfremd – er ist der Enkel meines Nachbars“, rede ich mich raus, während ich mir einen Pullover überziehe, damit er endlich Ruhe gibt.

„Wo hast du überhaupt deine Kleider gelassen? Doch nicht etwa bei dem Arschloch“, will Junus wissen.

„Nein, die hab ich am See verloren“, gebe ich zu.

„Am See“, wiederholt Artis ungläubig.

„Ja, ich war schwimmen“, lächle ich, während ich Kaffee in Tassen eingieße.

„Um diese Jahreszeit? Bist du von Sinnen?“, prustet Junus, der auf mich zukommt und mir an die Stirn fasst. „Du hast leichtes Fieber. Wahrscheinlich hast du dir eine Lungenentzündung eingefangen. Wie viel hast du gesoffen, dass du im April nackt in den Michigansee baden gehst?“

„Seit wann bist du so ein Spießer?“, werfe ich ihm vor. Ich wende mich Artis zu und frage: „Ist er sonst auch so ein Langweiler?“

Artis öffnet seinen Mund für eine Antwort, klappt ihn aber – eingeschüchtert von dem stechenden Blick seines Freundes – unverrichteter Dinge zu.

„Ich hätte dich nicht allein herziehen lassen sollen. Du bist noch zu jung, um für dich selbst zu sorgen. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, als du dich mit diesen fadenscheinigen Ausreden um einen Besuch bei uns gedrückt hast. Dein Haar, die Symbole … alles Zeichen dafür, dass du Hilfe brauchst. Du kommst wieder mit nach New York“, befiehlt Junus. Ich schnappe nach Luft.

„Nur weil ich mir die Haare geschnitten und mich tätowieren hab lassen, hältst du mich für nicht allein lebensfähig?“, stoße ich belustigt aus.

„Das ist nicht witzig, Raven. Du hast dich irgendwie verändert. Das gefällt mir nicht“, erwidert er.

„Ach, das gefällt dir also nicht, dass ich mich verändere, Bruder. Nur zu deiner Information, ich bin hier glücklich. Zum ersten Mal.“ Okay, da spricht die bewusstseinserweiternde Droge aus mir. „Mit wem ich ausgehe, ist meine Sache. Ich bin Single und lebe das auch aus. Wer weiß, vielleicht probier ichs mal mit einer Frau? Wer braucht schon Kerle, die einem die ganze Zeit auf die Brüste glotzen oder den Hexenmeister raushängen lassen. Frauen haben ja außerdem sowieso mehr Feingefühl als Männer.“ Das war ein Scherz. Damit will ich ihn nur auf die Palme bringen. Ich steh auf Jungs – definitiv.

Bei meinem Bruder hat Schnappatmung eingesetzt. Artis klopft ihm beruhigend auf die Schulter. „Wir sollten gehen, wir sind bereits spät dran“, wechselt er das Thema, um Junus abzulenken.

„Darüber reden wir noch, Fräulein“, droht mir Junus mit erhobenem Zeigefinger. Ich hätte so richtig Lust, ihm die Zunge rauszustrecken, aber so stoned bin ich auch wieder nicht. „Jetzt bringen wir dich erst mal zu deinem Vater, der nämlich den ‚Hexenmeister‘ raushängen lässt und auf eine Hinrichtung von Tiberius und Nadar besteht. Der ursprüngliche Plan war eigentlich, dich mit Beliars Hilfe mit Glücksgefühlen vollzupumpen, bevor du da durch musst, aber das ist ja nach hinten losgegangen“, fährt Junus fort. Verdammt, ich dachte, mein Vater lässt sich noch etwas mehr Zeit mit dieser grotesken Hinrichtungs-Geschichte.

„Vater besteht darauf, dass du – wie von dir gewünscht – vorher noch mit beiden sprechen kannst, bevor er über sie richten wird“, ergänzt Artis.

Ja, ich will sie noch ausquetschen, ob sie etwas über meine leibliche Mutter wissen, aber hatte gehofft, das einfach mal länger hinauszuzögern, damit ich doch noch irgendwie meinen Vater dazu bringen kann, Gnade walten zu lassen. Ich meine, die Todesstrafe ist doch echt ätzend. Dieses Angstgefühl steigt an die Oberfläche und durchbricht soeben die rosa Wolke, die den ganzen Scheiß bis jetzt abgefangen hat.

„Ich will aber nicht“, stoße ich lahm aus.

Beide meiner Brüder lächeln. „Wenn du nicht freiwillig mitgehst, wird er dich dazu zwingen. Und glaub mir, die ‚Kerle‘, die er schicken wird, haben noch weniger ‚Feingefühl‘ als wir es haben“, erklärt Junus. Danke übrigens für den Seitenhieb.

Toll, wie komm ich da jetzt wieder raus? Meine rosa Wolke macht sich schön langsam aus dem Staub.

„Aber so nehmen wir dich nicht mit uns. Wir müssen das mit deiner Frisur wieder hinbekommen. Du würdest viel zu viel Aufsehen erregen, wenn du mit einer Männerfrisur im Mittelalter auftauchst“, knallt mir Artis vor den Latz.

„Ich will mich aber nicht für andere verändern“, schmolle ich.

Junus seufzt. „Geh erst mal unter die Dusche Kleines, da klebt der halbe Strand an dir.“ Genervt ziehe ich in Richtung Bad Leine.

Als das Wasser auf mich niederprasselt, ist es so, als würden mich die Emotionen mit der vollen Breitseite treffen. Alles kommt grad wieder hoch und die ersten Tränen vermengen sich mit dem Duschwasser. Beliars Gesicht, als ich ihn weggestoßen habe, die bereits verdrängte Angst vor dem Aufeinandertreffen mit Tiberius und Nadar, das Chaos der letzten Nacht, die Droge – alles kommt hoch.

In Henrys Jackentasche waren zwei Ampullen von dem Zeug. Die zweite Spritze hab ich mir im Auto in die Handtasche gesteckt.

Ich schließe die Augen, ersehne das warme Gefühl, das mich erfüllt hat, als ich mir das Serum in die Vene gejagt habe. Erneut bekomme ich Angst. Bin ich jetzt abhängig, weil ich daran denke, es zu nehmen? Nein, ich hab das unter Kontrolle. Nur noch ein einziges Mal, damit ich die Hinrichtung besser ertrage – das würde jeder verstehen. Doch meine Brüder dürfen davon nichts mitkriegen – die würden durchdrehen, wenn sie davon erfahren.

Ich lasse das Wasser laufen und schiele auf den Flur hinaus. Die Luft scheint rein zu sein. Schnell tapse ich rüber zur Garderobe und kralle mir meine Handtasche.

Auf dem Weg zurück erhasche ich Wortfetzen des Gesprächs meiner Brüder.

„Ich mach mir Sorgen um sie.“ Junus.

„Sie ist kein kleines Kind mehr, Junus.“ Artis.

„Ich musste mich zurückhalten, um dem Typen nicht die Fresse zu polieren.“ Junus.

„Ja, ich mich auch. Aber trotzdem wirst du sie erzürnen, wenn du sie zwingst, mit uns nach New York zu gehen.“ Artis.

„Das ist mir egal. Ich will in Zukunft wissen, mit wem sie sich rumtreibt. Ihr könnte sonst was passieren. Womöglich wird sie von so einem Affen schwanger oder holt sich Aids.“ Junus. Mann, er führt sich echt auf, als wär er mein Vater.

„Glaubst du, was sie über Beliar sagen?“ Artis.

„Meinst du das Gerücht, er würde sich seit seiner Rückkehr durch das halbe Mittelalter vögeln, weil er so gefrustet ist, dass ihn unsere Schwester verschmäht hat. Schon möglich.“ Okay, das bestärkt mich nur noch mehr, mir den Schuss Glücksgefühle zu verpassen.

„Raven liebt Beliar. Aber ich verstehe nicht, wieso sie nicht mit ihm zusammen sein will?“ Artis.

„Vielleicht ist sie zu verletzt. Sie ist sechzehn und eine Frau, wer versteht schon Frauen. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich Männer bevorzuge. Die sind weniger kompliziert.“ Junus. Vielen Dank aber auch.

„Eine sehr weise Entscheidung.“ Artis. Daraufhin vernehme ich Knutschgeräusche, die mich vertreiben.

Fassen wir mal zusammen: Beliar bespringt – gerüchteweise – eine Hofdame nach der anderen und hat wahrscheinlich gerade den Spaß seines Lebens, während ich hier Gewissensbisse habe, einen Hexer zu daten – die hatte ich nämlich. Das hört ab sofort auf. Wollen mal sehen, wer hier Spaß hat. Das Zeug ist schneller in meinem Organismus, als ich „Eine Phiole pures Glück, bitte“ sagen kann.

Die wohlige Wärme zaubert schlagartig ein Lächeln auf meine Lippen. Quietschvergnügt trete ich vor meine Brüder, die erst nach dreimaligem Räuspern die Zungen aus ihren Rachen zurückziehen.

„Bin startklar“, verlautbare ich.

„Nimm das Amulett ab, Kleines“, verlangt Junus, als er sich von der Couch erhebt. Weil ich keinen Bock auf Diskussionen habe, tue ich, wonach er verlangt.

Nach einem kurzen Schauer, der mir über den Rücken zieht, beginnen meine Haare zu wachsen. Einen Wimpernschlag später hab ich die Lockenmähne wieder, die meinen Kopf schwer runterzieht. Na toll, fünfzig Mäuse für den Friseurbesuch in den Wind geschossen.

Junus lächelt verträumt. „So gefällst du mir wieder.“ Sein Kuss landet auf meiner Stirn, die er sogleich kritisch untersucht. „Du hast immer noch leichtes Fieber“, informiert er mich beunruhigt.

„Quatsch, meine Haut ist durch die Dusche erhitzt, sonst nichts. Ich fühl mich großartig“, stelle ich richtig.

Das scheint ihm nicht ganz geheuer zu sein, doch er lässt von dem Thema ab. Schnell lege ich das Amulett wieder an, bevor er Verdacht schöpft und Zauber einsetzt, um mich auszuquetschen oder mein Brazilian Waxing zum Schluss auch noch für den Arsch war.

Artis legt mir den Arm um die Schulter, als wir zum Auto gehen. Lächelnd kuschle ich mich an ihn.

Die ganze Autofahrt lang trällere ich die Hits im Radio nach. Junus schüttelt sogar schon den Kopf, weil ihm meine gute Laune nicht geheuer ist. Artis ist nur am Grinsen.

Ich lache befreit, als mich Junus huckepack durch den Wald trägt und mir andauernd einreden will, dass ich untergewichtig bin. Mit dem Fortschreiten seines Studiums, lässt er wohl immer mehr den Arzt raushängen.

Im Nu sind wir im Mittelalter – vorher hat mich Artis aber, unter Androhung diverser Gräueltaten, genötigt, mein Amulett abzulegen, damit er mir ein Kleid hexen konnte. Was soll ich sagen, ich wollte eine Hose, da hat er nur genervt mit den Augen gerollt.

Obwohl ich zugedröhnt bis unters Dach bin, spüre ich schlagartig das Unbehagen, das diese Epoche in mir auslöst, als wir uns vom Steinkreis entfernen.

Bilder meiner Folter blitzen vor meinem inneren Auge auf. Okay, das müssen starke Emotionen sein, die mich in die Knie gezwungen hätten, wenn sie es ungedämpft durch die rosa Wolke geschafft hätten.

Energisch schüttle ich die dunklen Gedanken ab und ergreife die Hand von Artis, der mich vor sich auf sein gezaubertes Pferd zieht.

Mein holder Arsch hat es kaum vom Pferd geschafft, da werde ich von Junus bereits wieder untersucht. Mit zusammengekniffenen Augen fühlt er die Temperatur meiner Stirn und schüttelt den Kopf. „Bei dem Fieber müsstest du eigentlich total erschöpft sein. Bist du sicher, dass du dich wohlfühlst?“, hakt er nach.

„Jaaaaa“, stoße ich genervt aus. Mein Körper fühlt sich wohlig warm an – zum ersten Mal friere ich nicht, wie ich es meistens tue. Schwacher Kreislauf, sag ich nur. Meine Haut ist von einem leichten Schweißfilm überzogen, der mir aber nichts ausmacht.

„Du könntest dir eine Geschlechtskrankheit geholt haben. Habt ihr ein Kondom benutzt?“, hat er jetzt nicht grad echt gesagt. Das wird schön langsam lästig.

„Das nächste Mal vielleicht, wenn wir wieder in den Swingerclub gehen“, verarsche ich ihn lächelnd.

Junus hält mich grob am Arm fest. „Raven, ich kann nur Verletzungen mit meiner Magie heilen, keine Krankheiten. Nimm das nicht auf die leichte Schulter.“

Mein Ziehvater, der mit beidseitig ausgestreckten Armen auf mich zukommt, befreit mich dann aus der strengen Musterung meines Bruders, mit der er anscheinend jeder Ferndiagnostik alle Ehre machen will. Vergnügt lasse ich mich in seine Umarmung fallen.

„Hoppla, du bist aber stürmisch, meine Tochter“, stellt er fest, während er mich an sich drückt. Ich schließe die Augen, weil das gerade total guttut.

Zu seiner Verblüffung presse ich meine Lippen auf seine Wange und richte ihm seinen Mantel zurecht, der meiner Knuddel-Attacke zum Opfer gefallen ist. Auch ihn habe ich seit dem Rauswurf aus meinem Krankenzimmer nicht mehr gesehen.

„Lass dich ansehen“, verlangt er, mit beiden Händen an meinen Wangen. „Du wirst von Tag zu Tag schöner“, schwärmt er. „Komm, ruh dich aus.“

Beschwingt greife ich nach seiner mir dargebotenen Hand und lasse mich von ihm in die Burg geleiten.

Dabei ist mir der feindselige Blick, mit dem er Junus bedacht hat, nicht entgangen. Mein Vater scheint die Verbindung meiner Brüder wohl nicht so recht gutzuheißen. Naja, war irgendwie klar. Zumindest lässt er ihn rein, das ist ja schon mal ein gutes Zeichen. Dennoch ramme ich meinem Vater den Ellbogen in die Seite, was er mit angehobenen Augenbrauen quittiert.

„Keine bösen Gedanken solange ich hier bin. Hier herrscht Liebe und sonst gar nichts“, befehle ich.

Mein Vater lächelt gequält. „Du vermagst also meine Gedanken zu lesen, Tochter. Ganz ohne Zauberkräfte.“

„Nenn mir eine Frau, die Zauberkräfte braucht, um im Gesicht eines Mannes lesen zu können. Es verrät euch alle“, erkläre ich rechthaberisch.

„Und was lest Ihr in meinem Gesicht, Mylady?“, kommt es von einer fremden Stimme. Ja toll, mal die Klappe wieder ganz weit aufgerissen, Raven. Ein fetter Edelmann verbeugt sich schleimspurlegend vor mir.

„Darf ich vorstellen: Lord Loxvill Sussex und sein Sohn Thomas. Meine Tochter Rose Anne Victoria Erin Nazire Owen“, stellt uns mein Vater vor.

Also sein Sohn ist definitiv schnucklig, der kommt wahrscheinlich nach seiner Mutter, denn da ist alles am rechten Platz und wohlgeformt in stahlharter Muskelmasse verpackt. Er scheint aber etwas schüchtern zu sein, denn er hält meinem Blick keine zwei Sekunden stand. Oder er ist schwul.

„Und?“, fordert der Lord ungeduldig. Ach ja, ich muss ja noch das Häschen aus dem Hut zaubern und in seiner hässlichen Visage lesen.

Ich lasse meinen Blick kurz über ihn schweifen und erkläre: „Ihr hattet Gulasch zu Mittag.“ Ich habe wohl den Nagel auf den Kopf getroffen, denn er zieht verblüfft die Augenbrauen hoch. „Woher wusstet Ihr das?“, fragt er mich alarmiert.

„Teile davon hängen noch in Eurem Bart“, fand er jetzt nicht so prickelnd. Sein Sohn schon, der versucht gerade, sich ein Grinsen zu verkneifen – ohne Erfolg, so wie es aussieht. Als ich mich umdrehe, bemerke ich die amüsierten Gesichter meiner Brüder.

Mein Vater verabschiedet uns und flüstert mir ein „Man munkelt, Lord Sussex plane einen Anschlag auf mich“ ins Ohr.

„Dann hast du ja Glück, Vater“, wende ich ein.

„Wie darf ich das verstehen?“, hakt er etwas erzürnt nach.

„Er ist ein Dummkopf“, lässt meinen Vater dann wieder schmunzeln.

Artis bringt mich in ein Zimmer, in dem ich mir die Hände in einer Schüssel wasche.

Dabei umarmt mich mein Bruder von hinten. „Geht es dir wirklich gut?“, will er wissen.

„Als ich eine Trauerweide war, habt ihr mich das nicht ständig gefragt, warum jetzt, wo ich doch bester Laune bin?“, will ich wissen. Er lächelt nur und tritt zur Tür.

„Ähm Artis?“, halte ich ihn zurück. „Borgst du mir vier Goldstücke?“

„Ja natürlich, wofür brauchst du sie?“, hinterfragt er mein Schnorren.

„Ähm, für einen höheren Zweck“, rede ich mich raus.