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Siebzehnjährige New Yorkerin mit irischen Wurzeln trifft auf den ganz normalen Wahnsinn einer durch und durch abergläubischen Kleinstadt. Seit dem Tod ihrer Eltern hat Hope kein einziges Wort mehr gesprochen. Immer öfter flüchtet sie sich in eine Traumwelt, doch die Realität holt sie schon bald ein. Bei der irischen Familie ihres Onkels erwartet sie ein neues Leben. Für sie ist es nur ein kurzer Zwischenstopp, um dann mit achtzehn abzuhauen. Bis dahin muss sie die abergläubischen Verwandten noch ertragen, die sie mit dem Brecheisen in ihre "Bilderbuchfamilie" stemmen wollen. Aber Hope will einfach nicht reinpassen. Noch dazu gehen merkwürdige Dinge vor sich. Sie erfährt, dass hier alle dreißig Jahre ein Mädchen durch einen Steinkreis verschwindet und zwar aus genau dem Haus, das durch ein schwarzes Kreuz markiert wird. Zu dumm nur, dass am Haus ihres Onkels genau dieses Zeichen prangt. Zufall? Oder hat es etwas mit den mysteriösen Geschehnissen um sie herum zu tun? Zu allem Übel findet sie heraus, dass ihr Onkel sie im Austausch gegen eine seiner Töchter durch den Steinkreis werfen will. Dafür holt er sich auch Hilfe von denen, die die Mädchen der Stadt eigentlich beschützen sollten. Gut, dass er keine Ahnung hat, dass Hope seine Pläne kennt und alles tut, um sie zu durchkreuzen. Ein Katz- und Mausspiel beginnt, doch da man sie im ganzen Dorf für verrückt hält, stehen ihre Chancen deutlich schlecht. Was ist tatsächlich mit Hopes Eltern passiert und warum kann sie sich nicht daran erinnern? Welche Welt verbirgt sich hinter dem Steinkreis? Warum hat sie ständig das Gefühl, verfolgt zu werden und was hat der süße Typ damit zu tun, der ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen will? Ist sie wirklich die, die sie zu sein scheint oder schlummert in ihr mehr, als sie sich erträumen kann? Teil 1: Wer braucht schon Zauberworte? Teil 2: Wer braucht schon Zauberfarben? Teil 3: Wer braucht schon Zauberkerle? Teil 4: Wer braucht schon Zaubertricks?
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Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Marie Lu Pera
Wer braucht schon Zauberworte?
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Hokuspokus
Fidibus
Simsalabim
Abrakadabra
Dreimal schwarzer Kater
Krötenbein und Rabenherz
Hex Hex
Aus eins mach zwei
Zauberlist mit Gaukelei
Verzaubert
Impressum neobooks
„Hope! Hier drüben! ...“ Mein Onkel winkt mir energisch von der anderen Seite des Absperrbandes zu. Kurzerhand schlüpfe ich hindurch und stehe nach ein paar Schritten vor ihm. Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Wenn er mich nicht erkannt hätte, wäre ich glatt an ihm vorbeigelaufen.
„Dein Flug ist schon vor zwei Stunden gelandet. Bist du im Zoll hängengeblieben? Naja, egal. Du bist aber groß geworden. Komm mal her.“ Er streckt die Arme zu beiden Seiten aus, während sein Blick erwartungsvoll an mich gerichtet ist. Wenn er jetzt eine Umarmung erwartet hatte, muss ich ihn wohl bitter enttäuschen. Unverrichteter Dinge senkt er die Gliedmaßen räuspernd.
„Wie war dein Flug?“, will er wissen. Die nächste Enttäuschung zeichnet sich in seinen Gesichtszügen ab, denn ich habe nicht vor, zu antworten.
„Du bist sicher müde. Wir fahren erst mal nach Hause und dann kannst du mir alles erzählen.“ Die Information ist zwar angekommen, aber aus mir wird er keinen Ton rauskriegen.
Das hat er jetzt auch kapiert und greift stirnrunzelnd nach meiner Tasche. „Die ist aber leicht. Du hast wohl nicht sehr viel aus New York mitgenommen“, stellt er fest.
Auch dazu schweige ich. Kopfschüttelnd macht er sich zum Flughafenausgang auf. Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, ihm unauffällig zu folgen.
Kurz werde ich noch von der beißenden Kälte und dem starken Schneefall in dieser Welt gehalten, tauche aber bereits ein paar Sekunden später in einen Tagtraum ab, in dem ich mich deutlich wohler fühle, als in der Realität.
Onkel Tim quasselt die ganze Autofahrt lang. Ich kann sehen, dass sich seine Lippen bewegen, aber ich verstehe kein einziges Wort davon. Mein mp3-Player schottet mich von der Außenwelt ab. Es ist bereits dunkel. Alles, was ich erkennen kann, sind Schneefahrbahnen und tief verschneite Wälder. Ich bin in Irland aufgewachsen. Nach all den Jahren wieder hierherzukommen, ist ein komisches Gefühl. Auch an meine Kindheit kann ich mich kaum erinnern.
Vor einem kleinen Haus inmitten der Einöde stoppt er den Wagen. Genau in diesem Moment geht mir der Saft meines Players aus. Nun schaffen es Onkel Tims Worte doch noch durch die akustische Barriere.
„Also, junge Dame. Du bist siebzehn und das bedeutet, dass du dich hier an Regeln halten wirst. Nämlich an die, die ich aufstelle. Ich bin sehr streng. In diesem Haus gibt es weder Zigaretten noch Alkohol und das soll auch so bleiben. Wenn du so etwas dabei hast, dann solltest du gleich damit rausrücken.“ Als ich nicht reagiere, fährt er fort: „Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Hausregeln, die, für alle einsehbar, an einer Pinnwand im Flur hängen. Du kannst sie ja beizeiten studieren. Solltest du eine Regel brechen, tritt der Familienrat zusammen, der über dich richten wird.“ Meine Fresse. „Da dies geklärt ist. Willkommen in Irland, Hope.“
Wir steigen aus und treten zur Tür. Genau siebenmal streift er sich die Schuhe an der Fußmatte ab, bevor er eintritt. Das weiß ich so genau, weil er laut mitgezählt hat. Was das bringen soll, weiß ich nicht – mein Onkel scheint abergläubisch zu sein.
Ich stampfe zweimal, damit sich der Schnee von meinen Stiefeln löst und will ebenfalls eintreten.
„Nicht doch, junge Dame. Das waren keine siebenmal“, ermahnt er mich. Nein, jetzt sag nicht, das gilt für mich auch.
„Das steht in den Regeln. Jeder, der dieses Haus betritt, streift sich siebenmal die Schuhe ab. Das ist eine Glückszahl. Tritt ein – bring Glück herein, lautet die Devise.“ Klasse, ich bin noch nicht mal zur Tür rein und er geht mir schon auf die Nerven. Mann, das kann ja heiter werden.
Des Friedens willen tue ich, wonach er verlangt. Endlich gibt er die Tür frei und lässt mich durch.
Kitschige Weihnachtsdeko springt mir ins Auge. Das Haus ist vollgestopft bis unters Dach – ist kaum auszuhalten.
Überall lächeln Weihnachtsmänner mit dicken Bäuchen und Engel mit Pausbäckchen von den Wänden. Sogar auf dem Teppich steht: „Gesegnet seist du, hochwohlgeborener Gast“.
Ich bin in meiner ganz persönlichen Hölle angekommen. Inklusive Empfangskomitee in Form meiner Tante und meinen zwei Cousinen, die mir kreischend um den Hals fallen. Als Sahnehäubchen enthüllen sie ein Banner mit dem Schriftzug: „Willkommen in Irland, liebe Hope“. Nein bitte, ich halt das nicht aus. Ich bin schon von der Deko vollkommen reizüberflutet.
„Hope, willkommen in unserer Familie“, begrüßt mich Tante Claire, mit bis zur Schmerzgrenze verstellter Stimme. „Erkennst du deine Cousinen noch? Das sind Emma und Lydia.“ Zwei blondgelockte Engel nehmen mich von je einer Seite in die Mangel. Sie sind sehr hübsche Zwillingsschwestern und gleich alt wie ich.
Kaum zu glauben, dass unsere Väter Brüder waren. Onkel Tim ist strohblond und mein Dad hatte kohlrabenschwarzes Haar. Das habe ich von ihm geerbt. Meine schwarzen, großen Locken reichen mir mittlerweile bis zur Hüfte. Die graugrünen Augen bilden dazu einen optimalen Kontrast und stechen förmlich heraus.
„Hallo Cousinchen“, stoßen die Zwillinge synchron aus. Nun tritt wieder dieses unangenehme Schweigen ein, währenddessen sie auf eine Regung meinerseits warten – und enttäuscht werden.
Tante Claire räuspert sich. „Ach, sie ist schüchtern. Komm erst mal rein. Du musst erschöpft und hungrig sein. Ich habe Eintopf gemacht.“ Eigentlich will ich nur schlafen. Der Flug war echt abartig lang.
Sie stellt mir den Teller vor die Nase und ich werde aus allen Himmelsrichtungen vollgelabert. „Schätzchen, bitte rühre im Uhrzeigersinn, das bringt Glück“, ermahnt mich meine Tante, die mir soeben Salz über die Schulter pfeffert. Mann, das gibt’s doch nicht. Schon ab dem zweiten Satz, der hier bei Tisch in mein Ohr dringt, bin ich wieder in Gedanken versunken.
Nach einer Ewigkeit wird ihre Aufmerksamkeit von etwas abgelenkt und sie überschütten irgendein Haustier, das ich nicht sehen kann, mit überschwänglicher Babysprache.
„Ja wo ist er denn? Komm Putzi, leg dich zu mir“, quietscht Emma.
„Nein, komm zu mir“, verlangt Lydia.
Das pelzige Etwas hat sich – wie kann es auch anders sein – entschlossen, mich mit seiner Gesellschaft zu quälen, denn es lehnt sich schnurrend an meine Seite. Eine weiße Katze – wunderbar. Sogleich fängt meine Nase an zu jucken und ich niese gefühlte hundertmal hintereinander.
„Oh, bist du gegen Katzen allergisch, Liebes?“, will Tante Claire wissen. Nein, ich hab eine Stauballergie. Was für eine blöde Frage ist das denn? Glücklicherweise verfrachtet sie Putzi aus dem Raum, bevor ich einen anaphylaktischen Schock erleide.
„Oh, schon so spät“, informiert uns Onkel Tim. „Schlafenszeit“, prustet er. Meine Cousinen hüpfen vergnügt herum, als würden sie sich darauf freuen. Es ist nicht mal zehn Uhr. Wer geht denn so früh schlafen?
„Darf ich das Gebet sprechen?“, fragt Emma – immer noch hopsend.
„Nein Emma, diese Ehre gebührt unserem Gast.“ Was? Nein, das könnt ihr vergessen. Mit Gebeten hab ich nichts am Hut.
„Komm, ich zeig dir dein Zimmer“, schlägt Tante Claire vor. Das wurde aber auch Zeit. So viel Hyperaktivität in einem Raum hält niemand aus.
Ich steige hinter Claire die Treppe empor. Wir gelangen zu einem Abschnitt mit ziemlich steilen Stufen, die augenscheinlich unters Dach führen.
„Wir haben den Dachboden leider noch nicht fertig ausgebaut, aber du hast da oben dein eigenes Reich. Das Badezimmer ist allerdings auf dieser Etage.“ Egal. Hauptsache ich muss mir kein Zimmer mit den Barbies teilen. „Du kannst ja schon einmal auspacken und den Pyjama anziehen. Du hast doch nichts Rotes an, oder? Das ist nämlich die Farbe des Teufels.“ Meine Fresse. „In ein paar Minuten treffen wir uns im Zimmer deiner Cousinen zum Beten. Ach und nachher gibt es noch Gruppenkuscheln.“ Was? Gruppenkuscheln? Das kannst du vergessen.
So schnell ich kann, steige ich die Treppe hoch und schließe die Türe hinter mir. Man kann sie sogar von innen verriegeln. Hab ich ein Glück.
Es ist ziemlich kalt hier oben, aber ich habe jede Menge Platz. Das Bett – eine Matratze – liegt gleich am Fenster. Von hier aus kann man bis zum Wald sehen.
Ich bin bereits wieder in einem Paralleluniversum, das meinem Kopf entsprungen ist, als sie nach mir rufen. Nach ein paar Versuchen, mich doch noch zu der Gruppenaktion zu nötigen, geben sie glücklicherweise auf.
Ich will nicht undankbar erscheinen, sie sind sehr nett, aber mir ist das alles gerade etwas zu viel. Sie stemmen mich mit dem Brecheisen in diese Familie. Eins ist klar – mit achtzehn bin ich weg.
Es ist gerade mal zwei Uhr morgens, da schrecke ich aus einem Alptraum hoch. Genaugenommen ist es der Traum, der mich jede Nacht verfolgt. Meine Decke hat sich im Schlaf verabschiedet, dementsprechend friere ich.
Ich beschließe, mir ein Glas Wasser aus der Küche zu holen und steige die Treppen zum Wohnraum hinab. Überall glühen beleuchtete Deko-Weihnachtsmänner vor sich hin.
Schon mal was von Stromsparen gehört? Ach egal – so brauche ich wenigstens kein Licht zu machen.
In der offenen Wohn-Essküche setze ich mich an den Tresen. Dabei spiele ich gelangweilt mit einem Strohstern, der mir genau vorm Auge hängt.
Eigentlich mache ich immer die Glotze an, wenn ich nicht schlafen kann. Vergeblich suche ich nach dem Gerät. Sag nicht, sie haben keinen Fernseher. Die sind echt schräg drauf.
Ich werfe mich auf die Couch und fische ein paar Zeitschriften hervor.
Kirchenblatt
Wir lieben unsere Gemeinschaft
Die fromme Botschaft Irlands
Kann mich bitte jemand hier rausholen? Ich hab echt nichts gegen Religion. Jeder kann an das glauben, an das er möchte, aber man kann alles übertreiben.
Das Bücherregal sieht auch mager aus. Sie haben nicht ein „normales“ Buch.
Also, fassen wir mal zusammen: Keine Glotze, kein Radio, keine Elektrogeräte – nicht mal ein Kühlschrank. Nur ein veralteter Tischherd, den man beheizen muss. Gegen einen spartanischen Lebensstil ist überhaupt nichts einzuwenden, aber wer hat denn bitte keinen Kühlschrank? Gelangweilt lege ich die Füße hoch und blase Trübsal. Dabei werde ich schläfrig.
Ich schrecke hoch, denn etwas Pelziges hat sich gerade auf mich fallengelassen. Die blöde Katze miaut in mein Ohr, wie eine Verrückte. Schlaftrunken und halb an einer Niesattacke krepierend, stoße ich das Vieh von mir. Draußen ist es noch dunkel. Wunderbar.
Die blöde Katze ist gerade schon wieder auf die Couch gesprungen und trampelt auf mir herum. Jetzt reichts. Wütend setze ich mich auf, um sie aus dem Zimmer zu jagen, da erstarre ich.
Vor mir steht eine schwarze Gestalt, die mit den Händen in der Luft herumfuchtelt. Okay, keine Panik. Du bist New Yorkerin und das ist ein Einbrecher, den du gerade auf frischer Tat ertappt hast – Korrigiere: Ein Einbrecher, der nun geradewegs auf dich zukommt.
Geistesgegenwärtig greife ich nach dem erstbesten Teil, das ich in die Finger kriegen kann. Mit aller Kraft schleudere ich ihm eine gläserne Weihnachtsmannfigur an den Schädel. Der Typ duckt sich weg, während das Teil an der Wand zerschellt. Okay, es hilft nichts. Mein Selbstverteidigungskurs muss her.
Der Riese will schon nach mir schnappen, da stoße ich seinen Arm weg und schlage ihm an den Hals. Das verschafft mir zwei Sekunden, in denen er sich fragt, wie ich das gemacht habe, die ich dazu nutze, an ihm vorbeizulaufen, nach dem Schürhaken zu greifen und ihm das Teil über die Rübe zu ziehen.
Er fängt meine Waffe im Flug ab und stößt mich im nächsten Moment zu Boden, sodass meine Schläfe hart aufschlägt. Vor Schmerz bleibt mir kurz die Luft weg. Als ich wieder so halbwegs zu mir komme, erkenne ich ihn über mir.
Seiner Hand ausweichend, die abermals nach mir greift, rolle ich mich herum, springe aus der liegenden Position hoch und schlage mit der Faust auf ihn ein.
Der Typ fängt sie ebenfalls in der Luft ab und drückt zu, was mich vor Schmerz keuchen lässt. Blitzschnell presst er mich an die Wand und hält mir den Mund zu. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, da es von der Kapuze verdeckt wird.
Im nächsten Augenblick poltert Onkel Tim herein. Schlagartig verschwindet die Last, die gegen meinen Körper drückt. Zu meiner absoluten Verblüffung ist die Gestalt weg. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Vollkommen erledigt sinke ich zu Boden und nehme gleich noch die gesamte Deko vom Kamin mit, an dem ich mich festhalten wollte.
Mein Onkel ist sichtlich darum bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. „Was ist denn hier passiert?“, stößt er haareraufend aus. Keine Ahnung, da war eben noch ein Einbrecher.
„Hattest du einen Wutausbruch?“, raunt er fuchsteufelswild. Ähm, nein. Ich rapple mich hoch und will nach einem Stift vom Couchtisch greifen, da ziehe ich scharf die Luft ein. Meine Schlaghand hat etwas abgekriegt. Na toll.
„Um Himmels willen.“ Claire ist mit meinen Cousinen hereingestürmt, die Zahnspangen mit Eisengestellen tragen, und hat die Hände vor den Mund geschlagen.
Meine Tante geht schluchzend in die Knie, sammelt die Reste ihrer Weihnachtsmänner auf, als wären sie einst lebendig gewesen, und wimmert vor sich hin. Wenn es nicht vollkommen irrational wäre, würde ich sagen, sie ist den Tränen nahe. Hey, was soll ich denn sagen? Ich hab gerade einen Typen erwischt, der eure Bude ausräumen wollte.
Jetzt reichts mir und ich kritzle mit der linken Hand die Buchstaben EINBRECHER auf eine der Zeitungen. Onkel Tim liest es stirnrunzelnd. Sein erster Blick ist auf die Fenster gerichtet, die unversehrt zu sein scheinen. Daraufhin eilt er aus dem Zimmer, um die Eingangstüre inklusive der Fenster im Erdgeschoss zu überprüfen, wie er soeben verlautbart.
„Die Türe ist fest verschlossen und unangetastet. Alle Fenster im Haus sind zu und in einwandfreiem Zustand. Willst du uns hier einen Bären aufbinden, Hope?“ Ich schüttle energisch den Kopf. Nein Mann.
„Bist du blöd?“, fragt mich Emma – zumindest glaube ich, dass sie das gesagt hat. Sie nuschelt ziemlich mit der Spange.
„Was ist mit deiner Hand?“, fragt mich Onkel Tim, während er sie grob an sich zieht. Ich ziehe erneut scharf die Luft ein. Aua. „Du hast dich wohl in deiner Rage selbst verletzt. Geschieht dir ganz recht. Los zieh dich an. Ich fahr dich zum Doktor.“ Er ist fuchsteufelswild. Nur mit großer Anstrengung schafft er es, sich zu beherrschen.
Die scheppernde Autotür ist wieder eines der Zeichen, die ihn verraten. Hey, der Einbrecher war da. So etwas bilde ich mir doch nicht ein.
Nach gefühlten Stunden im absoluten Schneechaos halten wir vor einem Haus. Der Morgen ist bereits angebrochen, da klingelt Onkel Tim an der Tür.
Ein älterer Mann im Morgenmantel macht uns auf. „Tim, was ist denn passiert?“ Der Mann – wahrscheinlich der Arzt – mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Verzeih die frühe Störung, Bob. Das ist meine Nichte. Sie hat eine Verletzung an der Hand. Ein Missgeschick. Könntest du mal einen Blick darauf werfen?“ Von wegen ein Missgeschick. Das war Freddie Krueger, bevor er sich in Luft aufgelöst hat.
„Ja natürlich, kommt doch rein. Das trifft sich gut. Der Austauschschüler ist auch schon eingetroffen. Er kann mir gleich assistieren.“
„Aha, wann ist er angekommen?“, will Onkel Tim wissen.
„Vor dreißig Minuten.“ Wir treten ein und Bob, der Arzt, bittet uns in ein kleines Behandlungszimmer.
„Wie ist das noch einmal passiert?“, fragt er mich. Ich starre ihn einfach an.
„Sie spricht nicht“, klärt ihn Onkel Tim auf.
„Aha, ist sie stumm?“
„Nein ist sie nicht“, antwortet Tim genervt.
„Also gut. Ich hole den Schüler – bin gleich zurück“, informiert mich der Doktor, bevor er mich alleinlässt. Onkel Tim wartet draußen – er will mir wohl aus dem Weg gehen. Mit Schwung setze ich mich auf das Behandlungsbett und döse geistig vor mich hin.
Ich weiß nicht, wie oft der Arzt nach mir gerufen hat, aber ich erwache erst aus meinem Tagtraum, als mich jemand am Arm berührt.
Wenn ich sprechen würde, würde ich jetzt: „Meine Fresse“ ausstoßen. Der „Schüler“, dessen Pranke mich gerade berührt hat, ist ein Muskelberg. Seine Augen strahlen hellblau und er lächelt freundlich. Der Typ trägt ein T-Shirt, das sich um seinen gewaltigen Bizeps spannt.
„Hallo, mein Name ist Fynn.“ Ich kann ihn nur anschmachten. Er ist echt gut gebaut und hat blondes, schulterlanges Haar, das mit einem Lederband zurückgebunden ist.
„Fynn ist Schüler und wird mir ein paar Wochen zur Hand gehen. Das macht dir doch nichts aus, wenn er bei deiner Untersuchung dabei ist?“, will Bob wissen. Wenn er das T-Shirt anbehält nicht, sonst garantiere ich für gar nichts.
Wir sind gerade wieder bei diesem bedrückenden Schweigen angelangt. Der Doktor unterbricht es mit einem: „Ach, ich vergaß, du sprichst ja nicht. Wieso eigentlich nicht?“ Hallooooo? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich darauf antworte?
Nach der nächsten Schweigeminute greift der Doktor nach meiner Hand und tastet die Gelenke ab. Ich kralle mich in den Stoff des Behandlungsbettes, um den Schmerz zu kompensieren.
„Tut das weh?“, fragt er doch tatsächlich, während er die Hand noch grober bearbeitet. Nein gar nicht – ich kipp nur gleich weg.
„Darf ich?“, unterbricht ihn Fynn und nimmt meine Hand aus der des Arztes entgegen. Mein Herz pocht stark. Deutlich sanfter als sein Vorgänger setzt er die Behandlung fort. Sein Blick zieht mich förmlich in den Bann. Als er dann noch mit seiner Hand meine Locken hinters Ohr streicht, schließe ich sogar kurz die Augen.
„Die Hand ist nicht gebrochen“, holt mich dann zurück in die Realität. „Sie hat eine Prellung an der Schläfe.“ Sag mal, geht’s noch? Jetzt schmachte ich schon den Austauschschüler an. Das sind der Jetlag oder die Hormone.
„Sehr gut, Fynn“, lobt ihn der Arzt.
„Wie ist das passiert?“, will Fynn nun von mir wissen. Sein Blick ist freundlich und offen. Mann, hat der schöne Augen. Der Kerl hat Grübchen inklusive Zahnarztlächeln. Das volle Paket. Sein Dialekt ist irgendwie komisch – er könnte Finne oder Osteuropäer sein.
Der Doktor holt Onkel Tim herein. „Tim, wie ist das noch mal passiert?“
„Sie ähm, ist gestürzt, über ähm … über die … Katze … auf die … ja Treppe … genau.“ Mann, wenn er schon lügt, sollte die Story zumindest glaubwürdiger rüberkommen.
„Aha“, stößt der Doktor stirnrunzelnd aus. Er glaubt ihm kein Wort.
„Wie heißt du?“, probiert es Fynn erneut. Gibs auf.
„Hope“, antwortet mein Onkel für mich.
„Hoffnung – welch schöner Name.“ Ja, krieg dich wieder ein.
„Tim“, unterbricht der Doktor die Flirtattacke, die Fynn zugegebenermaßen echt gut drauf hat. „Ich schlage vor, ihr fahrt ins Krankenhaus. Die Hand sollte zur Sicherheit noch geröntgt werden. Vielleicht ist ein Knochen verletzt.“
„Na wunderbar“, stößt Onkel Tim aus und deutet mir mit einer genervten Handbewegung, dass ich meinen Arsch hier rausschaffen soll. Das würde er mir nur zu gerne an den Kopf knallen, aber das erlaubt seine Selbstbeherrschung nicht. Zumindest nicht vor den Leuten. Was passiert, wenn wir wieder allein im Auto sind, vermag niemand vorherzusehen.
An der Eingangstür hält mich Fynn mit einem „Hope“ zurück. Ich stoppe, drehe mich aber nicht um. So süß ist er auch wieder nicht. „War schön, dich kennengelernt zu haben.“ Ich rolle mit den Augen. Mann, krieg dich wieder ein. Er hat wohl auch gerade einen Hormonschub – oder auch ’nen Jetlag. Ohne darauf zu reagieren steige ich ins Auto und lehne meinen Kopf ans Fenster.
„Sieh nur, was du angerichtet hast“, wirft mir Onkel Tim vor. „Jetzt lüge ich schon für dich.“ Naja, das üben wir aber noch – das war ja jämmerlich. „Bob kann nichts für sich behalten. Wenn ich ihm die Wahrheit über deine Aggressionen gesagt hätte, wäre dein Ruf im Dorf schon am ersten Tag ruiniert.“ Ja klar – Kleinstadtsyndrom. Mir ist es aber vollkommen egal, was die Leute über mich denken. Hauptsache, sie lassen mich in Ruhe.
Die ganze Autofahrt lang schimpft Onkel Tim vor sich hin. Ihm scheint es gewaltig gegen den Strich zu gehen, dass er die Austauschschüler, die bei seiner Familie leben sollen, nicht selbst begrüßen kann. Na wunderbar. Wahrscheinlich sind sie alle bei einer internationalen Bibelgruppe, die die Sprösslinge tauschen – zur gegenseitigen Bekehrung. Mir bleibt echt nichts erspart.
Vor dem Krankenhaus setzt mich Tim ab, steckt mir ein paar Geldscheine zu und braust davon. Mein Onkel hat mir aufgetragen, ein Taxi zu nehmen, wenn ich fertig bin. Bin ich froh, immerhin bleibt mir so eine Autofahrt mit dieser Quasselstrippe erspart.
Im Krankenhaus ist kaum was los. Sie sagen, die Straßen sind total vereist und viele Leute bleiben zu Hause. Naja, zumindest komme ich so früher dran.
Sie verpassen mir einen Verband, da die Hand nur geprellt ist. Eine Schwester klatscht mir daraufhin einen Eisbeutel an die Birne. Nach zwanzig Minuten bin ich fertig und steige in ein Taxi zurück zum Haus meines Onkels. Der Schneefall ist noch stärker geworden, was den Taxifahrer im Sekundentakt fluchen lässt.
Irgendwo im Nichts fährt er rechts ran und schmeißt mich raus. Die Straßen sind unpassierbar – sagt er zumindest. Seine Wegbeschreibung „Immer der Nase nach“ lässt Aggressionen in mir aufsteigen.
Dann heißt es also ab jetzt zu Fuß gehen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Die Temperaturen liegen weit unter dem Gefrierpunkt. Der Wind bläst so stark, dass mich meine Jacke kaum zu wärmen vermag. Meine Zehen sind schon auf halber Strecke abgestorben. Stoisch setze ich nur mehr noch einen Fuß vor den anderen.
Ich weiß nicht wie, aber nach einem schier endlosen Horrortrip durch das Schneegestöber tut sich dann doch das Haus meines Onkels vor mir auf.
Natürlich klopfe ich mir die Stiefel keine siebenmal ab. Zugegebenermaßen hätte ich ganz schön Lust, ihnen ein „Hallooooo, ich trete ein und bringe jede Menge Unglück herein“ ins Haus zu brüllen.
Im Flur reiße ich mir erst einmal die völlig durchnässte Jacke und Mütze vom Leib. Auf dem Spießrutenlauf vorbei an der Deko, die den Weg förmlich pflastert, bleibt mein Fuß irgendwo hängen, was mich vorwärtsstolpern lässt. Mit einem dumpfen Laut legt es mich so richtig schön der Länge nach hin.
Nach ein paar Sekunden rolle ich mich genervt auf den Rücken. Strohsterne, die sich von einem Mobile über mir gelöst haben, rieseln auf mich nieder. Schützend halte ich mir die Arme übers Gesicht. Sowas kann nämlich ins Auge gehen. Einen kurzen Moment bleibe ich einfach liegen und frage mich, ob Deko töten kann.
Ein „Hast du dich verletzt?“ lässt mich die Arme vom Gesicht nehmen. Der nächste heiße Typ kniet über mir. Der hier hat aber schwarze Haare und Wimpern, für die jede Frau töten würde. Seine Züge sind so männlich, dass ich meinen Blick nur schwer abwenden kann. Halleluja jauchze ich in Gedanken, während ich mich hochrapple. Als Draufgabe stoße ich gleich noch einen Weihnachtsengel vom Regal, an dem ich mich hochziehen wollte. Er stürzt kopfüber zu Boden. Der Muskelprotz fängt ihn natürlich im freien Fall, schnappt mich auch noch gleich und zieht uns beide hoch. Unsere Blicke verfangen sich ineinander. Sag mal, wieso ist es plötzlich so heiß hier drin?
„Jetzt halte ich bereits zwei Engel in meinen Armen“, reißt mich aus dem Schmachten. Okay, Herzensbrecher-Alarm. Gegen solch schleimige Typen bin ich immun. Zumindest versuche ich, mir das einzureden. Im nächsten Augenblick reiße ich mich von ihm los und schüttle genervt die Sterne ab.
„Wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lucien. Ich und zwei weitere Männer sind hier zu Gast.“ Männer? Der ist höchstens neunzehn. Auch er spricht in diesem eigenartigen Dialekt. Die stammen wohl alle aus demselben Land.
Unbeeindruckt lasse ich Mister Perfekt stehen und betrete den Wohn-Essbereich. Zwei weitere Jungs erheben sich synchron von der Couch. Einer von ihnen trägt eine Mönchskutte. Der andere hat braune, strubbelige Haare und scheint ebenfalls im selben Bodybuilding-Programm zu sein.
„Das sind Kadien und Tristan“, stellt sie Lucien vor. Beide nicken. Was für seltsame Namen.
Tristan – der Strubbelhaar-Muskelprotz – fragt: „Und wie ist dein Name?“
Ich habe Kopfschmerzen. Eigentlich will ich nur in Ruhe gelassen werden. Dementsprechend genervt trete ich ans Fenster und öffne es. Der Sturm weht Schnee herein. Ich frage mich, ob dieser kurze Moment reicht, um schockgefrostet zu werden. Den Gedanken verwerfe ich sogleich – meinen Chemiekurs reflektierend – während ich nach einer Handvoll Schnee vom Fensterbrett greife. Damit lasse ich mich, ihnen den Rücken zukehrend, auf den Hocker am Küchentresen sinken.
Mithilfe eines gezielten Schlages auf die Tresenkante öffne ich den Kronkorken der Colaflasche, die ich aus einem Automaten im Krankenhaus befreit habe, und nehme einen genüsslichen Schluck. Tut das gut. Mit der anderen Hand klatsche ich mir den Schnee an den pochenden Schädel. Die Kohlensäure lässt mich laut rülpsen. Ups. Ich hatte ganz vergessen, dass ich Gesellschaft habe. Hoffentlich haben sie es nicht mitbekommen – obwohl, das war ja kaum zu überhören.
„Hat sie gerade gerülpst?“, stößt einer von ihnen aus. Ich lächle. Das schickt sich in ihrer Glaubensgemeinschaft wohl nicht.
Die blöde Katze springt neben mir auf den Tresen und stößt mit ihrem Kopf an meinen. Dabei schnurrt sie so laut, dass es mir die Gänsehaut aufzieht. Der kurze Moment hat gereicht, einen erneuten Niesanfall zu provozieren, bevor ich sie vom Tresen schubsen konnte.
Plötzlich zieht jemand neben mir scharf die Luft ein. „Was machst du da?“ Onkel Tim hat die Augen weit aufgerissen. Hey, die Katze ist sauber gelandet. Die haben sowieso mehrere Leben.
Tim kommt auf mich zu und reißt mir die Flasche förmlich aus der Hand. „Was zum …?“ Sein Blick ist so ärgerlich, als hätte er mich gerade mit einer Flasche Bier erwischt.
„Das kommt mir nicht ins Haus“, erklärt er wütend. Hey, das ist ’ne Coke, kein Marihuana. Vor meinen Augen kippt er den Inhalt der Flasche in die Spüle. Da geht sie hin, meine Kaffee-Ersatzdroge.
„Hast du die Regeln nicht gelesen?“, knallt mir Onkel Tim vor den Latz. Nein, die müssen mir wohl, unter tonnenweise Deko begraben, entgangen sein.
„Du bist wohl eine Rebellin, Fräulein. Aber die Faxen werde ich dir schon noch austreiben.“ Viel Glück. „Du bist nicht vorzeigbar. Sieh nur, wie du aussiehst. So etwas kann ich meinen Gästen nicht zumuten. Geh in dein Zimmer!“ Stapf du mal stundenlang durch den Schnee.
Mal sehen, ob du dann noch vorzeigbar bist. Als ich nicht gleich reagiere, bäumt er sich vor mir auf.
„Mach schon Hope, ich werde mich nicht wiederholen“, droht er. Ich tu doch gar nichts. Lass mich doch noch ein bisschen auftauen, bevor ich auf den kalten Dachboden zurück muss.
Ein ungeduldiges „Nawarte, Fräulein“, gefolgt von seiner Hand an meinem Arm, die mich vom Hocker zieht, soll seinen Worten wohl Nachdruck verleihen.
Ich keuche vor Schmerz. Der Arm hat wohl auch etwas abbekommen. Onkel Tim lässt mich abrupt los und funkelt mich böse an. „Sag bloß, du hast dich auf dem Arm auch noch verletzt. Du machst wohl keine halben Sachen, was?“ Sieht ganz so aus.
Augenrollend lasse ich ihn stehen und steige die Treppen in mein Zimmer empor. Ich höre Onkel Tim noch beschwichtigen: „Verzeihung, sie ist hier nur zu Gast. Ignoriert sie einfach, wie wir es tun.“ Gute Idee, könntet ihr damit auch endlich mal anfangen?
In meinem Zimmer ist es eiskalt. Nachdem ich mich die halbe Nacht hin und her gewälzt habe, beschließe ich, erneut ins Wohnzimmer zu gehen.
Auf dem Weg nach unten trete ich auf ein unbekanntes Deko-Objekt. Mann, was für eine Todesfalle. Hier müssten lauter Schilder mit der Aufschrift: „Vorsicht Deko – akute Lebensgefahr“ hängen.
Irgendwie habe ich es doch noch in einem Stück runter geschafft. Hier muss doch irgendwo etwas Essbares sein.
Ich versuche mein Glück in einem der Hängeschränke, den ich nach Schokolade durchforste. Natürlich bin ich zu klein und muss mich weit nach oben strecken, um heranzukommen. Nur noch ein paar Millimeter trennen mich von der Schachtel, in der ich Kekse vermute.
„Brauchst du Hilfe?“ Vor Schreck taumle ich zurück, löse eine Kettenreaktion aus und werde unter dem halben Schrankinhalt begraben. Nachdem es mich so richtig schön auf den Allerwertesten setzt wohlgemerkt.
Lucien ist schnell bei mir und fängt ein paar der schweren Sachen ab, bevor sie mich k. o. schlagen können. Er muss mich für einen absoluten Tollpatsch halten.
Dementsprechend belustigt sieht er auch aus, als er mir auf die Beine hilft. Ich erwidere sein Grinsen, während ich die Sachen aufhebe. Er hilft mir sogar dabei. Die Keksschachtel entreiße ich ihm aber, bevor er sie zurück in den Schrank räumen kann. Gierig versuche ich, an den Inhalt zu kommen.
„Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Ja genau, deshalb schleichst du dich auch von hinten an mich heran. Erst jetzt merke ich, dass er nur ein ausgewaschenes T-Shirt und Boxershorts trägt. Dabei fällt mir ein. Ich steh auch nur im Pyjama vor ihm. Unbeholfen versuche ich, das viel zu kurze T-Shirt über meinen Bauch zu ziehen. Die Tatsache, dass ich keinen BH trage, verdränge ich.
„Tim hat mir gesagt, dass dein Name Hope ist.“ Toll. Wen interessiert das?
Ich setze mich auf die Kücheninsel und lasse die Beine baumeln. Dabei stopfe ich mir unentwegt die harten Schokokekse rein. „Und, dass du nicht sprichst“, ergänzt er. Wunderbar. Sie reden über mich. Wahrscheinlich hat er ihnen noch gesagt, ich sei geistig unterentwickelt.
„Wie ist das passiert?“ Er zeigt auf den Verband, der meine rechte Hand ziert. Gänsehaut zieht sich über meinen Rücken. Ja, ich gebs zu. Als er vorhin hinter mir aufgetaucht ist, hatte ich kurz Angst, es wäre der Einbrecher.
„Hope?“ Seine Stimme holt mich aus meinen Gedanken und ich bemerke erst jetzt, dass er nähergekommen ist. Viel zu nahe, wohlgemerkt.
Warte, hey. Ich halte ihn mit der Faust an seiner Brust auf Abstand und schüttle warnend den Kopf. Mein erboster Blick soll ihm deutlich zeigen, dass er gerade in meinen Wohlfühlbereich eingedrungen ist.
Lucien hält inne, zieht aber im nächsten Augenblick etwas aus meinem Haar, das er mir vor die Nase hält. Deko-Alarm. Ein Strohstern hat sich in meinen Locken verfangen und nur auf den richtigen Moment gewartet, um mich hinterhältig zu piken. Genervt schnappe ich meine Mähne und durchpflüge sie mit den Fingern, dabei fällt noch ein weiterer Stern auf meinen Oberschenkel.
Bevor ich ihn abschütteln kann, greift Lucien danach und berührt mich dabei mit seiner Hand. Er lässt die Pranke sogar auf meinem Schenkel liegen. Wow, Grapsch-Attacke.
Wie eine Irre springe ich von der Arbeitsplatte. In der Bewegung stoße ich ihn mit beiden Händen von mir weg.
Lucien stolpert rückwärts und knallt gegen die Küchenschränke. Sein Blick ist mehr als verblüfft. Wütend schnappe ich mir die Keksschachtel und lasse ihn stehen. Was fällt ihm ein, mich zu begrapschen. Die finnischen Mädchen tolerieren das vielleicht, aber ich bin New Yorkerin. Den Kulturschock verpass ich ihm gerne, bevor das zur Gewohnheit wird.
Ein absolut nerviges Glockenklingeln, gefolgt von Claires „Guten Morgen Familie“, das durchs Haus hallt, lässt Aggressionen in mir hochsteigen.
Ich schnappe mir meinen Pullover, dessen Ärmel schon länger sind als das Teil selbst, und streife meine Jeans über.
Der Anblick des Frühstückstisches trägt nicht zur Besserung meiner Laune bei. Nicht nur, dass unsere drei Gäste mit von der Partie sind, nein, Emma und Lydia haben wohl eine akute Hormonausschüttung. Sie grinsen bis über beide Ohren und flüstern sich Dinge ins Ohr. Nach erfolgreicher Informationsübermittlung kichern sie sogar.
Schnell drehe ich mich wieder um. Bitte lass sie mich nicht gesehen haben. Ein „Hope“ aus dem Munde meines Onkels macht alle meine Hoffnungen schlagartig zunichte. Ertappt drehe ich mich um.
Die drei Jungs erheben sich von ihren Plätzen, was mich mit den Augen rollen lässt. Sie lassen echt die Gentlemen raushängen. Kann ich in meinem Zimmer frühstücken? Geht das?
„Setz dich, Hope. Wir haben auf dich gewartet. Und dreimal darfst du raten, wer an der Reihe ist, das Gebet zu sprechen“, informiert mich Onkel Tim. Das geht grad gar nicht. Ich pack die heile Welt noch nicht so früh am Morgen. Der gesellschaftliche Druck ist zu groß. Ich ergebe mich und nehme neben meiner Cousine auf der Bank Platz.
„Daddy, das ist aber mein Platz“, schmollt Emma. Genervt stehe ich wieder auf nachdem sie mich schon an den Rand gedrängt hat. Kopfschüttelnd umrunde ich den Tisch und versuche es am anderen Ende der Bank.
„Das ist mein Platz“, stößt Lydia aus, da haben meine Arschbacken noch nicht mal die Polsterung berührt.
„Dann nehmt sie doch in die Mitte, Mädchen“, schlägt Claire vor. Mann, wenn es schon ewig dauert bis ich sitze wird sich dieses Frühstück sicher endlos hinziehen.
Gefühlte Minuten später bin ich zwischen den Barbies eingekeilt, die nun hinter meinem Rücken tuscheln.
„Reicht euch die Hände“, verlangt Tim. Alle tun sofort, was er sagt. Alle bis auf meine Wenigkeit. Ich hab die Null-Bock-Einstellung und unterbreche ihren Kreis des Vertrauens. Jetzt weiß ich auch, warum meine Cousinen ihren Platz förmlich mit ihrem Leben verteidigt haben. So dürfen sie Händchen mit den Jungs halten. Wie überaus kindisch. Man könnte meinen, sie wären zwölf.
„Hope“, fordert mein Onkel ungeduldig. Jetzt weiß ich, was alle immer mit dem Wort „Gruppenzwang“ meinen und darf es am eigenen Leib erfahren. Ich lege meine Hände, die mit meinen Ärmeln bedeckt sind, auf den Tisch vor mich. Meine Cousinen ergreifen sie kichernd. Nun starren alle erwartungsvoll auf mich.
„Hope, wie wäre es, wenn du dein Schweigen brichst und uns mit einem Gebet erfreust?“, schlägt Claire vor. Gegenvorschlag: Wie wärs, wenn du endlich aufgibst, mein Schweigen brechen zu wollen.
„Hast du ein Schweigegelübde abgelegt?“, will Kadien, der Mönch, wissen. Seh ich so aus, als wär ich Nonne? Claire seufzt lautstark.
Ich bin bereits wieder in einem Tagtraum versunken – mitunter auch, weil mich die sinnlosen Informationen, die meine Cousinen hinter meinem Rücken austauschen, in den sicheren Wahnsinn treiben würden.
„Hope! Hallo? Ist jemand zu Hause?“, ruft mein Onkel und winkt mir zu. „Willst du das auch essen oder nur damit herumspielen?“ Mein Honigbrot sieht echt abartig aus. Mir ist der Appetit vergangen. Zeit abzuhauen.
„Wir stehen erst auf, wenn alle aufgegessen haben. Das ist Regel Nummer drei“, stopft Tim meine klaffende Wissenslücke bezüglich der Hausordnung.
Da meine Cousinen keine Anstalten machen, mich rauszulassen, stemme ich mich auf den Tisch und hüpfe mit den Beinen zuerst auf die Bank, dann auf den Frühstückstisch. Daraufhin steige ich zwischen dem Geschirr hindurch und bahne mir einen Weg zwischen ihren Marmeladenbrötchen hindurch. Die Tischhöhe überwinde ich, indem ich neben Luciens Stuhl auf den Boden springe.
Bei Claire hat Schnappatmung eingesetzt, mein Onkel schimpft mir hinterher, aber ich ignoriere ihn.
In meinem Zimmer ziehe ich meine Laufkleidung an. Wenn ich mich nicht bald bewege, dreh ich in dieser Spießerbude noch durch.
Vor der Haustüre pralle ich gegen Tristan, der gerade die Einfahrt freischaufelt. Sorry, hab dich glatt übersehen. Lucien ist am Holzhacken und hat tatsächlich den Pullover ausgezogen. Das T-Shirt klebt ihm am schweißnassen Körper, was sein Sixpack hervorblitzen lässt. Er schlägt das Holz so gekonnt entzwei, dass mir Hitze in den Körper steigt. Mann, ist der Kerl sexy – ist kaum zu ertragen.
Keinen Moment zu früh stöpsle ich mir meinen mp3-Player ein und schotte mich von meinem raunenden Onkel ab. „Hope, wo willst du hin? In diesem Haus meldet man sich ab, wenn man weggeht. Das ist Regel Nummer 10. Hope! Hörst du nicht?“ Ich bin sein schlimmster Alptraum.
Bevor er mich erreicht hat, fixiere ich meine Mähne in einem Pferdeschwanz, setze meine Mütze auf und sprinte los.
Die Straßen sind glücklicherweise vom Schnee geräumt und ich komme gut voran. Ich will in die Stadt – dort habe ich im Vorbeifahren dieses Café gesehen. Immerhin ist Koffein ein Grundnahrungsmittel. Meine Entzugserscheinungen machen mich noch zu einer wandelnden Gefahr für meine Mitmenschen.
Völlig abgehetzt und wie ein Junkie lechzend, betrete ich nach einer halben Stunde mein Ziel. Hier sitzt – zu meinem Ärgernis – wieder eine Horde dieser Finnen. Die ganze Stadt wimmelt von ihnen. Noch dazu habe ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Was ist? Noch nie Laufkleidung gesehen?
Ich öffne mein Haar und schüttle es kurz durch, um es etwas zu trocknen. Damit löse ich bei den Jungs ein Pfeifen und Grölen aus, das ich ignoriere. Okay, es sind doch Neandertaler.
Die spindeldürre Verkäuferin hinter dem Tresen reißt ihren Blick kurz von den Muskelprotzen los und sieht so aus, als ob ich sie gerade gerettet hätte. Das Mädchen ist wohl hier ganz allein mit den Hormongesteuerten.
Dementsprechend erleichtert stößt sie ein „Kaffee?“ aus. Ich nicke und krame in meiner Tasche nach Kleingeld, das ich auf den Tresen lege. Dabei erwische ich eine Münze genau so, dass sie sich wie ein Kreisel dreht. Das ist ziemlich schön anzusehen. Naja, zumindest bis sie jemand mit seiner Pranke, die auf die Platte schlägt, stoppt. Na toll, ein Männchen hat sich aus der Gruppe gelöst.
Es ist ein Riese, der eine Narbe auf der Wange trägt. Seine Augen sind so furchteinflößend, dass ich mich frage, ob er nicht ideal für die Geisterbahn wäre. Die suchen doch ständig Leute.
Vollkommen arrogant grinsend stößt er ein „Komm zu mir und setze dich auf meinen Schoß“ aus. Und das Beste ist – das war keine Frage – eher ein Befehl.
Ich ignoriere ihn und will schon nach meinem Kaffee greifen, da spüre ich seine Hand an meinem Hintern. Er packt so fest zu, dass ich keuche.
So Cowboy, das wars – jetzt bist du zu weit gegangen. Mit festem Griff packe ich den Stier an den Eiern – und das war jetzt nicht sprichwörtlich gemeint. Er zieht scharf die Luft ein. Vor Schmerz krümmt er sich über den Tresen. Das animiert mich, noch fester zuzupacken. Mit der linken Hand habe ich weniger Kraft, aber für so einen Idioten reichts noch. Der Stiernacken keucht wild. Ja, genieße es.
Die Verkäuferin hat die Augen verblüfft aufgerissen. Ich zeige auf die Karaffe mit dem Eiswasser, die sie mir ohne zu zögern verräterisch lächelnd reicht. Sie hat wohl auch schon Bekanntschaft mit dem Grapscher gemacht. In einem Guss leere ich den gesamten Inhalt über sein Haupt.
Die Abkühlung hat ihm sichtlich gutgetan, denn als ich ihn loslasse und von mir wegstoße, macht er keine Anstalten, einen Gegenangriff zu starten. Ihm ist die Verblüffung ins Gesicht geschrieben – und der Schmerz. Seine Freunde glotzen mich nur mit offenen Mündern an.
Ich merke gerade, dass er eins meiner Geldstücke mitgehen hat lassen, das er mir überheblich grinsend entgegenhält, um mich anzulocken. Respekt, er hat anscheinend noch nicht genug.
Gemächlich mache ich ein paar Schritte auf ihn zu, da lässt der Typ das Geldstück in seiner Faust verschwinden, was seine Freunde laut auflachen lässt. Glücklicherweise habe ich das bereits vorhergesehen und ihm einen kleinen Beutel, den er locker an seinem Gürtel befestigt hatte, gestohlen. Genauso grinsend halte ich ihm sein Eigentum hin. Das Teil ist ganz schön schwer und klimpert. Da ist sicher sein ganzes Kleingeld drin.
Ihm ist die Kinnlade auf den Boden geklappt. Hey, ich bin New Yorkerin, so etwas in der Art hat schon mal jemand mit mir bei Starbucks abgezogen.
Ich zeige auf die Verkäuferin. Nickend wirft er ihr das Geldstück zu und fordert seinen Beutel. Lächelnd werfe ich das Teil vor mir in die Luft und kicke es mit dem Fuß auf ihn zu. Der Beutel prallt hart an seiner Brust ab, was ihn abermals keuchen lässt. Da ich früher geturnt habe, habe ich mich gleich noch in der Luft gedreht und bin sauber gelandet.
Vollkommen entspannt binde ich mein Haar wieder zurück, greife nach meinem Kaffee und verlasse das Lokal. Diesen Finnen muss mal jemand Manieren beibringen. Ist doch nicht zu fassen, dass er mir an den Hintern gefasst hat.
In ein paar hastigen Zügen kippe ich das Koffein in meinen Schlund und verfrachte den Becher in einen Mülleimer. Ich merke gerade, dass an jedem Schaufenster, an dem ich vorbeikomme, ein echtes Hufeisen hängt. Die sind aber echt abergläubisch hier. Mein Blick wandert weiter. Neben den Verkehrsschildern stehen Tafeln mit vierblättrigen Kleeblättern in der Gegend herum. Meine Fresse.
Direkt vorm Buchladen pralle ich frontal in einen Körper. Fynn, der Austauschschüler vom Doktor, lächelt mich überrascht an. Er hat ein Mädchen dabei, das so blond ist wie er und ihn von der Seite anschmachtet. Das Püppchen ist alles andere als begeistert, dass ich ihr die Aufmerksamkeit abziehe, was mich ein böses Augenfunkeln ihrerseits kassieren lässt.
„Hallo Hope. Wie geht’s deiner Hand?“, will Fynn freudestrahlend wissen.
Ist eigentlich schon viel besser. Ich zucke nur mit den Schultern und will an ihm vorbei, da hält er mich am Arm zurück, den ich ihm gleich wieder wegziehe. Für meinen Geschmack habe ich heute schon genug Übergriffe von finnischen Muskelprotzen ertragen müssen.
Er räuspert sich unbeholfen. „Kommst du morgen zum Dorffest?“ Eher nicht. Hab bereits eine Überdosis Kitsch abbekommen. Wieder zucke ich gelangweilt mit den Schultern und lasse ihn einfach stehen. Nichts wie weg hier.
Ich weite meine Runde noch aus und laufe an vielen Häuschen vorbei, an denen ebenfalls Austauschschüler damit beschäftigt sind, Arbeiten zu verrichten. Wie viele gibt es eigentlich von ihnen? Das ist ja wie eine Invasion. Die ganze Stadt scheint nur noch aus Finnen zu bestehen.
Auf dem Rückweg komme ich an einer Klippe vorbei. Ich atme die frische Luft tief ein. Ausnahmsweise schalte ich sogar meinen mp3-Player aus, um den sich brechenden Wellen zu lauschen.
Das Knacken von Ästen hinter mir lässt mich aufschrecken. Okay, jetzt werde ich paranoid. Wahrscheinlich war das nur der Schatten eines Tieres, den ich am Waldrand gesehen habe. Oder ich spinne bereits – was viel wahrscheinlicher ist.
Der Schneefall ist stärker geworden. Aus dem böigen Wind ist ein ausgewachsener Sturm geworden. Ich habe Mühe, die Türe zum Haus zu schließen und stemme mich mit vollem Körpereinsatz dagegen.
Hier drin ist es so stickig heiß, dass ich mir die Laufjacke förmlich vom Leib reiße. Mein Onkel steht bereits, mit vor der Brust verschränkten Armen, vor mir.
„Wo warst du, Fräulein?“ Ist das nicht offensichtlich?
Da ihm die Erkenntnis nicht ins Gesicht geschrieben steht, helfe ich nach und halte ihm sogar meine Laufschuhe vor die Nase, als ich an ihm vorbeigehe.
„Du hast Hausarrest“, erklärt er mit erhobenem Zeigefinger. Ich zucke nur gelangweilt mit den Schultern. Bei dem Wetter kann man sowieso nirgends hin.
Im Wohnbereich finde ich die versammelte Mannschaft vor. So wie es aussieht, sind sie gerade dabei, die Jungs zu „unterhalten“. Emma und Lydia quasseln ohne Luft zu holen, während die Muskelprotze brav nicken.
Kopfschüttelnd schleiche ich mich vorbei. Ich brauch dringend eine Dusche – ich bin nicht mehr gesellschaftsfähig.
Sie sind augenscheinlich zu den Fotoalben übergegangen, als ich eine halbe Stunde später den Wohn-Essbereich betrete. Kurz hatte ich das Gefühl, einen Schatten am Fenster zu erkennen, tue es aber im nächsten Moment als optische Täuschung ab. Daraufhin falle ich fast über die Katze, die sich todesmutig vor meine Füße geschmissen hat, um sich schnurrend an mich zu kuscheln. Was für ein blödes Vieh. Wieso sucht sich das Ding kein anderes Opfer?
Die Jungs haben sich erneut höflich von ihren Plätzen am Tisch erhoben und unterbrechen kurz ihr Wackeldackel-Dauernicken.
„Sieh mal einer an. Hope beehrt uns mit ihrer geschätzten Anwesenheit“, spottet Onkel Tim.
„Hier, wir haben ein Foto von dir gefunden“, sagt Emma und hält mir ein Bild von einem meiner Turnwettbewerbe von vor zwei Jahren hin. Neben mir stehen Mum und Dad. Meine Eltern haben es wohl meinem Onkel geschickt. Von dem Foto löst sich eine Büroklammer und ein Zeitungsartikel segelt mitten auf den Tisch.
„Eltern bei Explosion ums Leben gekommen. Tochter überlebt unverletzt.“
Ich pack das gerade nicht, versuche aber vollkommen emotionslos zu bleiben. Die Bilder, die normalerweise nur in meinen Träumen hochkommen, fluten meinen Kopf. Ich presse die Fäuste zusammen, bis die Knöchel weiß hervortreten.
„Turnst du eigentlich noch?“, fragt mich Claire. Das ist ein Ablenkungsmanöver, damit sie den Zeitungsausschnitt unbemerkt unter dem Tisch verschwinden lassen kann.
Bevor ich eine Regung zeigen kann, kreischen meine Cousinen bereits: „Zeig uns ein Kunststück. Bitte, bitte, Hope.“ Kunststück? Glauben die etwa, ich bin eine Zirkusattraktion?
Lucien meldet sich zu Wort: „Das würde ich gerne sehen.“ Was du nicht sagst. Sie lassen nicht locker und bearbeiten mich von allen Seiten.
Vollkommen genervt gehe ich einige Schritte zurück und sprinte sogleich auf den Tisch zu. Meine Cousinen haben sich erschrocken, denn sie kreischen wild, aber da habe ich mich bereits mit meinem Fuß von der Tischkante in einen lockeren Rückwärtssalto katapultiert und bin sauber gelandet. Applaus setzt ein. Gelangweilt lasse ich mich im nächsten Augenblick auf die Couch fallen.
„Kannst du dich auch verbiegen? Zeig mal was“, fordert Lydia. Ich bin wieder dazu übergegangen, sie zu ignorieren, während ich versuche, diese anhängliche Katze, die sich andauernd an mich drängt, loszuwerden. Dabei niese ich mir die Seele aus dem Leib.
Claire befreit mich sogleich von dem Allergieauslöser und sperrt ihn in ein anderes Zimmer. Tschüss Putzi, auf Nimmerwiedersehen.
„Willst du dich nicht umziehen?“, fragt mich Lydia aufgeregt. Ich ziehe wieder ahnungslos die Schultern hoch.
„Na für die Bibelstunde in der Kirche“, informiert sie mich. Das kannst du vergessen. „Komm schon, das wird so ein Spaß.“ Meine Cousine zerrt sogar an meinem Arm. Bestimmt. Gut, dass ich Hausarrest habe.
Unter Androhung diverser Gräueltaten haben sie mich dazu genötigt, mitzugehen. Bevor ich „Null-Bock“ sagen kann, stapfe ich bereits mit drei Muskelprotzen und zwei Barbie-Quasselstrippen durch den Wald. Es ist bereits dunkel. Nur die Taschenlampen der Jungs erhellen die Winterlandschaft. Claire und Tim sind auch ausgegangen – zu irgendeiner Dorfversammlung.
Meine Cousinen starten absolut lächerliche Anmachversuche, bei denen sie sich in den Schnee fallenlassen und einen angeknacksten Knöchel simulieren. Lucien geht sogar darauf ein. Ritterlich hebt er Emma in seine Arme, die die ganze Zeit über in sein Ohr kichert. An seiner Stelle hätte ich sie wieder abgeladen. Sein belustigtes Gesicht bleibt mir aber dennoch nicht verborgen.
Tristan wird gerade von Lydia mit Schneebällen bearbeitet – er wirft nicht mal zurück, lächelt nur, aber es reicht nicht bis zu seinen Augen. Kadien hält sich im Hintergrund, betrachtet dieses Schauspiel aber mit hochgezogenen Augenbrauen. Er ist mir der Liebste von ihnen, denn er quatscht nicht so viel.
Ich mache Minischritte, um Abstand zu gewinnen. Das hält doch niemand auf Dauer aus.
Plötzlich vernehme ich hinter mir ein lautes Rascheln. Zwischen den Bäumen steht wieder diese schwarze Gestalt mit Umhang. Gefühlte Minuten starren wir einander nur an. Langsam trete ich zurück, während mir das Herz bis zum Hals schlägt.
Im nächsten Augenblick prallt mein Rücken gegen einen Körper. Dem Herzinfarkt nahe drehe ich mich um. Es ist bloß Lucien.
„Hope? Ist alles in Ordnung?“ Ich lasse es mir nicht nehmen, ihm an die Schulter zu boxen, weil er sich schon wieder an mich herangeschlichen und mich dabei fast zu Tode erschreckt hat. Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch.
Blitzschnell drehe ich mich wieder um und fixiere die Stelle, an der gerade eben noch diese Gestalt stand. Sie ist weg. Wenn sie weggelaufen wäre, hätte man das sicher im tiefen Schnee gehört. Toll, jetzt sehe ich schon Gespenster. Ich sollte mal ein CT machen lassen, da stimmt doch was nicht im Oberstübchen.
„Was hast du dort gesehen?“ Ich ignoriere Lucien und gehe weiter. Sein Arm hält mich zurück. Verärgert reiße ich mich los.
„Verzeih mir. Ich vergesse immerzu, dass du nicht berührt werden willst.“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass er damit recht haben könnte. Es ist mir irgendwie unangenehm, berührt zu werden.
„Dir muss etwas Schreckliches widerfahren sein. Hat es etwas mit dem Tod deiner Eltern zu tun? Ich habe dein Gesicht gesehen, als du das Foto betrachtet hast. Du hast es zwar gut verborgen, aber ich habe den Schmerz in deinen Augen gesehen. Sprichst du deshalb kein Wort?“ Für ein paar Sekunden fixiere ich ihn. Im nächsten Augenblick drehe ich mich um und will gehen.
„Hope, warte.“ Ich halte inne, sehe ihn aber nicht an, als er neben mir auftaucht.
„Du machst mir das hier echt schwer.“ Ich habe keine Ahnung, was er damit sagen will, also sehe ich einfach nur desinteressiert aus. Er lächelt.
„Hör zu, ich wollte die ganze Zeit über mit dir alleine sein.“ Was? Nein, jetzt mach mal halblang. „Verzeih mir, wenn ich etwas rüpelhaft wirke, du machst mich etwas nervös.“ Rüpelhaft? Wer sagt denn sowas? Ist das der Satz, bevor er wild knutschend über mich herfällt?
„Würdest du es erlauben, wenn ich dir den Hof mache?“ Wie bitte? Was zum Teufel soll das bedeuten? Sag nicht, er ist so ein Mittelalterspinner, der in Plastikrüstung und mit Laserschwert rumläuft. Der Typ hat sie echt nicht mehr alle.
Ich rolle mit den Augen und suche das Weite, bevor er mich noch „Holdes Weib“ nennt.
Auf dem Rückmarsch habe ich die ganze Zeit über das Gefühl, beobachtet zu werden. Jetzt hab ich wohl auch noch Verfolgungswahn.
Tristan grinst breit nachdem ich wieder zurück bei der Gruppe bin. Wieso habe ich das vorherrschende Bedürfnis, ihm eine aufs Maul zu hauen? Meine Cousinen sind augenscheinlich weniger begeistert über meine Rückkehr.
Ein paar Minuten später haben wir die Kirche erreicht und quetschen uns mit gefühlten hundert Jugendlichen in einen absolut stickigen Saal im Pfarrhaus. Mindestens dreißig dieser Finnen sind auch mit von der Partie. Sie werden von den Mädels regelrecht umzingelt. Der Grapscher aus dem Café ist auch unter ihnen.
Sie haben Stühle in einem riesigen Kreis angeordnet. Meine Cousinen drücken Tristan und Lucien auf Plätze neben sich. Ich grinse, die Jungs tun mir echt schon leid.
Ich frage mich, ob es zu spät ist, sich rauszuschleichen. Ist es nicht. Ohne Umschweife drehe ich mich um und drücke mich an den hereinströmenden Teenies vorbei.
Ein letzter Blick zurück soll mir zeigen, ob mein Fluchtversuch unbemerkt geblieben ist, da pralle ich frontal gegen einen Körper. Verdammt.
Schnell mache ich einen Schritt zurück und erstarre. Das sind die schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe. Der Junge, in den ich gerade hineingelaufen bin, ist groß und hat schwarze, lange Dreadlocks, die er mit einem Band fixiert hat. Er steht in Sachen Muskelmasse den Finnen um nichts nach. Sein Blick strahlt eine solche Intensität aus, dass ich darin zu versinken drohe. Sein Mantel ist schwarz und reicht ihm bis über die Knie. Er ist wohl aus der Gothic Szene. Augenblicklich spüre ich diese Außenseiterverbindung zwischen uns. Er passt hier genauso wenig rein wie ich.
Bevor ich in der rosa Seifenblase davonschwebe, lässt er sie mit einer Riesennadel platzen. Vollkommen unbeeindruckt umrundet er mich und lässt mich stehen. Er stößt nicht mal ein „Verzeihung“ aus.
Ein paar Sekunden bin ich einfach nur geflasht. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Naja, bemerken hätte er mich schon können. Jetzt bin ich echt deprimiert. Die Situation bestärkt mich, meinen Plan zu Ende zu bringen und abzuhauen.
Natürlich habe ich Pech, denn der Pfarrer kommt mir schon von Weitem entgegen. „Schäfchen, dreh dich um, in der anderen Richtung liegt dein Ziel“, prustet er mir zu. So viel zum Plan. Wütend stapfe ich zurück in den Saal. Spinne ich oder hat er mich grad echt Schäfchen genannt?
Da alle schon sitzen, bekomme ich natürlich die geballte Ladung Aufmerksamkeit ab. Bloß der Junge mit den Dreads, von dem ich sie mir gewünscht hätte, spielt gelangweilt mit seinem Handy. Fynn winkt mir fröhlich zu. Ich ignoriere ihn natürlich. Sind wir hier im Kindergarten, oder was?
Genervt lasse ich mich auf einen der freien Plätze neben Kadien fallen. Ihn scheinen diese Hormonwütigen zu meiden, da er Sperrgebiet ist. Mann, wie kann man bloß Mönch werden?
Er sieht ganz gut aus – was für eine Verschwendung.
Nach den ersten Worten des Pfarrers, der uns überschwänglich als seine Herde bezeichnet, drifte ich gedanklich ab.
Jemand hat mir gerade den Ellbogen in die Seite gerammt, was mich aus meinem Tagtraum erwachen lässt. Es war Kadien, der mich eindringlich ansieht. Okay, was hab ich verpasst?
Alle starren auf mich und scheinen auf irgendetwas zu warten.
„Sie spricht nicht“, stößt Lydia aus.
„Aha, warum denn nicht?“, will der Pfarrer, mit auf mich gerichteten Blick, wissen. Wieso erwarten immer alle darauf eine Antwort?
„Soll ich sie vorstellen?“, schlägt meine Cousine vor. Ja unbedingt. Du kennst mich ja schon eine Ewigkeit – ein paar Tage, um genau zu sein.
„Das ist eine gute Idee, Emma.“
„Lydia“, korrigiert sie den Geistlichen schmollend.
„Verzeihung, Lydia natürlich“, beschwichtigt er.
„Also“, fährt sie fort. „Ihr Name ist Hope und sie ist unsere Cousine. Sie kommt aus New York und wohnt seit ein paar Tagen hier. Daddy hat sie bei uns aufgenommen, weil sie nach dem Unfall ihrer Eltern keine Familie mehr hat.“ Ohhh, eine Runde Mitleid bitte. Mann, die Information hätte sie ruhig steckenlassen können. „Daddy sagt, sie war in einer Irrenanstalt.“ Diese Information übrigens auch. „Wir sollen sie aber nicht darauf ansprechen, damit sie sich nicht aufregt. Außerdem habe ich gesehen, dass sie eine Tätowierung hat. Ich bin rein zufällig ins Badezimmer, als sie sich geföhnt hat. Da habe ich es gesehen. Es zeigt einen nackten Mann mit Flügeln. Er hat Hörner auf dem Kopf.“ Danke Lydia. Das war gerade die Lektion: Wie zerstöre ich Hopes Kleinstadtruf in nur zehn Sekunden. Sogar dem Pfarrer steht der Mund sperrangelweit offen.
Die Blicke der Sesselkreisteilnehmer sprechen Bände. Ihnen ist die Tatsache, neben einer Irren zu sitzen, sichtlich unangenehm. Sogar Kadien geht etwas auf Abstand.
Wow, das war wohl die Retourkutsche, weil ich mit Lucien allein war. Ich wusste, dass sie es mir übel nehmen. In ihren Gesichtern war blanker Neid zu erkennen. So süß ist er auch wieder nicht. Ihr könnt ihn gerne haben.
Im Raum bricht gerade angeregtes Tuscheln aus, das der Pfarrer mit lautem Händeklatschen unterbindet. „Bitte … Schäfchen, auch die verlorenen Seelen haben eine Berechtigung, hier auf Erden zu verweilen“, prustet er. Wow, er hat meine Seele wohl bereits abgeschrieben. Er scheint erst jetzt zu bemerken, wie abartig das gerade geklungen hat.
Im Raum könnte man eine Stecknadel fallen hören. Ein paar Mädchen haben sogar die Luft hörbar eingezogen. Ich nutze ihre Benommenheit für meinen Abgang.
Den ganzen Weg aus dem Gebäude lächle ich. Wenn sie denken, ich bete den Teufel an, dann lassen sie mich wenigstens in Ruhe und ich muss mir diese Gruppenscheiße nicht mehr antun.
Zu meiner Verblüffung sind die Türen verriegelt. Wieso sollte der Pfarrer uns hier einsperren? Das ist echt schräg.
Vielleicht gibt es ja einen Hinterausgang. Ich will gerade danach suchen, da kommt mir der Geistliche mit dem Schlüssel entgegen.
„Jede Herde hat auch schwarze Schäfchen“, soll wohl geistreich sein. Ich kapier den tieferen Sinn seiner Worte nicht. Das Schloss klackt laut auf und entlässt mich in die ersehnte Freiheit.
Gut, dass ich Kadien vorhin die Taschenlampe geklaut habe, sonst wär das hier noch grusliger. Hinter mir vernehme ich jedoch wenig später wieder Stimmen, die die Hoffnung auf Einsamkeit sogleich im Keim ersticken lassen.
„Hope?“ Mann, kann man hier nicht mal seine Ruhe haben? Meine Cousinen und die Jungs tauchen aus der Dunkelheit auf.
„Du darfst nicht alleine durch den Wald gehen. Sonst holen sie dich noch. Außerdem spukt es hier“, ermahnt mich Lydia ärgerlich. Werd endlich erwachsen.
Luciens und meine Blicke treffen sich. Sieht so aus, als wolle er einen Rückzieher machen und sich einen anderen Hof suchen. Er ist distanziert und sichtlich unschlüssig, wie er mit mir nun umgehen soll. Nicht zu fassen, dass er sich von so einer Story beeindrucken lässt. Sichtlich amüsiert laufe ich einfach stur weiter.
Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Die Außenweihnachtsbeleuchtung des Hauses ist ausgefallen. Ich hatte fast vergessen, wie es ist, nicht bis zur Schmerzgrenze geblendet zu werden, wenn man auf die Türschwelle tritt.
Hinter mir ertönen die aufgebrachten Schreie meiner Cousinen. Ja, lasst es einfach gut sein ihr Weibchen. Die „Mädchen in Not“-Masche hat schon letztes Mal kaum gezogen. Ist nur ein Stromausfall – kein Grund durchzudrehen.
„Hope!“ Mann, was ist denn? Bin ich hier von lauter Hosenscheißern umgeben?
Ich will gerade nach der Türklinke greifen, da packt mich Lucien wild und zieht mich grob von der Türmatte. Jetzt übertreibt er aber maßlos. Meine Taschenlampe fällt dem Angriff zum Opfer und beleuchtet die Eingangstüre. Wow, jemand hat ein schwarzes X draufgemalt.
„Komm von der Tür weg, Hope“, reißt mich aus dem Aufstellen von Hypothesen, welcher Sprayer sich in diese Einöde verlaufen haben könnte.
Lucien zerrt mich weg und übergibt mich an Kadien, der sichtlich überfordert ist. Nein warte, er hat Angst vor mir. Wütend schubse ich den Mönch in den Schnee, bevor ich Lucien und Tristan ins Haus folge.
Kopfschüttelnd öffne ich den Schrank im Flur, in dem ich die Sicherungen vermute. Genervt lege ich den Schalter um. Das Licht wird jeden Eindringling in die Flucht schlagen – das oder der Anblick der Deko.
Keinen Wimpernschlag später poltert Onkel Tim zur Tür rein. „Du bleibst, wo du bist“, befiehlt er mir aufgebracht.
Hallooooo, ich bin New Yorkerin. Wenn wir bei dem bisschen Vandalismus schon die Nerven wegschmeißen würden, würden wir pausenlos wie kreischende Zombies herumlaufen.
Claire hält ihre weinenden Töchter fest umschlungen, als wir wenig später zusammen im Wohnzimmer sitzen. Onkel Tim läuft Spuren in den Teppich und die Jungs hängen ihren Gedanken nach.
Ich beobachte diese Heulbojen kopfschüttelnd. Wie kann man nur so überreagieren?
Vollkommen genervt greife ich nach einem Block und kritzle die Worte:
Könntet ihr euch mal wieder einkriegen!!! darauf. Ich knalle das Papier auf den Couchtisch vor ihre Nasen und tippe darauf. Onkel Tim kommt näher und liest es laut vor. Daraufhin erwidert er: „Du verstehst das nicht, Hope.“ Ja wunderbar. Erneut greife ich nach dem Block.
Dann erklärs mir.
Mein Onkel scheint zu überlegen, winkt aber ab. „Wir sollten zu Bett gehen“, schlägt er vor. Wütend kralle ich mir erneut den Block.
Vielleicht wars wieder der Einbrecher.
Blitzschnell zerknüllt mein Onkel das Blatt. „Welcher Einbrecher?“, will Lucien wissen, der die Worte wohl noch aufschnappen konnte, bevor sich die Nachricht „von selbst“ zerstört hat. Ich halte ihm meine bandagierte Hand hin. Meine Cousinen wimmern aufgebracht.
„Da war kein Einbrecher. Das hat sie uns nur erzählt, damit sie ihren Wutausbruch vertuschen konnte. Die Verletzungen hat sie sich selbst zugefügt“, erklärt Onkel Tim. Ich schüttle den Kopf und schreibe:
Wieso glaubst du mir nicht?
Seine Antwort kommt prompt: „Weil du eine Verrückte bist, die nach dem Unfall ihrer Eltern durchgedreht ist.“ Wow, das hat gesessen.