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Im November 1989 setzt das Satire-Magazin Titanic die »Zonen-Gaby« aufs Cover. Es wird zur meistverkauften Ausgabe und zum Symbol für die westdeutsche Haltung gegenüber dem Osten. Die Missverständnisse sind bis heute geblieben. Was muss passieren, damit die Stereotype überwunden werden können, ein Neuanfang möglich wird? Die Journalistin Nicole Zepter betrachtet in diesem Buch die bisher kaum erzählte Wendezeit der Westdeutschen. Denn die satirische Erfindung der »Zonen-Gaby« erzählt am Ende weniger über die Realität im Osten als über die gesellschaftliche Identität der BRD in den Jahren 89/90. Höchste Zeit für eine Begegnung auf Augenhöhe. Die Wiedervereinigung. Ein Wunder in Deutschland! Und die Westdeutschen, die weder ihr Leben für eine Revolution riskiert hatten, noch in einer Diktatur leben mussten, reagierten mit Angst und Enttäuschung, oft auf oberflächlichem Niveau: »Wie sehen die aus? Jetzt nehmen die uns auch noch unser Geld weg! …« Ein Höhepunkt war sicher die Erfindung der »Zonen-Gaby« mit dem Titel der Titanic »Meine erste Banane«. Warum reagierte der Westen derart hämisch, warum fehlt die Anerkennung von West zu Ost bis heute, wie können die Vorurteile überwunden werden? Nicole Zepter, ehemalige Chefredakteurin der Neon, spricht hierfür mit den Westdeutschen über ihre Wendeerfahrungen, versucht, die Ursachen für die Versäumnisse zu finden und zeigt, dass es für Versöhnung nicht zu spät ist.
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2022
Nicole Zepter
Wer lacht noch über Zonen-Gaby?
Ein Vorschlag zur Versöhnung
Tropen Sachbuch
Tropen
www.tropen.de
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net unter Verwendung eines Bildes von © Zonen-Gaby (Titel) – Titanic-Magazin 11/1989. Berlin, Titanic-Verlag
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50506-1
E-Book ISBN 978-3-608-11947-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1989
Wer lacht noch über Zonen-Gaby?
Distanz
Geteiltes Land
Zynismus
»Du Opfer«
»Bitte frag nicht, woher ich komme«
Schuld
Ausnahmezustand
Ein Jahrhundert in Schwarz-Weiß
Die Unsouveränen
Wer sind wir als Deutsche?
Ost- und West-Ideologie
Wer wollen wir sein?
Das Jahr 1989 – die wichtigsten Ereignisse in der
DDR
bis zum Mauerfall
1. Januar
11. Januar
15. Januar
19. Januar
6. Februar
7. März
19. März
3. April
7. Mai
7. Mai
8. Mai
15. Mai
4. Juni
8. Juni
12.–15. Juni
27.–28. Juni
1. Juli
8. August
13. August
25.–26. August
4. September
7. September
12. September
12.–13. September
18. September
19. September
21. September
25. September
30. September
1. Oktober
1. Oktober
2. Oktober
2. Oktober
4.–5. Oktober
6. Oktober
7. Oktober
8. Oktober
16. Oktober
18. Oktober
23. Oktober
24. Oktober
27. Oktober
30. Oktober
2. November
3. November
4. November
7. November
8. November
9. November
Danksagung
Literatur (Auswahl)
Anmerkungen
Für Jan
»There is power in identity.«
Bryan Stevenson
Am Tag der Maueröffnung stehen meine Eltern bei den Nachbarn vor der Tür. Eine westdeutsche Kleinstadt, es ist bereits Abend. Sie haben die Nachrichten gesehen und sind aufgeregt. Verwirrt. Auch die Nachbarin ringt nach Worten. »Ist das ein Film?«, fragt sie. »Oder ist das wahr?«
Wenige Stunden zuvor hat der italienische Journalist Riccardo Ehrman auf einer Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin dem Politbüro-Mitglied Günter Schabowski die Frage gestellt, ob dieser Reisegesetzesentwurf nicht ein großer Fehler sei, den er vor einigen Tagen vorgestellt hatte. Schabowski, in grauem Anzug, nimmt seine Brille ab, und sagt: »Es ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten lässt, der ständige – wie man so schön sagt oder unschön sagt – die ständige Ausreise regelt. Also das Verlassen der Republik.« Er wirkt gelassen, blickt sich nach rechts und links um. Gemurmel und Unruhe im Saal unter den Journalist:innen. »Ab wann?«, rufen einige Journalisten. »Ab wann?« Der Bild-Korrespondent Peter Brinkmann ruft: »Ab sofort?« Schabowski nimmt einen Zettel, setzt seine Brille wieder auf und murmelt: »Also Genosse, mir ist das heute mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in Ihrem Besitz sein.« Er blickt in die Reihe der Journalist:innen. Dann liest er von dem Zettel ab, der vor ihm liegt: »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen.« Aus dem Saal kommt die Nachfrage des Journalisten Ralph Niemeyer: »Wann tritt das in Kraft?« Schabowski blickt auf den Zettel: »Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.«
Zehn Tage zuvor erreicht Jessica Barthels Vater Oberbayern, am Ende einer vierundzwanzigstündigen Flucht. Mit seiner Familie war er von Leipzig aus über die Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich gekommen, in seinem Trabi, nur mit einer DDR-Landkarte ausgestattet. In Österreich hat er eine Telefonzelle gefunden und diese eine Nummer in der Hand gehalten. Die seiner Großmutter. Doch die Nummer war unvollständig, bestand aus vier Ziffern, ohne Vorwahl. Als er sie wählte, antwortete niemand. Einen ganzen Sommer plante er seine Flucht. Und jetzt ist die Mauer einfach offen.
Jessica Barthel ist noch ein Kind, als all das passiert. Fünf Jahre alt. Später wird sie als Fotografin eine Website über das Alltagsleben in der DDR ins Leben rufen, mit dem Ziel, die Klischees über die DDR durch neue Bilder zu ersetzen. Sie erinnert sich: Ihr Vater musste kein Geld tauschen, er hatte seine Arbeit nicht verloren – all diese Dinge, die man sich erzählte, die gab es nicht. Er war ja schon im Westen, wenn auch nur für ein paar Tage. Für Barthel ist die Geschichte des Mauerfalls nicht so, wie sie es immer im Fernsehen erzählen. Dort war es stets eine Geschichte, die in Berlin spielte oder in den Grenzstädten. Dieses Gefühl von: Jetzt kann ich meinem Nachbarn die Hand geben, ich habe den Fernseher angemacht und vor Freude geweint. Für sie fühlte sich alles eher nüchtern an. Wie bei Herrn Lehmann, aus dem Film, der den Mauerfall verschlafen hat. Man war überrascht. Ein Satz wurde gesagt, die Mauer geöffnet. Niemand wusste, wie es weitergeht. Für Barthels Tante, die wusste, dass Menschen an der Grenze erschossen wurden, war es der schlimmste Moment in der DDR: Überall war die Volkspolizei, die Armee lief durch die Straßen. Sie hatte eine solche Angst. Sie dachte: Was passiert jetzt? Kommt ein Bürgerkrieg? Kommen die Russen rein?
Margot Honecker, »Genossin Minister«, wie sie in der Öffentlichkeit der DDR bekannt ist, ärgert sich schon Monate zuvor über die Massenflucht nach Ungarn: »Sind die Leute so blöd? Die haben doch in der Schule gelernt, was Kapitalismus bedeutet.«
Ilko-Sascha Kowalczuk, der sich in den kommenden Jahrzehnten mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur beschäftigen und zu einer der wichtigsten Stimmen der jüngeren deutschen Einheitsgeschichte werden wird, sieht am Tag des Mauerfalls der Zukunft eher mit klarem Blick entgegen. Er ist 22 Jahre alt und hat in seinem bisherigen Leben schon genug gesehen: Die Nachbar:innen, die Lehrer:innen, die Staatsbediensteten – all diejenigen, die mitlaufen. Doch er weiß auch: Das ständige innere Rechnen, noch 53, noch 45, noch 43 Jahre, kann er jetzt aufgeben. Mit 65 Jahren war es Rentner:innen erlaubt, besuchsweise aus der DDR auszureisen.
Die Journalistin Ulrike Wolf sitzt in den Redaktionsräumen des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg. Sie moderiert die Tagesthemen und ist politische Chefredakteurin. Eine der wenigen Frauen in einer solchen Position zu dieser Zeit. Und sie arbeitet an einem Filmporträt über eine andere Frau im Chefsessel: Rita Süssmuth, die seit einem Jahr als Bundestagspräsidentin amtiert. Doch jetzt flimmern andere Bilder über den Monitor. Für Wolf sind sie unfassbar. Die Ereignisse überschlagen sich. Und es stellen sich viele Fragen: Wo steckt Rita Süssmuth? Wie gehen wir mit der Berichterstattung um? Wer fährt wohin, und wie kommt man überhaupt dort hin? Das Berichtsgebiet des NDR ist auf einmal Richtung Osten frei. Ulrike Wolf bekommt Mitarbeiter:innen bewilligt. Eine Sondersendung folgt auf die nächste. Absolutes Neuland, erinnert sie sich, und gleichzeitig: unsere deutschen Nachbar:innen.
Paul, der sich später im Buch an seine Zeit nach dem Mauerfall erinnert, ist 17 Jahre alt und verbringt gerade ein Auslandsjahr an der Ostküste der USA, auch unter westdeutschen Schüler:innen ein Privileg. Es ist früher Nachmittag, als der Schüler aus Georgsmarienhütte von seinem Gastvater ins Wohnzimmer gerufen wird: »Schau mal, das wird dich interessieren, die Berliner Mauer ist gefallen.« Es klingt so lapidar. So nah und so weit weg. Das Fernsehen zeigt Bilder von Menschen, die vor dem Brandenburger Tor auf der Mauer sitzen. Paul ist fassungslos. Seine Gasteltern schauen noch kurz mit und verlassen dann das Wohnzimmer. Am nächsten Tag in der Highschool ist das Ereignis kein Thema. Ein paar Wochen später bekommt er Post von einem Klassenkameraden aus Deutschland. Pauls Klasse war während des Mauerfalls in Berlin, im Brief sind Fotos von der Maueröffnung.
Marcus Böick, der später als Historiker zur Treuhandanstalt forschen wird, ist noch ein Kind im Jahr des Mauerfalls, sechs Jahre alt. Sein Großvater ist wenige Wochen zuvor zur Kur ins damalige Jugoslawien gereist. Als sie am 9. November endet, erwarten Böicks Mutter, seine Großmutter und er selbst die Ankunft des Großvaters am Flughafen in Ostberlin. Sie ahnen nicht, dass dieser Tag ein besonderer werden wird. Als sie den Flughafen verlassen, ist es bereits dunkel. Mit der Reichsbahn geht es zurück nach Aschersleben. Die vier wundern sich, dass niemand mehr am Bahnhof ist, alles ist wie ausgestorben. Dass die Mauer bereits geöffnet ist und viele Menschen an die Grenzübergänge gefahren sind, das erfahren sie erst später. Und dann wird das Feiern nachgeholt. Die Familie fährt mit dem sorgsam gepflegten Trabi des Großvaters nach Bad Harzburg. Es liegt große Aufregung in der Luft, ständig läuft der Fernseher oder das Telefon klingelt. Und dann, an einem Abend, sieht Böick, wie ein Bekannter der Familie am Tisch das DDR-Emblem mit Hammer und Sichel aus der Fahne schneidet. Ganz vorsichtig. Nun ist sie nur noch schwarz, rot, gold.
Wenige Wochen vor dem Mauerfall sitzen in Frankfurt am Main die Redakteure der westdeutschen Satirezeitschrift Titanic zusammen und überlegen, was sie auf den Titel der Novemberausgabe setzen. In der DDR brodelt es seit Monaten: Kurz nach dem Sommer, am 4. September 1989, gehen einige hundert Menschen in Leipzig für mehr Reisefreiheit und die Abschaffung der Stasi auf die Straße. Und es werden täglich mehr. Als Ungarn in der Nacht vom 10. auf den 11. September seine Grenze öffnet, fliehen Tausende DDR-Bürger:innen nach Österreich. In der Botschaft in Prag, aber auch in Budapest und Warschau, warten die Geflüchteten auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher verhandelt seit Wochen für sie. Dann endlich verkündet er auf dem Balkon der Botschaft in Prag: »Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …«, weiter kommt er nicht, sein Satz geht in Jubelschreien unter. Es ist der 30. September. Die Menschen dürfen ausreisen. Trotz des Drucks der Bevölkerung feiert die DDR-Regierung Anfang Oktober ihr vierzigjähriges Jubiläum. Es wirkt trotzig und bizarr. Während der Feierlichkeiten kommt es zu Demonstrationen, die der Staat brutal auflöst. Wenige Tage später, am 9. Oktober, versammeln sich 70 000 Demonstrant:innen in Leipzig. Diesmal wehrt sich der Staat nicht.
Das Westfernsehen zeigt die Bilder dieser Tage unentwegt. Vor allem eine Szene bleibt bei den Redakteuren hängen, die noch heute seltsam wirkt: Menschen verteilen neben Schokolade und Sekt auch Bananen an ankommende Geflüchtete. »Wir zeigen einfach eine junge Frau, die eine Banane in der Hand hält. Zonen-Gaby im Glück«, soll Titanic-Gründer Robert Gernhardt gesagt haben. Der Autor Bernd Eilert soll hinzugefügt haben: »Und statt einer Banane drücken wir ihr eine Gurke in die Hand.« Der Name soll von der ehemaligen Bundesvorsitzenden der PDS, Gabriele »Gabi« Zimmer, stammen. Die Redaktion sucht eine passende »Gaby« und findet sie in Worms, in der Lieblingskneipe eines Redakteurs. Gaby heißt eigentlich Dagmar und ist medizinisch-kaufmännische Angestellte. Sie hat kurzes blondes Haar, ein freundliches Gesicht. Im November 1989 wird aus ihr eine Ostdeutsche – mit Jeansjacke, die »nach DDR aussieht«, und Minidauerwelle. Und dann ist es soweit: Die Titanic veröffentlicht das Cover einer lächelnden Frau, sie hält eine Gurke in der Hand, vor Freude weint sie eine Träne. »Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD): ›Meine erste Banane‹«, steht über dem Foto. Es ist bis heute die meist verkaufte Ausgabe der Titanic.
Diese Satire ist mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer nah dran am westdeutschen Selbstverständnis: Es ist westdeutscher Mainstream, über den Osten zu lachen und ihn als rückständig zu betrachten. Dass die Empathie füreinander verloren gegangen ist, spürt man auch im Privaten. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr das Pflegen von Vorurteilen in Gesprächen im liberal geprägten und akademisch gebildeten Freundes- und Bekanntenkreis verbreitet ist. So wird zum Beispiel über das »Gejammer der Ostdeutschen« geklagt. Eine Bekannte sagte einmal, sie habe doch nichts gegen Ostdeutsche und überhaupt, Ostdeutschland sei nie ein Thema für sie gewesen. Das trifft auf viele Westdeutsche zu. Für sie war und ist die DDR selten ein Thema – weder einzelne Lebensgeschichten noch die Erfahrungen in der Nachwendezeit. Vielleicht gab es mit etwas Glück ein wenig Ostalgie bei dem Berlinbesuch. Politiker:innen, Kolleg:innen, Freund:innen und Mitglieder der eigenen Familie werfen »den Ostdeutschen« am Abendbrottisch vor, in einer Opferrolle zu verharren oder als Wähler:innen der AfD an den rechten Rand zu rücken. Das Erstaunen über die Enttäuschung und Demokratieskepsis im Osten ist groß. 47 Prozent der Bürger:innen in Ostdeutschland fühlen sich ausschließlich als Ostdeutsche, nur 44 Prozent als Angehörige der gesamten Nation. Unter Westdeutschen dominiert hingegen die gesamtdeutsche Identität.
Viele Westdeutsche haben ihre Vorurteile kultiviert, mit weitreichenden Folgen für Ostdeutsche. Es gibt eine deutliche Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in führenden Ämtern, seien es CEOs in Unternehmen, Richter:innen oder Direktor:innen von öffentlichen wie privaten Institutionen. Unter den knapp zweihundert Dax-Vorständen befinden sich nur vier mit ostdeutscher Herkunft. Erst im Jahr 2019 wird erstmals eine Juristin mit ostdeutscher Biographie Richterin am Bundesverfassungsgericht. Es gibt weniger ostdeutsche Chefredakteur:innen als westdeutsche, und auch ihre Sichtbarkeit ist geringer: Der Anteil von ostdeutschen Talkshowgästen im ersten Halbjahr 2020 lag bei gerade einmal 8,3 Prozent. Ostdeutsche verdienen immer noch 16,9 Prozent weniger als Westdeutsche, was auch daran liegt, dass der Osten als unattraktiver Standort für Unternehmen gilt. Als sich im Jahr 2011 eine Ostberlinerin für einen Job als Buchhalterin in Stuttgart bewirbt, wird sie mit dem Kommentar »Ossi« am Seitenrand ihrer Bewerbung abgewiesen. Als das Kabinett der neuen Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz im September 2021 verabschiedet wird, sind unter den 17 Minister:innen gerade einmal zwei Ostdeutsche: Klara Geywitz und Steffi Lemke. Eine Studie der Universität Kassel zeigt zudem, dass auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung kaum Ostdeutsche in politischen Spitzenpositionen tätig sind: In der Regierungszeit Angela Merkels hat der Anteil von Staatssekretär:innen und Abteilungsleiter:innen in den Ministerien und im Kanzleramt bei rund einem Prozent gelegen. In der Amtszeit von Gerhard Schröder und auch in der ersten Amtszeit Merkels hat es gar keine Ostdeutschen in diesen Positionen gegeben. Die Studie schließt mit dem Zitat: »Man sucht aus Ostdeutschland stammende Spitzenbeamtinnen und Spitzenbeamte in der gesamtdeutschen Verwaltungselite bis heute fast vergeblich.«[1]
Nach wie vor ist die Arbeit der Treuhandanstalt, die zwischen 1990 und 1994 aus der ehemaligen sozialistischen Planwirtschaft eine soziale Marktwirtschaft erschaffen sollte, umstritten und wird in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich bewertet. Im Osten als Symbol einer »feindlichen Übernahme«, wie eine Studie zur Wahrnehmung und Bewertung der Treuhand aus dem Jahr 2016 zeigt.[2] Im Westen als notwendige und erfolgreiche Leistung. Der Grundgedanke der Treuhand, am Runden Tisch der Übergangsregierung Modrows entstanden, war es, das Volksvermögen gerecht aufzuteilen. Diese Idee entwickelte sich zu einer einschneidenden, von der westdeutschen Regierung dominierten Privatisierung der Ostbetriebe, die den Abbau von Betrieben und massive Arbeitslosigkeit nach sich zog.
Fakten sind eindeutig, messbar und sichtbar. Aber spürbar? Dafür braucht es mehr als Verstand. Dafür braucht es Mitgefühl. Mit dem Fall der Mauer wurden Anfang der Neunzigerjahre die Unterschiede zweier deutscher Landesteile deutlich. Wirtschaft, Lebensverhältnisse, der Zustand der Städte, aber auch kulturelle Differenzen zeigten, wie weit Ost und West voneinander entfernt lagen. Doch statt im Westen mit Anteilnahme und Aufbruchstimmung zu reagieren, wurde der Blick erbarmungslos. Statt Glück und Zusammenhalt entstand auf beiden Seiten Deutschlands eine Kultur der Unzufriedenheit, der Vorurteile, der Herablassung und der Stigmatisierung.
Aus Menschen, die einer Diktatur entflohen waren, wurden Ostdeutsche. Ehemalige DDR-Fernsehstars, Schriftsteller:innen und beliebte Sportler:innen versickerten im gesamtdeutschen Gedächtnis. Welche:r Westdeutsche kennt Brigitte Reimann oder Tamara Danz? Kunstgeschichte wurde eingelagert (»Dresdner Bilderstreit«) und Geschichte abgerissen (Palast der Republik). Das Land, das sich selbst mit einer friedlichen Revolution aus der Diktatur befreite, wurde von einem Akteur zum Statisten. Die Wiedervereinigung wurde in der deutschen Erzählung zu einer Leistung der Regierung Helmut Kohls. Die Treiber:innen der demokratischen Bewegung, die Menschen auf den Montagsdemonstrationen, die nicht selten ihr Leben für die Revolution riskiert hatten, wurden im kollektiven gesamtdeutschen Gedächtnis vergessen.
Über die Zeit nach dem Mauerfall gibt es unzählige Geschichten, Bücher und Filme. Und immer wieder ist dabei die gleiche Erzählung der Ungerechtigkeit zu hören. »Ossis raus« wurde zum Schlagwort, geschrieben auf Plakate, Wände oder auf Zettel, die unter den Scheibenwischern von Ostdeutschen klemmten. Doch bis heute ist diese Diskriminierung im Westen scheinbar ohne spürbares, zumindest sicht- und hörbares Echo geblieben. So wie die Geschichte der Figur Maria aus Daniela Kriens Roman Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Krien ist im Osten aufgewachsen und lebt heute in Leipzig. Liest man die Liebesgeschichte zwischen der 17-jährigen Maria und einem 40-jährigen Mann, spielt sich schnell der Hintergrund nach vorne, vor dem die Beziehung spielt: Sommer 1990 in der DDR, die Zeit zwischen Wende und Wiedervereinigung, in einem Dorf unweit der innerdeutschen Grenze. Krien beschreibt, wie Maria und ihre Familie die Wiedervereinigung erleben. Maria erzählt: »An das erste Mal [im Westen] erinnere ich mich ungern. Demütigend war das Einreihen in die Schlange für das Begrüßungsgeld gewesen, erniedrigend die Blicke eines Obst- und Gemüsehändlers, als ich ihn fragte, wie diese und jene Frucht hieße und wie man sie essen müsse. Vorher standen wir Stunden am Grenzübergang und froren; es hatte ersten Schnee gegeben – frühen Schnee –, und wir waren nicht vorbereitet auf Hunderte von Autos, die alle die Grenze passieren wollten. Wir warteten viele Stunden im eiskalten Auto, nur um uns dieses Geld zu holen und endlich den Westen leibhaftig gesehen zu haben. Ich war enttäuscht. Die Erwartung, die mein ganzes Leben lang Zeit gehabt hatte, sich aufzubauen, hielt der Wirklichkeit nicht stand. Das einzige Geschäft, das ich betrat, war dieser Obstladen, dessen Besitzer uns kalt musterte. Es war uns ins Gesicht geschrieben, woher wir kamen.«
Statt sich offen und unvoreingenommen zu begegnen, werden bis heute immer wieder die gleichen Stereotype bedient: Ostdeutsche tendieren zum Rassismus, Ostdeutsche sind undankbar, Ostdeutsche schätzen die Freiheit nicht, Ostdeutsche distanzieren sich nicht genug vom Unrechtsstaat DDR