Der Sandmann kann mich mal - Marie Lu Pera - E-Book

Der Sandmann kann mich mal E-Book

Marie Lu Pera

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Beschreibung

Selbstbewusste Lebenskünstlerin, die ihr Herz auf der Zunge trägt, trifft auf personifizierten Egozentriker. Und beide haben sie, was der jeweils andere braucht. Die Frage ist, wie arrangieren sich zwei Menschen, die das Schicksal zwar zusammengeführt, aber die unterschiedlicher nicht sein könnten? Ruby – fünfundzwanzig – Lebenskünstlerin, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Der notorische Pleitegeier hat die Supermarktkasse ein für alle Mal satt. Eins ist klar, ein anderer Job muss her. Wie durch einen Wink des Schicksals, ergattert sie eine Stelle als Assistentin in einer Kanzlei. Der Haken an der Sache: Ihr Boss geht dem Quacksalber-Gewerbe nach. Als so eine Art Wunderheiler soll sie ihm bei seinen Hausbesuchen zur Hand gehen und die Kanzlei in seiner Abwesenheit schmeißen. Zu dumm nur, dass sie absolut nichts mit Wünschelruten-Scharlatanen aller Art am Hut hat. Für sie ist das Geld-aus-der-Tasche-Ziehen, aber solange die Kohle in Form von Gehalt in ihre Brieftasche fließt, soll es ihr recht sein. Ruby entpuppt sich – zumindest wenn es nach ihrem Boss geht – als relativ ungeeignet für den Job, aber bis geeigneter Ersatz für sie gefunden ist, müssen sich die beiden wohl oder übel arrangieren. Denn ihr Boss hat ziemlich genaue Vorstellungen von seiner Assistentin, die kaum jemand erfüllt, aber mangels Alternativen ist er auf sie angewiesen so wie sie auf seine kleinen, grünen Scheinchen. Was tut man nicht alles für einen unterdurchschnittlich bezahlten Job, bei dem man überdurchschnittlich oft mit seinem Boss aneinandergerät, dass die Funken fliegen. Sie hält ihn für einen nymphomanischen Egozentriker. Für ihn ist Ruby eine Prinzessin auf der Erbse mit Menstruationshintergrund, die um keinen spitzen Kommentar verlegen ist. Doch was Ruby verschwiegen hat: Es gibt einen Grund, warum sie sich in keinem Job lange hält. Eine mysteriöse Krankheit, die sie vor aller Welt zu verbergen versucht, sucht sie heim. Natürlich kommt schon bald alles ans Licht.

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Seitenzahl: 517

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Marie Lu Pera

Der Sandmann kann mich mal

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

12 Monate, 10 Stunden, 2 Minuten

12 Monate, 1 Tag, 2 Stunden

12 Monate, 1 Tag, 14 Stunden

12 Monate, 2 Tage, 18 Stunden

12 Monate, 8 Tage, 16 Stunden

12 Monate, 9 Tage, 4 Stunden

12 Monate, 13 Tage, 14 Stunden

12 Monate, 17 Tage, 6 Stunden

12 Monate, 23 Tage, 14 Stunden

12 Monate, 25 Tage, 3 Stunden

12 Monate, 28 Tage, 13 Stunden

12 Monate, 29 Tage, 17 Stunden

13 Monate

13 Monate, 5 Stunden, 4 Minuten

13 Monate, 5 Stunden, 14 Minuten

13 Monate, 8 Stunden, 6 Minuten

13 Monate, keine Ahnung, wie viele Stunden vergangen sind

Hab jegliches Zeitgefühl verloren

Die Zeitrechnung hab ich nie geschnallt

Ich sollte aufhören zu zählen

Impressum neobooks

12 Monate, 10 Stunden, 2 Minuten

„Siebenundsiebzig Dollar und dreißig Cent“, legt der pummelige Bankbeamte mit der Pünktchen-Krawatte mein „Vermögen“ offen.

„Das kann nicht stimmen“, pruste ich.

„Nein, warten Sie“, wendet er ein. „Tatsächlich, ich habe mich in der Zeile geirrt. Es sind nur siebzig Dollar und dreißig Cent, nach Spesen und Bearbeitungsgebühren.“

„Ja, das klingt schon eher nach mir“, spotte ich.

Er fand das weniger komisch, rückt sich die Brille zurecht, räuspert sich und notiert etwas, das ich nicht erkennen kann.

„Haben Sie denn noch andere Besitztümer, die den Wert Ihres Kontostandes übersteigen?“, hakt er nach.

„Definieren Sie ‚Besitztümer‘“, fordere ich.

„Immobilien, Oldtimer, Goldbarren“, zählt er genervt auf.

„Oh, ich würd ja sagen, ich hab ein Haus, ein Äffchen und ein Pferd, aber Sie sind es ja gewohnt, angelogen zu werden, also bleiben wir doch bei der Ironie.

Nun zu meiner ultimativen Geschäftsidee. Halten Sie sich fest. Ich bin dafür, dass Alkohol nur noch mit Kindersicherungsverschlüssen verkauft wird. Wer zu besoffen ist, kriegt die Flasche nicht auf. Ich warte nur noch auf den Nobelpreis, dann starte ich voll durch.“ Hey, das war ein Scherz. Brauchst gar nicht so böse zu kucken.

„Haben Sie einen Job oder so etwas in der Art?“, deckt er gleich zu Beginn des Verhörs meinen Schwachpunkt auf.

„Oder so etwas in der Art“, antworte ich.

Der Beamte räuspert sich erneut. „Wir sind also zurzeit beschäftigungslos“, schlussfolgert er.

„Jetzt gehen Sie aber hart mit sich ins Gericht“, bemerke ich.

Bevor er an die Decke gehen kann, wende ich ein: „Oh, ich bin vielbeschäftigt. Ich versuche, mich ausgiebig der Betreuung eines Zengartens hinzugeben und hab ’ne Garnelenzucht. Ja, ich weiß, ist viel Verantwortung, aber ich mach mir deswegen keinen Stress.“

„Miss Brown, ich bezweifle, dass Sie überhaupt imstande sind, die Hypothek zu tilgen, die bereits auf Ihren Namen läuft, geschweige denn dazu kommen, noch in diesem Leben einen weiteren Kredit abzustottern.“

„Dann freu ich mich jetzt schon drauf, Sie in sechzig Jahren überraschen zu können“, kommt es über meine Lippen, bevor ich es aufhalten kann.

Wir bewegen uns wohl in Sachen Humor auf verschiedenen Bewusstseinsebenen, was mir sein Gesichtsausdruck verrät, der eher in Richtung Bis-zur-Schmerzgrenze-gekünsteltes-Lächeln geht.

Dabei lässt er seinen Blick ziemlich offensichtlich über meine Klamotten gleiten. Wohl undercover für die Fashionpolizei unterwegs. Gut, der Fummel ist von der Stange, aber da sehen wir doch mal großzügig darüber hinweg.

„Die Antwort lautet nein, Miss Brown“, stellt er resümierend fest.

„Auf dem Schild vor der Tür steht: ‚Sie haben den Traum – wir machens möglich‘“, argumentiere ich.

„Im Kleingedruckten steht: ‚Bei ausreichenden Sicherheiten der Schuldner‘“, klärt er mich auf.

„Das heißt also, da sollte eigentlich stehen: ‚Sie haben den Traum – wir haben jederzeit die Macht, ihn platzen zu lassen – je nachdem wies um Ihre Besitztümer steht‘.“

„Ich kann Ihnen gerne eine Ansprechperson in der Marketingabteilung nennen, bei der Sie sich beschweren können“, stellt er emotionslos fest.

„Leihen die mir Geld?“, will ich wissen.

„Nein.“

„Wobei wir wieder am Anfang stehen“, fasse ich dieses zermürbende Gespräch zusammen.

„Vielleicht probieren Sie es bei einem anderen Bankinstitut“, versucht er mich abzuwimmeln.

„Ich dachte, Sie wären mein persönlicher Finanzberater und das ‚in allen Lebenslagen‘ – steht zumindest auf Ihrer Visitenkarte. Gibt’s da auch Kleingedrucktes?“, hinterfrage ich seine Worte.

„Natürlich nicht. Ich empfehle Ihnen, keinen weiteren Kredit mehr aufzunehmen.“

„Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“, pruste ich.

„Auf der Seite derjenigen, die das Kleingedruckte erfüllen.“

Meinen theatralischen Kommentar: „Das sagen Sie mir jetzt – nach all den Jahren“, hat er mir übel genommen und mich danach rausgeschmissen.

Ich glaube, ich hab grad Geschichte geschrieben. Als erster Mensch, der ohne Kuli aus einer Bank rauskommt.

So viel zum Plan, mein notorisches Pleite-Dasein zu beenden.

Ich atme erst mal tief durch, als ich die Tür zu meiner WG aufschließe und mir erschöpft über den Nacken reibe.

Linda, meine Mitbewohnerin, Marke ziemlich ausgeflippte Hippie-Braut, fängt mich bereits im Flur ab und mustert mich angestrengt am Türrahmen lehnend.

Sie pflegt den alternativen Lebensstil, zumindest wenn man von den Öko-Tretern auf ihre Persönlichkeit schließen kann.

Ihre blonde Naturwelle hat sie aber in einem strengen Dutt gebändigt, aus dem immer mal wieder widerspenstige Strähnen Ausbruchsversuche unternehmen, die sie mit vehementen Vergeltungsschlägen – unter Zuhilfenahme von ’ner Ladung Haarspray – im Keim erstickt, was ihr Naturell eines chilligen Kontrollfreaks unterstreicht.

Ihre kompostierbaren Bio-Klamotten, die je nach Lage in der Waschmaschine von ihrer Passform in trockenem Zustand abweichen können, gehören zu den wenigen Dingen, die sie nicht im Griff hat.

Irgendwie ist sie ein Typ der krassen Gegensätze. Streichelzart wie ein Kätzchen, aber ’ne Klappe wie ein ausgewachsener Brüllaffe.

„Bist du vor den Weight Watchers geflüchtet oder den Bullen, weil du so aus der Puste bist? Wenn es Ersteres ist, gib mir ’ne Minute, damit ich unsere Waage im Klo versenken kann“, erklärt sie – charmant, wie sie ist.

Ihr „Apropos, wie wars auf der Bank?“ lässt wieder gruslige Erinnerungen in mir hochkommen, bevor ich meine Tasche neben die Garderobe knalle, ins Wohnzimmer stapfe und mich auf die Couch fallenlasse.

„Ich hatte schon bessere Gespräche – mit ’ner Kaktusse.“

„Das heißt Kakteen“, korrigiert sie mich und lässt sich neben mir nieder.

„Ich meinte dich“, stelle ich klar.

„Falls du Zerstreuung suchst, unsere Hanf-Plantage sieht aus, als ob sie einen Tropfen vertragen könnte“, richtet sie mein Augenmerk auf die Zimmerpflanzen, die schon knusprig wachsen.

„Quatsch, die simulieren nur.“

„Dann gönn ich mir einen edlen Tropfen“, erklärt sie und benetzt ihre Kontaktlinsen mit einem dieser Plastikfläschchen, wobei ich mir immer noch nicht sicher bin, ob da nicht was Hochprozentiges drin ist.

„Er hat mich beschäftigungslos beschimpft und dann mit mir Schluss gemacht. Das muss man sich mal vorstellen“, bringe ich sie auf den neuesten Stand der Realität, die mir wieder mal ins Leben pfuscht.

„Und ich denk noch: ‚Das muss Liebe sein‘, so wie er dich auf dem Prospekt angesehen hat“, spottet sie. „Dazu dein verträumter Gesichtsausdruck mit diesem Hauch: ‚Dich knack ich auch noch‘. Herrlich“, kommt sie aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus.

„Ich beginne, eine innere Abneigung gegen Marketing in jeglicher Form zu entwickeln.“

„Und ich sag noch, zieh die Lederstiefeletten an und hol ihn aus seiner Finanzblase“, wendet sie ein.

„Sieht so aus, als wär ich jetzt wieder zu haben – kreditinstitutstechnisch gesehen“, verlautbare ich.

„Naja, passt dann wenigstens zu deinem Beziehungsstatus. Hättest du Freunde, würd sich sogar ein Facebook-Eintrag lohnen“, erwidert sie schulterzuckend.

Hab ich schon erwähnt, dass Linda so eine Gabe hat, dich mit der schonungslosen Realität immer weiter runterzuziehen. Krankerweise hab ich die verrückte Schmonzette trotzdem liebgewonnen, was mich wohl zu einem Sadisten macht.

„Und was hast du jetzt vor?“, wühlt sie weiter in meinem Kram rum.

„Scheiße, keine Ahnung. Ich dachte, ich komm bei Elitepartner rein, aber die nehmen da nur Singles mit Niveau.“

„Wegen dem Geld, mein ich“, stellt sie klar.

„Erkennst du denn die direkte Abhängigkeit nicht?“, stoße ich mürrisch aus.

„Du brauchst keinen Mann, um unglücklich zu sein. Das kriegst du auch so hin.“

„Ich weiß auch nicht. Wenn ich gewusst hätte, wie sich das Leben später entwickelt, wär ich im Sandkasten sitzen geblieben. Naja, vielleicht mach ich ein freiwilliges asoziales Jahr oder kauf mir doch ’nen Krabbenkutter und steig bei Greenpeace als Walattrappe ein.“

„Egal was du vorhast, ich steh neben mir. Obwohl, du und ein Deck schrubben, neeeee. Erzähl. Wie wars im Krankenhaus?“, will sie wissen und schafft es erneut, meine Stimmung, die bereits auf dem Tiefpunkt angelangt war, zu senken.

Das hatte ich schon fast vergessen. Da war ich, bevor ich zur Bank bin. Heute ist nämlich Tag der beschissenen Termine. Muss ja schließlich auch mal sein.

„Parkinson ist es nicht“, antworte ich.

„Das ist doch gut, oder?“, mutmaßt sie.

„Naja, ich dachte auch immer, Humor wär etwas Gutartiges“, antworte ich schulterzuckend. „Zumindest bis ich dich getroffen habe.“

„Was ist ihre nächste Vermutung?“, will Linda wissen.

„Creutzfeldt-Jakob.“

„Was ist das?“, hakt sie nach.

„Keine Ahnung, aber er geht mir jetzt schon auf den Sack.“

„Wie stellt man das fest?“

„Gar nicht, ich bin raus“, verkünde ich niedergeschlagen.

„Wie meinst du das, du bist raus?“, hinterfragt sie meine Worte.

„Das ist eine Metapher aus dem Glücksspieljargon. Man benutzt sie kurz bevor man die Karten auf den Tisch feuert, um auf das Scheitern eines Bluffs hinzuweisen oder in meinem Fall: Du kennst doch diese kleinen, grünen Scheinchen mit den toten Präsidenten drauf, die man einwerfen muss, damit Untersuchungen rauskommen. Krebs, Gehirntumor, Multiple Sklerose, Demenz und Parkinson haben meinen Geldspeicher ganz schön geleert.

Was soll ich sagen, nachdem Dagobert Duck, der Penner, alles bei Mister Green verzockt hat, geht Creutzfeldt-Jakob leer aus.“

„Aber“, will Linda schon protestieren, da unterbreche ich sie mit den Worten: „Hör zu, Linda. In den letzten zwei Jahren hab ich praktisch im Krankenhaus gewohnt. Die haben mir Körperflüssigkeiten abgezapft, von deren Existenz ich nicht mal wusste. Die kriegens einfach nicht raus, was mir fehlt. Vielleicht muss ich mich endlich damit abfinden, dass ich …“ „Wage es nicht, das laut auszusprechen“, herrscht sie mich an. „Du wirst doch nicht so kurz vorm Ziel aufgeben. Naja, du hast doch jetzt diesen neuen Arzt. Wie hieß der noch mal?“

„Nein, der ist auch schon abgesprungen. Doktor Turner hat letzten Monat das Stethoskop geworfen und jetzt haben sie mir so einen jungen Musterschüler-Universitätsabgänger untergejubelt, der mich schon stresst, da hat er noch nicht mal das Zimmer betreten.

Kennst du das, wenn man einen Hund mit dem Wort ‚Spazieren‘ anlockt und dann nicht mit ihm rausgeht? Das ist er.“

„Vielleicht ist er Scheidungskind, dann darf er das“, mutmaßt Linda.

„Wo ist eigentlich Doktor House, wenn man ihn braucht? Vielleicht hat der ja eine Idee. Ob der bloß twittert?“

Linda seufzt laut auf. „Ich weiß genau, was du jetzt brauchst.“

„Mach keinen Scheiß, Linda. Sei ehrlich, wie gut kennst du mich mittlerweile?“

„Sagen wir mal so, ich würde von einem obszönen Anruf von dir nicht empört sein. Aber genug der sexuellen Gefälligkeiten. Hör zu Ruby, dreh jetzt nicht durch, aber ich hab da kürzlich so eine Zeitungsannonce gesehen und vielleicht hab ich dort angerufen.“

„Oh, oh. Ich ahne Schlimmes“, raune ich.

„Jetzt lass mich doch erst mal ausreden. Das ist so ein Typ, der dir die Hand auflegt – ein Wunderheiler sozusagen – aber für Paranormales.“ Meine Fresse. „Da stand, er hat schon hunderten Opfern geholfen, bei denen die Schulmedizin versagt hat. Das ist doch als hätten die dir aus der Seele gesprochen.“ Das nennt man Marketing. Ich hasse Marketing.

„Stand da auch, ob die nachher noch alle Organe hatten?“, will ich wissen.

„Jetzt geh doch nicht immer vom Schlimmsten aus“, wirft sie mir vor.

Ich schüttle genervt den Kopf. „Das sind Quacksalber, die dir das Geld aus der Socke ziehen. Glaub doch nicht immer alles, was in der Zeitung steht“, raune ich. „Das ist ein Rückfall, oder? Ich dachte, du hättest die Zeitungsannoncen-Obsession bereits überwunden. Darf ich dich in diesem Zusammenhang an meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag erinnern.“

„Jetzt wirfst du mir das immer noch vor – nach all den Jahren“, prustet sie entrüstet.

„Das war letztes Jahr“, informiere ich sie.

„Der Tippfehler in der Einladung an meine Freunde – du hast ja keine eigenen – war ein Versehen. Wie oft soll ich dich noch anlügen?“

„Da stand: ‚Es wird Tote geben‘“, mache ich sie aufmerksam.

„Dafür waren doch jede Menge Leute da“, redet sie sich raus.

„Eigentlich ist nur der Stripper gekommen, den du aus ’ner Annonce hattest.“

„Okay, ich gebe zu, der war ein Griff ins Klo“, gesteht Linda.

„Der war achtzig. Wir haben ihn bezahlt, damit er die Klamotten anbehält“, rufe ich ihr die Szenen ins Gedächtnis, die mich heute noch schweißgebadet aufwachen lassen.

„Der hatte aber gute Tipps. Sex ist gesund und verlängert das Leben – zum Beispiel.“

„Schon, aber du musstest ja unbedingt: ‚Dann komm und mach mich unsterblich‘ brüllen.“

„Hey, aber die Wahrsagerin war doch ganz unterhaltsam.“

„Du meinst die, die unseren Fernseher mitgehen hat lassen und von mir verlangt hat, ich solle ihr meinen Astralkörper zeigen. Ich weiß immer noch nicht, ob sie mich bloß anmachen oder in meiner Aura rumstochern wollte.“

„Naja, überall gibt’s ‘ne Dunkelziffer. Aber die Annonce ist seriös – das hab ich im Uterus.“ Igitt. „Da stand, man bezahlt nur bei erfolgreicher Heilung. Ja, umarmen und küssen kannst du mich später, aber fass bloß nicht meine Haare an. Beeil dich lieber, sonst kommst du noch zu spät zu dem Termin.“

Ich raufe mir die kurzen, braunen Locken. „Ich hab schon einen Termin? Sag mir, dass das nicht wahr ist“, taste ich an.

„Das war so ein Zufall. Heute ist jemand ausgefallen und der Typ konnte dich dazwischenschieben. Normalerweise muss man töten, um bei ihm so schnell einen Termin zu bekommen. Wenn das kein Wink des Schicksals ist, weiß ich auch nicht mehr“, erklärt sie freudestrahlend. Und das Schlimmste ist, sie glaubt den Scheiß auch noch.

Was für ein „Zufall“. Ich fass es nicht, dass sie auf die älteste Masche der Welt reinfällt. „Um vier Uhr bei Starbucks an der Sechzigsten“, ergänzt sie.

„Bei Starbucks?“, krächze ich.

„Ja, das war meine Idee. Dort ist um die Zeit immer der Teufel los, also bist du sicher, falls er sich doch als Grapscher, Serienkiller oder einer meiner zahlreichen Exfreunde, die mich durch dich zurückgewinnen wollen, herausstellen sollte.

Außerdem könnt ihr gleich einen Kaffee trinken, falls er süß ist oder Dagobert Duck. Siehst du, ich hab an alles gedacht.“

Wieso keimt in mir das Bedürfnis auf, ein vollkommen überzeichnetes „Hhhhh“ auszustoßen? „Ich geh da nicht hin, da kannst du dich auf den Kopf stellen“, verlautbare ich fuchsteufelswild.

„Oh doch, das wirst du. Du hast selbst gesagt, die kriegen nicht raus, was dir fehlt. Das waren deine Worte.“

„Seit wann hörst du zu?“, motze ich.

„Gib doch den Quacksalbern auch mal eine Chance. Was hast du zu verlieren?“

„Weiß nicht? Selbstbeherrschung, überlebenswichtige Teile meines Körpers, meine psychische Unversehrtheit“, zähle ich auf.

„Deine Jungfräulichkeit“, ergänzt sie. „Ich werde für dich beten.“ Ich könnt grad aus der Haut fahren – okay, blöder Spruch.

„Ich kann mir ja deine leihen. Oh, warte – futsch“, verlautbare ich mürrisch, da setzt sie diesen Blick auf, den ich nur allzu gut kenne. Es ist dieses „Boah, diskutier nicht! Mach?!“-Gesicht, das mich zu den Worten: „Du wirst nicht lockerlassen, oder?“ treibt.

Ich fasse es nicht, dass sie mich, unter Androhung diverser Gräueltaten, die eine Einschaltung in einer einschlägigen Single-Börse für schwer Vermittelbare beinhaltet, dazu genötigt hat, mich mit diesem Dilettanten zu treffen.

Ist ja nicht so, dass ich mir nicht gerade wie eine vollkommene Bekloppte vorkomme, hier mit einer quietschgelben Plastiktüte mit der Aufschrift: „Rettet den Planeten, bevor er sich selbst rettet“ rumzusitzen, mit der mich der Typ erkennen soll.

„Das war meine Idee“, ahme ich die Stimme meiner Mitbewohnerin in meinen Gedanken nach.

Ich meine, Halloooooo, wer druckt denn so einen Spruch auf Plastik? Ist ja auch egal. Ich bin erst alarmiert, wenn sie Tiere in Paaren auf Schiffe laden.

Erinnere mich daran, das Zeitungsabo zu kündigen. Menschen wie Linda sollte der Zugang zu Printmedien verwehrt werden.

Das Internetkabel kappe ich auch sicherheitshalber – man weiß ja nie. Womöglich hat sie für mich schon eine Haustier-Homepage angelegt, von der ich bis jetzt nichts wusste. Und bei meinem Glück hab ich da schon jemanden kennengelernt.

Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass er schon eine Minute zu spät dran ist, was mich von meinem Platz förmlich aufspringen lässt. Tja, so ein Pech aber auch.

Ich bin froh, aus dem Laden raus zu sein. Das sind definitiv zu viele, auf engstem Raum eingepferchte, hyperaktiv lechzende Koffeinjunkies.

Naja, ich hab zwar nichts konsumiert, aber Starbucks ist jetzt um eine quietschgelbe Plastiktüte, die die Welt retten wird, reicher.

Ein „Verzeihung“, das jemand hinter mir gerufen hat, stoppt mich bei dem Versuch, mich vor dem Termin, der mir jetzt schon peinlich ist, zu drücken.

Dass der Plan wohl gescheitert ist, verrät mir der Typ, den ich auf Ende vierzig schätze, der mir gänzlich unbekannt ist und bereits in freudiger Erwartung, mich zu quacksalben, auf mich zukommt. Erinnere mich daran, Linda zu lynchen.

Er hat leicht ergrautes Haar, einen farblich dazu passenden Vollbart und diese George-Clooney-Fresse, die ich so sehr verabscheue.

Die Tatsache, dass er gerade ein „Wir hatten telefoniert“ ausgestoßen hat, erhärtet den Verdacht noch, dass es sich bei dem Kerl, der augenscheinlich ein Geistlicher ist, da er einen schwarzen Anzug mit diesem weißen Kragen-Dings trägt, um meinen paranormalen Quacksalber handelt.

Ich klammere mich noch an den Gedanken, es könnte sich doch um einen von Lindas Exfreunden handeln, der nach ihr die Schnauze gewaltig voll hatte, tue das aber als letzten Akt der Verzweiflung ab.

Kleiner Nachtrag: Erinnere mich daran, Linda zu verkloppen, bevor ich sie lynche, weil sie mich an einen Pater vermittelt und sich scheinbar als ich selbst ausgegeben hat.

Womöglich kennt er bereits unsere Adresse, ist ein Soziopath, der vorher im Kostümverleih war und schon geistig die Schlachtmesser wetzt. Okay, ich sollte mir nicht so viele Horrorstreifen reinziehen – das schlägt aufs Gemüt.

Meine Fresse, in was hat mich Linda da nur reingeritten? Und das Beste ist, er sieht total nett aus, so wie er mich hier offenherzig anlächelt, als könnte ich ihm alles anvertrauen. Er hat sogar Rehaugen, die einen zum verträumten Seufzen animieren. Das volle Programm also.

Er streckt mir die Hand hin und stellt sich als „Pater Andrew“ vor.

„Ruby“, rutscht mir mein echter Vorname raus.

„Schön Sie kennenzulernen, Ruby.“ Das Wort „Vertrauenserweckend“ trifft voll und ganz auf ihn zu.

Ich habe sofort das Gefühl, mich in seiner Gegenwart sündiger Gedanken schuldig gemacht zu haben. Vielleicht schwatzt er mir ja gleich ’ne Beichte auf – oder das Pfarrblatt-Abo. Solche Leute sind mir echt nicht geheuer.

Sicherheitshalber sehe ich davon ab, ihm die Hand zu schütteln. Nur für den Fall, dass er gleich eine Spritze zückt, um mich außer Gefecht zu setzen, damit ich heut Abend bei seiner schwarzen Messe die Hauptrolle spiele, bevor er sich meine Milz unter den Nagel reißt. Okay, ich sollte das abartige Kopfkino mal abstellen.

Das muss ich einfach nachprüfen. „Ziehen Sie Ihr Jackett aus“, verlange ich. Erst jetzt merke ich, wie abartig das geklungen hat.

Er runzelt die Stirn und erwidert: „Wie bitte?“ Dabei lächelt er irritiert. Er glaubt wohl, er hat sich verhört.

„Machen Sie schon oder haben sie was zu verbergen?“, stresse ich ihn. Okay, auch das hat jetzt irgendwie komisch geklungen.

Ihm ist das absolut nicht geheuer. Das Unbehagen steht ihm ins Gesicht geschrieben, aber er knöpft sich in nächsten Augenblick die Jacke auf und streift sie sich über die Schultern.

In dem Moment trete ich an ihn heran, umrunde ihn und klappe seinen Hemdkragen zurück. Flink kralle ich mir das Teil und prüfe die Innenseite des Saums und den Kragen.

Er räuspert sich lautstark und dreht sich ertappt um, als ich ihn nach Waffen abtaste. Ich hab ihn jetzt nicht wirklich angegrapscht. So viel zum sündigen Verhalten.

Ich rücke sein Jackett zurecht, klopfe ihm auf die Schulter und komme zu dem Schluss: „Sie sind sauber.“ Auch das könnte man durchaus anders auslegen – seinem Gesichtsausdruck zufolge.

„Jetzt sehen Sie mich nicht so an“, verteidige ich mich. „Ich wollte bloß nachsehen, ob da das Emblem eines Kostümverleihs drauf ist. Man weiß ja nie.“ Meine Fresse, ich bin echt einem Pater an die Wäsche gegangen. Bist du noch zu retten, Ruby?

In seinen Zügen macht sich Erleichterung breit. Ich glaube, er hat grad totalen Schiss vor mir. „Ich habe auch einen offiziellen Ausweis“, informiert er mich. Ach so. „Hier.“ Er hält mir seinen Personalausweis hin, der ziemlich echt aussieht.

„Ausweise kann man fälschen, aber die Garderobe lügt niemals“, entgegne ich selbstsicher. Er lächelt verschmitzt.

„Keine Angst, ich will Ihnen nichts Böses, Ruby“, beschwichtigt er.

„Das haben die von der Grillkäsewerbung auch gesagt. Wo uns das hingeführt hat, wissen wir ja“, kontere ich. „Der verursacht böse Schwellungen in der Hüftgegend. Übel sowas.“

Er schmunzelt und schüttelt leicht den Kopf. „Wollen wir?“, fordert er mich mit einer galanten Armbewegung auf, ihn irgendwohin zu begleiten.

„Wo wollen wir denn hin?“, will ich wissen.

„Na, Sie suchen doch einen Job“, erklärt er. Wie viel hat Linda eigentlich über mich am Telefon ausgeplaudert? „Ich habe da genau das Richtige für Sie.“

„Moment mal“, halte ich ihn zurück. „Sie wollen mich also nicht, … ich meine … anfassen?“ Mann, wie das klingt.

Sein Blick spricht Bände, so überfordert ist er mit der Frage. Er räuspert sich und meint: „Nein, ähm … wieso jetzt?“

„Naja, Sie machen doch dieses Ding mit Ihren Händen. Ich dachte, darum geht es. Ich meine, nicht dass ich da sonderlich scharf drauf wäre.“ Okay, ich labere.

Pater Andrew scheint angestrengt zu überlegen. „Ah“, trifft ihn die Erkenntnis. „Ein andermal vielleicht. Wollen wir?“, wiederholt er beinahe krächzend und ignoriert meinen Einwand.

In einem unbemerkten Moment – dachte er zumindest – lockert er seinen Kragen, was mir nicht verborgen blieb. Grinsend trotte ich neben ihm her.

Ich frage mich, warum er sich so anstellt. Das Handauflegen ist doch Teil seiner Dienstleistung. Wie verklemmt kann man eigentlich sein? Naja, egal. Einen Job brauch ich sowieso dringender als alles andere.

Da muss ich doch gleich mal nachfragen: „Was ist denn das für ein Job?“

„Ein Geschäftspartner von mir sucht eine persönliche Assistentin. Ihre Referenzen sind hervorragend. Ich bin sicher, Sie haben gute Chancen.“ Mann, hat Linda jetzt auch noch meinen Lebenslauf mitgeschickt, oder was? Nein, unrealistisch. Es sei denn, sie hat ihn vorher noch aufgemotzt.

Auf den Verdacht hin, dass mir die Antwort nicht gefällt. „In welcher Branche ist Ihr Partner denn tätig?“, hake ich nach, während ich ihm hinterherlaufe.

Immerhin will ich noch vorher die Gelegenheit haben abzuhauen, wenn er gleich die Worte Prostitution, Massageclub, Einfriedung oder IT-Branche in den Mund nimmt.

Er stoppt und wendet sich mir zu. „Er ist so eine Art Arzt.“ Oh, oh – meine Alarmglocken läuten.

„Wie kann man denn ‚so eine Art‘ Arzt sein? Ist er es oder nicht?“, hinterfrage ich seine Worte.

„Sagen wir mal so, er macht nur Hausbesuche und hilft, wo er kann“, trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.

„Ist er auch so ein Quacksalber wie Sie?“, musste an der Stelle einfach mal gefragt werden. Wow, auch das war unbeabsichtigt frech. Ist mir mal eben rausgerutscht.

Mit zuckenden Schultern lächle ich ihm scheu zu, als sich der Pater mir ziemlich vor den Kopf gestoßen zuwendet.

„Ich bin sehr gespannt, wie er auf Sie reagieren wird“, sagt er mehr zu sich selbst als zu mir. „Und Sie auf ihn“, ergänzt er.

„Wegen meiner großen Klappe?“, mutmaße ich.

„Ja, auch deswegen“, erwidert er.

„Moment“, halte ich ihn zurück. „Wie viel springt für mich dabei raus?“

„Wie bitte?“

„Naja, Kohle, Bares, Mücken, Moos, Schotter, Knete, Piepen, Kröten, Kies, Zaster, grüne Scheinchen. Ich muss doch wissen, ob es sich auszahlt, Ihnen hinterherzudackeln“, kläre ich ihn auf.

„Ich bin sicher, er wird Sie überaus großzügig entlohnen, wenn Sie ihm gute Dienste leisten“, sagt er doch tatsächlich.

„Ihr Geschäftspartner ist doch keiner von diesen Perversen, die ein Mädchen wie mich in so knappe Servieroutfits mit nichts drunter stecken, nur um ihre kranken Phantasien auszuleben. Dann kann ich da nämlich nicht nüchtern hin.“ Bäh, ich hasse kellnern.

„Nein, ähm … mein Freund ist äußerst … seriös.“ Erneut räuspert er sich. „In allen Belangen“, ergänzt er.

„Wo ist der Haken?“, frage ich ihn. „Und wozu das Räuspern? Sie verbergen was. Wenn Sie mich anlügen, fahren Sie zur Hölle.“

Er sieht ertappt aus. „Naja, Sie müssten auch nachts auf Bereitschaftsdienst sein, da manche Mandanten meines Geschäftspartners auch noch zu später Stunde seine Hilfe in Anspruch nehmen“, gibt er zu.

„Kein Problem. Ich bin eine Nachteule. Warten Sie mal. Mandanten? Sollten Sie nicht seine Patienten sein. Oder ist er jetzt auch noch ‚so eine Art‘ Anwalt, denn dann mach ich auf dem Absatz kehrt. Die sind doch alle gleich. Nehmen vor dem ersten Date schon Einsicht ins Vorstrafenregister, verwenden immer alles gegen dich, was du sagst und rufen ‚Einspruch‘, wenn sie mit der Stellung nicht zufrieden sind“, knalle ich ihm ein paar Stereotypen hin. „Da war ich selbst schon Ohrenzeuge“, ergänze ich.

„Haben Sie denn Vorstrafen?“, schlussfolgert er aus meiner Aussage. Verdammt, das war wohl ein Eigentor.

„Nichts Erwähnenswertes. Außer Blasphemie, unsittliche Berührungen von Staatsbediensteten, Exhibitionismus.“ Er zieht die Augenbrauen hoch, da ergänze ich: „Das war ein Scherz. Das ist nur die Liste, die ich mir vorgenommen habe. Ein Mädchen braucht schließlich Ziele. Und Sie?“

„Ähm nein“, antwortet er. Er hat wohl in seinem Leben noch nichts zustande gebracht.

Er lächelt gekünstelt. „Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Nein, mein Geschäftspartner mag die Bezeichnung ‚Patienten‘ einfach nicht sehr gerne.“

„Exzentriker also – ich wusste es, das ist der Haken“, murmle ich.

Der Pater lächelt und läuft weiter. „Sein Büro ist hier ganz in der Nähe, wir sind gleich da.“

„Ich hab Pfefferspray dabei und ’ne Kanone. Meine Freundin wird die Bullen rufen, wenn ich mich nicht in regelmäßigen Abständen melde. Außerdem hab ich Quetschnieren, ‘ne Raucherlunge, ‘ne Fettleber und ‘nen Klappenfehler“, informiere ich ihn. „Okay, das mit der Kanone war gelogen“, gebe ich zu.

Er bleibt abrupt stehen und runzelt die Stirn, da beruhige ich ihn: „Wollts nur mal gesagt haben. Für den Fall, dass Sie mir ans Eingemachte wollen.“

Auch das lässt er unkommentiert, bevor er weiterläuft. An einem ziemlich in die Jahre gekommenen Bürogebäude hält er mir galant die Tür auf.

„Ah, ein Gentleman der alten Schule“, bemerke ich wohlwollend. „Sie sind echt ein Netter, aber ich nehm dann doch lieber das Arschloch.“

„Sie vertrauen mir immer noch nicht, Ruby“, stellt er belustigt fest und schlüpft als Erstes hindurch.

„Hey, ich bin eine Frau. Da ist es vollkommen normal, dass ich in der Minute 350 Gefühle durchlebe“, knalle ich ihm ebenso amüsiert hin. „Vertrauen war aber grad leider nicht dabei. Naja, vielleicht beim nächsten Mal.“

Er zieht die Schultern hoch. „Ich bin Seelsorger. Viele Leute vertrauen sich mir an.“ Seh ich so aus, als bräuchte meine Seele Fürsorge?

„Gut, dass mir Mama beigebracht hat, keine Silberrücken zu streicheln“, spotte ich. Uh, das war frech.

„Wir alle brauchen jemanden, der für uns sorgt, Ruby“, meint er total überzeugt von diesem Schwachsinn.

„Wo ist ein Bullshit-Button, wenn man ihn braucht“, sprudelt es aus mir heraus, bevor ich es zurückhalten kann. Ich kann ganz gut alleine auf mich aufpassen.

Mit amüsiertem Gesichtsausdruck steigt er vor mir die knarrenden Holztreppen hoch. Wir passieren einen langen Flur, wo er vor einer massiven Mahagoni-Eingangstüre Halt macht, dreimal klopft und daraufhin gleich eintritt.

Ein kleiner Eingangsbereich mit einem Schreibtisch, an dem niemand sitzt, empfängt uns. Irgendwie erinnert mich das alles hier an diese Detektivbüros aus den Schwarzweißstreifen. Eine charakteristische, blickdichte Glastür, die in ein Hinterzimmer führt, untermalt meine Phantasie noch. Der kalte Zigarettenrauch auch.

„Valentin?“, ruft mein Begleiter in die Kanzlei. „Ich habe die Bewerberin mitgebracht.“ Stille.

Der Boss scheint nicht da zu sein.

Ein „Du kommst zu spät, Andrew“, hinter mir, lässt mich schlagartig herumfahren. Hat er sich an uns rangeschlichen, oder was? Wo kommt der auf einmal her? Hing er bis vor Kurzem noch als Graf Dracula von der Decke? Ist ja echt gruslig.

Vor mir steht ein ziemlich heißer Typ im schwarzen Maßanzug. Wow, er ist keine fünfunddreißig, schlank, groß, gut angezogen, hat einen Schlafzimmerblick, dunkle Augen mit Wahnsinns-Wimpern, total sexy, braune Strubbelhaare und so einen Wegschmacht-Dreitagebart.

Würde er nicht dieses riesige, silberne Kreuz um den Hals tragen – was gegen die Dracula-Hypothese spricht – und mich grad mustern, als wär ich der Feind im Körper des verbotenen Geschlechts, könnte man glatt auf unkeusche Gedanken kommen. Er ist auf jeden Fall schon mal ein Hingucker. Ich mag den Job jetzt schon. Die Aussicht ist schon mal gut.

Er ist wohl in derselben Branche wie Pater Andrew tätig – zumindest tragen sie dasselbe Kreuz. Bevor ich in Kloster-Phantasien abdriften kann, kasteie ich mich selbst gedanklich und reiße mich am Riemen.

Mann, wieso sind immer alle heißen Typen entweder verheiratet, schwul oder Mönche? Und wieso hab ich gerade erneut das unbändige Bedürfnis, einen verträumten Seufzer loszulassen? Okay, kurze Hormonausschüttung, die ich mir natürlich nie anmerken lassen würde.

Nein, ich schaffe es, meinen gespielt gleichgültigen Blick aufrecht zu halten, mit dem ich mich vor genau solchen Kerlen abschirme.

„Ich hab meinen Bewerbungshelfer gefilzt. Das hat eine Weile gedauert“, verteidige ich unser Zuspätkommen schulterzuckend.

Einige Sekunden sieht er mich nur an, daraufhin verlangt er im verärgerten Befehlston: „Wer sind Sie?“ Wofür hält sich der Typ eigentlich?

Korrigiere meine Frage von vorhin: Mann, wieso sind immer alle heißen Typen entweder verheiratet, schwul, Mönche oder exzentrische Arschlöcher?

„Dornröschen“, spotte ich. „Wer sind Sie?“, knalle ich ihm genauso arrogant hin. Pater Andrew hat die Augen weit aufgerissen und sieht von einem zum anderen.

Der junge Mann wendet sich dem Pater zu und knallt ihm ein „Das ist ein Scherz“ hin.

„Keineswegs“, erklärt dieser. „Sie wurde wärmstens empfohlen.“ Linda. Ich bring sie um. Was hat sie alles über mich erzählt, diese Schnepfe?

Der junge Mann betrachtet mich erneut von oben herab, sagt dann: „Wie alt sind Sie?“ Wow, Killerfrage.

„Ich hab die Beatles nicht mehr live gesehen“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Glücklicherweise hakt er nicht weiter nach.

„Sind Sie gläubig?“, fährt er das Verhör fort. Was?

„Ich hätt schwören können, mal ‘ne Marienerscheinung aufm Toastbrot gehabt zu haben. Was soll ich sagen, die Idee hatte schon jemand vor mir. Wieder 28.000 Dollar futsch.“ Kuck nicht so böse. Blöde Fragen, blöde Antworten.

„Sie wollen also nichts von sich preisgeben“, mutmaßt er.

„Guter Hinweis und Überleitung zum Thema ‚Preis‘. Wie viel wären Sie denn bereit, für meine Dienste rauszurücken?“

Was soll ich sagen, ich glaub, ich bin ein ziemlich direkter Mensch, was ich auch an seinen hochgezogenen Augenbrauen ablesen kann.

„12 Dollar die Stunde“, speit er mir überheblich entgegen. Mann, da krieg ich ja mehr, wenn ich putzen gehe.

„Eine Frage. Seh ich aus wie ein mexikanischer Einwanderer ohne Aufenthaltsgenehmigung?“, will ich wissen.

„Nein“, antwortet er emotionslos.

„Wieso bezahlen Sie mich dann wie einen?“ Die Frage kam für ihn wohl unerwartet, denn er braucht deutlich länger, um sie zu kontern.

Der Typ schüttelt im nächsten Moment belustigt den Kopf und wendet sich erneut seinem Freund zu, der sich die Hand vor den Mund hält, weil ihm ein Grinsen entglitten ist.

„Ich rate dir, dass es sich hierbei nur um ein Missverständnis handelt. Um deinetwillen“, droht er ihm.

„Also stellst du sie ein?“, zieht Pater Andrew die falschen Schlüsse.

„Gerne stelle ich für dich das Offensichtliche klar“, erwidert er deutlich angepisst. „Natürlich lautet die Antwort nein. Sie kommt nicht infrage. Such weiter“, fasst er die Entscheidung dieses abartigen Bewerbungsgespräches in aller Kürze zusammen, während er schon dabei ist so zu tun, als würd ich in seinem eng gesteckten Relevanzkorridor nicht mehr existieren.

Irgendwie bin ich froh darüber. Er ist mir nicht geheuer, wie er so absolut stocksteif dasteht, als wäre er über alles erhaben.

Außerdem ist er einen Tick zu sexy für einen Boss, der noch dazu unerreichbar ist – zumindest für uns weltliche Wesen.

Im nächsten Moment dreht er sich um und lässt uns einfach stehen. Wow, wie überaus nett.

Mein Priester nimmt sofort die Verfolgung auf und will ihn mit „Valentin, warte“ aufhalten, doch das stoppt ihn nicht.

Mein „Hey, Beinahe-Boss“ schon. Er dreht sich sogar zu mir um, was mir zeigt, dass er mich noch nicht vollends ausgeblendet hat.

Ich seufze theatralisch und hauche: „Und so etwas wurde mir wärmstens empfohlen“, bevor ich mich umdrehe und vom Acker mache.

Resümierend würde ich sagen: Mein Grundmisstrauen Zeitungsinseraten gegenüber ist ungebrochen.

„Und, wie wars?“, lauert mir Linda schon auf, da hab ich noch nicht mal den Schlüssel aus dem Schloss gezogen, um hinter mir die Tür zuzuknallen.

„Kennst du das, wenn man so einen inneren Drang verspürt, es sich verkneifen zu müssen, sich mal gepflegt manierlich gehenzulassen und die Dinge, die einem auf der Zunge liegen einfach ungefiltert auszustoßen, gefolgt von Taten, die die Worte noch unterstreichen – so total ohne Rücksicht auf Verluste?“, konfrontiere ich sie.

„Nein“, gibt sie zu.

„Ich auch nicht, also lauf, ich bin in Kopfnussstimmung.“

„War er gutaussehend? Habt ihr Kaffee getrunken?“, lechzt sie nach den brandheißen News – meine Worte ignorierend.

„Sagen wir mal so, er hatte den Keuschheitsgürtel umgeschnallt und ich war von der quietschgelben Tüte dermaßen eingeschüchtert – es hat einfach nicht gefunkt.“

„Oh, das ist übel. Ach, der Traumprinz wartet sicher irgendwo da draußen“, prophezeit sie. „Zwar nicht auf dich, aber wozu gibt’s Blind Dates in absoluter Dunkelheit?“

„Lass dein Mitleid stecken. Ich bin mit den Fröschen sowieso noch nicht durch. Irgendwann ist der Richtige dabei – oder meiner wurde überfahren.

Wär auch okay, dann bleibt mir immer noch ein Lesbenleben, der Club der toten Mösen oder ich zieh wieder zu meinen Eltern. Nein, warte, so verzweifelt bin ich noch nicht.“

Im Wohnzimmer angekommen platze ich direkt in eine von Lindas Selbstbeweihräucherungssitzungen, in denen sie – zusammen mit anderen leichtgläubigen, weiblichen Wesen, denen das Geld locker in den BHs sitzt – versucht, Mutter Erde telepathisch zu erreichen. War bis jetzt immer besetzt. Da geht nicht mal die Mailbox ran.

„Hi Mädels“, grüße ich sie.

„Hi Schwester“, kommt es synchron aus ihren Kehlen. Wir sind eigentlich keine richtigen Schwestern, aber laut ihrer Definition wird alles, was ein kein Y-Chromosom und Titten hat, so angesprochen.

In diesen seltenen Momenten sehne ich es herbei, einen Schniedel zu besitzen. Dann würde ich zwar – laut ihrer Bezeichnung – mit „Hi Einzeller“ begrüßt werden, würde mich aber deutlich weniger für meine eigene Art fremdschämen.

„Dann noch viel Spaß beim … Mutterkuchen backen“, wünsche ich ihnen.

Sie sind schon wieder in eine Art Trance verfallen, in der sie synchron den Boden anstöhnen, um eine Verbindung aufzubauen.

Naja, zumindest unsere Nachbarn schätzen das. Die halten uns übrigens für Lesbenpornodarstellerinnen, was man so im Flurfunk hört. Der einzige Unterschied zu normalen Pornos übrigens: Bei Frauenpornos wird hinterher immer geheiratet.

Dass sie nach Lindas Sitzungen immer eine rauchen gehen zeigt mir, dass wir echt Zukunft in der Branche haben.

Kopfschüttelnd kralle ich mir aus dem Kühlschrank einen Becher Joghurt, verbarrikadiere mich in meinem Zimmer, lasse mich erschöpft aufs Bett fallen und werfe die Glotze an.

Gerade rechtzeitig zum Sandmännchen. Ich seufze. Die Weltordnung ist wiederhergestellt. Jetzt kann ich mich ganz den Szenen hingeben, die ich lautstark mit Kraftausdrücken kommentiere: „Jetzt fährt das Sandmännchen doch tatsächlich in einem Straßenräumfahrzeug und schippt den Schnee. Als ob der Kerl arbeiten würde. Wie unrealistisch ist das denn?

Und dabei winkt es den Kindern, die am Straßenrand schippen, zu. Die haben aber Schaufeln.

Was wollen die uns damit sagen? Fang früh mit Kinderarbeit an, aber lass sie nicht an die semiautomatischen Geräte, damit sie früh lernen, was hartes Schuften bedeutet? Das ist doch hier vollkommener Mumpitz.

Jetzt streut das Sandmännchen Sand auf die Straße, wo doch jeder weiß, dass Streusalz effizienter ist. Wie weit hergeholt ist das eigentlich?

Nun helfen die Kinder einer alten Oma sogar noch über die Straße. Eines der süßen Dinger hat ihr sogar die Tasche abgenommen. Nein, wie herzallerliebst.

In der Realität hätte ihr der Kleine eine verpasst, ihr die Tasche entrissen und wär schon über alle Berge, um sich Crystal Meths beim Dealer an der nächsten Ecke klarzumachen.

Aber nicht, ohne ihr vorher noch ’nen modernen Satzbau hinzuknallen: Subjekt – Prädikat – Beleidigung, Alter!

Jetzt gehen die Kinder mit dem Sandmännchen sogar rein ins Haus und knallen sich vor die Glotze. Tolles Vorbild. Und dann noch dieses abartige Lied mit dem Flötengedudle. Krank sowas.

Ja, lach nur! Sobald du einschläfst, hol ich Juckpulver.

Ich schaufle mir einen Löffel Joghurt rein und verziehe das Gesicht zu einer Fratze. Was? Nur 0,1 % Fett? Ach, deshalb schmeckt das so Scheiße.

… und so endete ich in der Küche – bei dem Versuch, das Joghurt mit M&M`s und Tequila aufzupimpen.

12 Monate, 1 Tag, 2 Stunden

Ein paar Stunden später ruft mich ein Klingeln an der Wohnungstür auf den Plan, dem ich nachgebe und aufmachen gehe.

Da steht – zu meiner Verblüffung – mein Beinahe-Boss vor mir, der die Zahnbürste, die mir aus dem Mundwinkel hängt, angewidert fixiert, bevor ich sie ihm herausfordernd entgegenstrecke.

„Woher wissen Sie, wo ich wohne, verdammte Scheiße nochmal?“, knalle ich ihm hin. Was hat Linda noch alles verraten? Ich muss echt mal ein ernstes Wörtchen mit ihr wechseln, wenn sie aufsteht. Wie spät nachts ist es eigentlich? Ich muss wohl schon wieder vor der Glotze die Zeit übersehen haben.

Er hält mir im nächsten Augenblick meine Tasche hin, die ich anscheinend bei ihm liegengelassen habe. Naja, die Schlüssel steck ich immer in die Jackentasche, also ist mir der Verlust noch gar nicht aufgefallen.

Ich bin so ein Schussel. Wenn der Kopf nicht angenäht wär. Mann, ich hoffe, er hat da drin nicht rumgestöbert. Wie peinlich wär das denn?

„Unglaublich, wie viele Habseligkeiten in dieses kleine Ding passen“, stellt er fest. Toll, er hat sie durchforstet. „Unter anderem auch Ihr Personalausweis mit Ihrer Adresse.“

„Gut zu wissen, dass er noch da drin ist. Den such ich schon seit Wochen. Haben Sie mein Tamagotchi gefüttert?“ Er lacht nicht, sieht mich einfach nur emotionslos an.

Der Kerl ist schon ein Schnittchen – naja, wär da nicht der Haken, dass er total von sich eingenommen und sicher ein schwuler Messdiener ist. Wieso sollte sich so ein Prachtexemplar sonst für die vollkommene Entsagung entscheiden?

„Miss Brown“, setzt er an.

„Ruby“, korrigiere ich ihn.

„Wie auch immer“, stößt er genervt aus. „Es trifft sich gut, dass Sie noch nicht zu Bett gegangen sind, denn ich brauche Ihre Assistenzdienste noch in dieser Nacht. Also jetzt sofort. Lassen Sie uns keine Zeit verlieren.“ Klingt irgendwie so, als wolle er mich zu einem spontanen Pornodreh abholen.

„Ich dachte, ich komme nicht infrage. Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie bei der Urteilsverkündung so einen angewiderten Gesichtsausdruck draufhatten – wie eben. Aber das kann ich mir auch eingebildet haben“, spotte ich lächelnd.

Er braucht ein paar Sekunden, um etwas zu erwidern: „Sagen wir mal so. Bis ich jemanden finde, der für den Job geeignet ist, werde ich auf Sie zurückgreifen.“ Wie gemein war das denn. Bin ich zweite Wahl, oder was?

Na warte. „Nun zu meinen Bedingungen“, erkläre ich. „Ich putze nicht, koche nicht, spiel nicht den Chauffeur, nenn Sie nicht Meister, mach bei keinem kranken Schweinkram mit und bekomme dreißig Dollar die Stunde.“

Er schnaubt belustigt auf. „Fünfzehn Dollar“, feilscht er.

„Siebenundzwanzig Dollar“, biete ich.

„Achtzehn Dollar“, unterbietet er mein Angebot.

„Sechsundzwanzig Dollar. Vergessen Sie nicht – immerhin wurde ich wärmstens empfohlen“, argumentiere ich.

„Fünfundzwanzig Dollar. Das ist mein letztes Angebot“, informiert er mich. Er ist so ein Macho-Typ, der immer gewinnen muss.

„Kompromiss: Fünfundzwanzig Dollar in der Stunde für Tages- und sechsundzwanzig Dollar für Nachtarbeit. Immerhin berauben Sie mich meines wohlverdienten Schlafes“, entgegne ich.

Er scheint angestrengt zu überlegen, willigt dann mit einem „Abgemacht“ ein und hält mir die Hand hin, die ich beherzt ergreife.

Er gibt sie aber nicht mehr frei, zieht mich daran aus der Wohnung. „Kommen Sie, ich bezahle Sie nicht fürs Rumstehen“, knallt er mir hin, während ich die Zahnbürste in den Flur werfe und nach den Schlüsseln und meiner Jacke fische. Alles, bevor er mich gänzlich durch den Türspalt schleifen konnte. Das fängt ja schon gut an.

Ist ja nicht so, als hätte ich gerade nur eine graue Pyjamahose und ein ausgewaschenes T-Shirt an, das ich unter der Jacke verberge.

„Sagt der Quacksalber zu seiner frisch gebackenen Komplizin“, spotte ich. „Wie lautet eigentlich meine offizielle Berufsbezeichnung: ‚Assistenz der Quacksalbung‘?“

Er schnaubt abfällig und drückt mich vor der Haustür zu so einer schwarzen Luxuskarosse, die im absoluten Parkverbot steht. Meine Fresse, der zieht echt den Leuten gutes Geld aus den Taschen. Naja, solange ein Teil in meine Richtung fließt, solls mir recht sein.

Es ist noch dunkel draußen – womöglich ziemlich spät nachts.

„Schnauben Sie nicht“, tadle ich ihn. „Das brauch ich für die Auswahl des richtigen Formulars beim Finanzamt.“ Wers glaubt. „Und für die Krankenversicherung, die Sie sicher für mich abschließen werden.“

„Ich glaube, Sie träumen noch“, stellt er amüsiert fest. Einen Versuch wars wert.

„Das kann ich mit absoluter Sicherheit verneinen – weil Sie dann nicht drin vorkommen würden“, kontere ich, aber er ist mich schon wieder am Ignorieren. Naja, es sei denn, es wär ein Alptraum, sollte ich einlenken. Ach, drauf geschissen. Immerhin bin ich heute gut drauf.

Blitzschnell umrundet er den Schlitten und steigt ein. Als ich die Türe zuschlage, kann ich mir ein: „Ich dachte immer, diese Penisfortsätze wären mit automatischen Türöffnern ausgestattet. Aber was soll dabei rauskommen, wenn man Männer Autos bauen lässt.“

Ich hoffe, er versteht die unterschwellige Message. Wohl eher nicht, denn er startet den Wagen wortlos und braust los.

Ich versuche, meine Alarmglocken zu ignorieren, die unentwegt schrillen: „Er könnte dir immer noch an die Organe gehen und dann mit dir ins Disneyland. Wahlweise auch in anderer Reihenfolge.“

„Also Cowboy, wo geht’s hin?“, breche ich unser Schweigen.

„Zu einem Mandanten“, antwortet er knapp angebunden, „Und nennen Sie mich nie wieder Cowboy“, ergänzt er drohend. Ooooookkkkkaaayyyy.

„Es gibt also Leute, die Ihre Dienste noch zu so später Stunde in Anspruch nehmen, Boss“, stoße ich das bisschen gefährliches Halbwissen aus, das ich zusammenkratzen kann.

„Ja“, bestätigt er das Offensichtliche, ohne mich dabei anzusehen.

„Jetzt lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen. Wie sieht so ein Einsatz aus? Man muss ja ziemlich verzweifelt sein, wenn man sich einen Quacksalber um die Uhrzeit kommen lässt.“

„Was hat Ihnen Andrew über mich und meine Arbeit erzählt?“, will er wissen.

„Dass Sie der Transporter sind, mit All-inclusive-Leichenservice, der die Teile gleich noch mumifiziert oder ausstopft – zu Ausstellungszwecken, versteht sich“, verarsche ich ihn.

Sein Kopf schießt zu mir und erkennt nach kurzer Zeit mein Grinsen. „Es ist nicht sehr klug, mich zu reizen“, sagt er doch tatsächlich.

„Das war ein Scherz.“ Mann, der ist ja noch verklemmter als ich dachte. „Das könnte Ihnen in meiner Gesellschaft durchaus öfter passieren. Was soll ich sagen, wär ich ein Kerl, hätt ich schon Prügel eingesteckt.

Was für ein Quacksalber sind Sie denn? Wir wissen doch beide, dass dieser Pater mich angelogen hat, als er behauptete, Sie wären ‚so was wie ein Arzt‘.“

„Ich bin eher ein Heiler“, berichtigt er mich, während er auf den Highway auffährt.

„Eher so kräuterhexenmäßig, Schamanen-voodooomäßig oder homöopathisch veranlagt?“, versuche ich, Licht ins Dunkel zu bringen.

Er sieht mich mit ausgeprägter Zornesfalte an, was mich die Hände abwehrend in die Höhe heben lässt. „Hey, sehen Sie mich nicht so an. Ich bin auf dem Gebiet der Esoterik ein ziemlicher Blindgänger, also seien Sie nachsichtig mit mir. Ich bin aber gewillt dazuzulernen und mich in vorurteilsvoller Zurückhaltung zu üben.

Immerhin muss ich doch wissen, wobei ich Ihnen assistieren soll, also lassen Sie mal ein paar Infos rüberwachsen, die über Ihre Oberflächlichkeiten hinausgehen.“

„Das erfahren Sie, wenn wir dort sind. Ich werde klare Anweisungen geben, die Sie befolgen werden, ohne zu widersprechen“, befiehlt er förmlich.

„Einspruch“, wende ich ein. „Ich werd schon mal aus Prinzip nicht das machen, was Sie sagen, wenn es nicht vorher durch meinen Plausibilitäts-Filter gerasselt ist. Nennt sich übrigens gesunder Menschenverstand. Bewahrt mich zum Beispiel davor, Dummheiten zu machen, falls Sie mir dort befehlen, jemanden den Arsch zu versohlen oder Ihnen Käsecracker in die Nase zu schieben.“

„So etwas würde ich nie von Ihnen verlangen“, sollte mich wohl beruhigen.

„Gut, wär das dann auch geklärt. Was machen Sie denn jetzt genau mit Ihren Mandanten? Soll ich Ihnen beim Handauflegen Händchen halten oder die Beine rasieren? Sehen Sie, diese Bandbreite an Möglichkeiten, in welcher Art und Weise ich Ihnen zur Hand gehen kann, nagt irgendwie an mir, Boss.“

„Ich lege keine Hände auf, das bringt nichts“, sagt er so ganz nebenbei. Ich wusste es.

„Ich muss Sie unbedingt meiner Mitbewohnerin vorstellen. Könnten Sie den Satz dann mit dem exakten Wortlaut wiederholen, wie Sie es eben getan haben? Vielleicht mit einem Hauch mehr Überzeugung.“

Valentin verlässt den Highway an der nächsten Ausfahrt, biegt mitten im Nirgendwo rechts ab und hält vor einem massiven Eisentor.

„Valentin van Dhart“, textet er die Sprechanlage zu, nachdem er die Scheibe runtergelassen hat. Keine fünf Sekunden später geht das Tor quietschend auf.

Mein Begleiter bemerkt wohl mein Unbehagen über das, was uns da drin erwarten könnte und rät mir: „Entspannen Sie sich, Ruby.“

„Uh, da bin ich ganz schlecht“, gebe ich zu.

Einige Sekunden sieht er mich genervt an, dann ignoriert er mich wieder, bevor er die Auffahrt entlangfährt, die kein Ende zu nehmen scheint.

Wer wohnt denn bitte hier? Sieht nach Senatoren-Villa aus. Als wir an das Haus heranfahren, stoppt er den Wagen und steigt aus. Einfach so.

Ich warte, doch er macht keine Anstalten, mir die Tür zu öffnen. Naja, an ihm ist wohl nur der Nachname gentlemenlike.

Memo an mich selbst: Ich muss endlich aufhören, von mir auf andere zu schließen, da werd ich immer nur enttäuscht.

„Wo bleiben Sie denn?“, schnauzt er mich an, als ich ihn bei den Stufen, die zur Haustür hinauf führen, eingeholt habe.

„Ich vergesse immer, dass dieses Ding keinen automatischen Türöffner hat“, versuche ichs durch die Blume zu sagen. Er sieht nicht so aus, als hätte er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden.

Uns kommt bereits ein älterer Mann im Morgenmantel entgegen. Oh, das ist wohl der passende Senator zur Villa. Er kommt mir sogar bekannt vor. Ich glaube, den hab ich schon mal irgendwo gesehen.

Hm, könnte einer dieser Politiker sein, die ich immer von der Seite anmache, wenn ich vor der Glotze zur Höchstform meiner verbalen Attacken, die nur dazu führen, mir wertvolle Lebensenergie zu entziehen, auflaufe. Freut mich trotzdem, mal zu sehen, wofür ich mein überschüssiges Aggressionspotenzial vergeude.

„Kommen Sie schnell“, stresst er uns und scheucht uns ins Haus, in dem ich schon eine Frau schreien höre, da bin ich noch nicht mal über die Türschwelle drüber.

„Bitte sagen Sie mir, Sie sind Hebamme – spezialisiert auf Hausgeburten – und das sind schon die Presswehen. Alles andere wär echt abartig“, stoße ich meine Hoffnungen laut aus.

Valentin verliert keine Zeit, sprintet die Treppen des feudalen Eingangsbereiches hoch und läuft den Schreien nach. Ich – ganz die Assistentin – bin ihm natürlich dicht auf den Fersen.

Vor der Tür des Zimmers, aus dem sich eine weibliche Person gerade die Seele aus dem Leib schreit, stoppt er und wendet sich mir zu.

„Ruby, sehen Sie mich an“, verlangt er.

„Oh, oh, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Sie mir sagen, dass Sie professioneller Sadomasochist sind und ich ihnen die kranken Sexspielzeuge reichen soll – wo wir wieder beim Schweinkram wären“, spreche ich meine Gedanken laut aus.

„Ich bin Exorzist. Die Frau in dem Zimmer ist von einem Dämon befallen“, sagt er doch tatsächlich.

„Okay. Alles ist besser als die Vorstellung, Ihnen einen Anal-Plug oder grüne Grütze zu reichen“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.

Das nimmt ihm sichtlich den Wind aus den Segeln. Er hatte wohl mit mehr Theater meinerseits gerechnet.

Nach ein paar Sekunden fährt er fort: „Sie sollen mir keine Instrumente reichen, sondern dabei assistieren, den Dämon aus dem Körper der Frau zu entfernen.“ Egal, was er geraucht hat, ich will auch was davon abhaben.

„Geht klar, Boss“, spotte ich und klopfe ihm auf die Schulter.

„Also gut“, stößt er überrascht aus und betritt das Zimmer. Was für ein Quacksalber – ich halts nicht aus.

Auf dem Bett windet sich eine junge Frau mit feinen aristokratischen Zügen und nobler Blässe in den seidenen Laken und brüllt vor Schmerz. Hm, sieht nach kaltem Entzug aus.

Valentin tritt ans Bett heran und streicht ihr über die Stirn – warte, er macht ein Kreuzzeichen. Mann, jetzt bin ich an so einen Religions-Spinner geraten. Der Gedanke ist noch nicht zu Ende gedacht, da bäumt sie sich keuchend auf. Das war sicher reiner Zufall. Ein Glückstreffer, dass sie darauf reagiert hat.

Skeptisch gebe ich mir dieses Schauspiel von sicherer Entfernung aus. Der ältere Mann betritt hinter uns den Raum.

„Können Sie meiner Tochter helfen?“, wimmert er.

„Ihrer Brieftasche auf jeden Fall, die wird sich hinterher erleichtert fühlen“, hab ich jetzt leider laut gesagt.

Die Blicke der Männer im Raum als mördermäßig zu betrachten, wäre eine Untertreibung.

„Lassen Sie uns allein. Unverzüglich“, befiehlt Valentin, was der Mann nach artigem Kopfnicken auch gleich macht.

Ich will ihm folgen, da hält mich mein Boss mit den Worten „Doch nicht Sie. Sie bleiben hier“ zurück. Verdammt.

Ein belustigtes Schnauben entweicht mir, als Valentin die Lampe vom Nachttisch aktiviert und unterschiedlich ausgestanzte Anhänger einer Kette, die er gerade unter seinem Hemd hervorgeholt hat, gegen das Licht hält, was lustige Schatten auf den Körper der jungen, dunkelhaarigen Frau projiziert.

„Ich hab den Film ‚Constantin‘ auch gesehen“, musste an der Stelle einfach mal gesagt werden, doch ich werde wiedermal ignoriert.

Komischerweise bäumt sich die Frau auf einmal total schräg auf, als sie einer der Schatten trifft.

Sie hebt das Becken so hoch, dass sie beinahe vornüberkippt. Dabei brüllt sie mit einer grusligen Männerstimme. Okay, ich sollte nicht so viel Fernsehen. Bei mir geht schon die Phantasie mit mir durch – oder mein Verstand flöten. Wer weiß das schon so genau.

Valentin hat gerade ein lautstarkes „Scheiße“ ausgerufen, bevor er aufs Bett steigt, nur um sich im nächsten Moment auf die Frau zu hocken, ein Büchlein aus der Innenseite seines Jacketts zu zücken und irgendwelche lateinischen Beschwörungsformeln daraus vorzulesen.

Was für eine Show. So will er wahrscheinlich sein horrendes Honorar rechtfertigen. Hm, von ihm kann man noch was lernen.

„Sie sollten lieber einen Rettungswagen rufen“, rate ich dem Quacksalber, der mich immer noch ignoriert.

Die Frau wehrt sich, brüllt wie am Spieß – immer noch mit dieser abgefahrenen Gruselstimme – bevor sie beginnt, auf Valentin einzuschlagen, der ihre Hände festhält.

„Verdammt“, flucht er.

„Ruby, kommen Sie her“, verlangt er gleich daraufhin. Was? Jetzt zieht er mich da auch noch mit rein. Naja, irgendwie muss er ja meinen Einsatz auch begründen können.

Etwas eingeschüchtert trete ich näher. Das letzte Stück schnappt er mich am Arm und zieht mich grob ans Bett heran.

Erst jetzt erkenne ich die schmerzverzerrten Züge der Frau genauer. Sie leidet hier Höllenqualen und ist scheinbar gerade am Wegtreten. Noch ein Grund, die Finger von Drogen oder Schlankheitspillen zu lassen.

„Steigen Sie aufs Bett“, reißt mich Valentin aus meinen Gedanken. Hey, Moment mal.

„Ich hab Ihnen doch von meiner Filterfunktion erzählt. Naja, Ihre Aufforderung ist hängengeblieben“, informiere ich ihn.

Er packt mich am Kragen und schüttelt mich kräftig durch: „Die Frau wird sterben, wenn Sie nicht gleich hier raufsteigen.“ Das sagt er so ernst, dass ich schlucken muss.

„Sie braucht einen Arzt – rufen Sie einen Krankenwagen“, hauche ich eingeschüchtert.

Er lächelt überheblich. „Sie haben echt keine Ahnung. Wie kann mir Andrew nur so einen Grünschnabel schicken?“ Grünschnabel?

„Jetzt lassen Sie Ihre Überforderung nicht an mir aus!“, verteidige ich mich.

Während ich noch innerlich am Toben bin, packt er mich an der Hüfte und zieht mich vor sich auf die Frau. Damit ich mich nicht wehren kann, hält er mich von hinten fest umklammert.

„Hey, loslassen!“, protestiere ich darauf bedacht, die Frau nicht mit meinem Gewicht zu erdrücken.

„Entspannen Sie sich“, haucht er mir ins Ohr, was mich nur noch mehr verkrampfen lässt. Gänsehaut zieht mir dabei in Wellen über den gesamten Körper. Sein Körper, an den er mich gepresst hält, ist mir dabei nur allzu bewusst.

„Sie sind in meinen Wohlfühlbereich eingedrungen“, ermahne ich ihn.

„Tun Sie, was ich sage, Ruby, dann ist das hier schnell vorbei.“

„Wieso sagen Männer sowas eigentlich immer?“, sollte auf jeden Fall mal gefragt werden.

„Lassen Sie sich darauf ein. Sie können der Frau das Leben retten“, beschwört er mich eindringlich.

„Sie glauben den Scheiß tatsächlich, oder?“ Er antwortet nicht, nimmt stattdessen beide meiner Hände in seine.

Er hat schöne Hände, die total warm sind. Und er riecht gut. Erneut fährt mir ein Kribbeln durch den Körper. Okay, ich hatte schon viel zu lange keinen Sex mehr – ja okay, eigentlich noch nie – sodass ich schon auf Priester abfahre.

Heilige Scheiße, so weit sind wir also schon.

Valentin platziert meine Hände an den Wangen der immer noch bewusstlosen Frau. Seine Hände umschließen dabei die meinen. So hält er inne.

Es tut sich erst mal nichts. Welch Überraschung. Als ob ich sie mit einer bloßen Berührung heilen könnte.

Mein „Sie werden nach Stunden bezahlt, oder?“ lässt er unkommentiert. Stattdessen wartet er einfach ab.

Nach ein paar Minuten frage ich mich, was zum Henker ich hier eigentlich mache.

„Boss?“, setze ich an.

„Hm.“

„Das hier ist irgendwie gruslig, finden Sie nicht auch?“

„Nein.“

„Ach so“, hauche ich eingeschüchtert.

„Verdammt, er beißt nicht an“, zischt Valentin hinter mir. Wer soll denn anbeißen? Ach, ich vergaß der „Dämon“.

„Kann ich jetzt hier runter? Nichts für ungut, aber es ist mir irgendwie unangenehm, wenn Sie mir so nahe auf die Pelle rücken und dabei vom Anbeißen sprechen. Nicht, dass Sie noch Vampir sind. Oder ist das hier ein Rollenspiel?“, hake ich nach.

„Nein.“

„Versteckte Kamera?“

„Irgendetwas stimmt nicht mit Ihnen“, aus seinem Munde trägt nicht gerade zur Erhöhung meines Wohlfühlfaktors bei.

„Ja, das hätt ich jetzt auch vorweg vermutet“, stoße ich sarkastisch aus.

„Sind Sie entspannt?“, fordert er ungeduldig.

„Total“, spotte ich.

Er löst seine Hände von den meinen und platziert sie an meinen Schultern. Schlagartig verkrampfe ich mich nur noch mehr. Er wird doch wohl jetzt nicht …

Der Gedanke ist noch nicht zu Ende gedacht, da startet er ziemlich ungeschickte Knetversuche, die mir ein gequältes „Also, eine Massagepraxis würd ich an Ihrer Stelle nicht aufmachen“ entweichen lassen.

„Sie könnten mir ruhig ein bisschen entgegenkommen“, wirft er mir vor.

„Das ist nahe genug – zumindest für meinen Geschmack.“

„Küssen Sie sie“, verlangt er.

„Was?“, bemerke ich.

„Machen Sie schon. Es ist doch nur ein unschuldiger Kuss. Stellen Sie sich vor, sie wär Ihre Freundin.“

„Und wer sind Sie dann in dieser Dreiecksgeschichte? Mein Zuhälter?“

„Wenn sie nicht bald aufwacht, überlebt sie das nicht, also stellen Sie sich nicht so an.“

„Okay, Auszeit. Nehmen Sie Ihre Pfoten von mir und bringen Sie Wohlfühlabstand zwischen uns, sonst können Sie sich eine neue Komplizin suchen“, platzt mir der Kragen.

„Ich weiche erst von Ihrer Seite, wenn sie aufgewacht ist“, droht er förmlich.

„Finger weg. Ich mach den Scheiß jetzt selbst“, schnauze ich ihn an.

„Also gut“, gibt er klein bei, steigt von der Frau runter und betrachtet mich mit vor der Brust verschränkten Armen.

Im nächsten Moment knalle ich ihr eine Ohrfeige runter, die sie schnappatmend die Augen aufreißen lässt. Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, meinem Boss einen Na-siehst-du-ich-hab-sie-wachgekriegt-Blick entgegenzuwerfen.

Als ich die Frau wieder ansehe, bleibt mir fast das Herz stehen. Aus ihr ragt ein ekliger, nackter Alien raus, der mich anbrüllt und nach mir schnappt.

Ich kann nicht mal schreien, so total krank ist diese Situation gerade. Jetzt hab ich schon Halluzinationen – so weit sind wir also schon. Oder ich bin in seiner Wohnung mit Drogen in Berührung gekommen und das hier ist ein ziemlich realer Trip.

Ich spür sogar seine Fingernägel, mit denen sich das Biest in meine Arme krallt, um mich zu sich runterzuziehen.

Erst jetzt beginne ich, mich zu wehren, da packt das Ding meine Kehle und drückt zu. Hinter mir spüre ich meinen Boss, der sich den Arm des Aliens schnappt, mit dem er mich zu erdrosseln droht, gleichzeitig an mir zerrt und dieses lateinische Zeug brüllt. Untermalt wird alles von meinen erstickten Würgelauten.

Irgendwie ist mir total bewusst, was hier passiert, aber dennoch kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen, außer, dass ich bald mal wieder ein bisschen Luft brauche.

Das Alien-Ding zieht so fest an mir, dass mein Boss alle Hände voll zu tun hat, um mich festzuhalten.

Es kommt gefährlich nahe an mein Gesicht heran, hat spitze Zähne und sogar Mundgeruch. Die leeren Augenhöhlen, die ich fixiere, geben dem Ganzen einen Hauch Wahnsinn. Schwarze Punkte flackern bereits in meinem Sichtfeld.

Valentin boxt ihm ins Gesicht, aber das scheint das Monster gar nicht richtig zu bemerken. Es mustert mich bösartig, als würde es eine Currywurst ansehen, auf der zu wenig Ketchup ist, bevor es sie verschlingt.

Erneut trifft ihn ein Schlag meines Bosses, der mich fester an sich heranzieht, als es kurz lockergelassen hat, was mich sogar ein bisschen Luft abkriegen lässt. Dabei brüllt er noch immer diese Zauberformeln.

Der Alien scheint angepisst zu sein, dass ihm mein Boss sein Spielzeug wegnehmen will, denn er bäumt sich auf und holt mit der Hand aus.

Valentin fängt sie ab, bevor mich der Schlag, der eindeutig für mich bestimmt war, treffen konnte und legt ihm seinen Anhänger auf den Unterarm, was ein Zischen auslöst, als würde ihn das Metall verbrennen. Ich drohe, das Bewusstsein zu verlieren. Mir wird bereits schwarz vor Augen.

Das Monster brüllt vor Schmerz und lässt schlagartig von mir ab, was mich krampfhaft einatmen lässt.

Blitzschnell stößt mich mein Boss zur Seite, sodass ich vom Bett kippe und polternd auf den Boden auftreffe. Dort angekommen ziehe ich, mir die Seele aus dem Leib hustend, Luft in meine brennenden Lungenflügel.

Ich kann nur panisch dieses Ding anstarren, das sich rauchend in den Laken windet. Unter sich die junge Frau, die schon lange aufgehört hat, sich zu rühren. Über sich meinen Boss, der wie ein Löwe mit dem Ding kämpft, immer wieder Schläge austeilt und einsteckt.

Valentin krallt sich die Kreatur am Hals, zerrt sie aus der Frau, schleift sie vom Bett runter quer durch den Raum und stößt das Ding an einen Wandspiegel, in den es hineinrutscht und darin gefangen ist.

Ich blinzle krampfhaft, erwache aber scheinbar immer noch nicht aus dieser Psychose.

Mein Boss hebt einen Stuhl hoch und donnert ihn an den Spiegel, der in tausend Scherben zerbricht.

Ich hab gar nicht mitgekriegt, dass Valentin bereits vor mir steht und mir „Was zum Teufel war das?“ an die Birne knallt, bevor er mich an den Schultern packt und mich auf die wackligen Beine stellt. Das frag ich mich auch die ganze Zeit über. Ob er das auch gesehen hat?

Zu einer Antwort komme ich nicht, da die junge Frau krampfhaft zu husten beginnt, was meinen Boss erneut auf den Plan ruft und an ihr Bett herantreten lässt. Er hält ihre Hand, flüstert ihr dabei etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen kann.

Seine Ablenkung nutze ich, um zu verschwinden. Ich glaube, ich muss gleich kotzen.

Ihr Vater hat scheinbar vor der Tür Wache gehalten und läuft mich fast über den Haufen, als er sich an mir vorbei durch die Zimmertür drückt. Dabei ruft er ständig den Namen seiner Tochter Emanuela.

Ist es eigentlich jetzt Zeit, schreiend im Kreis zu laufen oder kommt das später noch?

„Wo wollen Sie hin?“, will mein Boss wissen, als er mich mit seinem Wagen auf halber Strecke der Auffahrt in Richtung Eisentor eingeholt hat und mich mit heruntergekurbelter Scheibe flankiert.

„Irgendwohin wo es ein CT und Schokokuchen gibt. Wenns geht in dieser Reihenfolge. Und dann geh ich schaukeln“, antworte ich monoton.

„Steigen Sie ein, ich fahre Sie“, bietet er an. Irgendwie kann ich nicht klar denken.

Als er ein „Ruby“ nachsetzt, schaffe ich es erst, dass mein Gehirn den Impuls zum Umrunden des Autos gibt.

Im Inneren des Wagens frage ich: „Sind Sie sicher, dass das Ding keinen Knopf zum Öffnen der Tür hat?“

„Ich bin sicher“, antwortet er.

„Vielleicht ist es ein Hebel oder eins von diesen Sprachsteuerungs-Dingern“, mutmaße ich.