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Der Traditionsbegriff "Christliches Abendland" ist dem Bewusstsein weiter Kreise abhanden gekommen. Viele empfinden dieses Erbe wie einen schlechten Traum. Heute favorisiert man die pluralistische oder "offene" Gesellschaft. Wer sich allerdings öffentlich zum christlichen Glauben bekennt, riskiert das Etikett "Traditionalist". Wenn jedoch aus einer Kathedrale wie Notre Dame de Paris Flammen schlagen, erschrecken viele Zeitgenossen abgrundtief - als spürten sie, dass mit ihr ein geistig-geistliches Erbe droht verlorenzugehen. Herausgeber: Hans-Jürgen Sträter, Adlerstein Verlag
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Seitenzahl: 219
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Der Mensch von Moderne und "Postmoderne" begegnet Religion, die beansprucht, göttliche Offenbarung zu bieten, mit (sozusagen) anerzogenem Misstrauen. Seinem Eindruck nach gab und gibt es allzu viele, große und kleine Ansprüche solcher Art. Es wird sie, alt und neu, auch künftig geben, denn Menschen jeder Generation sind unterwegs, um die Rätsel von Ursprung und Sinn ihrer Existenz zu lüften. Sie begegnen vielerlei Ideen und Ansprüchen, die sich häufig als wenig anziehend, wenig einsichtig, einseitig, zuletzt nicht tragfähig herausstellen. Etliche, enttäuscht vom Mangel an schlagenden Beweisen, der Religionen anhaftet, fassen den Entschluss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Erfahrungsgemäß aber gehen sie am Ende nicht aus dieser Welt ohne irgendein individuelles, fragmentarisches Urteil über sie und die eigene Existenz, oft eher mit Resignation als mit echter Befriedigung.
Das Arsenal der Weltanschauungen ist riesig und unübersichtlich. Vielleicht aber haben Angebote mit hohem Alter für Nachdenkliche doch einen Vorzug. Immerhin sind sie nicht schon längst mit dem Vermerk "offensichtlich haltlos" ins flächendeckende Vergessen entschwunden. Zwar scheinen sie ´nicht auf dem neuesten Stand` zu sein, können aber darauf verweisen, in Vergangenheit und Gegenwart vielen Menschen - ungebildeten und gebildeten - einen "Sinn" des Lebens erschlossen zu haben, der sie auch im Ganzen getrost sterben ließ. Christen, unsicher ob anmaßender Schlagzeilen, und Suchende, die Rede von Evangelium, von Froher Botschaft im Ohr, forschen nach einer Möglichkeit, mit ihren Fragen einzudringen, Stand zu gewinnen.
Für solche ist nachfolgende Darlegung gedacht. Sie versteht sich als Resümee zentraler Inhalte des christlichen Glaubens. Sie erfordert freilich einiges ausdauernde Mitdenken. Doch möchte sie deutlich machen, wie tiefgründig die biblische Botschaft ist. Diese mündet in die Person Jesus von Nazaret, sein Leiden, seinen Tod am Kreuz, in die Kunde von seiner Auferstehung.
Das heißt: Im Neuen Testament (auf der Basis des Alten) begegnen Christen, je tiefer sie eindringen, dem "offenbaren Geheimnis" Gottes. Darin liegt kein Widerspruch. Je tiefer die biblische Offenbarung zu Gott hinführt, desto offenkundiger mündet sie ins Geheimnis.
Eine entfernt analoge Erfahrung machen wir mit anderen Menschen. Sie, mit denen wir vertraut sind oder waren, die wir meinten zu kennen, werden auf einmal oder mit der Zeit zu Rätsel und Geheimnis.
Große Naturforscher stoßen, je tiefer sie in die Natur eindringen, auf ihr Geheimnis: sie vermögen die Welt zu verstehen so, dass sie deren Ordnungen in mathematischen Formeln und durch Symbole darstellen. Über das Erkannte zu sprechen, es zu erklären gelingt aber nur "mit Bildern und Gleichnissen, fast wie in der religiösen Sprache".1
Die Welt, in der wir leben, ist offenkundig doppelbödig. Was wir davon klar und eindeutig erfassen, ist nur Oberfläche und Ausschnitt, nicht die Tiefe, nicht das Ganze. Das gilt auch für das Geheimnis um Jesus von Nazareth. Das historisch Feststellbare lässt sich in zwei oder drei Sätzen sagen. Doch sein personales Geheimnis ist abgründig. Es bedurfte - um es etwas nonchalant auszudrücken - der genialen Intuition seiner frühesten Jünger, um den Kern des Geheimnisses der Person Jesus Christus innerhalb der ersten Generation der Gemeinden zu erschließen: ein Wunder an Offenbarung und ihrer sicheren Erkenntnis in Wort, Bild und Symbol. In all dem schaut der Glaube gleichsam den geistiggeistlichen Regenbogen, der die Welt des Lebendigen, der Geschichte und der Natur überspannt.
Christen im Selbstzweifel könnten sich überzeugen, dass der alte Glaube in tieferes Wasser reicht als modische Formen von weltanschaulichem Ersatz.
Die religionsgeschichtliche und philosophische Hinführung möchte darlegen: auch der Mensch der vermeintlich nach-metaphysischen Postmoderne hat Anlass und Grund zu schauen, ob und wie die biblische Gottes-Offenbarung eine Lösung für die Lebensrätsel birgt und anbietet.
Neben einer gewissen "Anstrengung des Begriffs" erfordert sie Respekt für Einsichten, die, von geschichtlichen Erfahrungen ausgehend, sich in mythische Symbole kleiden, aber Kohärenz und Folgerichtigkeit aufweisen. Kommt einem die unerwartete, Staunen erregende Kohärenz der verschiedenartigen biblischen Zeugnisse vor Augen, schaut man also das dem physischen Auge und dem auf pure "Fakten" pochenden Gemüt verborgene Unsichtbare, die Staunen erregende Offenbarung göttlicher Handlungen an Israel und den Völkern, entsteht wohl zwangsläufig die scheue Frage, ob sich hier vielleicht eine Botschaft öffnet, die durch Zeiten und Geschichte hindurch die "Sich Abmühenden und Beladenen" einlädt, um ihnen Ruhe zu verschaffen.
Gleichzeitig könnte sich die Einsicht einstellen, dass neuzeitliche Vor-Urteile gegen Ereignis und Verlässlichkeit einer göttlichen Offenbarung nicht genügen, um eine ganze Existenz zu tragen. Zudem dürften aktuell nicht wenige Konzepte und Träume des Homo Creator und seines rein immanenten "Transhumanismus" durch die Einbrüche viraler Pestilenz manchen Dämpfer erlitten haben, der die Nachdenklichkeit von Verantwortungsträgern, aber auch von Menschen wie du und ich in eine andere Richtung fördert.
Schon vor der aktuellen Krise erfühlten sensible Menschen Risse und Abgründe in dem scheinbar glatten, stabil gebauten, selbstsicheren Panzer der modern-postmodernen Gesellschaft. Sie spüren, es müsse mehr als "alles" geben. So notierte eine junge Frau, als sie vor Jahren das Land Israel betrat:
I came here to find you
it seems as if you`re hiding
Now I`m waiting
I stretch out my hand
I plead to you
Take it
Don`t let me live without you
Don`t let me search not find
I came from far to find you
Please God do not hide!(Katja Knosp)
Nachfolgende Darlegungen gehen auf Kurse zurück, die der Verfasser an der Universität Heidelberg und in Seminaren der Theologischen Weiterbildung anbieten konnte. Ihre Veröffentlichung in erweiterter Form kommt wohl einer Art Rechenschaft nahe.
Die gesamte Darstellung hat allerdings keinerlei offiziellen Charakter, folgt keinem höheren Auftrag, sondern liegt in der alleinigen Verantwortung des Verfassers. Sie benötigt konzentrierte Lektüre und erschließt sich jenen Lesern leichter, die eine höhere Schulbildung bzw. geisteswissenschaftliche Ausbildung erworben haben; doch sind diese keine unabdingbare Voraussetzung. Entscheidend für jeden Lese-Gewinn dürfte geduldiges, gar hungriges Interesse an Thema und Inhalt sein. Einige wenige Kleindruck-Passagen sowie fast alle Anmerkungen enthalten zusätzliche, oft fachliche Hinweise. Die Literaturangaben am Schluss des Buches verzeichnen nur Titel, aus denen wenigstens einmal zitiert wurde.
Über der gesamten Abhandlung steht freilich eine alte Lebensweisheit: Niemand vermag allen alles zu geben. Nebenbei offenbart ja das, was jemand anderen mitteilt, auch Grenzen des Mitteilenden. Vielleicht aber vermitteln die nachfolgende Kapitel einigen Lesern dennoch eine Weitung des Horizonts. Rückmeldungen von Lesern, auch solche kritischer Art, sind dem Verfasser willkommen.
Heidelberg, an Ostern 2020
Klaus P. Fischer
1Heisenberg, Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, in: Schritte ..., 313; Dürr, Auch die Wissenschaft ...
Verwendete Abkürzungen biblischer Quellentexte folgen den üblichen Gepflogenheiten:
Ü
Übersetzung
EÜ
Einheitsübersetzung
LÜ
Luther-Übersetzung
AT
Altes Testament
Gen
Genesis oder 1. Buch Mose
Ex
Exodus oder 2. Buch Mose
usw.
LXX
Septuagint
a - griechische Übersetzung des AT
Vulg.
Vulgata - lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus u.a.
NT
Neues Testament
Mt
Matthäusevangelium
Mk
Markusevangelium usw.
Apg
Apostelgeschichte
Röm
Römerbrief des Apostels Paulus
JohApk
Apokalypse des Johannes
Weitere Abkürzungen nach den neueren Bibel-Ausgaben
Offenbarung oder Philosophie?
Die religiöse Welt der Vorfahren
Abwendung vom Sakralen - Hinwendung zur ´weltlichen Welt`
Die Welt : das Absolute?
Streitbarer "Mittelpunkt der Welt" (Pico della Mirandola)
Erkenntnismetaphysik und Anthropologie
Der anthropozentrische Umschlag
Der Mensch als Gabe und Aufgabe
GOTT in der Bibel
Alte und neue Skepsis
Menschen fragen nach Woher und Wohin
Weltverständnis und Gotteserfahrung in der Bibel
"Self-centeredness“ als Zuflucht
Säkulare Zukunft, Islam und das Kreuz
Glaube eröffnet Zukunft
JHWH und die Propheten
Jesus als Alternative
Die Umkehr
Die Berufung
Finsternis über dem Kreuz
Ein blutrünstiger Gott?
Was bedeutet "Jesus lebt"?
Gericht und Zukunft für Israel
Glaube und Kirche als Orte des Auferstandenen
Liturgie: Feier des gegenwärtigen Geheimnisses
Zitierte Literatur
Zum Autor
Als studierter protestantischer Theologe wandte sich vor zweihundert Jahren der Philosoph G.W.F. Hegel mit Verve gegen "die zum Vorurteil gewordene Lehre, dass es unmöglich sei, Gott zu erkennen". Vielmehr bringe das Christentum ja gerade die Kunde, dass "Gott sich geoffenbart", das heißt, sich "zu erkennen gegeben" habe, "was er ist, so dass er nicht mehr ein Verschlossenes, Geheimes ist". Da es möglich wurde, Gott zu erkennen, sei uns auch "die Pflicht dazu auferlegt". Ist es doch "der Geist ..., der in die Wahrheit einführe, dass er ... selbst die Tiefen der Gottheit durchdringe".2
Hegel wendet sich zunächst gegen die Auffassung Immanuel Kants, Gott sei philosophisch-spekulativ nicht erkennbar, sei dem reinen Denken nur fassbar als - sogenannte "transzendentale" - "Idee" sowie als "Postulat" für das Verständnis der den Menschen innewohnenden natürlichen moralischen Pflichten. Gegen ihn vertritt Hegel mit allen Konsequenzen die "wirkliche Gegenwart des Unendlichen ... diesseits im Bewusstsein".3
Da Hegel auch "gegen manche Art von Theologie" für die entschleierte Offenheit Gottes eintritt, gehört auch, obwohl nicht genannt, Martin Luther in den Radius seiner Kritik. Dieser vertritt ja, es gebe außer dem offenbarten Gott noch den verborgenen, unerkennbaren Gott - denn wir kennen nur den geoffenbarten, nicht den verborgenen Gott. Gott habe sich nicht eingeschlossen in den Grenzen seiner Offenbarung, sondern "die Freiheit seiner selbst über alles behalten". Gott verberge sich dem Menschen, damit dieser die Gnade wahrnehme, die seine auf ihn gemünzte Offenbarung bedeutet. Der verborgene Gott aber gehe uns nichts an.4
Luthers Betonung, der offenbarte Gott bleibe - scheinbar widersprüchlich - auch ein "verborgener Gott", steht jedoch der Bibel näher als es Hegel vorkam oder recht war. Nach der Bibel schon des AT ist Gott der, "der sich verbirgt" (Jes 45,15), der, nach seinem Namen gefragt, abweisend antwortet "Ich bin der, der sein wird [oder] der sein wird, der er war" (Ex 3,14f). Im NT betont Paulus, Gott sei für alle Menschen erkennbar, doch nur indirekt: Gottes unsichtbare "ewige Macht und Gottheit" sei mit der Vernunft (Nūs) wahrnehmbar (Röm 1,19-20). Aber die religiöse Philosophie präzisiert: man kann Gott nur in verneinender Weise erkennen, weil Gottes unermessliche Wirklichkeit (immensitas) menschlichen Verstand (mens) übersteigt.5 Somit "lässt sich zwischen Schöpfer und Schöpfung keine Ähnlichkeit aussagen, ohne deren stets größere Unähnlichkeit zu betonen", stellt das auch Luther bekannte 4. Laterankonzil (1215) klar.
Hegel wollte für seine "aufgeklärte" Zeit die Theologie ´retten`, doch weil er - trotz mancher Anstöße, die er gab - die eben erwähnten Bedingungen ignorierte und so, statt bei Gott, letztlich "bei sich" blieb, hat er die Theologie in Wahrheit korrumpiert. Schon bei Bibelzitaten bedenkt er nicht, dass der Bibel entlehnte, in die mehrdeutige philosophische Begriffswelt der Neuzeit überführte Begriffe wie "Geist","Offenbarung", "Erkenntnis" und "Wahrheit" hier eine schillernde, andere Bedeutung bekommen, als sie sie im biblischen Kontext haben.6 Mit "Offenbarung" meint die Bibel die in geschichtlichen Schritten sich gebende, aber unverfügbar bleibende Selbstmitteilung Gottes, indes populärer Rationalismus - nicht selten auch unter kirchlichen Funktionären - wähnt, das unkritische Sprechen von Gott, ja über Gott in "Es"- oder Objekt-Form habe Zugriff auf Gott, seine Art, seine Pläne.
Etwa seit der Aufklärung herrscht bei Gebildeten die Meinung vor, Theologie verharre auf einem unkritischen Reflexionsniveau, sodass sich für kritische Geister die Philosophie empfehle. Viele sehen die zwei Denkrichtungen als Gegensätze, wissen aber kaum, dass sich beide schon wechselseitig befruchtet haben und dies gelegentlich auch heute tun. Wahr ist aber, dass der jeweilige Ausgangspunkt der zwei Disziplinen durchaus verschieden ist. Mit Hilfe der Theologie sucht der Glaube die geschichtlich ergangene Offenbarung Gottes zu verstehen, soweit möglich verstandesmäßig zu durchdringen, Fragen zu klären und das Verstandene anderen zugänglich zu machen: die Gläubigen sollen verstehen, wem, warum und was sie glauben. Weil der menschliche Geist fragt und, um sich zu orientieren und zu sichern, immer wieder neue Fragen stellt, kann auch die Theologie, so wenig wie andere Geistesrichtungen, sich nie zur Ruhe setzen, so lange es Menschen gibt, die Fragen stellen. Doch während viele Leute viel Mühe aufwenden, große philosophische Denker zu verstehen, in der Hoffnung, sich damit selber besser zu verstehen, jedoch die Theologie wenig kennen, lohnt sich die Mühe, darzustellen, welche Vision, ja welchen Kosmos von Einblicken und Durchblicken eine gründlich arbeitende Theologie zu öffnen vermag, die geduldigen Menschen ungeahnte Möglichkeiten der Orientierung anbieten.
Bedauerlicherweise hat sich in der Moderne vielfach die Meinung eingenistet, die Türen der Theologie seien blind oder doch für normale Sterbliche verschlossen
Ein knapper religionsgeschichtlicher Überblick vermag zu zeigen, wie heutige Menschen seit dem Altertum sich verändert haben, aus welcher Entwicklungsgeschichte heraus sie heutzutage die Frage nach Gott stellen und bewerten. Anregend ist zunächst religionsgeschichtliche Forschung 7
2Hegel, Philosophie der Geschichte, 55f
3Hegel, Enzyklopädie § 60
4Luther, Deus absconditus, in: ders., Der freie Wille a.a.O., 105-117
5Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I cap. 14. Man kann hier auch bedenken, dass mens, das lat. Wort für Verstand, den Grundsinn Maß mit führt.
6 Zur Eigenbedeutung biblischer Begriffe z.B. Boman, Das hebräische Denken; Wolff, Anthropologie des AT
7Otto, Das Heilige; Eliade, Die Religionen u. das Heilige; ders., Das Heilige u. das Profane
Für die Menschen des Altertums war die Welt ein Kosmos, d.h. eine geordnete Wirklichkeit, erfüllt von Hierophanien (Erscheinungen des Heiligen), die sie zu Verehrung und Kult veranlassten. Der Raum war für sie keine leere, formlose Weite, vielmehr erlebte man Durchbrüche des Göttlichen, dessen Offenbarungen als Raum schaffend. Raum entstand, wo der Einbruch des Heiligen/Göttlichen Orte und Zeiten feststellte, Gestalt in das Gestaltlose (Chaos) brachte und sie zum Himmel, zum Unsichtbaren hin offenhielt. Theophanie, Erscheinung des Göttlichen, rief Menschen zusammen, lockte sie an und in seine Nähe, stiftete Heimat gegen das Unheimliche, schuf Orte und gleichzeitig Bezüge: Licht und Dunkel, Nähe und Ferne, Mitte und Rand, Beständigkeit und Fluss, Leben und Tod. Man entdeckte das Immer-Seiende, das Vorherige und das Kommende.8 Die Entdeckung kultivierbaren Landes und die Kultivierung selbst erschienen als Nach-Vollzug der Schöpfung, die gleichbedeutend mit Ordnung und Gestaltung des Chaos sein musste.
In einer geordneten (das Chaos zurückdrängenden) Welt zu leben bedeutete Leben in der Offenbarung der Transzendenz. Die Offenheit zum Transzendenten wurde durch verschiedene Dinge verkörpert und symbolisiert: Berge, Bäume, Säulen, Hallen u.a.m. (vgl. Ex 3,2-3). Der Mensch konnte und wollte damals "nur leben in einem Raum, der nach oben ´offen` war, in dem die Durchbrechung der Ebene durch Symbole gesichert und dadurch der Kontakt mit der anderen, der überirdischen Welt möglich war".9
Welt entsteht für Menschen also ursprünglich durch einen Einbruch aus der ´Über-Welt` des Göttlichen. Durch den Spalt der Theophanie: wo der Mensch Sein und Realität im Vollsinn erfährt, fällt Licht und Gestalt auf das Chaos, auf die dunkle, unförmige Masse der Un-Welt. Vom Theophanen her entsteht Zentrum und, in der Folge, Kosmos überhaupt, den der Mensch nach-schaffend auszugestalten und zu erhalten bestrebt, den er abzusichern bemüht ist gegen den profanen Raum, der nichts ist als formlose Ausdehnung (Wüste, Wildnis, Meer) ohne Struktur und Orientierung. Innerhalb des Spektrums theophaner Erscheinungen waren Himmel, Erde, die kosmischen Rhythmen besonders eindrückliche Orte und Zeiten für die Erfülltheit von Natur und Welt vom Göttlichen. In wesentlichen Gegebenheiten war die Welt transparent, voller Symbole. Freilich wurden Phänomene wie Sonne, Berg, Baum usw. nicht an sich als göttlich empfunden, doch ihre Präsenz machte die Mit-Anwesenheit des Heilig-Göttlichen besonders sichtbar und spürbar. M.a.W. sind die Dinge mehr als sie selbst, lassen Höheres erscheinen oder durch-scheinen. Für den religiösen Mensch ist evident, dass das Übernatürliche im Natürlichen ´anwest` und es zugleich transzendiert.
Die göttliche Transzendenz wurde allein schon durch die grenzenlose Weite und unzugängliche Höhe des Himmels erahnbar und anschaulich. Er galt als Lieblings-Epiphanie des höchsten Wesens. Dieses hatte selten einen eigenen Kult. Nur in Katastrophenfällen rief man es als letzte Zuflucht an. Es ist zu entfernt, zu bildlos, geheimnisvoll. Im Alten Orient "El" genannt, hatte der Höchste die Tendenz, sich durch Demiurgen und andere Zwischen-Götter vertreten zu lassen, die dem unmittelbaren Erleben von Menschen näher waren (wie etwa das tremendum des Sturms).
Die Ferne des höchsten Gottes vom konkreten, kultischen Leben der Menschen entspricht, religionsgeschichtlich gesehen, einer aufschlussreichen Eigenart des Menschen in seiner Geschichte, deren Entwicklung sich bis in die Profanierung und Säkularisierung der Welt fortsetzt. Man behält zwar ein Bewusstsein vom höchsten Gott, interessiert sich aber in steigendem Maß für die hiero-phane Eigenart der kulturellen und wirtschaftlichen Umwelt. Das religiöse Erlebnis wird konkreter. Mit dem Ackerbau kommt die Fruchtbarkeit in den Blick: die Beziehung zwischen Erde und Frau, die Fruchtbarkeit der einen und der anderen, die Macht der Sexualität ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Religiosität wird erdgebundener, unbeschadet der Macht des höchsten Gottes: Er konnte Leben retten, andere Gottheiten vermochten es nur zu nähren und zu vermehren.
In der Sonne erschienen den Menschen Werte wie Autonomie und Kraft, Souveränität und Intelligenz. Da lag es nahe, die Sonne als Erscheinung des höchsten, des Himmels-Gottes zu sehen. In besonderer Weise eignete der Sonne die Affinität zu Intelligenz und Erkenntnis. Daher die Vermutung, der Sonnenkult habe - angestoßen von synkretistischem Denken und frühen Prozessen der Rationalisierung - schließlich zur altgriechischen Philosophie geführt, wie sie vor allem Platon begründete. Aus einem hierophanen Gestirn wird die Sonne schließlich zum eîdos des höchsten, des an sich Guten (Der Staat 507d - 509b), damit aber aus einer Epiphanie des Göttlichen auch zu einem Mit-Symbol des menschlichen Geistes ("sonnenklar").10 Das besagt umgekehrt: wenn die Sonne auch Symbol des menschlichen Geistes werden konnte, so nur, weil menschlicher Geist ausgezeichnet ist durch seine Offenheit für das Absolute, für den Unbedingten, für Gott,11 die die Klarheit seiner Erkenntnisse begründet. Menschlicher Geist empfängt, so gesehen, den Charakter einer indirekten oder heimlichen Theophanie. Hier wird der Grund erkennbar, weshalb der menschliche Geist schon in christlicher Antike als "Abbild Gottes" bezeichnet wurde.
Man könnte - in Gegenrichtung zur späteren allgemeinen Säkularisierung und Ent-Numinisierung der Welt - die Entdeckung des verborgenen Numinosen im Menschen, seine Offenheit für das ´Numen` noch anders kennzeichnen: Etwa von der Kulturstufe des Ackerbaus an beginnt der Mensch sich selber als Mikrokosmos wahrzunehmen: er findet in sich selbst die heiligen Kräfte und Strukturen wieder, die er im Kosmos wirken sieht.
Wie der antike Kosmos durch Hierophanien zur überirdischen Sphäre hin offen ist, ist durch seinen Körper offen auch der Mensch. Sein Körper-Haus hat Öffnungen, die den Übergang in die andere Welt ermöglichen. Für diesen Ausstieg und Überstieg (Transzendenz) ist Fliegen ein uraltes Symbol: für die Freiheit, sich ungebunden zu bewegen, wie der Seinsweise des Geistes eigentümlich.12
Die religiöse Sicht auf Kosmos und Menschenleib - als theophane oder hierophane Wirklichkeiten - wird jedoch durch die Erfahrung von Vergänglichkeit und Tod als vorläufig relativiert. Dass Welt und Gott nicht identisch, aber symbolhaft einander verbunden sind, findet mit der Erfahrung des Sterbens seine Erklärung: Die Erfahrung von Tod bedingt den (bloßen) Symbolcharakter der Welt. Dies erkennend, überschreitet (transzendiert) der menschliche Geist die Welt der Körper auf jenes Göttliche hin, das in Hierophanien seine Gegenwart anzeigt.
Von hier versteht man auch Platons (eher rationalistisch formulierte) Auffassung, Philosophieren sei Sterben (Dialog Phaidon). In einem anderen Bild (im "Staat") sieht er den Überstieg des Geistes über die bloßen Phänomene als Ausstieg aus der Höhle zur Sonne des Wahren und Guten.
8 Vgl. Hesiod, Theogonie, Proömium v 34
9Eliade, Das Heilige ..., 26
10Eliade, Das Heilige ..., 93; Die Religionen ... 179
11 Dies ermöglichte den bibl. Autoren, Bilder u. Symbole des Sonnenkults bei Nachbarvölkern durch Umsprechen nutzbar zu machen für den bibl. Glauben an JHWH: Beispiele beim Vf.: Christus in post-moderner Zeit, 67-73
12Eliade, Das Heilige ..., 102f. Platons berühmte Dialoge Phaidon u. Phaidros zeichnen diese Anschauung in rationalistisch verschärfter Weise.
Wird Philosophie gesehen als geistiger Aufstieg zum Absoluten, Unbedingten, eignet ihr auch ein untergründig religiöses, aber namenloses Streben. Ihm liegt aber, je mehr das Denken sich seiner Stärke bewusst wird, auch jener Umschlag nahe, den Descartes viel später zur Methode erklärt: menschlicher Geist sei an sich selbst ´sonnenklar`, sein Licht, seine Erkenntnisklarheit sei nicht nur eine unter anderen Hierophanien in der umgebenden Welt. Die Welt der Hierophanien und Theophanien des vormodernen Menschen ist der späteren Rationalität zwar zugänglich, doch zwingt sie sie nicht zur Anerkennung, wie u.a. Pascal erkannte, wenn er feststellt: "Gott gibt hinreichend sichtbare Marken von sich, die jene sehen, die ihn suchen, und genügend Dunkelheit für jene, die ihn nicht schauen wollen" (Pensées fr. 430/7). Für solche Menschen, konstatiert Mircea Eliade, "ist der Kosmos undurchsichtig, unbewegt und stumm geworden. Er bringt keine Botschaft, er enthält keine ´Chiffre`." 13 "Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick" (Friedrich Schiller). Der neuzeitliche, areligiöse und skeptische Mensch sieht nicht mehr, dass sein Leben heiligen Ursprungs sei; seine Existenz ihre höchsten Möglichkeiten finde, wenn sie auch auf religiöse Weise teilhabe an der Weltwirklichkeit. Dieser Mensch "macht sich selbst", und er kann sich nur wirklich selber machen in dem Maß, als er sich und die Welt de-sakralisiert. Er definiert sich gegen seine Vorfahren. Das Sakrale steht zwischen ihm und seiner Freiheit. Er kann nicht er selbst - nur er selbst - werden, ehe er nicht vollends de-mystifiziert ist. "Er kann nicht wirklich frei sein, ehe er nicht den letzten Gott getötet hat" (a.a.O. 120). Nach Eliade kann dieser Anspruch nur als permanente Negation alles Sakralen in der Welt existieren. Da aber "dieser areligiöse Mensch (..) aus dem homo religiosus hervorgegangen (ist)", wird er "immer noch verfolgt von den Realitäten, die er zurückgewiesen und verneint hat" (a.a.O., 121).
Der hier erwähnte Umschlag hat sich im europäischen Hochmittelalter vorbereitet. Zur gerechten Zeichnung des Hergangs bedarf es einiger Präzisierungen.
Die platonisierende Weltbetrachtung wurde von christlichen Philosophen und Theologen fortgeführt bis ins 13. Jahrhundert. Den Ton gaben Autoren vor wie etwa Augustinus, der Ende 4. Jahrhundert die (seine) Seele beklagt, die sich an irdisch schöne Dinge hängte, die doch vergehen, "Schmerzen" verursachen, weil sie nur entstehen, um zu vergehen, und die ohne Gott nicht da wären. Des Menschen Suche muss oder müsste also Gott allein gelten.14 Sittlichreligiöse Askese für die Entdeckung von Gott allein geriet zur skeptischen Welt-Enthaltung, ja zu Desinteresse an der vergänglichen Welt, an der Schöpfung und ihrer Tiefen-Struktur. Besonders Bonaventura pries diesen Weg: die Welt, die Dinge sind "eine Leiter, die uns zu Gott aufsteigen lässt". Die äußeren Dinge ("res") sind "Spur" ("vestigium"), unsere inneren, seelisch-geistigen Gegebenheiten gar "Bild" ("imago") Gottes.15Bonaventura möchte die Natur-Mystik des hl. Franziskus logisch fassen.
Gegen diese rein ´überirdische` Wahrnehmung der Welt entstand als Protest-Bewegung eine stärker irdisch betonte Weltbetrachtung, befeuert von der Auswertung des mit Hilfe arabischer Gelehrter neu entdeckten Werks des Philosophen Aristoteles.16 Eingebracht wurde sie durch Bonaventuras Zeitgenossen Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Man wollte jetzt wissen, wie im voraus zu aller religiösen Symbolik die Dinge wirklich beschaffen seien. Dazu verhalf - dies die Überzeugung der Jüngeren - die Philosophie des Aristoteles eher als die Platons, der nach ihrer Meinung die konkrete Welt zu schnell übersprang, indem er sie nur als "Leiter" ("scala") zum Ewigen, Göttlichen wertet. Die relative Geringschätzung des Irdischen wollte man überwinden und nun wissen, wie "die Dinge in Wahrheit beschaffen sind", quasi unterhalb der Weisheit der Offenbarung, in ihrem eigenen Sein. So würdige man den Eigenstand der Schöpfung und vermeide eine schiefe Auffassung von Gott dem Schöpfer,17 die etwa meint, Sachgerechtigkeit - die Erforschung der Welt überhaupt - sei für religiöse Menschen weniger wichtig als die gute Absicht (intentio recta).
13 Das Heilige ..., 104
14 Confessiones/Bekenntnisse Buch IV, 10.
15 Itinerarium mentis in Deum, Kap. I,2
16 Ausführlich Pieper, Thomas von Aquin, Kap. 4; Gilson, Bonaventura, 89ff. 471ff
17Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, 3 + 4
Es war im Zuge dieser die Schöpfung ernst nehmenden religiösen Wende, dass Forscher wie Galilei, Torricelli, Descartes und Huygens wieder eine Wendung anstießen und einen neuen Zugang zur konkreten Schöpfung versprachen, als sie die formale Verfassung der Weltdinge freilegten. Bei Descartes steht die "denkende Substanz" ("res cogitans") nur noch dem ausgedehnten Ding ("res extensa") gegenüber, d.h. der geometrischen Form der Dinge, für deren Erfassung Maß und Messung wichtig und genügend sind, wogegen Aristoteles` metaphysische Auffassung vom "Wesen" und vier "Ursachen" der Dinge, weil außerhalb des Metrischen, nun verworfen wird. Den Grund für die Verwerfung führt Descartes freimütig an: Als er sich einige "Grundbegriffe in der Physik" angeeignet hatte, entdeckte er, dass sie sich mehr als die in den Schulen gelehrte "spekulative Philosophie" eigneten, "großen Nutzen für das Leben" zu bringen und "uns so zu Bemeisterern (maîtres) und In-Besitz-Nehmern (possesseurs) der Natur machen könnten". Sobald man die zu erkennenden Dinge mathematisiere, scheine "nichts so fern zu liegen, dass man es nicht schließlich erreiche und nichts so verborgen..., dass man es nicht entdeckte".18 Vom metaphysischen Analogie-Denken seit Platon sah man künftig ab, und was Aristoteles "Wesen" nennt, löste man auf in die früheren "Akzidenzien" (zufällige Eigenschaften), in bloßen Was-Gehalt von Bestandteilen. Dieser Schritt der Ablösung der Metaphysik durch Physik war ebenso folgerichtig wie einseitig.
Allerdings wäre es zu einfach, die neuzeitliche Wissens-Revolution schon für die adäquate Erklärung der Abwendung auch von Gott dem Schöpfer zu nehmen. Dieser war schon zuvor fraglich geworden durch die fatalen Pest-Einbrüche, denen man im Europa des 14./15. Jahrhunderts, auch seitens der Kirche, weithin hilf - und verständnislos gegenüberstand. Auch heutzutage, wo wie ein überwunden geglaubter Spuk neuartige Pandemien einbrechen, sind, wie Erhebungen zeigen, Ausmaß und Unbegreiflichkeit des Leides ein Hauptgrund für das Nein zum Glauben an Gott. Zuvor schon hatten spätmittelalterliche Denker wie Duns Scotus, Ockham,der um Glauben ringende Mönch Martin Luther am biblischen Gott Grenzen des Verstehens entdeckt.
Die "neue (Natur-) Philosophie", wie noch Newton sie nannte, erschien, verglichen mit der Theologie, zugänglicher, erfolgversprechender und riss eine scharfe Kluft auf zwischen Glaube und Wissen. Dem geistigen Auge öffnete sich nun mehr und mehr eine Welt, die es mit formalen Mitteln - Mathematik und künstlichen Sprachen - erschließen und verwalten konnte, deren An-sich ihm aber immer fremder wurde. Wo der Mensch sich nicht einfach pragmatisch, als Empiriker, mit dem Zugänglichen begnügen wollte, deutete er seine neue Situation in der Art Kants, wonach er von der Welt nur erkennt, was die Raster der ihm a priori mit-gegebenen festen Schemata seiner Vernunft vorsortiert ihm darbieten, während das An-sich der Welt sich ihm weitgehend entzieht, das er aber seit und dank Galileis Methode messender Welt-Entzifferung glaubt ignorieren zu können, da der praktische Nutzen der neuartigen Zugänge auf der Hand liegt. Zusätzlich irritiert, dass die meisten Verkünder des kirchlichen Glaubens so sicher und konkret von Gott sprechen, als hätten sie mit ihm experimentiert, dies aber mit rein logischer Methode, deren empirische Überprüfbarkeit weithin ausfällt, daher Misstrauen weckt.