Und Erdbeeren wachsen doch auf dem Mond - Marie Lu Pera - E-Book

Und Erdbeeren wachsen doch auf dem Mond E-Book

Marie Lu Pera

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Beschreibung

Was haben der Sohn des Clanführers der Kelten, der Ur-Ur-Ur-usw. Enkel von Merlin, der Prinz der Wassermänner und der Sohn von Frankensteins Monster gemeinsam? Die Jungs gehen alle in Melodys Klasse. Sie ist "die Neue", die anders ist und absolut nicht reinpasst. Noch dazu steht sie auf der persönlichen Abschussliste der Lehrer weit oben. Die würden den "verrückten Freak magischen Unvermögens", wie sie der Direktor liebevoll nennt, lieber heute als morgen von der Schule schmeißen. Als ob sie nicht schon mehr als genug um die Ohren hätte, stolpert sie von einem Schlamassel in den nächsten. Dabei sind die Jungs nicht ganz unschuldig. Doch was niemand weiß: Melody hat ein Geheimnis, das sie schon bald einholt. Wieso geschehen all die seltsamen Dinge? Wer ist der geheimnisvolle Junge, der in der Krankenstation im Koma liegt? Kann Melody vor dem weglaufen, was ihr Herz ihr sagt, oder kommt doch alles anders, als man denkt.

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Seitenzahl: 382

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Marie Lu Pera

Und Erdbeeren wachsen doch auf dem Mond

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Scheinfrüchtchen

Karma?

Vollkommene Zahl

Gruselfaktor

An der Angel

1:0 für den Freak magischen Unvermögens

Glühwürmchen

Irre komisch

Die Freakshow

Großes Planschbecken trifft eiskaltes Hühnchen

Aufs Eis geführt

Rauschende Ballnacht

Erdbeermond

Vier magische Jungs auf dem Mond

Junkie?

Klapsmühle

Zwischenbalg vs. Grandpa

Der Pakt mit einem Knallkopf

Gruselschloss

Impressum neobooks

Scheinfrüchtchen

Erdbeeren sind eigentlich ziemlich schön – so aus der Nähe betrachtet.

Oft nehmen wir uns nicht mehr die Zeit, Dinge richtig zu betrachten. Wir sind gefangen in einem Strudel der Hektik, der uns in einen durchgeplanten Alltag saugt.

Wenn man aber genauer hinsieht, erkennt man die gelben Samen, die die gesamte Oberfläche säumen. Genau 126 gelbe Pünktchen hat diese hier und der grüne Kelch umfasst sie wie ein schützender Hut.

Komisch ist nur, dass es gar keine Beeren sind. Sie gehören zur Familie der Rosengewächse. Es sind Scheinfrüchte, um genau zu sein.

Hm, wenn ichs mir recht überlege, dann haben die Erdbeeren und ich einiges gemeinsam. Ich bin ein Mensch, aber auch wiederum keiner. Ein Scheinmensch sozusagen.

Der Direktor meint, meine Fähigkeit ist entweder bedeutungsvoll oder bedeutungslos – er sagt, er wolle sein Urteil darüber nach diesem Schuljahr fällen. Ich weiß nicht, wovor ich größere Angst habe.

Das wären dann noch gefühlte tausend Tage, bis ich wieder ein normales Leben führen kann. Was auch immer „normal“ bedeutet. Auch davor habe ich Angst.

Es ist ziemlich kalt, für Oktober, aber um ehrlich zu sein, friere ich ständig. Darum lege ich meine Wollmütze und meine Jacke auch nie ab. Ich hab mich so daran gewöhnt, sie zu tragen – ohne sie fühle ich mich nackt. Ich ziehe mir meine rote Strickjacke fester um die Schultern und rücke meine Fäustlinge zurecht.

Die meisten Schüler sitzen drinnen, aber ich ziehe das Draußen vor, was erschreckend viele Vorteile hat. Es ist ruhig und man läuft nicht Gefahr, irgendetwas Stinkendes an den Kopf zu bekommen, falls ein Zauber „unabsichtlich“ schiefgelaufen ist. Ja – richtig gehört, seit zwei Monaten weiß ich, dass es so etwas wie Hexen, Kelten, Werwölfe, Elfen, Wassermänner, usw. wirklich gibt. Und das ist jetzt kein Scherz. Obwohl – hey, kein Thema – ich hätte es auch nie geglaubt.

Ich kann natürlich nicht zaubern und auch sonst ist mein „magisches Unvermögen vorherrschend“ – sagen zumindest meine Lehrer. Das hält sie aber nicht davon ab, mir haufenweise blödsinnige Kurse aufzubrummen.

Ihr Urteil ist jedes Mal das gleiche. Sie schütteln den Kopf und sehen mich mit diesem Keine-Ahnung-was-du-hier-eigentlich-willst-Blick an.

Ich habe nämlich die abartigste aller „Gaben“, wie sie der Direktor nennt – ich sehe die Toten. Es hat sich mir noch nicht erschlossen, wozu das gut sein soll. Wir sind noch am Diskutieren, aber für mich steht fest – das ist definitiv keine Gabe, das ist ein Fluch.

Zaubersprüche aufzusagen und Dinge schweben zu lassen – ja, das ist eine Gabe, aber scharenweise toten Kreaturen über den Weg zu laufen, die einen entweder pausenlos beschimpfen, vollheulen, volllabern oder einfach nur anstarren, als würde mir ein Auge raushängen und nicht ihnen, ja – das fällt unter die Kategorie ABARTIG und erklärt darüber hinaus, warum mein mp3-Player lebensnotwendig ist. Er schottet mich zusätzlich von der Außenwelt ab und hat den angenehmen Nebeneffekt, die Quasselstrippen unter den Geistern auszublenden.

Ja, und wer jetzt denkt – ist doch klar, die wollen nur deine Hilfe und du sollst für sie irgendwelche letzten Videos aus dem Kästchen unter ihrem Bett ziehen – ja, ich hab den Film „The Sixth Sense“ auch im Kino gesehen – dem kann ich nur eins sagen: Schon alles versucht. Zwecklos, sag ich nur.

Die wollen meine Hilfe nicht. Die wollen einfach nur ihren Frust oder Kummer bei mir abladen. Echt krank so was. Ich meine, ich verstehs ja – echt – ich wär auch sauer, wenn ich aus der Blüte meines Lebens gerissen werden würde, aber hey, ich kann ja auch nicht zu jedem Fremden an der Straße gehen und meinen emotionalen Müll ablassen – und da hat sich bei mir in letzter Zeit so einiges aufgestaut, kann ich nur sagen.

So gesehen ist es irgendwie klar, dass sich keiner gern mit seinem Pausenbrot zu einer setzt, die Geister anzieht, wie das Licht die Motten. Was mich genaugenommen zu einem ziemlich einsamen Freak macht. Die meisten ignorieren mich glücklicherweise. Naja, immer noch besser als verarscht oder gehauen zu werden.

Und das alles nur, weil ich die Treppe runtergefallen bin. Da schreitet man in einem Moment noch grazil über die Stufen und im nächsten stolpert man über seine eigenen Füße, was bewirkt, dass man so richtig schön purzelbaummäßig Richtung Erdkruste kugelt.

Als ich aufgewacht bin, hab ich in die Augen eines Asiaten gesehen, der eine Axt im Kopf stecken hatte.

Da zu der Zeit nicht Halloween war, hab ich mich zu Tode – Grins – erschrocken. Und jetzt keine Angst – ich bin nicht tot – so viel zu „The Sixth Sense“.

Nein, mich hat es nicht erwischt, aber so wie es der Zufall will, kann ich sie seitdem sehen.

Das und die Tatsache, dass mein Gehirn wahrscheinlich beim Aufprall aufs Geländer kaputtgegangen ist, machen mich wohl zu einer verrückten, vor magischem Unvermögen strotzenden Siebzehnjährigen, die sich gerade draußen den Arsch abfriert und ihre Erdbeeren anstarrt. Zumindest hab ich noch meinen schwarzen Humor, an den ich mich klammern kann.

In der letzten Schulstunde – Runen längst vergangener Hochkulturen – liegt Spannung förmlich in der Luft. Die Spannung über das ersehnte Fortschreiten der Zeit, mein ich. Ein Gong erlöst uns dann kollektiv und ein Strom von magischen Wesen zieht sich gen Ausgang.

„Melody, du bleibst bitte noch.“ Na wunderbar. Schnell verberge ich das seitenlange Gekritzel in meiner bunt gehäkelten Umhängetasche.

Professor Dexter, ein Riese von einem Kelten mit langen blonden Haaren, soll nicht sehen, wie talentfrei ich im Abmalen der Keltischen Symbole bin.

„Was immer es ist, ich wars nicht“, spotte ich. Er zieht die Augenbrauen hoch und baut sich vor mir auf. Ich muss den Kopf bis auf Anschlag in den Nacken legen und entscheide mich, aufzustehen. Ist auch nicht besser.

„Ich möchte, dass du mich am Samstag ins Keltische Dorf begleitest. Der Älteste wird mal ein Auge auf dich werfen“, verlautbart der Professor.

„Okay, aber nur, wenn er sein Auge drin behält“, entgegne ich wie aus der Pistole geschossen. Hey, das sollte ein Scherz sein – jetzt kuck nicht so böse.

„Wie meinst du das, Melody?“ Hab ich schon erwähnt, dass Kelten echt null Humor haben.

„Naja, sein Auge … werfen.“ Ich mache sogar eine charakteristische Wurfbewegung, aber es scheint nicht Klick zu machen, also ergänze ich: „Schon gut, vergessen Sie’s einfach.“

Die Keltischen Schüler wohnen alle im Dorf und normalerweise verschwinden sie auch gleich wieder dorthin, nachdem die Schule aus ist. Da muss es ja echt toll sein.

Ich wohne natürlich nicht dort. Nein, ich wohne in so einer Art Auffanglager für gestrandete Talentfreie an der Küste alias die „Bude des Grauens“, wie ich sie liebevoll bezeichne.

Am Schulhof herrscht reges Treiben. Anscheinend gibt es neuesten Klatsch und Tratsch und ich schnappe noch ein paar Wortfetzen auf, bevor ich mich wieder mit meinem mp3-Player zustöpsle.

„Hoffentlich … Jungs … wie sie wohl aussehen.“ Kicher, kicher. Mann, ich könnt kotzen. Das hatte ich fast vergessen. Morgen kommen ja die männlichen Wesen zurück.

Bis jetzt war das hier eine reine Mädchenschule. Jeder magische Junge muss so eine Art Militärdienst leisten. Nach den zwei Monaten stoßen sie zu uns und steigen ins laufende Schuljahr ein. Deshalb sind alle schon ganz aus dem Häuschen. Mich lässt das natürlich kalt – zumindest tue ich so. Naja, ist ja auch egal.

Wie jeden Tag, mache ich mich auf den Nachhauseweg, der durch ein Waldstück führt. Um ehrlich zu sein, ist es dort ganz schön gruslig, aber ich versuche zu ignorieren, dass ich vollkommen allein bin und mich hier niemand schreien hören würde.

Stattdessen singe ich lauthals mit meinem Player um die Wette und wirble herum. Das ist zwar voll peinlich, aber hier ist mir noch nie jemand begegnet.

Alle Schüler werden entweder abgeholt oder haben selber ein Auto. Naja, alle außer mir natürlich, die die drei Kilometer jeden Tag zu Fuß packt. Ich sehs positiv – ich bin an der frischen Luft und betätige mich körperlich. Naja, man kann sich ja so ziemlich alles schön reden. Außer Pickel oder so eine Scheiße.

Nach einer gefühlten Stunde erreiche ich eine hügelige Ebene, die aus, mit hohem Gras bewachsenen, Wiesen besteht.

Gerade frage ich mich, wie viele Blumen hier im Sommer wohl blühen, als mich ein unbekanntes Flugobjekt hart an der Schulter trifft. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass ich keuche, rückwärts stolpere und hart auf den Boden einschlage.

Im ersten Moment bleibt mir die Luft weg und da mein Schädel ebenfalls Bekanntschaft mit dem Erdboden gemacht hat, wird mir im nächsten Augenblick schwarz vor Augen.

„Du … getroffen. Wach …“ Langsam öffne ich die Augen, doch alles ist verschwommen und meine schweren Lider bleiben erst nach dem vierten Versuch von selbst offen.

Da ist ein verschwommener Junge über mir, der die Lippen bewegt. In meinen Ohren pfeift es laut und ich stöhne vor Schmerz auf. Mein Schädel dröhnt, als würde er gleich zerspringen.

„Hey. Kannst du aufstehen? Hallo? Nicht wieder einschlafen“, ertönt es über mir.

„Seh ich so aus, als ob ich schlafen würde?“, fauche ich mit kratziger Stimme.

Jetzt wird mir das dann doch zu blöd und ich versuche, mich hochzurappeln. Das funktioniert nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt hatte, also drehe ich mich auf die Seite und wuchte mich schwerfällig auf einen Ellbogen.

„Was zum Teufel war das?“, raune ich genervt.

„Mein Molok hat dich getroffen.“ Jetzt sehe ich mir den Typen genauer an und erkenne einen muskelbepackten Jungen der Marke Traummann, der schwarzes, schulterlanges Haar hat und dessen Augen tiefblau leuchten. Sein ärmelloses Hemd entblößt Arme mit Bizeps, die breiter als meine Oberschenkel sind. Ein Kelte also – super.

„Ich will nicht wissen, was das ist, oder?“, stoße ich genervt aus. Er zieht die Augenbrauen hoch und sieht mich an, als hätte ich ihn gerade gefragt, ob er mich heiraten will. Netter Gedanke – und so viel dazu, dass mich Jungs eigentlich kaltlassen.

„Du weißt nicht, was ein Molok ist?“, erwidert er ungläubig.

„Ich weiß, dass es wehtut, wenn es einen trifft – das reicht mir schon.“ Im nächsten Moment gibt mein Arm nach und ich sinke wieder Richtung Boden.

Seine Hand – korrigiere: Pranke – an meiner Schulter verhindert den erneuten Absturz. Bevor ich „Rune“ sagen kann, hat er schon einen Arm unter meine Beine gelegt und hebt mich hoch, als würde ich rein gar nichts wiegen. Das kam so überraschend, dass ich mich in sein Hemd kralle, das ich im nächsten Moment aber wieder freigebe, als sich unsere Blicke treffen. Das ist nahe – viel zu nahe.

Ein „Kannst du stehen?“, reißt mich dann aus meinem Schmachten.

„Denke schon.“ Der Koloss zieht seine Hand langsam zurück und bringt mich in eine aufrechte Position.

Als ich Bodenkontakt habe, lässt er mich los. Fehler, sag ich nur. Augenblicklich geben meine Beine nach und ich verliere bedenklich an Höhe.

Hätte er mich nicht geschnappt und würde ich nicht gerade an seine Brust gepresst den Schwindel wegatmen, wär das sicher eine Geschichte, über die man sich hinterher halb todlachen kann. So gesehen ist es einfach nur peinlich und ich drücke mich von ihm weg, nachdem ich wieder halbwegs fit bin.

„Du sagtest, du könntest stehen“, knallt er mir fast vorwurfsvoll an die Birne.

„Ich sagte, ich denke, ich könnte stehen. Da ist ein Unterschied“, belle ich zurück. Erst jetzt sehe ich, dass da noch zwei Keltenjungen stehen, die mich amüsiert mustern.

Mein Kommentar scheint sie zu erheitern – oder meine Kleider, wer weiß das schon so genau. Im nächsten Augenblick tue ich das, was man als Mädchen in so einer Situation am besten kann – ich zicke.

Mit vor der Brust verschränkten Armen entgegne ich ein ungeduldiges: „Ich warte.“

„Worauf?“, fragt er doch tatsächlich.

Ist das zu fassen. „Auf den Bus für gestrandete Zauberer“, spotte ich. Er lacht nicht. Kelte eben. Also ergänze ich: „Mann, auf eine Entschuldigung natürlich. Du hast mich ja mit dem Ding sauber aus dem Weg geräumt.“

„Ich sehe es so. Du warst meinem Molok im Weg“, kontert er. Was?

„Dann wird sich dein Molok bei mir entschuldigen“, fordere ich ungeduldig. Keine zwei Sekunden später prusten alle drauflos – naja alle außer mir natürlich. Na toll. Ich bin wohl die reinste Lachnummer. Jetzt bin ich echt stinksauer.

„Weißt du was? Vergiss es einfach.“ Ein leichter Schwindel packt mich und ich wanke bedrohlich.

Sein Arm hält mich wieder in der Vertikalen. Prompt entreiße ich mich seinem Griff und mache auf dem Absatz kehrt. Ich lasse es mir nicht nehmen, ihm noch ein für ihn hörbares „Troll“ mit auf den Weg zu geben.

„Wie war das?“, knurrt er hinter mir.

„Du hast mich schon verstanden“, entgegne ich, mich umdrehend.

„Du wagst es, mich zu beschimpfen“, raunt er forsch.

„Du wagst es, über mich zu lachen, also wage ich es, dich zu beschimpfen. Dort wo ich herkomme, nennt man das ausgleichende Gerechtigkeit.“

„Und dort wo ich herkomme, steht auf Beleidigung ein Kampf.“ Er will echt was auf die Fresse. Okay.

Herausgefordert stelle ich mich ihm entgegen und strecke die Arme von meinem Körper weg. „Bringen wirs hinter uns, Kelte.“ Ihm ist gerade vor Verblüffung die Kinnlade runtergeklappt. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Als er sich gefangen hat, bricht er in Gelächter aus.

Toll, jetzt lacht er wieder über mich.

„Ich schlage keine Mädchen“, verkündet er eingebildet.

„Angst zu verlieren?“, spotte ich. Ja Melody, reiß die Klappe noch weiter auf. Okay, ich sollte ihn lieber nicht noch wütender machen.

„Du bist verrückt, Weib“, knallt er mir kopfschüttelnd hin.

„Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß“, brülle ich ihn an. Ups. Kurzer Kontrollverlust. Meine Stimme hallt sogar über die Ebene. Und verdammt, eine Träne hat sich aus meinem Augenwinkel gelöst. Das hat niemand gesehen. Hoffentlich. Vollkommen in Rage mache ich mich sprichwörtlich vom Acker und schimpfe vor mich hin.

Ungehobelte Rabauken diese blöden Kelten. Denken, sie können Frauen wie den letzten Dreck behandeln.

Mein Zuhause als Bruchbude zu bezeichnen, wäre noch ein Kompliment. Das Gebilde ist so wacklig und zusammengezimmert, dass ich Angst habe, es könnte beim nächsten Windstoß zusammenbrechen.

Und das Beste kommt erst noch. Ich bin hier der einzige Bewohner – sieht man von den Mäusen und Spinnen ab. Angeblich soll es hier spuken. Willkommen in meinem Leben sag ich nur.

Die Eingangstüre fällt quietschend in die Angeln und ich frage mich, ob sie mich beim nächsten Mal unter sich begraben wird.

Vor mir tut sich die pompöse Eingangshalle auf. Ich schreite die Stufen zur Zwischenebene empor. Nach einem kurzen Flur öffne ich die Türe, die in den obersten Turm führt.

„Zweihundertfünfundsiebzig Stufen. Keine mehr und keine weniger. Oder?“ Ich glaube, ich werde echt verrückt, denn ich zähle die Stufen jedes Mal und komme immer zu einem anderen Ergebnis. Und ja – ich kann zählen. Mal sind es mehr, mal weniger. Echt gespenstisch.

Mühevoll stemme ich mich hoch. Ich schätze, ich hab doch ganz schön was abbekommen. Mein Schädel bringt mich schon mal fast um. Prima.

Hm, heute waren es 270 Stufen – nett. Immerhin weniger als sonst.

Ich stoße die Tür zu der winzigen Kammer auf und öffne das Fenster. Kühle Meeresluft strömt herein. Das Zimmer ist spärlich möbliert, aber immerhin hab ich fließend heißes Wasser und ein Bett. Alles, was man braucht.

Die Dämmerung beginnt bereits einzubrechen und der Gruselfaktor steigt ab jetzt exponentiell an. In den ersten Nächten bin ich fast umgekommen vor Angst. Das Haus macht echt viele gruslige Geräusche, aber das ist ja auch kein Wunder, bei dem baufälligen Zustand. Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, bei leichter Klaviermusik zu schlafen und zu hoffen, dass der Akku die ganze Nacht über hält. Man ist ja flexibel.

Wie jeden Abend, lasse ich die Wanne volllaufen und genieße ein Bad mit Melissenblättern, die ich ins Badewasser streue. Hier drin könnte ich stundenlang eingetunkt bleiben. Bis zum totalen Schrumpeln meiner Finger reichts aber jedes Mal. Meine Schulter ist an der Stelle, an der mich das Ding getroffen hat, ziemlich rot und tut auch dementsprechend weh. Wunderbar.

Ich fahre hoch. Wow, bin wohl eingeschlafen. Das Wasser ist schon ziemlich kalt und die Kerze runtergebrannt.

Ein Knarren geht durchs Haus. Ich schnappe mir mein Handtuch und stöpsle meinen mp3-Player ein. Ich habe es aufgegeben nachzusehen, ob jemand im Haus ist. Zwecklos.

Das macht einen nur unnötig fertig. Das heißt nicht, dass ich keine Angst habe. Es bedeutet nur, dass ich gelernt habe, damit umzugehen – da ist ein Unterschied. Ich hab aber dennoch gewaltig Schiss.

Karma?

Es hat wohl geregnet, denn die Straße ist nass. Auf dem Weg zur Schule bin ich wieder dazu übergegangen, inbrünstig Karaoke zu singen und leichtfüßig herumzutänzeln. Das hat etwas ziemlich Befreiendes.

Nur im letzten Moment kann ich einem bleichen Mann ausweichen, der wütend gestikuliert. „Ja, dir auch einen wunderschönen guten Morgen. Mir geht’s prima. Hast du abgenommen?“, spotte ich ihm entgegen. Der Tag fängt ja schon gut an. Wie heißt es so schön – Geister am Morgen, bringen Kummer und Sorgen.

Im nächsten Augenblick lässt mich ein Hupen hochfahren. Ein schwarzer Geländewagen hinter mir ist wohl Ursprung des Lärms. Ich merke zwei Sekunden später, dass ich mitten auf der Straße stehe.

Der Tote hat mich wohl vom rechten Weg abkommen lassen und wenn man glaubt, es kann nicht schlimmer kommen, so fährt der Kelte, der mich gestern abgeschossen hat – alias die Arroganz in Person – vorbei, nachdem ich zur Seite gewichen bin.

Sein Blick streift mich verärgert und ich bin gewillt, ihm den Mittelfinger rauszustrecken, was ich aber erfolgreich unterdrücken kann. Das wär unterste Schublade. Jetzt fährt er mich auch noch fast über den Haufen der Idiot. Ganz toll.

Die letzten Meter bis zur Schule schleppe ich mich atemlos. Ich scheine doch mehr abbekommen zu haben als erwartet. Irgendwie komisch, ich bin ganz schön erschöpft.

Mich erwartet schon Geschnatter vom Allerfeinsten. Die Jagdsaison ist wohl eröffnet – die Jagd nach dem besten Männchen.

Die Weibchen haben sich zu wildem Tuscheln in Gruppen versammelt. Sie sondieren augenscheinlich die Lage und treffen ihre Auswahl. Bei den Männchen läuft dasselbe ab.

Da sind Hexer, Wassermänner und Kelten. Die bleichen Wesen sind glaub ich Elfen.

Ich frage mich gerade, wie man Werwölfe erkennt, aber ich entscheide mich kurzerhand, es gar nicht wissen zu wollen. Die restlichen Kreaturen sagen mir absolut nichts. Ich habe es aufgegeben, mir ihre Gattungsbezeichnung merken zu wollen.

Möglicherweise entscheidet sich der Direktor doch dafür, dass ich zu nichts tauge und entlässt mich wegen guter Führung. Dann bin ich hier sowieso bald weg.

Natürlich – wie könnte es auch anders sein – umzingeln zahlreiche Weibchen den Kelten, der mich gestern niedergemäht hat. Sie umgarnen ihn kichernd. Eine greift sogar an seinen Bizeps. Mann, wie offensichtlich ist das denn?

Die Außenwelt wieder vollkommen abschottend, bahne ich mir einen Weg durch die versammelten Schüler und lasse mich im hintersten Eck, in dem meist niemand sitzt, auf einen Sitz im Plenum des Hörsaals fallen.

Genau in dem Moment scheint meinem mp3-Player der Saft ausgegangen zu sein und ich reiße mir das Teil genervt aus den Ohren. Erschöpft lege ich meinen Kopf in meine Hände.

„Du solltest den Platz wechseln.“ Überrascht blicke ich auf. Da steht ein Hexer in schwarzem Umhang und mit braunem, strubbeligem Haar vor mir, dessen Wimpern so lang sind, dass jede Frau dafür töten würde. Er sieht eigentlich ganz gut aus, wenn man auf Hokuspokus steht, versteht sich.

„Erleuchte einen Träger gefährlichen Halbwissens“, entgegne ich gelangweilt.

„Negatives Karma“, stößt er aus. Das ringt mir ein Lächeln ab.

„Das bin ich“, erkläre ich gelassen. Wieder zieht ein Junge die Augenbrauen vor mir hoch. Ich scheine etwas an mir zu haben, das diese Geste auslöst.

„Hm. Ja, du hast recht. Es geht von dir aus“, bestätigt er.

„Sag ich doch.“ Jeder andere hätte die Message verstanden und wär abgezogen, aber er steht immer noch da und kratzt sich nachdenklich am Kinn.

Ich durchbreche ungeduldig die Stille. „Hör zu – es gibt noch 285 andere Sitzplätze in diesem Raum. Also, wieso suchst du dir nicht einen aus, der ein Karma nach deinem Geschmack trägt und hörst auf, mich anzustarren, als wär ich eine atmosphärische Anomalie.“

„Wieso kennst du die genaue Anzahl der Sitzplätze?“, will er wissen.

„Du bist echt strange, Mann“, stoße ich stirnrunzelnd aus.

„Sagt die, mit dem negativen Karma.“

„Sagt der, der gleich den Verschwindezauber anwenden wird, bevor er negatives Karma abbekommt.“

Er lächelt leicht und nimmt in weiter Entfernung an einem Seitenflügel des Plenums Platz, von wo er mich wunderbar im Blickfeld hat. Toll, der erste Tag mit den Jungs und schon fast überfahren worden und einen Hexenmeister-Stalker angelacht. Guter Schnitt.

Der Raum füllt sich schön langsam. Ich werd irgendwie das Gefühl nicht los, dass überraschend viele Leute zu mir raufstarren und sich das Tuscheln intensiviert hat.

Hm, liegt vielleicht an dem Riesen, der sich gerade drei Plätze weiter niedergelassen hat.

Fast alle aus meiner Reihe springen auf und bringen Abstand zwischen sich und den Koloss.

Irgendwie sieht er aus wie Frankensteins Monster. Schnell wende ich den Blick ab. Ich will ihn nicht anstarren, sowas ist unhöflich.

Seine Haut ist an einigen Stellen zusammengenäht und aus seinem viereckigen Schädel stehen Drehknöpfe raus. Er braucht allein schon zwei Sitze. Da alle Plätze wie in einem Kinosaal zusammenhängen, senkt sich auch mein Sitz verdächtig unter seiner Last.

Ich lasse mir mein Unbehagen über seine Anwesenheit nicht anmerken und mache das, was ich immer mache, wenn ich nervös bin – ich laber drauflos. „Hi, ich bin Melody.“

Er sieht mich verblüfft an und beugt sich zu mir runter, um mich zu mustern. Das macht mir zugegebenermaßen etwas Angst, was ich mit einem Lächeln kompensiere.

„Sonnfried – mein Name ist Sonnfried.“

„Kann ich dich Sonny nennen?“, will ich wissen.

„Wieso?“

„Mit dem Namen bist du weniger furchteinflößend. Also, jetzt nichts für ungut.“ Kurz scheint er zu überlegen, lacht aber sogleich laut auf.

„Dann darfst du mich so nennen“, verkündet er mit tiefer Stimme. So viel dazu.

Kurz nachdem Professor Triz, angewandter Mathematik-Freak und unangefochtener Langweiler, den Raum betreten hat, folgt ihm der Arroganz-Kelte. Er konnte sich anscheinend erfolgreich der Meute kreischender Zahnspangenträgerinnen entziehen.

Sein Blick schweift durch die Menge und bleibt kurz an mir hängen. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie nervt das gewaltig. Er ist einer dieser Lederjackenträger mit halboffenem Hemd, das erstaunlich viel Muskelmasse freisetzt. Die Typen sind nur dazu da, um uns Mädchen den Kopf zu verdrehen. Funktioniert, muss ich sagen.

Der Direktor sagte mir, ich solle mich von den Kelten fernhalten und keine Aufmerksamkeit erregen. Macht Sinn, da ich ihnen körperlich um Lichtjahre unterlegen bin.

Der Lederjackenträger setzt sich in den Flügel, in dem auch der Hexer sitzt. Ich werd irgendwie das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet werde. Sicher der Stalker, der jetzt nach seinem Frontalangriff in Sachen Karma zum Starren übergegangen ist.

Ich versuche, es zu ignorieren und kritzle geistesabwesend irgendetwas absolut bedeutungsloses in meinen Block.

„... Melody.“ Erschrocken fahre ich hoch. Professor Triz hat mich wohl aufgerufen, denn so ziemlich alle Köpfe des Raumes drehen sich in meine Richtung.

„Kommst du bitte zur Tafel und schreibst die Lösung auf?“ Mann, kannst du nicht jemand anderen damit quälen? Es hilft nichts. Der gesellschaftliche Druck ist zu groß.

Ich stehe widerwillig auf. Als ich erkenne, dass an Frankensteins Monster kein Vorbeikommen ist, hechte ich gekonnt über den Tisch und scheuche somit jeden Einzelnen der Reihe vor mir auf.

Tja, das hat man von dieser neumodernen Kinobestuhlung. Es dauert ewig, bis man hier raus ist.

Der Professor hält mir die Kreide hin und ich sehe mir das mal an. Hm. Integralrechnung, toll. Mein Hirn läuft auf Hochtouren, während der Professor ungeduldig auf sein Pult tippt. Nervt ganz schön.

„Melody. Also die Kreide benutzt man, indem man sie an die Tafel hält und schreibt.“ Echt jetzt? Darauf wär ich nie gekommen.

Sehr witzig. Mit einem: „Ich habs gleich“, informiere ich ihn. Stress nicht, die Aufgabe ist schwer.

Im nächsten Augenblick kritzle ich die Lösung an die Tafel, reiche ihm die Kreide und mache mich wieder auf zu meinem Platz.

„Was soll das sein?“, fragt er verblüfft. Ich drehe mich wieder um und verkünde: „Also, das ist Kreide und die benutzt man, indem man sie an die Tafel hält und schreibt.“ Kollektives Lachen bricht aus. Der Professor stemmt verärgert die Hände in die Hüften.

„Ich meinte das, was da auf der Tafel steht“, klärt er mich ärgerlich auf.

„Das ist das, was Sie verlangt haben – die Lösung“, erkläre ich.

„Wie hast du das gemacht?“

Schulterzuckend antworte ich „Ich habs gerechnet.“

„Im Kopf?“

„Ja.“ Ich bin kein Fachmann, aber dort vermute ich den Sitz meines Gehirns.

„Hat dir jemand geholfen?“

„Nein.“ Hey, ich steh hier mitten im Raum vor dir. Wenn mir jemand geholfen hätte, hättest dus ja wohl mitbekommen.

Er kneift die Augen zusammen, um den Wahrheitsgehalt meiner Aussage zu prüfen. „Schreib den Lösungsweg auf“, befiehlt er bösartig.

„Oooookay“, entgegne ich verschwörerisch und nehme ihm die Kreide wieder ab. Das Ergebnis lösche ich von der Tafel, um Platz für die Rechnung zu machen. Daraufhin kritzle ich die gesamte Rechnung an das grüne Teil.

Als ich fertig bin und ihm die Kreide abermals aushändige, verkündet er: „Du wirst heute nach der Schule hierbleiben und das erklären.“

„Was denn erklären?“, will ich wissen.

„Wie du das machst.“

„Das hatte ich bereits erklärt. Ich rechne es im Kopf.“

„Nicht einmal ich kann das im Kopf berechnen, also wirst du es wohl kaum können.“ Er zeigt abwechselnd mit dem Finger auf sich selbst und dann auf mich.

„Schließen Sie immer von sich auf andere?“, fand er jetzt nicht so prickelnd. Im Saal ist es so still, dass man eine Maus piepsen hören würde.

„Das reicht, verlass meinen Unterricht, Melody. Wir sehen uns nach der Schule in meinem Büro.“

„Was wird mir vorgeworfen?“, will ich wissen.

„Ungehorsam.“

Theatralisch erwidere ich: „Wie konnte ich nur so töricht sein und die richtige Lösung an die Tafel kritzeln. Das ist sicher ein schwerer Schlag für Sie.“ Belustigte Laute gehen wieder durch die Reihen.

Zu einer Antwort kommt er nicht mehr, weil ich bereits aus dem Raum gestürmt bin, bevor er mir die Pest an den Hals wünschen konnte – und davor hab ich Schiss, denn er ist ein Hexer.

Das ist alles irgendwie ein Alptraum. Er wagt es doch echt, mich hier vor allen als Betrügerin darzustellen.

Nur weil ich keine Zauberkräfte habe, heißt das noch lange nicht, dass ich eine Dumpfbacke bin.

Draußen lehne ich mich an einen Baum und ziehe die Beine an den Körper. Was für ein heilloses Chaos.

Ich pass hier einfach nicht rein. Zu allem Übel liegt mein mp3-Player in der Tasche im Hörsaal. So ergießt sich der Redeschwall eines Spaniers mit aufgeschnittenen Pulsadern ungebremst auf mich.

„Mann, ich kann dich nicht verstehen. Okay? Also, wieso suchst du dir keinen Landsmann? Io non comprende.“

„Mit wem sprichst du?“ Erschrocken fahre ich hoch. Da steht der Hexen-Stalker von vorhin vor mir.

„Wieso bist du nicht im Hörsaal?“, fahre ich ihn an.

„Bin ich – das ist nur meine Astralprojektion.“

„Manchmal beneide ich euch echt.“ Erschöpft lasse ich mich wieder an den Baum sinken.

„Also. Mit wem hast du gesprochen?“, hakt er nach.

„Bist du ein Stalker?“, will ich wissen.

„Was ist ein Stalker?“

„Einer, der einen immer verfolgt wie ein Schatten. Und falls du das vorhast, sollte ich dir sagen, dass mein Verfolgungswahn auch ohne dich ganz gut zurechtkommt, also bitte such dir jemand anderen.“

„Plapperst du alles aus, was du denkst?“, fragt er mich doch tatsächlich.

„Ja – und zwar ungefiltert. Muss an meinem negativen Karma liegen.“

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„Schon okay. Ich bin hart im Nehmen.“ Er lächelt.

„Vielleicht kann ich dir ja helfen. Ein paar Räucherungen und du bist wieder wie neu.“

„Danke, aber kein Bedarf. Ich habs nicht so mit Räucherstäbchen.“

Der Gong ertönt und ich springe auf. Ich will meine Sachen für die Kräuterkundeeinheit im Botanischen Garten holen.

„Dann bis gleich“, trällert er fröhlich. Im nächsten Moment hat er sich bereits in Luft aufgelöst. Okay, das ist irgendwie gruslig.

Ich trotte zurück zum Hörsaal. Als ich kurz über meine Schulter zurückblicke, knalle ich frontal in einen Körper. Die Wucht des Aufpralls setzt mich vor dem Rammbock auf den Hintern. Autsch. Verdammt, der Lederjacken-Kelte schon wieder.

„Zuerst läufst du mir vors Auto und jetzt läufst du in mich rein. Sieht so aus, als würdest du meine Aufmerksamkeit erregen wollen. Gibs auf, das führt zu nichts“, knallt er mir eitel an die Birne.

„Ich kann nichts dafür. Es ist nur so schwer, deinem Ego auszuweichen. Ist ein ziemlicher Brocken“, ist dann meine Reaktion auf seine Gemeinheit.

Sein verärgerter Blick hält mich wie in einem Bann gefangen. Nur mühevoll reiße ich mich los und umrunde ihn.

Der Tag wird immer besser. Ich bin mittlerweile zu einem wandelnden Risikofaktor geworden.

Sonny winkt mir von Weitem zu und hält meine Tasche hoch. Hey, das ist ja voll nett. Als ich vor ihm stehenbleibe, wird mir erst das volle Ausmaß seiner Größe bewusst. Der ist ja über zwei Meter groß und breit wie ein Schrank. Dagegen bin ich ein Zwerg.

„Danke Sonny.“ Ich nehme ihm die Tasche ab.

Frankensteins Monster winkt beschwichtigend ab. „Kein Problem.“

„Du hast was gut bei mir.“ Zum Dank winkend schreite ich in Richtung Garten.

Professor Tate wartet bereits und heißt uns willkommen. In der Kleingruppe sind nur dreizehn Studenten. Schmerzlich erkenne ich den Hexen-Stalker, den Arroganz-Kelten- Lederjackenträger und Frankensteins Monster alias Sonny unter ihnen. Perfekt.

Außer mir sind noch ein paar andere Weibchen im Kurs, die sich kichernd aneinander schmeißen und den Jungs schöne Augen machen. Mich lässt das natürlich wieder vollkommen kalt. Naja, zumindest ist es bei mir nicht so offensichtlich.

„Willkommen, bitte findet euch in Zweierpärchen zusammen und sucht im Garten alle Kräuter auf dieser Liste.“ Wie auf Kommando laufen die Weibchen kreischend auf das jeweilige Objekt ihrer Begierde zu. Ich hab mich sogar kurz vor ihnen erschrocken. Mann, welch niedere Wesen.

Nachdem ich mir die Liste organisiert habe, drehe ich mich um und schreite alleine fort. Außerdem sind wir dreizehn Leute. Dreizehn ist eine ungerade Zahl, eine Primzahl sogar, also nur durch sich selbst oder durch 1 ganzzahlig teilbar. Bei Zweierpärchen bleibt also jemand übrig – also ich. Dreizehn ist außerdem eine Unglückszahl. Ich muss lächeln. Passt irgendwie zu mir. Hab ich schon erwähnt, dass ich Zahlen mag? Naja, ich bin jetzt nicht besessen oder so.

„Melody? Wollen wir zusammen gehen?“ Sonny steht neben mir. Ich zucke mit den Schultern.

„Von mir aus.“ Okay, wohl doch keine Dreizehn.

Ohne dem Schauspiel sich aufbauender verbaler Gefechte länger beizuwohnen, spazieren wir davon. Also, ein Riese mit Minikörbchen um den Finger und ein Zwerg mit Strickmütze.

„Wieso siehst du mich so an?“ Seine Frage reißt mich aus dem Zählen der Erdbeeren. Eigentlich hab ich ihn gar nicht angesehen, aber okay.

„Tut mir leid. Ich versuch nicht mehr zu glotzen.“

„Du warst die Einzige, die mich nicht angeglotzt hat.“ Doch kurz. „Ich meine, wieso siehst du mich anders an, als die anderen, Melody?“

„Keine Ahnung, wie seh ich dich denn an?“, hake ich nach.

„Als würdest du mehr sehen, als nur das Monster.“ Okay, hier liegt wohl ein Fall von Selbst-Monsterisierung vor.

„Du bist kein Monster, Sonny.“

„Woher willst du das wissen?“

„Hör zu. Also ich kenn mich mit Monstern ganz gut aus. Ich erkenne eins, wenn ich es sehe. Du bist keins.“

„Das sagst du nur so“, wirft er mir schmollend vor.

Ich halte ihn am Arm zurück – naja okay, ich greife nach seinem Arm und stoppe, also stoppt er auch. Den könnte man nie halten. „Bei mir kannst du dir eines ganz gewiss sein. Ich meine das, was ich sage und sage das, was ich meine. Okay?“

„Okay. Also, was siehst du sonst noch? Neben dem Monster.“

„Ich sehe jemanden, der nicht weiß, wer er ist oder wer er sein möchte. Aber das ist okay. Wer weiß das schon?“ Verblüfft starrt er mich an. Da hab ich wohl den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Ich weiß, dass du die Toten sehen kannst, Melody.“ Na toll, die Gerüchteküche brodelt wohl schon.

„Siehst du. Da hast du dein Monster.“ Ich gehe voran und zupfe einige der Kräuter ab, die ich in Sonnys Korb schmeiße.

„Wie kommst du damit klar?“ Jetzt bin ich verblüfft. Diese Frage hat mir noch niemand gestellt. Normalerweise wollen alle, dass ich ihren verstorbenen Verwandten etwas ausrichte oder quetschen mich über belanglose Details aus.

„Hör zu, ähm, wieso holst du nicht ein paar von den gelben Blumen dort drüben und ich seh mal, wo ich die Minze finde?“ Schneller als ein D-Zug suche ich das Weite. Ja – okay, ich hab Schiss zu antworten. Ich will ihn nicht anlügen – ihm aber auch keine Angst machen. Obwohl, er hat glaub ich vor gar nichts Angst. Außer vor sich selbst natürlich.

„Mein Name ist Meric.“ Vor Schreck lasse ich alle Minzblätter fallen. Das belustigte Gesicht meines Hexen-Stalkers lässt Aggressionen in mir aufsteigen.

„Mann, musst du dich so anschleichen?“ Er hilft mir nicht mal, die Kräuter wieder aufzusammeln. Idiot.

„Dachtest du, ich wär ein Toter?“ Das ist nicht witzig. Jetzt weiß es schon die ganze Schule – wunderbar.

„Nein, der steht da drüben und hat zumindest den Anstand, mich aus der Ferne zu stalken. Könntest du auch mal ausprobieren.“ Er sieht ganz schön ängstlich aus und sucht die Umgebung ab. Da er abgelenkt ist, entferne ich mich angefressen.

„Melody, warte. Das war ein Scherz.“

„Ich lach mich tot“, erwidere ich trocken. Er greift nach meiner Hand und fährt ohne Widerstand durch meinen Körper hindurch. Okay. Astralprojektion. Sieht täuschend echt aus.

„Das war echt gruslig Meric“, tadle ich ihn.

„Verdammt, ich vergesse immer, dass meine Projektion noch nicht so gut ist.“

„Du solltest zu deiner Partnerin zurückkehren. Sie fragt sich sicher schon, warum ein hirnloser Zombie, der nicht auf ihre Fragen antwortet, neben ihr steht.“

„Oh, ich hab einfach auf Ja-Modus gestellt. Sie schnattert sowieso die ganze Zeit, also passt das Wort so ziemlich immer.“

„Deine Logik hat nur einen Haken“, stelle ich fest.

„Der wäre?“

„Was, wenn sie dich fragt, ob du mit ihr auf den Schulball gehen willst und sie vorschlägt, dass ihr im rosa Partnerlook geht? Ist alles schon vorgekommen.“

Er sieht zwar blass aus, sagt aber: „Darauf lass ich es ankommen, glaub ich.“

Ich will seine Aussage kontern, da trifft irgendetwas vor mir hart auf den Boden auf. Vor Schreck taumle ich zurück und stolpere, sodass es mich auf den Hintern setzt. Das gibt sicher blaue Flecken.

Schockiert erkenne ich ein deformiertes, aus eitrigen Wunden blutendes, Etwas vor mir, das erschreckende Ähnlichkeit mit den Zombies aus dem Film „I am Legend“ hat.

Nach dem Blick von Meric zu urteilen, der die Kinnlade runtergeklappt hat, ist es wohl kein Freund.

Es kommt auf mich zu und ich brülle seine Astralprojektion an: „Könntest du mal die Kinnlade einklappen und mir helfen?“

„Ich kann so nicht … ich … hol Hilfe.“ Schon hat er sich in Luft aufgelöst und lässt mich mit dem Ding allein, das gleich bei mir ist.

„Hi.“ Toll Melody, jetzt grüßt du das Teil auch noch. Es knurrt und hält den Kopf schief. Bei genauerer Betrachtung erkenne ich, dass es von einem transparenten Schein, der sich bewegt, umgeben ist. Ein Geist – da steckt ein Geist drin. Wahnsinn.

Der Zombie ist erschreckend nahe und greift nach meinem Arm.

„Hey Süßer. Also so gut kennen wir uns auch wieder nicht“, ist mein jämmerlicher Versuch, ihn auf Abstand zu halten, nachdem ich zurückgewichen bin. Das scheint ihn böse zu machen. Er macht einen Satz auf mich zu und kriegt meinen Arm zu fassen.

Geistesgegenwärtig spult mein Gehirn meinen Selbstverteidigungsmodus ab, aber das Wesen ist stärker als ich dachte und so zapple ich nur in seinem Griff, während es mich hinter sich herzieht.

„Lass mich los, Pissnelke.“ Warte mal. Mir kommt da grad so eine Idee.

Ich greife nach dem transparenten Geist in ihm und rufe: „Princeps gloriosissime caelestis militiae. Veni in auxilium hominum, imperat tibi. Deus Spiritus Sanctus.“ Mehr fällt mir auf die Schnelle nicht mehr von den Worten meiner, von Trotteln durchgeführten, Exorzismen ein.

Der Geist schreit im nächsten Augenblick, als hätte ich ihn mit meiner Berührung verbrannt. Der Zombie schnappt mich an den Schultern und drückt mich brutal an die Gartenmauer.

Ich schlage nach ihm und treffe ihn am Schienbein. Abrupt lässt er mich los, was mich auf die Erde vor ihm stolpern lässt. Keine zwei Sekunden später zieht er mich vor sich hoch und presst sich an meinen Rücken.

„Melody.“ Merics Stimme hallt durch den Garten. Der Hexer ist nicht allein. Er hat den Arroganz-Kelten mit Schwert und einen Wassermann mit Dreizack im Schlepptau.

„Keine Panik“, haucht Meric atemlos. Ich glaube, mehr zu sich selbst, als zu mir.

„Was ist denn das für ein scheiß Spruch, Meric?“, fahre ich ihn an. Er zuckt ratlos mit den Schultern.

„Irgendwelche Ideen?“, frage ich mal so in die Runde. Das Ding knurrt verächtlich und zieht mich näher an sich.

„Ich überlege noch“, informiert mich der Kelte.

„Lass dir Zeit“, spotte ich sarkastisch.

Plötzlich vernehme ich das Geräusch von brechenden Knochen und glaube schon, das Ding zerdrückt mich, doch es folgt kein Schmerz. Der Zombie brüllt, als schlage sein letztes Stündlein.

Im nächsten Augenblick bin ich frei und falle vor ihm auf den feuchten Erdboden.

„Hat es dich gebissen?“ Der Kelte kniet vor mir. Ruckartig zieht er mich an den Schultern in die Höhe.

„Nein.“ Meine Beine geben nach und ich stoße an seine Brust.

„Melody, bist du okay?“ Meric ist an meiner Seite. Auch er hält mich an der Schulter fest.

„Das hat ja ewig gedauert, Hilfe zu holen. Warst du zwischendurch noch Kaffeetrinken?“, raune ich erschöpft.

Meric lächelt leicht. „Schätze, es geht dir gut.“

Ich weiß nicht wieso, aber die Welt beginnt sich plötzlich in Kreisen zu drehen. Hey, ich fliege – meine Beine heben vom Boden ab.

„Toll, jetzt ist sie auch noch ohnmächtig.“ Die Worte sind nahe an meinem Ohr. Erst jetzt merke ich, dass mein Kopf in einem harten Nacken lehnt.

„Das hab ich gehört“, hauche ich zurück. „Brauchst gar nicht so überheblich zu tun. Als ob du noch nie einen Moment der Schwäche hattest.“

„Ich bin Kelte. So etwas wie Schwäche ist mir fremd.“

„Schon klar. Ähm, könntest du aufhören, mich zu schütteln. Das nervt gewaltig.“

„Das bist du, du zitterst.“ Verdammt.

„Dann verpass mir bitte eine, damit ich aufhöre.“

„Wieso willst du dich immer mit mir prügeln?“, raunt er.

„Negatives Karma?“

Etwas Weiches gräbt sich in meine Rückseite – ah, eine Matratze. Bin wohl in der Krankenstation gelandet.

„Schon gut, mir fehlt nichts“, beschwichtige ich. Mit etwas Schwindel behaftet setze ich mich auf und will aus dem Bett steigen.

„Na, na. Das sollte sich doch ein Experte auf diesem Gebiet ansehen.“ Vor mir steht ein Medizinmann – ohne Scheiß. Das volle Programm: Indianer – Knochen in der Nase – jede Menge Piercings – warte mal – Piercings?

Der Typ ist über dreißig und trägt die Kleidung eines Teenagers. Darüber hinaus hat er Raster und ich will gar nicht wissen, was in dem Becher ist, den er mir gerade hinhält. Noch dazu bin ich mit ihm allein im Raum. Prima.

„Keine Chance. Das … also … Nichts für ungut“, stoße ich ablehnend aus. Ich mustere ihn, während ich seine Statur mit der Hand nachfahre.

„Ich bin Medizinmann“, beschwichtigt er schulterzuckend.

„Ist mir nicht entgangen. Aber bevor Sie jetzt den Schrumpfkopf rausholen, möchte ich noch einwerfen, dass ich keine medizinische Betreuung brauche. Sehen Sie – ich seh zwar nicht so aus, aber ich kann einiges einstecken.“ Sein Blick ist unergründlich. Im nächsten Moment bricht er in schallendes Gelächter aus.

„Du hast echt Schrumpfkopf zu mir gesagt.“ Warte mal. So war das aber nicht.

„Also genaugenommen habe ich …“ „Du gefällst mir“, unterbricht er mich. „Du trägst das Herz am rechten Fleck, wie ich spüre.“ Ich schlucke laut.

„Ich weiß nicht, ob das jetzt gut oder schlecht ist. So im Kontext Ihres Berufes betrachtet.“ Wieder lacht er laut.

„Bitte hör auf – ich kann nicht mehr.“ Er hält sich den Bauch vor Lachen.

„Okay.“

„Wenn du den Brandy nicht willst.“ Er zuckt mit den Schultern und leert den Becher in einem Zug.

Ich hebe beschwichtigend die Hand. „Hab sowieso aufgehört.“ Wieder lacht er laut.

„Melody – nicht wahr. Ich bin Doktor Francis.“ Er hält mir seine Hand hin, die ich zögerlich ergreife.

Er zieht die Augenbrauen hoch und drückt meine Hand fester. „Aha, ahaaaaa. Hm.“ Verdammt, was macht er da?

„Was immer es auch ist, ich will es nicht wissen“, informiere ich ihn präventiv.

„Okay“, meint er schulterzuckend. Mein Blick schweift neugierig im Raum umher. 15 Betten, eins davon verhüllt.

„Was ist hinter dem Vorhang?“ Da bricht die weibliche Neugierde wieder durch.

„Ein Patient, der im Koma liegt.“ Wie schrecklich. So was muss hart sein. Nicht aufwachen zu können. Gefangen in seinem eigenen Körper. Ich will mir das gar nicht ausmalen.

„Wie viel Prozent Wahrscheinlichkeit, dass er aufwacht?“, will ich wissen. Doktor Francis zieht die Augenbrauen hoch.

„Kann ich nicht sagen. Zehn? Vielleicht auch weniger.“ Also unwahrscheinlich.

„Wie kommen Sie damit klar?“

„Womit denn?“

„Nur zusehen zu können.“ Sein Blick wandert ins Leere.

„Es macht mich fertig“, gibt er zu. Er sieht aus wie ein Häufchen Elend. Aufmunternd drücke ich seine Hand.

„Wollen Sie ein Geheimnis erfahren? Von jemandem, der die Toten sehen kann.“

Er nickt interessiert.

„Sie tragen keine weißen Nachthemden.“ Die geplante Aufmunterung hat funktioniert – er lächelt. Mit der Info lasse ich ihn allein zurück und verlasse den Raum.

Draußen erwarten mich bereits Sonny und Meric.

„Hey, wie geht’s dir?“, will Meric wissen.

„Alles noch dran. Nur meinen schwarzen Humor konnte er nicht rausoperieren. Sitzt zu tief.“ Beide lächeln und ich flüstere: „Was zum Teufel war das?“

Vollkommene Zahl

Okay, also scheinbar bedrohen Zombies, sogenannte „Nova“, die magische Welt. Toll. Als ob ich nicht auch so schon genug Probleme an der Backe hätte.

Sie wissen nicht, woher sie kommen oder welches Ziel sie verfolgen, aber sie greifen Leute an und machen sie ebenfalls zu Zombies, wenn man gebissen wird. So viel dazu.

Ach ja. Sonny stand hinter der Gartenmauer und hat den Typen, der mich angegriffen hat, zermalmt, womit er sich ein dickes Küsschen als Belohnung verdient hat, das ich ihm gleich an die Wange gedrückt habe. Natürlich unter dem Vorwand, ihm was ins Ohr flüstern zu wollen, sonst wär ich da nie drangekommen.

„Melody, träumst du schon wieder? Genau wie in meinen Stunden. Ich hatte dich schon viermal gerufen“, schnauzt mich Professor Triz – der Mathe-Langweiler – an, vor dessen Büro ich warte.

„Ich träume nicht, ich überlege. Da ist ein Unterschied“, kontere ich.

„Wie auch immer. Komm in mein Büro.“

Der Raum ist über und über voll mit Zahlentapete. Wow, so muss sich der siebte Himmel anfühlen. Ich komme aus dem Glotzen gar nicht mehr raus. Um alles in mich aufzusaugen, drehe ich mich sogar im Kreis.

„Melody?“ Er zieht die Augenbrauen hoch und ergänzt „Setz dich.“

Ich tue, was er sagt und nehme Platz. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er mich, aber ich lasse den Blick durch das Zimmer gleiten. Die Tapete ist viel interessanter.

„Was tust du da?“, will er wissen.

„Ich hatte mich gesetzt, wie Sie’s mir befohlen haben.“

„Nein. Ich meine, wieso starrst du die Tapete an?“

„Ist das ein Verbrechen? Tut mir leid. Ich hatte wohl das „Tapete anstarren verboten“-Schild übersehen.“ Wieder schweift mein Blick ab.

„Zählst du?“ Seine Worte reißen mich wieder ins Hier und Jetzt.

„Ähm, vielleicht.“

„Was denn nun?“

„Ja, okay. Ich gestehe alles. Ich zähle. Was ist daran schlimm?“, stoße ich genervt aus.

„Wie viele Knöpfe hat mein Hemd?“

„Das geht mich absolut nichts an.“

„Antworte.“

„Neun. Aber manchmal sind da noch so Ersatzknöpfe, die ich nicht sehen kann“, entgegne ich geläutert. So als hätte er mich gerade beim Stehlen erwischt.

„Wie viele Schüler waren heute in meinem Kurs?“

„164.“ Das kam wie aus der Pistole geschossen. Ich bin selbst überrascht.

„Seit wann hast du das?“, will er wissen.

„Was denn?“

„Den Zwang zu zählen.“ Er spricht davon, als wäre es eine Krankheit.

„Keine Ahnung. Seit ich zählen kann? Aber das ist kein Zwang. Ich meine, ich hab das voll unter Kontrolle. Ich bin kein Junkie oder so.“

„Ja klar. Das sagen sie alle“, knallt er mir vor den Latz. Im nächsten Moment zückt er einen Block, auf den er Rechnungen kritzelt.

Ich muss sie für ihn im Kopf lösen und lasse die Prozedur wehrlos über mich ergehen.

Gefühlte Stunden später kratzt er sich am Kopf und verkündet: „Ich nehme meine Anschuldigungen gegen dich zurück. Du kannst jetzt nach Hause gehen.“

Ich nicke und verlasse den Raum. Den frechen Kommentar, den ich auf Lager hatte, hab ich mir verkniffen.

Bevor ich zur Tür raus bin, erkenne ich, dass es schon dämmert. Super. Jetzt ist der Gruselfaktor des Nachhauseweges noch um einiges höher. Und bei meinem mp3-Player ist der Saft alle. Ich Glückspilz.

Aus dem Wald kommen knackende Geräusche. Ich atme tief durch, um nicht durchzudrehen. Da ist nichts, gar nichts. Das war bloß ein Windstoß. Anstatt geradeaus zu sehen, blicke ich doch kurz zum Waldrand und erstarre.

Da steht jemand neben einem Baum. Sein Schatten, den das Mondlicht auf den Boden wirft, reicht fast bis zu mir und ich frage mich, ob mich meine vollen Hosen beim kreischend das Weite Suchen behindern.

Zu allem Übel lässt mich der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos kurzzeitig erblinden.

Der Wagen hält neben mir. Die dröhnende Musik wird runtergedreht. Jemand stößt eine Wagentüre auf und ich vernehme aufgeregtes Geschnatter von Mädels vermischt mit dem Grölen von Jungs.