Wer braucht schon Zauberfarben? - Marie Lu Pera - E-Book

Wer braucht schon Zauberfarben? E-Book

Marie Lu Pera

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Beschreibung

Teil 2 mit dem Extraschuss Hexe. Zwischen dem siebten Himmel und der Hölle auf Erden liegt meist nur ein Wimpernschlag. Zumindest für Hope, deren Welt wieder mal Kopf steht. Im Leben von Hope läuft gerade alles nach Plan. Beliar ist auf Eroberungskurs und auch sonst schwebt sie auf Wolke sieben. Was als wahrgewordener Traum beginnt, entwickelt sich schon bald zum absoluten Alptraum, als eine Frau auftaucht, die behauptet, die wahre Ador-Hexe zu sein. Sie beschuldigt Hope, ihr die Identität gestohlen zu haben – und das recht glaubhaft. Nicht nur alle anderen, auch Hope selbst beginnt an ihrer Herkunft zu zweifeln, die immer mehr Fragen aufwirft, auf die sie keine Antworten hat. Mit ihrem Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen, gerät sie zwischen die Fronten eines, die Jahrhunderte überdauernden, Kampfes zwischen schwarzer und weißer Magie, der ihr mehr als nur ein Opfer abverlangt. Als hätte sie nicht bereits genug um die Ohren, gelangt sie ins Visier des neuen Großinquisitors. Für den, in Sachen Hexenjagd, unerfahrenen jungen Mann, entspricht die wilde Hope alles andere als seinem Feindbild. Dies beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Keiner ihrer sonst so erfolgreichen Pläne scheint mehr zu funktionieren. Es ist wie verhext – so, als wäre ihr immer jemand einen Schritt voraus. Der Stoff, aus dem Alpträume sind? Oder kann Hope doch noch alle anderen davon überzeugen, dass es im Leben nicht nur schwarz oder weiß gibt? Teil 1: Wer braucht schon Zauberworte? Teil 2: Wer braucht schon Zauberfarben? Teil 3: Wer braucht schon Zauberkerle? Teil 4: Wer braucht schon Zaubertricks?

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Marie Lu Pera

Wer braucht schon Zauberfarben?

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Purpur

Lila

Rot

Grau

Gelb

Schwarz

Orange

Weiß

Grün

Beige

Petrol

Rosa

Blau

Türkis

Anthrazit

Braun

Ocker

Graugrün

Impressum neobooks

Purpur

Im siebten Himmel – anders kann man das nicht beschreiben, was hier gerade abläuft. Ich hab nie verstanden, warum Leute das immerzu sagen – jetzt ist es mir klar.

Wie gebannt blicke ich auf einen schlafenden Halbgott, in dessen Armen ich liege. Beliars Brust hebt und senkt sich im steten Rhythmus seiner Atemzüge.

Kneif mich mal. Ich fasse es immer noch nicht, dass in der Tasche – neben seinem Hammer – auch noch seine Sachen waren, damit er hier bei mir bleiben kann. Er hat sich sozusagen Kurzurlaub vom Zirkel genommen. Will in der Zeit wie ein normaler Mensch ohne Magie leben. MIT MIR!

Jeden Tag unternehmen wir etwas zusammen, lernen uns besser kennen. Das war eine meiner Bedingungen, damit er hier bei mir und meinem Bruder wohnen darf.

Jede Nacht schlafe ich in seinen Armen. Natürlich ist Kuscheln alles, was er von mir bekommt. Ich will es diesmal langsam angehen lassen. Beliar versteht es, obwohl er sichtlich damit zu kämpfen hat – geht man davon aus, dass sich die Bettdecke verräterisch aufbäumt. Verdammt, dieser Mann ist sowas von sexy.

Ich muss hier raus, bevor ich noch die letzte Gehirnzelle über Bord werfe und über ihn herfalle. Nein, ich muss stark bleiben. Männer wollen immer das, was sie nicht kriegen können – denke ich zumindest. Wenn ich es ihm zu leicht mache, verliert er bald das Interesse an mir. Eins ist klar, ich bin kein devotes Weibchen, das sich ihm an den Hals wirft, weil er der stärkste Hexer im Zirkel ist. Naja, zumindest versuche ich, es zu vermeiden, ihm ständig auf die Pelle zu rücken. Ich kann nichts dafür, der Mann übt eine magnetische Anziehungskraft auf mich aus.

Darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, husche ich auf Zehenspitzen ins Bad. Der Spiegel ist gnadenlos. Meine kurzen Locken stehen in alle Richtungen ab. Genervt versuche ich, das Chaos zu entwirren, schaffe es aber nur bedingt. Ich gebs ja zu, ich dachte, ich könnte mir die Mähne nachhexen. Hätte ich gewusst, dass das nicht funktioniert, hätte ich Galahad wahrscheinlich überredet, mein Blut anstatt alle meine Locken als Bezahlung für das Tattoo und seine Hilfe zu nehmen. Beliar und Junus haben es schon versucht, aber keiner ihrer Zauber funktioniert bei mir.

Ich kriegs auch nicht hin. Mittlerweile beginne ich das Musical „Hair“ zu hassen. Keiner der Songs lässt meine Locken sprießen. Es ist schon komisch, Häuser vermag ich in die Luft zu sprengen, aber auf das Wachstum meiner eigenen Haare habe ich keinen Einfluss. Das ist wieder mal typisch für mich.

Mit roher Gewalt kämpfe ich mich mit der Bürste durch die Mähne. Als ich sie, aus Mangel an Erfolgserlebnissen, weglegen will, erregt etwas darauf meine Aufmerksamkeit. Ich hab wohl doch ziemlich viele Haare gelassen und obenauf prangt – wie kann es auch anders sein – ein weißes Haar. Mich trifft fast der Schlag. Mein Körper weicht automatisch zurück. Vor Schreck bin ich rückwärts über den Badewannenrand gefallen und schlage unsanft mit dem Rücken auf den gegenüberliegenden Wannenrand auf. Meine Beine sind dabei hochgeschossen. Das macht mich nun zu einer zappelnden, pyjamatragenden Überreagierenden, die gerade ein unfreiwilliges Trockenbad nimmt. Verdammt, tut das weh.

Keine zwei Sekunden später wird die Badezimmertüre aufgerissen und Beliar taucht über mir auf.

„Hope, ist alles in Ordnung?“, will er wissen. Die Gesamtsituation nimmt mich gerade voll mit. Im nächsten Augenblick lache ich drauflos.

Beliar zieht mich, ebenfalls sichtlich belustigt, aus der Wanne. Blöderweise bückt er sich nach der Bürste, die ich anscheinend in der ersten Schrecksekunde fallengelassen habe und hält sie mir hin.

Beinahe brutal reiße ich sie ihm aus der Hand. Verdammt, geht’s eigentlich noch offensichtlicher, Hope? Das war ja die übertriebenste Reaktion des Jahrhunderts. Er zieht zwar die Augenbrauen hoch, lässt den peinlichen Moment aber glücklicherweise unkommentiert vorbeiziehen.

„Wolltest du baden?“, fragt er mich grinsend. Nein, mir hat die Erkenntnis, dass mir bereits weiße Haare wachsen, den Boden unter den Füßen weggezogen.

„Hab wohl vergessen, vorher Wasser einzufüllen“, entgegne ich.

„Und dich auszuziehen“, ergänzt er. Dabei sieht er mich so sexy an, dass meine Knie gleich wieder zu Pudding werden.

Im Nu zieht er mich an sich heran, was mein Herz höher schlagen lässt. Liebevoll fährt er mir durchs Haar. Hoffentlich sind da nicht noch mehr weiße Haare, ist grad mein einziger Gedanke.

Als er meinen Nacken packt und mich an seine Lippen führt, schmelze ich schlagartig dahin. Sein Kuss beginnt zärtlich, wird aber immer wilder. Ich weiß, wohin das früher oder später führen wird, aber ich will ihn noch zappeln lassen. Nach allem, was passiert ist, bin ich einfach noch nicht so weit.

Das realisiert Beliar nun auch, nachdem ich ihn sanft davon abhalte, die Erkundungstour seiner Hand, die sich unter meinem Shirt gerade einen Weg über meinen Rücken bahnt, fortzusetzen. Dass er mehr als „so weit“ ist, zeigt mir sein Gesichtsausdruck, aus dem ich entschlüsseln kann, dass er an der Abweisung sichtlich zu knabbern hat.

Egal was ich jetzt sage, es wird seinen männlichen Stolz nur noch weiter ankratzen. Deshalb tue ich so, als wäre das gerade nicht passiert. Ja okay, das ist vielleicht etwas gemein, aber es dient einem höheren Zweck. Der Griff nach meiner Zahnbürste soll als ultimatives Ablenkungsmanöver dienen.

Sein aufgebrachtes „Hope“ bringt mich dazu, mich ihm wieder zuzuwenden.

Auf seiner Hand klebt Blut. Schnell ist er an meiner Seite, zieht mein Shirt runter und sieht sich meinen Rücken genauer an. Verdammt, diese blöde Wunde an meiner Schulter ist wohl durch die Wucht meiner Badewannenaktion erneut aufgeplatzt. Die Kratzer wollen einfach nicht heilen. Alles nur wegen meinem Raben, der mich damals mit seinen Krallen erwischt hat. Wahrscheinlich habe ich Tollwut oder so eine Scheiße.

„Die Wunde hat sich wieder geöffnet“, informiert er mich. „Ich bringe dich zu meinem Heiler. Er wird sich das ansehen“, stößt er bestimmt aus.

Oh, oh. Quacksalber-Alarm. Vorsichtshalber wende ich ein: „Beliar, ich war bereits hier beim Arzt. Er sagt, die Wunde hätte sich nur entzündet. Ich nehm einfach die Salbe, die er mir gegeben hat und dann wird es schon heilen. Nichts gegen deinen Heiler, aber in Sachen Medizin sind wir in diesem Jahrhundert weiter entwickelt.“ In Sachen Hygiene auch, aber das verkneife ich mir. Keine zehn Pferde bekommen mich zu seinem Medizinmann, der mir höchstwahrscheinlich einen Aderlass verschreibt. Bei dem Gedanken zieht es mir die Gänsehaut auf.

„Mir gefällt das nicht“, stößt Beliar raunend aus. „Du hast Schmerzen, die du zwar gut verbirgst, aber ich sehe es dir dennoch an.“ Er hat recht. Die Wunde tut mir den ganzen Tag über weh, aber eigentlich wollte ich das sauber vertuschen. So viel dazu.

„Ich muss jetzt zum Training“, schiebe ich als Grund vor, um dieses Thema endlich abhaken zu können.

Manchmal kommt er mit – sieht mir dabei zu, wie ich turne, aber heute muss er etwas für den Hexenzirkel erledigen, sagt er zumindest. Insgeheim hoffe ich, dass er eine Überraschung für mich plant. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und schrubbe weiter meine Zähne.

Junus ist schon vor einer Stunde weg. Er studiert hier in Irland Medizin.

Nach dem Frühstück verlassen Beliar und ich gemeinsam die Wohnung. Vor dem Wohnhaus trennen sich unsere Wege. Zum Abschied küssen wir uns fast bis zur gegenseitigen Besinnungslosigkeit. Dieser Mann macht es mir echt nicht leicht, den Keuschheitsgürtel anzubehalten.

„Dann bis später Beliar“, ist mein jämmerlicher Versuch, ihn abzuwimmeln, bevor wir hier wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet werden.

Im nächsten Augenblick küsst er galant meine Hand. Dabei lässt er mich keine Sekunde lang aus den Augen. Mann, wie ich auf diese Eroberungsnummer stehe, die er ständig mit mir abzieht.

Beliar haucht mit funkelnden Augen: „Ich sollte gehen, bevor ich dich über meine Schulter werfe und dich zurück in das Bett entführe, das du heute viel zu früh verlassen hast.“ Was für ein verlockender Gedanke.

„Ich bin aber gar nicht mehr müde“, kontere ich, während ich mir lasziv in die Unterlippe beiße.

„An Schlaf hätte ich auch nicht gedacht“, erklärt er. Meine Fresse, wieso ist es plötzlich so heiß hier draußen? Eigentlich herrscht tiefster Winter.

„Du scheinst das Bett noch nicht verlassen zu haben, da du augenscheinlich noch träumst“, spotte ich frech grinsend.

Er sieht herausgefordert aus, entfernt sich aber schrittweise von mir. „Warte es ab, bis ich nach Hause komme. Dann zeige ich dir, wie nahe Traum und Realität beieinanderliegen können.“ Schmacht. Okay, ich muss mich an meinen Übungen abreagieren oder kalt duschen. Dieser Kerl bringt mich um den Verstand. Lächelnd ziehe ich mir die Mütze weiter über meine Ohren und schreite davon.

Das kleine Studio ist schnell erreicht. Ich habe es gemietet, kann hier also ungestört trainieren. Es gibt eine große Übungshalle, die mir in der Zeit ganz allein gehört – wie die Fabrikhalle damals in New York.

Heute will ich an meiner Beweglichkeit arbeiten und dabei am Reck turnen. Aber erst mal wärme ich mich auf – also genaugenommen meine Muskeln, mein Inneres ist noch durch die Glut von Beliars Küssen erhitzt.

Da er diesmal nicht dabei ist, ziehe ich meine eigentliche Turnbekleidung, eng anliegende, kurze Shorts und ein bauchfreies, ebenso knapp geschnittenes Oberteil an.

Ihm zuliebe hab ich in langer Turnkleidung meine Übungen absolviert. In der Zeit, in der er lebt, sind sie ja in der Hinsicht ein bisschen bedeckter. Zumindest unten rum – das Bild meines Mieders im Hinterkopf habend.

Ich wollte nicht, dass er denkt, ich will ihn scharfmachen, wenn ich in „Unterwäsche“ vor ihm turne, denn für genau das würde er es halten.

Nach einer Stunde Aufwärmzeit beginne ich mit dem eigentlichen Training. Dazu drehe ich die Musikanlage bis auf Anschlag auf. Zu den Klängen von „O Fortuna“ von Carl Orff trete ich an die Reckstange heran, atme tief durch, tauche in eine andere Welt ein und ziehe mich beim ersten Paukenschlag hoch.

Daraufhin beginne ich mit Äquilibristik – der Kunst sich zu verbiegen. Heute habe ich vor, an meine Grenzen zu gehen. Ich will sehen, wie weit ich es schaffe, meinen Körper zu beherrschen, damit er alles tut, was ich will.

Meine Bewegungen sind stetig und kraftvoll. Zum ersten Mal möchte ich versuchen, mich komplett zurückzubiegen und meine ausgestreckten Beine in einer Kreisbewegung um meine eigene Achse zu führen. Das ist ziemlich abartig, aber ich will das unbedingt können. Dabei muss ich immer öfter vor Anstrengung stöhnen. Es klappt aber ganz gut.

Im nächsten Augenblick hänge ich mich rücklings über das Reck und umfasse meine Beine fest. Als die Musik ihren Höhepunkt erreicht, drehe ich mich um die Stange herum, hebe ab und mache Saltikombinationen in der Luft.

Immer wieder schraube ich mich hoch, lasse mich durch die Luft gleiten, nur um mich beim nächsten Paukenschlag erneut hoch zu katapultieren. Abschließend hole ich großen Schwung, der mich nach ein paar Salti in der Luft zurück auf den Boden bringt.

Genau in diesem Moment ist die Musik zu Ende. Ich strecke beide Arme seitlich weg und lege den Kopf in den Nacken.

Ganzheitliche Euphorie lässt mich alles um mich herum vergessen. Ab jetzt fühle ich nur noch. Die herrschende Stille wird nur von meinen schnellen Atemzügen durchbrochen – und von einem Räuspern, das mich herzinfarktmäßig zusammenzucken lässt. Es kam von Junus – und er ist nicht allein.

„Heiliger Odin“, stößt Tiberius, Beliars Vertrauter, mit schreckgeweiteten Augen aus. Beliar selbst mustert mich intensiv. Neben ihm stehen zwei Männer, die mir unbekannt sind und eine, in einen Umhang mit Kapuze verhüllte, Gestalt.

Den Männern steht die Verblüffung über meine Vorstellung ins Gesicht geschrieben. Na wunderbar. Wieso sagt mir Beliar nicht, dass er mich besuchen kommt und Gäste mitbringt. Dann hätt ich mir was angezogen – und eine andere Musik eingelegt. Der Gefangenenchor hört sich etwas gruslig an. Das hat sie sicher in ihren abergläubischen Grundfesten erschüttert. Nun stehe ich hier halbnackt mit schweißnassem, keuchendem Körper vor ihnen und frage mich, wie um alles in der Welt ich reagieren soll, nachdem niemand ein Wort sagt.

Beliar erlöst mich nach ein paar Sekunden: „Darf ich vorstellen: Hailey Olivia Prudence Enya Dewitt beau Ador. Hope das sind der Seher Nadar und seine Begleiter.“

Okay, das ist also die Überraschung, die er für mich vorbereitet hat. Eigentlich hatte ich an Candle-Light-Dinner und Blumen gedacht, aber hey, kein Thema, er ist wohl nicht so der romantische Typ.

Hey warte mal, der Seher ist doch der Kerl, der Beliar gesagt hat, wie er die Ador-Hexe erkennen kann. Da lag er wohl falsch, denn ich hab keine abstehenden Ohren.

Bevor ich etwas erwidern kann, stößt die Kapuzengestalt ein ärgerliches „Nein“ aus. Nein? Was soll das heißen? Dass Beliar seinen Namen falsch gesagt hat?

Sogleich ergänzt der Typ: „Sie ist nicht die Ador-Hexe.“ Wie nett.

Beliar scheint von den Worten dieses Trottels nicht überrascht zu sein, was mich unsagbar wütend macht.

Fuchsteufelswild schnaube ich: „Ich weiß, wer ich bin. Was Ihr sagt, ist irrelevant.“ Genervt stapfe ich zur Bank und schnappe mir mein Handtuch, mit dem ich mir erst mal die schweißnasse Stirn abwische.

„Ich hatte eine Vision“, informiert mich der Quacksalber. Schön für dich, du Psycho. „Ich sah die Ador-Hexe und sie trug nicht Euer Gesicht“, ergänzt er.

Na warte, Schwachkopf. Energisch kontere ich: „Ich habe nicht vor, meine Worte an Euch zu verschwenden, daher mache ich es kurz. Ich bin Hope Dewitt beau Ador. Ich weiß es und mein Bruder weiß es auch. Sagst du dazu vielleicht auch mal was oder glotzt ihr mich alle nur an?“, raune ich erbost. Die Männer senken ertappt ihre Blicke. Schnell streife ich mir meinen Pullover und die Hose über.

Junus verkündet: „Mein Name ist Jan Utok Nael Ulivus Slevin Dewitt beau Ador und ich sage, dass die Frau, die hier vor uns steht, meine Schwester ist. Bei meinem Leben.“ Mit einem Siehst-du-Ausdruck mustere ich die verhüllte Gestalt.

„Ich bestreite nicht, dass du, Junus, ein Ador bist. Ich sage, die Hexe ist keine. Ihr seid von unterschiedlichem Blut“, behauptet der verhüllte Quatschkopf.

„Das muss ich mir nicht weiter antun“, stoße ich erbost aus. Ich will schon die Halle verlassen, da halten mich die Worte meines Bruders zurück.

„Dann werden wir Euch vom Gegenteil überzeugen. Ein Bluttest wird beweisen, dass wir gleicher Abstammung sind. Wozu gibt es DNS-Analysen, die unser Erbgut vergleichen. Immerhin sind wir hier im 21. Jahrhundert“, verkündet Junus selbstsicher.

Erneut schnaube ich. „Niemand sollte es wagen, unsere Abstammung infrage zu stellen“, stoße ich fuchsteufelswild aus. „Ich spüre, dass du mein Bruder bist und du spürst es ebenso. Wir haben gemeinsame Kindheitserinnerungen. Sowohl an unsere Eltern, als auch an meine Flucht in diese Welt. Vor niemandem werden wir uns rechtfertigen. Wir brauchen keinen Test, um uns gegen diese Anschuldigung zu verteidigen.“

„Es ist verdächtig, dass Ihr Euch gegen diesen Test zur Wehr setzt“, meint der Kapuzen-Typ doch tatsächlich.

Jetzt reichts. Ich komme auf ihn zu, bis ich nahe vor ihm stehe. „Wollt Ihr damit sagen, ich bin eine Lügnerin?“, knalle ich ihm vor den Latz. „Wagt Ihr es tatsächlich, Euer Wort gegen das meine zu stellen.“ Okay, das war etwas melodramatisch, aber ich bin geknickt, weil mein Bruder sich von dem Kerl einschüchtern lässt.

Nach ein paar Sekunden antwortet der Seher: „Es liegt mir fern, Euch einer Lüge zu bezichtigen. Möglicherweise wisst Ihr es einfach nicht besser.“ Mann, war das frech.

Bevor ich kontern kann, meldet sich Beliar zu Wort: „Jetzt gehst du zu weit, Nadar.“

„Ich kann für mich selbst sprechen“, herrsche ich Beliar an. Na toll, jetzt lass ich schon meine Wut an ihm aus.

Der Seher kommt im nächsten Moment auf mich zu. Sein Gesicht ist vollständig in der Kapuze verborgen. Da ist nur ein schwarzes Loch, in das ich starre.

Plötzlich schnellt seine Hand vor und berührt mein Haar. Reflexartig schlage ich seine Hand weg und stoße ihn mit aller Kraft von mir, sodass er zurück wankt.

„DASS IHR ES WAGT, MICH ZU BERÜHREN!“, brülle ich vor Zorn.

„Sie hat jetzt nicht gerade den Seher gestoßen“, stößt Tiberius verblüfft aus. Beliar mustert mich stirnrunzelnd.

„RAUS HIER!“, befehle ich allen. Nach und nach tun sie, was ich verlange und verlassen die Halle. Alle bis auf Beliar.

„Du auch. Wie kannst du nur zulassen, dass er mich berührt?“, werfe ich ihm enttäuscht vor.

Damit ich runterkomme, gehe ich rüber zur Musikanlage, drehe voll auf und ziehe die Sachen wieder aus. Ich muss mich abreagieren, bevor ich ihm auch noch eine verpasse.

Okay, ich bin sauer auf ihn. Er hat mich gar nicht verteidigt, als der Typ meine Identität infrage gestellt hat und das, obwohl Beliar zugegeben hat, ich sei diejenige, nach der er all die Jahre gesucht hat. Anstatt mir zu helfen, hat er sich die Show von den hinteren Plätzen reingezogen.

„Hope“, setzt er nahe hinter mir an.

„Raus hier“, wiederhole ich, ohne mich noch mal umzudrehen, während ich mir erneut die Kreide an die Hände reibe. Schnell trete ich an das Reck heran und hüpfe hoch.

Zu Hause angekommen scheint niemand da zu sein – bin ich froh. Auch nach stundenlangem Training bin ich immer noch geladen wie eine Hochspannungsleitung. Genervt reiße ich mir die Kleider vom Leib und dusche erst mal kalt.

Als ich mich bereits an meinen Lieblingsplatz aufs Fensterbrett verzogen habe, betreten die zwei Herren der Schöpfung gemeinsam die Wohnung, die ich so richtig gepflegt manierlich ignoriere.

„Da bist du ja. Wir haben nach dir gesucht“, raunt Junus.

„Ich bin nach dem Training noch gelaufen“, informiere ich ihn, während mein Bruder mir gegenüber Platz nimmt.

„Das war ein echter Gänsehautmoment. Die Musik gepaart mit deinen Bewegungen. Ich glaube, so etwas formvollendet Schönes habe ich noch nie zuvor gesehen.“ Mit den schleimigen Worten will er mich besänftigen. Keine Chance, Mann.

„Es war nicht für die Augen anderer bestimmt“, fauche ich gereizt.

„Hat dich das, was der Seher gesagt hat, verärgert?“, will er wissen.

„Der Quacksalber ist mir scheißegal. Ich bin von euch enttäuscht, weil ihr ihm nicht die Hölle heißgemacht habt, um mich zu verteidigen. Ich meine – Halloooooo, ihr wisst doch genau, wer ich bin“, erkläre ich.

„Er hat uns zuvor gebeten, nicht in seine Befragung einzugreifen“, gesteht Junus.

Verblüfft mustere ich meinen Bruder. Was? Welche Befragung denn? Der Schwachmat hat nicht eine einzige Frage gestellt. Das war nur eine volle Ladung Beschuldigungen, die ich frontal abbekommen habe.

„Es war eine Prüfung“, ergänzt Beliar.

„Was denn für eine Prüfung?“, stoße ich erbost aus.

„Er wollte sehen, wie du reagierst, wenn er dich mit seiner Vermutung konfrontiert“, antwortet Junus.

Ich versuche, ruhig zu bleiben. „Okay, er glaubt also nicht, dass ich eine Ador bin. Das ist sein Problem. Er soll mich damit in Ruhe lassen“, erkläre ich.

„Der Seher ist ein einflussreicher Mann. Es ist nicht klug, ihn zu erzürnen“, meint Beliar.

Energisch kontere ich: „So wie ich das sehe, hat er mich zuerst erzürnt. Das ist das Aktions-Reaktionsprinzip. Davon hat er wahrscheinlich noch nie gehört. Womöglich glaubt er auch noch, die Erde sei eine Scheibe.“ Meine Worte scheinen Beliar zu belustigen.

Wütend stoße ich mich vom Fensterbrett ab und will in mein Zimmer abhauen, da überkommt mich plötzlich ein Schwindel. Oh, verdammt – zu schnell aufgestanden. Zu spät, die Umgebungsgeräusche werden bereits dumpf und meine Knie knicken ein.

Nach ein paar tiefen Atemzügen komme ich wieder so halbwegs zu mir. Beliar hat mich aufgefangen.

„Hope?“ Ich blinzle ein paar Mal und entreiße mich sogleich seinen Armen. Mann, ganz toll. Jetzt hält er mich sicher für ein zart besaitetes Weibchen, das ständig in Ohnmacht fällt.

„Alles okay? Lass mal sehen.“ Junus ist an meiner Seite, um meinen Puls zu kontrollieren. Genervt ziehe ich ihm meine Hand weg.

„Mir geht’s gut. Bin einfach nur zu schnell aufgestanden“, beschwichtige ich.

„Du trainierst zu hart“, stellt Beliar fest. Ich lächle. Er hat echt keine Ahnung. Das ist gar nichts. Früher hab ich fast vier Stunden täglich geturnt. Jetzt schaff ich es gerade mal noch dreimal die Woche. Ich sollte einfach was essen. Sogleich krame ich im Schrank nach dem Müsli.

Junus nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und verkündet: „Ich gehe heute noch aus.“

Ich grinse. „Hast du ein Date?“ Er läuft tatsächlich rot an. Das heißt dann wohl „Ja“.

„Ein Freund holt mich nachher ab. Wir gehen zusammen auf Brautschau“, erklärt er etwas zu ertappt aussehend – also für meinen Geschmack.

„Dann viel Spaß“, wünsche ich ihm. In dem Moment klingelt es bereits an der Tür. Junus küsst mich auf die Wange und stürmt im nächsten Augenblick auch schon aus der Wohnung. Mann, der hats aber eilig hier rauszukommen.

Toll, jetzt bin ich mit Beliar allein, der bereits auf mich zukommt und mir über die Wange streichelt.

Als Zeichen, dass er mehr braucht, als nur diese Geste, um mich zu besänftigen, drehe ich mich einfach weg, kippe Joghurt über das Müsli und schmolle.

„Du solltest Fleisch zu dir nehmen. Dein Körper ist viel zu dünn“, stellt Beliar fest. Das hat er grad nicht wirklich gesagt.

Ich kneife die Augen zusammen und strecke ihm warnend meinen Löffel entgegen. „Dann solltest du dir eine Frau aus deinem Zeitalter nehmen, wenn dich das stört“, knalle ich ihm hin.

„Das habe ich nicht gesagt“, redet er sich raus.

„Du bewegst dich hier auf dünnem Eis, mein Freund“, informiere ich ihn.

Er ignoriert meine Warnung, fragt stattdessen: „Drohst du mir etwa?“

Daraufhin kommt er wie ein lauernder Löwe auf mich zu und ergänzt mit diesem sexy Blick, den er bis zur Perfektion beherrscht. „Nun, ich kann mich an eine Drohung erinnern, die ich heute Morgen ausgesprochen habe.“ Ja, ich auch, aber vergiss es. Seine Lippen nähern sich den meinen, doch ich halte ihn mit meiner Faust an seiner Brust zurück.

„Wieso hast du das zugelassen?“, frage ich ihn.

„Wovon sprichst du?“, hakt er nach.

„Dass mich der Seher berührt. Du sagtest, kein Mann darf mich berühren. Warum lässt du es dennoch zu?“, will ich wissen.

Beliar sieht mich einige Sekunden lang an, gesteht daraufhin: „Er hat darum gebeten.“

„Wie bitte?“, krächze ich ungläubig.

„Mit der Berührung wollte er eine Vision von dir erhalten“, klärt er mich auf. Wow, jetzt ist die Kacke so richtig am Dampfen.

„Vertraust du mir nicht?“, knalle ich ihm hin. „Denkst du, ich will dich täuschen? Mich für die Ador-Hexe ausgeben, damit ich dir nahe sein kann? Damit ich dich manipulieren und deinen Zirkel aushorchen kann. Nur zu deiner Information. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich einfach nur Hope sein. Ohne dieser Abstammungs-Scheiße, die immer zwischen uns steht. Und weißt du was, gerade in diesem Moment, will ich alles andere, als dir nahe sein.“

„Wieso bist du so aufgebracht über die Prüfung? Sie hat nichts mit uns zu tun“, meint er doch tatsächlich.

Ich schnaube empört. „Das ist der kleinste gemeinsame Nenner. Wie ich bereits sagte, ich will einen Beweis, dass du mich auch gewählt hättest, wäre ich keine Ador. Scheinbar hast du immer noch nicht verstanden, was ich dir damit sagen will. Ich will, dass du mich willst, bloß mich – Hope. Nicht die Ador-Hexe. Nicht nur den Körper. Mich, mit all meinen verrückten Plänen und den Schwierigkeiten, in die ich mich immer hineinmanövriere. Ich weiß auch nicht. Du sagtest, du willst mein Herz erobern. Ich bin die, nach der du gesucht hast – das waren deine Worte. Und du hast auch gemeint, es wäre dir egal, was der Seher sagt. Du spürst es, wer ich bin. Stattdessen lässt du zu, dass er mich vorführt und einen Test verlangt, der beweist, dass Junus mein Bruder ist. Kannst du überhaupt ermessen, wie ich mich dabei fühle? Jemand zweifelt an der Bindung zu dem einzigen Familienmitglied, das ich noch habe. Zu dem Menschen, den ich über alles liebe.“

„Ich kenne meine Worte und stehe noch dazu“, erklärt er emotionslos.

„Noch? Heißt das, du bist in dieser Hinsicht flexibel? Änderst deine Meinung, wenn dir der Seher eine andere Ador-Hexe aus dem Hut zieht? Hast du schon mal daran gedacht, dass er dir absichtlich diesen Floh ins Ohr setzt, um uns zu entzweien?“, wende ich ein.

„Ja“, antwortet er.

„Und das lässt du so ohne Weiteres zu?“, krächze ich aufgebracht.

„Was meine Beweggründe sind, haben dich nicht zu interessieren“, stößt er überheblich aus. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Da bricht wohl der Mittelalter-Macho durch.

„Wow, der Seher hat wohl schon Erfolg damit. Weißt du was? Richtig wäre gewesen, wenn du ihn an seinem Quacksalber-Kragen gepackt und ihm gezeigt hättest, dass es vollkommen egal ist, wer ich bin. Weil ich dein Mädchen bin“, verkünde ich aus vollster Überzeugung. Ich raufe mir erschöpft die Haare, bevor ich das Weite suche.

In meinem Zimmer packe ich eine Decke und ein Kissen. Beides knalle ich ohne Worte auf die Couch im Wohnzimmer. Ich hoffe, er kapiert es.

In dieser Nacht suchen mich wieder Alpträume heim. Ich schrecke hoch. Meine hastigen Atemzüge zeugen von dem unruhigen Schlaf – meine zerwühlte Decke auch. Irgendwie fühle ich mich wie gerädert.

Ich erkenne Junus über mir. „Hey, hattest du einen bösen Traum? Du hast nach Beliar gerufen.“ Na toll. Vielen Dank, Unterbewusstsein. Leugnen bringt nichts, also nicke ich.

„Wieso schläft denn dein Traumprinz auf der Couch?“, will er wissen.

„Er ist zum Frosch mutiert. Ich hoffe, das ist nicht von Dauer“, spotte ich.

Junus lächelt. „Sei nicht so streng mit ihm. Sie setzen ihn ganz schön unter Druck, weil der Seher vehement behauptet, du seist keine Ador. Die Hexer wollen Beweise sehen, da sie wissen, dass er hier bei dir ist. Weißt du, der Zirkel schützt die Identität von abertausenden Hexen und Hexern. Beliar braucht einen starken Nachkommen, um den Schutz über Generationen aufrechtzuerhalten. Seine Position als Oberhaupt darf nicht durch so ein Gerücht, das der Seher in die Welt setzt, gefährdet werden. Beliars Gefolgschaft fordert Rechenschaft von ihm. Sie würden nur eine Ador-Hexe an seiner Seite akzeptieren.“ Mann, ist das kompliziert. Wieso hat mir Beliar nicht gesagt, dass er unter Druck gesetzt wird? Wieso sagen Männer nie das, was sie fühlen? So schwer ist das doch nicht.

„Sein Wort darauf, dass ich die Richtige bin, müsste eigentlich reichen“, entgegne ich trotzig.

„Wie Beliar bereits festgestellt hat, ist der Seher sehr einflussreich. Da er Visionen von der Zukunft hat, vertrauen die Hexer darauf, was er sagt. Unterschätze ihn niemals, Hope“, rät er mir.

„Ich will aber nicht unter Druck gesetzt werden. Schon gar nicht von einem Quacksalber, dessen Visionen auch Hirngespinste sein könnten“, erkläre ich.

„Ich weiß, Kleines, aber wovor hast du Angst? Du bist meine Schwester. Niemals würde ich auch nur eine Sekunde daran zweifeln. Der Test bestätigt doch nur das Offensichtliche für die Zweifler.“ Junus‘ Worte ergeben Sinn, also nicke ich.

„Ich tue es für dich und Beliar. Für niemanden sonst“, verlautbare ich. „Aber das ist das letzte Mal, dass sie mich zu etwas zwingen, was ich nicht will.“

Junus grinst. „Du bist genauso stolz, wie unsere Mutter es war. Sie konnte Vater zur Weißglut bringen, aber er hat sie mehr geliebt, als alles andere auf dieser Welt. Ich verspüre dieselbe Liebe zu dir, Schwester.“ Er küsst mich auf die Stirn und verlässt den Raum.

Innerlich aufgewühlt wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Okay, vergiss mal deinen Stolz, sage ich mir. Ich beschließe, Beliar zu verzeihen und ihn auf der Couch zu besuchen, um ihm Asyl in meinem Bett zu gewähren.

Als ich ins Wohnzimmer trete, finde ich sein Lager unangetastet vor. Ich frage mich, wo er mitten in der Nacht hingehen sollte und suche ihn überall in der Wohnung – vergeblich. Junus schläft. Ich will ihn nicht wecken, um zu fragen, ob er weiß, wo Beliar ist.

Lila

Beim Frühstück sagt mir Junus, dass Beliar zurückbeordert wurde. Der Zirkel braucht ihn angeblich dringend.

Wir sind also schon so weit, dass er sich nicht mal mehr verabschiedet. Stattdessen soll mir Junus ausrichten, er wäre in ein paar Tagen zurück. Dementsprechend deprimiert bin ich. Die Tatsache, dass mir Junus vorhin Blut für die DNS-Analyse abgezapft hat, trägt absolut nicht zur Besserung meiner Laune bei.

Beliar und ich sind im Streit auseinandergegangen. Okay, vielleicht habe ich etwas überreagiert. Es liegt auch durchaus im Bereich des Möglichen, dass ich in diese Prüfungssache mehr reininterpretiert habe, als sie tatsächlich zu bedeuten hat.

Als Junus zur Uni aufbricht, beschließe ich kurzerhand, Beliar in seiner Burg zu besuchen. Nur fürs Protokoll: Ich laufe ihm nicht hinterher – naja, ein bisschen vielleicht, aber dass ihn der Zirkel unter Druck setzt, wusste ich nicht. So gesehen, war ich minimal im Unrecht, so streng zu ihm zu sein. Ich muss das wiedergutmachen, sonst zerbreche ich mir nur noch den Schädel, bis er wieder zurück ist.

Ein Taxi bringt mich zum Waldstück, in dem sich der Steinkreis befindet. Meinem Bruder habe ich eine Nachricht am Kühlschrank hinterlassen.

Die Rune, die ich in die Luft zeichne, und der Song „We found love in a hopeless place“ von Rihanna bringen mich direkt ins Mittelalter.

Ich will hübsch für ihn aussehen, also hexe ich mir ein dunkelblaues Kleid. Das Pferd ist schnell gezaubert. Es bringt mich durch den Wald direkt zu Beliars Burg.

Von Weitem erspähe ich den Seher mit seinen Begleitern. Er scheint angeregt mit Tiberius zu diskutieren. Mich würde ja mal brennend interessieren, was sie sich zu sagen haben.

„Turn the music up a little bit louder“ von Christina Aguileras Song „Just a fool“ lässt ihre Stimmen dann in meinem Kopf erklingen.

„Wo habt Ihr sie gefunden?“ Tiberius.

„Das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass die richtige Ador-Hexe nun hier ist.“ Der Seher. Was?

„Wie könnt Ihr so sicher sein, dass sie es wirklich ist?“ Tiberius.

„Sie ist die Frau aus meiner Vision.“ Der Seher.

„Was, wenn Eure Visionen lügen?“ Tiberius.

Der Seher lacht laut auf. „Alle meine Visionen werden Wirklichkeit. Das Oberhaupt des Zirkels weiß das auch. Das ist auch der Grund, weshalb er sie gerade selbst prüft.“ Mein Atem geht stoßweise. Das ist jetzt nicht wahr.

Ich unterbreche den Zauber. Schnell singe ich „How can you see into my eyes like open doors“ von Evanescences „Bring me to life“ und hoffe, dass ich unsichtbar werde.

Sicherheitshalber schleiche ich mich an den Ställen vorbei und gelange so zu dem Seiteneingang, der ins Innere der Burg führt.

Niemand scheint mich zu bemerken. Seien wir uns mal ehrlich, eine Frau mit kurzen Haaren würde hier auffallen wie ein bunter Hund.

In der großen Halle, in der ich sie vermutet hatte, ist niemand, aber ich vernehme Beliars Stimme aus dem Nebenraum. Schnell schlüpfe ich durchs Fenster, das durch einen schmalen Vorsprung mit dem nebenliegenden Raum verbunden ist und trete hinaus.

Den kurzen Weg an der Fassade entlang überwinde ich in null Komma nichts – Scheiße ist das hoch. Kuck bloß nicht runter, sage ich mir immer wieder.

Beliar sitzt am Schreibtisch – hat mir den Rücken zugewandt. Vor ihm kniet eine Frau mit rabenschwarzem Haar und gesenktem Haupt auf dem Boden. Mein Herz macht einen Satz. Ist das die Frau, die der Seher in seiner Vision gesehen hat? Er will Beliar doch nicht allen Ernstes weißmachen, das sei die Ador-Hexe?

Sie hält den Kopf so tief gesenkt, dass ich ihr Gesicht nicht erkennen kann. Ihre Mähne ist lang und kunstvoll hochgesteckt. Ich starte erneut einen Lauschangriff.

„Steh auf“, fordert Beliar. Sogleich erhebt sie sich, hält den Blick aber gen Fußboden gerichtet. Mir stockt der Atem, denn sie ist wunderschön. Das Gesicht der Frau ist blass, weist aber erstaunlich feine Züge auf. Ihr Körper ist sehr schlank und wohlproportioniert. Ich würde sagen, sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Natürlich setzt ihm der Seher diese Schönheit vor. Was für ein Schlitzohr. Ich frage mich, wo er die Hexe herhat, mit der er Beliar hier offensichtlich täuschen will.

„Wie ist dein Name?“, fragt sie Beliar.

„Hailey Olivia Prudence Enya Dewitt beau Ador, Herr.“Was? Nein. Warte mal. Das bin ich. Das kauft ihr Beliar nie im Leben ab.

„Was ist deine früheste Erinnerung?“, will er von ihr wissen. Moment mal. Er testet sie, obwohl er weiß, dass er gerade getäuscht wird? Ich halts nicht aus.

„Das Feuer, Herr“, haucht sie ängstlich. Ihre Stimme ist sehr weiblich, sie ist kaum älter als ich. Ihren Blick lässt sie immer noch die ganze Zeit über zu Boden gesenkt.

„Was siehst du darauf?“ Jetzt hält er ihr sogar die blöde Karte hin. Ich fass es nicht.

„Einen Raben, Herr“, flüstert sie.

„Setz dich“, verlangt Beliar. Hey, wieso bietet er ihr denn jetzt einen Sitzplatz an? Jetzt wäre doch der richtige Zeitpunkt, um sie aus der Burg zu jagen.

Natürlich kommt sie seiner Bitte ruckzuck nach, sprintet förmlich auf den Stuhl zu. Keine Sekunde später sitzt sie ihm gegenüber – immer noch mit gesenktem Blick. Wieso schrillen in meinem Kopf andauernd die Worte „devotes Weibchen“ auf?

„Zeig mir dein Handgelenk“, fordert er.

Ihre Hand schnellt vor. Ich kann das Symbol nicht erkennen, nehme aber an, es ist der Lebensbaum, passend zur Vision des Sehers. Natürlich würde er für seinen Plan nur solch eine Hexe auswählen.

„Welches Tierzeichen trägst du am Körper?“, will Beliar wissen.

„Einen Hirsch, Herr.“ Was auch immer das zu bedeuten hat.

„Nimm die Haare zurück“, befiehlt Beliar. Sie tut sofort, wonach er verlangt. Hey, was zum Teufel soll das? Oh, ich weiß. Sie hat leicht abstehende Ohren – ebenfalls Volltreffer. Was für ein Zufall – spotte ich in Gedanken.

„Zeig mir die Innenseite deines Schenkels“, verlangt er. Moment mal, Freundchen. Hast du sie noch alle?

Das Püppchen reißt sich förmlich den Rock hoch und stellt ein Bein auf den Stuhl. Er will prüfen, ob sie die Narbe hat. Beliar steht sogar auf und beugt sich vor, um es aus nächster Nähe zu betrachten.

Jetzt geht er zu weit. Bleib ruhig Hope. Atme. Du sprengst jetzt nicht diese verdammte Burg vor Zorn. Er hat genug gesehen und zeigt wieder auf den Stuhl. Sie lässt sich förmlich darauf fallen.

„Wie alt bist du?“, will er nun wissen.

„Sechzehn, Herr.“ Toll, genauso wie ich.

„Wo hast du die letzten Jahre über gelebt?“, fährt er seine Befragung fort.

„Man hat mich in einer Familie aufgenommen, Herr. An der nördlichen Küste. Ein kleines Cottage. Jemand hat mich meinem Bruder Junus aus den Armen entrissen und mich dorthin gebracht. In der Nacht als …“ Sie ist den Tränen nahe, hält sich theatralisch an die Brust. Sie ist echt gut. Ich glaube ihr aufs Wort. Würde ich nicht wissen, dass dies meine Erinnerung ist, die sie nur gestohlen hat, wär die Vorstellung echt oscarreif.

Beliar steht auf. Verdammt, hoffentlich bemerkt er meinen Zauber nicht, sonst braucht er nur den Kopf zu heben und sieht mich. Vorsichtshalber trete ich etwas beiseite, verstecke meinen Körper hinter der Steinfassade und spähe nur mit dem Kopf zum Fenster rein.

Beinahe gemächlich tritt er an sie heran. Hey, genießt er das etwa?

Nun steht er direkt hinter ihr und fragt: „Weißt du, wer ich bin?“ Sie ist so verängstigt, dass sie sogar vor seinen Worten zusammenzuckt.

„Ja, Herr. Ihr seid das Oberhaupt des Weißen Zirkels. Mein Körper wird Euch als Gefäß dienen, um starke Nachkommen hervorzubringen. Mit jeder Faser meines Körpers werde ich Euch zu Diensten sein. Jeden Wunsch, den ihr verspürt, versuche ich, Euch von den Augen abzulesen. Ich bin mir meinem Schicksal bewusst und werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Euch die Gefährtin zu sein, die Ihr wünscht, Herr.“ Kotz. Würg.

Mädchen, das ist echt unter deiner Würde. Du gibst ihm gerade einen Freibrief, damit er alles mit dir machen kann, was er will. Hast du denn kein Selbstbewusstsein?

Wohl eher nicht, denn sie zittert am ganzen Leib, als Beliar näherkommt. Sie scheint ihn zu fürchten. Zu meiner absoluten Verblüffung, greift er mit seiner Pranke nach ihrem Haar.

Die Geste verpasst mir einen solchen Stich ins Herz, dass ich keuche. Eifersucht brodelt in mir wie ein Vulkan, der jeden Moment auszubrechen droht und Tränen fluten meine Augen. Wie kann er sie nur so berühren, wie er mich berührt hat?

„Tiberius“, ruft Beliar. Der Gerufene taucht sogleich im Raum auf. „Bring sie in mein Gemach.“ Ich balle die Fäuste vor Zorn.

Mit aller Kraft halte ich mir den Mund zu, um nicht meine Aggressionen in die Welt hinauszubrüllen. Mein Herz bricht gerade entzwei. Ich gleite an der Fassade entlang und kauere mich auf dem Mauervorsprung zusammen.

Daraufhin höre ich Beliar nach dem Seher rufen. Ich versuche, nicht durchzudrehen, reiße mich zusammen, sehe erneut durchs Fenster und spitze die Ohren.

„Ist die Frau, die du mir gebracht hast, die Hexe aus deiner Vision oder ist es die Frau passend zu deiner Vision, mit der du mich täuschen willst. Wenn du mich belügst, stirbst du durch meine Hand“, raunt Beliar. Er hat Zweifel. Das ist ein gutes Zeichen.

Der Seher geht vor ihm auf die Knie. „Herr, bei meinem Leben. Das ist die wahre Ador-Hexe. Ihr wurdet getäuscht. Wer immer auch die Frau aus dem 21. Jahrhundert ist, sie ist nicht die, für die Ihr sie haltet.“ Was für ein hinterlistiger Schleimer.

„Wieso behauptet sie dann, die Ador-Hexe zu sein? Und dies recht glaubwürdig, würde ich meinen. Davon konntest du dich ja bereits bei deiner Prüfung überzeugen. Außerdem ist ihr Bruder derselben Überzeugung. Wie erklärst du dir das?“, wendet Beliar ein.

„Herr, ich glaube, Junus‘ Erinnerung wurde manipuliert“, mutmaßt Nadar.

„Erinnerungen vermag man zu manipulieren. Gefühle nicht. Junus liebt Hope. Ich spüre es selbst. Erkenne es an der Art, wie er sie ansieht. Die Liebe, die er als Bruder für sie empfindet, ist keineswegs gespielt“, meint Beliar.

„Das behaupte ich auch nicht, Herr. Ich bin der festen Überzeugung, die Liebe zu seiner Schwester ist aufrichtig. Man hat ihm nur die falschen Bilder ihres Körpers eingepflanzt. Wer immer es getan hat, will erreichen, dass Ihr Euch mit diesem Kuckuckskind vermehrt“, erklärt der Seher. Kuckuckskind? Vermehren? Der hat sie nicht mehr alle.

„Unmöglich. Hope ist aufrichtig. Sie lässt sich nicht wie eine Marionette behandeln. Selbst als Lord McConnor das von ihr, unter Androhung, ihren eigenen Bruder zu töten, verlangt hat, hat sie keine Sekunde in Erwägung gezogen, den Zirkel zu verraten. Sie hat mehr als einmal klargemacht, dass sie sich nicht für die Zwecke anderer missbrauchen lässt“, verteidigt mich Beliar. Danke, Mann.

„Das mag ja alles sein, aber bedenkt die Möglichkeit, dass sie ebenfalls gar nichts von ihrem Zweck weiß, Herr. Was, wenn man ihr, wie dem Ador-Hexer, eine falsche Erinnerung eingepflanzt hat. Man lässt sie durch die Manipulation ihrer Erinnerungen im Glauben, die Ador-Hexe zu sein. Sie weiß womöglich gar nicht, für welche Machenschaften sie die Marionette ist. Oder man hat es sie vergessen lassen. Das wäre doch die perfekte Tarnung für einen Plan, der weit größer ist, als man ihr zutrauen würde. Noch dazu bräuchte sie nicht einmal so zu tun, als sei sie eine andere Frau. Sie ist absolut davon überzeugt, weil sie es nicht besser weiß“, wirft der Seher ein.

„Was willst du damit andeuten?“, hakt Beliar nach.

„Herr, ich kann nicht länger schweigen. Mir ist nicht entgangen, dass Ihr eine gewisse Zuneigung für sie hegt, aber ich bin Euer Berater, also ist es meine Pflicht, auch unangenehme Botschaften zu überbringen. Als ich die Frau berührt habe, habe ich nichts gesehen. Absolut nichts“, informiert ihn Nadar.

„Was schließt du daraus?“, will Beliar wissen.

„Herr, ich sehe bei jeder meiner Berührungen etwas. Ich bin alle Möglichkeiten gedanklich durchgegangen und komme immer wieder zum selben Schluss. Sie muss eine schwarze Hexe sein.“ Hä?

Beliar schnaubt laut auf. „Bist du verrückt geworden? Immerhin sprechen wir hier von Hope. Ich kenne diese Frau, sie ist keine Besessene der dunklen Künste.“ Besessene? Dunkle Künste? Jetzt geht aber ihre Phantasie mit ihnen durch.

„Kennt Ihr sie wirklich, Herr? So gut, dass Ihr mit absoluter Sicherheit sagen könnt, sie sei keine schwarze Hexe? Vor allem, wenn man eins und eins zusammenzählt. Ihre Täuschungsmanöver gegen Euch. Verrückte Pläne. Manipulierte Erinnerungen. Die Tatsache, dass sie immun gegen Eure Zauber ist. Der Drache, der Rabe … beides dunkle Symbole“, zählt Nadar auf.

„Mich haben diese Symbole auch erwählt. Sie prangen an meiner Brust und machen mich nicht zu einem schwarzen Hexer“, erklärt Beliar forsch.

„Ja Herr, aber Eure Brust zieren noch viele andere, ausgleichende Symbole weißer Magie. Ihr Körper trägt keine balancierenden Zeichen. Die schwarzen Hexen tragen ausschließlich dunkle Symbole auf ihrem Körper“, informiert er ihn.

„Nein, das kann und will ich nicht glauben. Hope ist nicht böse. Sie hatte die Chance, Lord McConnor zu enthaupten. Der Mann, der ihre leiblichen Eltern verbrennen und ihre Zieheltern ermorden ließ. Sie hat es nicht getan. Hat ihn stattdessen in ihre Welt mitgenommen, damit er vor ein Gericht gestellt wird. Sag mir Nadar, welche schwarze Hexe würde keine Rache am Mörder ihresgleichen üben wollen?“, verlangt Beliar.

„Ich habe nicht gesagt, dass sie bereits durch und durch böse ist, Herr. Sagen wir einmal so, sie trägt ein Potenzial in sich. Ihre schwarzen Kräfte wurden nicht erweckt. Ihre weißen Kräfte schon. Sie ist sozusagen ein schwarzer Körper, der weiße Magie in sich trägt. Was überaus seltsam ist.“ Ich zeig dir gleich, wer hier seltsam ist, Quatschkopf.

„Überlegt doch Herr“, fährt er fort. „Sie ist außergewöhnlich stark. Sogar gegen Eure Zauber ist sie immun und Ihr seid der stärkste weiße Hexer. Es ist die falsche Magie im falschen Körper. Ich kenne keine schwarze Hexe, die mit weißer Magie geweckt wurde. Jetzt ist sie Euch bereits ebenbürtig. Kaum auszudenken, wenn sie schwarze Kräfte in sich tragen würde. Nun stellt Euch vor, Ihr nehmt sie zur Frau und derjenige, der die Fäden in der Hand hält, weckt ihre Kräfte. Sie könnte den Zirkel übernehmen oder Euch fremde Nachkommen unterjubeln. Ebenfalls Kuckuckskinder. Ich sage Euch, es ist der Angriff der Schwarzen Gilde. Jahrelang vorbereitet. Ein genialer Plan. Sie waren zur rechten Zeit, am rechten Ort. Genau in dem Moment, in dem die Ador angegriffen wurden, haben sie das Mädchen ausgetauscht – durch eine von ihnen. Im Hinterkopf habend, dass Ihr nach ihr suchen werdet. Bei dem Angriff wurde doch der Junge überwältigt. Man hat ihm das Mädchen vorher entrissen. In dieser Zeit könnte man seine Erinnerungen gestohlen und manipuliert haben. Man gab sie der falschen Ador-Hexe und ließ sie glauben, es wären ihre Kindheitserinnerungen. Dem Jungen hat man einfach nur das wahre Gesicht seiner Schwester genommen und stattdessen das Antlitz der schwarzen Hexe eingepflanzt. Darum liebt er sie auch, wie eine Schwester, weil es seine Erinnerungen sind. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Ihr die falsche Ador-Hexe finden würdet. Natürlich haben sie nicht irgendeine Hexe genommen. Nein, sie nahmen eine Schönheit, damit sie sicher sein konnten, dass Ihr ihr nicht widerstehen könnt.“ Was für eine abartig zusammengereimte Story.

„Wenn das wahr wäre, aus welchem Grund haben sie dann die richtige Ador-Hexe nicht umgebracht?“, hinterfragt Beliar die Worte des Sehers. Glaubt er den Scheiß etwa?

„Ich weiß es nicht, Herr.“

„Ich glaube das einfach nicht, Nadar.“ Beliar rauft sich die Haare.

„Glaubt es lieber, Herr. Es passt alles zusammen“, stößt der Seher rechthaberisch aus.

„Was, wenn die Hexe in meinem Gemach das Kuckuckskind ist?“, mutmaßt Beliar.

„Herr, Ihr habt doch den Arzt selbst verhört, der die wahre Ador-Hexe vom Säuglingsalter an behandelt hat. Wenn Ihr meinen Visionen schon keinen Glauben schenkt, dann ruft Euch seine Aussage in Erinnerung. Schwarze Augen, abstehende Ohren, die sichelförmige Narbe. Ihr habt sicher die Merkmale der Frau kontrolliert. Trägt sie sie?“, will Nadar wissen.

„Ja“, gibt Beliar zu.

„Meiner Einschätzung nach spricht mehr für die Hexe in Eurem Gemach als für die, die im 21. Jahrhundert lebt, Herr. Außerdem passen auch ihre Tätowierungen, einschließlich der bezeugten optischen Merkmale zu denen der Ador. Herr, ich habe die Wut in der Frau, die Ihr für die richtige Hexe haltet, förmlich auf meiner Haut gespürt. Wahrscheinlich wehrt sich ihr Körper bereits gegen die weiße Magie, die sie schon viel zu lange durchströmt. Ich sage Euch, sie wird bald zu einer Besessenen.“ Na dann warts mal ab, bis dir die „Besessene“ zeigt, was ein rechter Kinnhaken ist, du Pissnelke.

„Ich kann das nicht glauben. Ich …“ Beliar ist wohl sprachlos.

„Herr, es steht mir nicht zu, Euch Flausen in den Kopf zu setzen. Ich schlage also vor, Ihr prüft sie selbst, ob sie eine schwarze Hexe ist. Außerdem wird der Bluttest sowieso bald zeigen, ob Junus und die Hexe verwandt sind. Wenn dem nicht so ist, wisst Ihr es zumindest mit Sicherheit, dass schwarze Magie in ihr fließt und könnt die Pläne der Schwarzen Gilde durchkreuzen. Vielleicht nutzt Ihr die Frau auch gleich selbst, um sie gegen Eure Feinde einzusetzen“, schlägt der Quacksalber vor. Hey, was zum Teufel soll das?

„Es liegt mir fern, Hope vorschnell zu verurteilen. Genauso wenig bin ich gewillt, ihr Schmerz zuzufügen. Alle Tests, die mir bekannt sind, um schwarze Hexen zu entlarven, gehen mit Gewalt einher. Wie kann ich sie also testen, ohne sie zu verletzen?“ Er glaubt ihm, sonst würde er den Test nie in Betracht ziehen.

Nadar hat bereits erreicht, was er wollte. Er bringt uns auseinander. Mein Herz zieht sich bei dieser Erkenntnis gerade krampfhaft zusammen.

„Herr, ich fürchte, das wird sich nicht vermeiden lassen. Es gibt ‚sanftere‘ Methoden, die aber nicht ganz so effektiv sind. Da die Frau mit weißer Magie getränkt ist, könnt Ihr es nur an Zeichen ihrer äußeren Hülle erkennen. Eine schwarze Hexe wird bewusstlos, wenn sie das Blut einer weißen Hexe oder eines Hexers trinkt.“ Was? Wie abartig ist das denn?

„Ich soll ihr mein Blut einflößen?“, hinterfragt Beliar die Worte des Sehers verblüfft.

„Nur ein paar Tropfen. Mit Rotwein vermengt, wird sie es nicht bemerken.“ Gut zu wissen.

„Also gut“, bestätigt Beliar. Ich glaubs nicht.

Nadar fährt fort: „Sollte mit dieser Methode nicht der gewünschte Erfolg einhergehen, gibt es noch einen weiteren, etwas heikleren Test.“

„Inwiefern“, will Beliar wissen.

„Das ist das Blatt einer Efeuranke. Es muss in den Körper der schwarzen Hexe gelangen. Daraufhin wird sie das Gefühl haben, ihr Körper würde innerlich zerspringen.“ Nadar präsentiert ihm das Blatt. Das wird ja immer abenteuerlicher. Er hat sie echt nicht mehr alle. Wieso geht Beliar auf so etwas ein? Ich dachte, er vertraut mir endlich. Naja, da lag ich wohl falsch.

„Ich sagte, ich will ihr keine Schmerzen bereiten“, raunt Beliar.

„Es hält nur ein paar Minuten an“, beschwichtigt der Idiot. Wers glaubt.

„Also werde ich ihr das Blatt ins Essen mischen?“, fragt Beliar doch tatsächlich.

„Nein.“ Nein?

„Wie gelangt das Blatt dann in ihren Körper?“, nimmt mir Beliar die Frage, die ich gerade gedanklich stellen wollte, aus dem Mund.

Nadar zögert und Beliar zieht die Augenbrauen hoch. Daraufhin sagt der Seher: „Sie wird es nicht bemerken, wenn Ihr im Liebesspiel …“ „Nein“, unterbricht ihn Beliar forsch. „Du gehst zu weit, Nadar“, tadelt er ihn. Er will mir das Blatt im Liebesspiel unterjubeln? Geht’s eigentlich noch?

„Herr, es ist aber die einzige Möglichkeit, wenn Ihr ihr nicht eine Gliedmaße oder einen Zahn abtrennen wollt.“ Was? Einen Zahn?

„Gibt es noch weitere Tests?“, fordert Beliar ärgerlich.

„Ja. Eine schwarze Hexe hegt einen Gräuel gegen Lavendel. Das Kraut wirkt für sie äußerst übelriechend. Auf die Haut aufgetragen, wird es einen brennenden Schmerz verursachen. Hier, Herr. Ich habe eine Salbe mit den Extrakten bei mir. Ihr könnt sie auf ihren Körper auftragen und sehen, was passiert“, schlägt er vor. Das wird ja immer besser.

„Ich soll sie mit einer Salbe einreiben und sehen, ob dies ein Brennen ihrer Haut bewirkt?“, hakt Beliar nach.

„Wenn Ihr sie nicht fesseln und ins Wasser werfen wollt, um zu sehen, ob sie es überlebt, schon.“ Sehr witzig.

Nadar fährt hinterlistig fort: „Dabei ist es von äußerster Wichtigkeit, dass Ihr behutsam vorgeht, damit sie keinen Verdacht schöpft. Sollte sie die sein, die ich vermute, wird sie für unsere Zwecke unbrauchbar, sollte sie etwas von Eurem Zweifel, den Ihr über die Farbe ihrer Magie hegt, ahnen. Überlegt doch, Herr. Ihr habt dann zwei Frauen, die Euch zu Diensten sind. Die eine sorgt für starke Nachkommen und die andere horcht die Schwarze Gilde für Euch aus. Das würde Eure Position stärken. Ihr könntet Eure Macht ins Unermessliche steigern.“ Das ist ja ein teuflischer Plan.

„Lass mich allein“, befiehlt Beliar. Ich zittere am ganzen Leib vor Wut. Er zieht das echt durch. Eins ist klar – ohne mich.

Mit übermenschlicher Kraft unterdrücke ich die Tränen auf dem gesamten Weg zurück zum Steinkreis.

Wenn ich jetzt nachgebe, dann kommt der Zusammenbruch. Mein Herz schmerzt förmlich in meiner Brust.

Immer wieder muss ich die Fäuste ballen, um mich dazu zu zwingen, stark zu bleiben. Nein, du heulst jetzt nicht um Beliar, sage ich mir die ganze Zeit über.

Wenn er mich lieben würde, würde er niemals glauben, was ihm dieser Trottel einreden will. Nun weiß ich es hundertprozentig, habe die Antwort schwarz auf weiß, nach der ich verlangt habe: Natürlich will er mich nur wegen dieser Ador-Geschichte. Ich bin ihm scheißegal.

Wenn er zurückkommt, wird er mich prüfen. Bin ich es nicht, zieht er die Frau aus dem Hut, die bereits in seinem Gemach auf ihn wartet. Und schwuppdiwupp, Hope ist vergessen – in die Tonne gekloppt. Der Gedanke, dass er schon eine andere Frau in seinem Bett hat, mit der er mich einfach so ersetzen wird, macht mich grad echt rasend.

Dieser Nadar hat ihm ja eine schöne Story aufgetischt. Ich meine, Halloooo, ich bin doch keine schwarze Hexe, die besessen ist. Hoffentlich.

Zugegebenermaßen, so wie der Seher das darstellt, hatte er schon einige Argumente auf Lager, die dafür sprechen.

Das mit meinen Tattoos, zum Beispiel, ist echt merkwürdig. Junus und Galahad haben auf meine Symbole auch so komisch reagiert.

Meine Immunität gegen die Zauber von Beliar spricht auch dafür. Aber ich bin doch nicht Frankensteins Monster, oder?

Toll, jetzt schafft der Quacksalber es sogar, mich selbst zu verunsichern.

Ach, das ist doch Blödsinn. Ich weiß, dass Junus mein Bruder ist. Solch eine Erinnerung kann mir doch niemand einfach so einpflanzen. Das ist meine Kindheit, verdammt nochmal. Wer ist schon imstande, einen ganzen Lebensabschnitt zu fälschen.

Die böse Stimme in meinem Kopf meldet sich gerade zu Wort: „Was, wenn der DNS-Test negativ ist. Was, wenn du tatsächlich eine Marionette bist, die an Fäden taumelt?“

Energisch schüttle ich den Kopf. Ich sage, dieser Nadar will selbst die Macht des Zirkels für sich und setzt alles in Bewegung, um zu verhindern, dass Beliar starke Nachkommen hervorbringt. Und ich werde das auch beweisen.

Ich hab keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen soll, aber ich krieg das schon irgendwie hin. Auf jeden Fall brauch ich jetzt erst mal einen klaren Kopf und einen meiner Pläne.

Rot

Zu Hause angekommen, reiße ich die Nachricht, die ich meinem Bruder bezüglich meines Aufenthaltsortes hinterlassen habe, vom Kühlschrank und lasse sie in meiner Hand in Flammen aufgehen. Junus braucht nicht zu erfahren, wo ich war.

Beliar könnte Verdacht schöpfen. Wenn rauskommt, dass ich von seinen Plänen weiß, hab ich ein Problem.

Ich bin so fuchsteufelswild, die kalte Dusche, die ich mir soeben verpasse, vermag kaum, mich abzukühlen.

Ja okay – ich gebs zu. Ein paar Tränen habe ich vergossen. Aber Weinen unter der Dusche hat den Vorteil, dass man hinterher nicht voll verheult aussieht. Zumindest fällt es weniger auf, weil man ja sowieso überall runzlig wird.

Der Spiegel enttarnt dann abermals den blanken Horror. Erneut springen mir ein paar weiße Haare förmlich entgegen. Ich fass es nicht, ich bin sechzehn, verdammt nochmal. Das ist wieder mal so typisch für mich. Alle anderen bekommen zumindest zuerst graue Haare, bevor sie weiß werden und das auch erst Jahre später. Nur ich nicht. Nein, ich überspringe mal so mir nichts, dir nichts eine ganze Generation und mutiere gleich zu einer Omi.

Wütend reiße ich mir drei von diesen Dingern aus. Sag nicht, ich muss schon Haare färben. Ich dachte, ich hätte noch ein paar Jahrzehnte, bevor das so weit ist.

Wahrscheinlich hat der Stress der letzten Monate bereits Spuren hinterlassen, was meinen Alterungsprozess beschleunigt hat. Eins ist klar, wenn ich jetzt die ersten Falten kriege, dreh ich durch.

Mann, jetzt bin ich echt deprimiert. Ja und vielleicht suche ich gerade nach Falten unter meinen Augen. Die blöde Hexe, die ihm Nadar untergeschoben hat, weist sicher keinen einzigen Makel auf – an ihr sehen selbst die abstehenden Ohren gut aus.

War ja klar, dass Beliar gleich auf dieses Trojanische Pferd aufspringt. Objektiv betrachtet ist sie seine Traumfrau. Die unterwürfige Dienerin, die ihm alle Wünsche von den Augen abliest. Nicht die zickige Neuzeithexe, die einen auf emanzipiert macht und schon mal aus Prinzip nicht das tut, was er von ihr verlangt.

Da ich aber absolut nicht vorhabe, mich in dieser Hinsicht in irgendeiner Art und Weise zu verstellen, würd ich eher einen Besen fressen, als seinem vermeintlichen Ideal zu entsprechen. Entweder er nimmt mich so, wie ich bin oder … Ich merke gerade, wie überaus unwahrscheinlich es ist, dass er sich für mich entscheidet, sollte ich nicht die sein, die ich bin. Nachdem ich ja kaum etwas zu bieten habe, außer meinem Namen. Was bleibt dann noch von mir, frage ich mich die ganze Zeit über?

Okay, dieser Quacksalber schafft es sogar schon, dass ich selbst an meiner Identität zweifle. Mann, ist das ein heilloses Durcheinander.

Gut, dass Beliar erst in ein paar Tagen zurückkommt. Ich will nämlich noch ein bisschen runterkommen, bevor er versucht, mich zu hintergehen. Zum Schluss kann ich mich nicht zurückhalten und die „Besessene“, für die er mich hält, bricht durch. Oder die Heulboje, kommt drauf an, wie weit mich bis dahin schon die Midlife-Crisis im Griff hat.

Warte mal. Hör jetzt sofort auf damit, in Selbstmitleid zu zerfließen, ermahne ich mich. Der Seher hat recht. Ich bin eine Frau aus dem 21. Jahrhundert. Auch ohne Männer sind wir überlebensfähig. Ich bin Hope Dewitt beau Ador verdammte Scheiße nochmal – und das zeige ich jetzt auch.

Schnell krame ich in meinem Schrank nach meinen Hotpants und dem bauchfreien Shirt. Ich brauch jetzt einen Schuss Neuzeit, bevor ich durchdrehe.

Zurück im Wohnzimmer lasse ich mit einer Handbewegung die Couch inklusive Tisch verschwinden, damit ich Platz habe und drehe MTV auf Anschlag auf.