Wer langsam macht, kommt eher an - Roland Stimpel - E-Book

Wer langsam macht, kommt eher an E-Book

Roland Stimpel

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Beschreibung

Langsamkeit – rückwärtsgewandt und leistungsschwach? Im Gegenteil: Im Verkehr ist sie effizient, nachhaltig und klimaschonend. Reaktionär und unproduktiv ist dagegen unsere Tempo-Besessenheit. Wir sind immer schneller geworden und unsere Wege immer länger. Aber wir erreichen nicht mehr Ziele als frühere Generationen. Unser Verkehr ist ein Hamsterrad: groß im Rotieren, aber ohne echten Fortschritt. Dieses Buch beschreibt die Geschichte unseres Tempokults seit der Nazizeit. Es analysiert, wie wir uns durch Geschwindigkeit ausbremsen – in ausgedünnten Verkehrsnetzen, am großen Mobilitätsstörer Ampel, bei Lebenszeit raubenden Unfällen. Das Buch warnt vor modischen Pseudo-Auswegen: Auch E-Autos sind fast alle zu groß und zu schnell. Und das Fahrrad vollbringt nicht annähernd die Wunder, die manche von ihm erwarten. Eine grundlegende Verkehrswende muss die Prioritäten vom Reifen auf die Füße stellen: Sie privilegiert Langsame vor Tempostarken, kurze Wege vor weiten, schlanke Ein-Personen-Autos vor Dickschiffen. Sie stellt Bahn, Bus und das Zufußgehen besser als Privatfahrzeuge mit zwei oder vier Rädern. Gewinner sind Sicherheit und Gesundheit, Städte und Klima – und unsere Mobilität.

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Wer langsam macht, kommt eher an

Über dieses BuchWillkommen im HamsterradRotieren ohne EndeVerkehr und MobilitätTempo-Kult und Tempo-RechtPolitische HebelWege zum guten Verkehr – und SackgassenDas Fahrrad: Genial, aber stark überschätztSchlankmobile, schlanke Spuren und schlanke FüßeAuf die Füße!Verweise und HinweiseDer Autor

Über dieses Buch

Langsamkeit – rückwärtsgewandt und leistungsschwach? Im Gegenteil: Im Verkehr ist sie effizient, nachhaltig und klimaschonend. Reaktionär und unproduktiv ist dagegen unsere Tempo- Besessenheit. Wir sind immer schneller geworden und unsere Wege immer länger. Aber wir erreichen nicht mehr Ziele als frühere Generationen. Unser Verkehr ist ein Hamsterrad: groß im Rotieren, aber ohne echten Fortschritt.

Dieses Buch beschreibt die Geschichte unseres Tempokults seit der Nazizeit. Es analysiert, wie wir uns durch Geschwindigkeit ausbremsen – in ausgedünnten Verkehrsnetzen, am großen Mobilitätsstörer Ampel, bei Lebenszeit raubenden Unfällen. Das Buch warnt vor modischen Pseudo-Auswegen: Auch E-Autos sind fast alle zu groß und zu schnell. Und das Fahrrad vollbringt nicht annähernd die Wunder, die manche von ihm erwarten.

Eine grundlegende Verkehrswende muss die Prioritäten vom Reifen auf die Füße stellen: Sie privilegiert Langsame vor Tempostarken, kurze Wege vor weiten, schlanke Ein-Personen-Autos vor Dickschiffen. Sie stellt Bahn, Bus und das Zufußgehen besser als Privatfahrzeuge mit zwei oder vier Rädern. Gewinner sind Sicherheit und Gesundheit, Städte und Klima – und unsere Mobilität.

1. Auflage August 2021

Edition FUSS

Band 1

Veröffentlicht bei epubli

Copyright © by Roland Stimpel, Berlin

Titel und Grafiken: Jonathan Fieber, igreen media (www.igreen.de) Rückseitenfoto: Silke Reents

In der Edition FUSS erscheinen Schriften, die den Zielen des FUSS e. V. dienen, aber nicht in jedem Detail Vereinsposition sein müssen.

Willkommen im Hamsterrad

Schnellstraßen, Schnellbahnen, Schnellbusse. Neuerdings Radschnellwege, Powerwalking, zum Bäcker per E-Roller und als Flause eines Verkehrsministers Flugtaxis: Wir lassen uns manisch beschleunigen. Trotzdem opfern wir dem Verkehr immer mehr von unserer Zeit.

Eine fünfte und sechste Fahrspur, ein drittes Gleis, eine asphaltierte Radtrasse durch den Park: Verkehr bekommt immer mehr Raum, aber unsere Wege sind verstopfter denn je. Unser Verkehrssystem ist ein Hamsterrad: Es rotiert immer schneller, aber ohne neuen Ertrag. Wir rollen so viele Kilometer wie noch nie – aber wir erreichen nicht mehr Ziele als vor 40 Jahren.

Nach hundert Jahren Ausbau von Fahrbahnen und S-Bahnen, mit immer raffinierteren Ampelanlagen und verfeinerten Verkehrsgesetzen sind wir nicht im Mobilitäts-Schlaraffenland angekommen, sondern in einem stressigen Wechselbad von Raserei und Erstarrung. Aber Hamsterrad-Verwalter vom Berliner Minister bis zur Amtsleiterin in der Kleinstadt bauen und beschleunigen weiter. Für sie gibt es nur ein „zu wenig“. Dass sie viel zu viel des scheinbar Guten getan haben: undenkbar.

Dabei wissen und begründen Verkehrsforscher das längst. Die Wissenschaft von systemischen Ursachen, Selbstverstärkungen und Steuerungsmöglichkeiten wird aber bei keinem gesellschaftlichen Großthema von Politikern und Praktikern so ignoriert. Sie verhalten sich, als hätten wir Corona mit der Idee bekämpft: Lasst die Viren auf Gesunde überspringen, denn sie vermehren sich dann nicht, sondern verteilen sich bloß lockerer.

Sie bauen gegen alle Erkenntnisse der Verkehrsforschung Straßen aus, die gerade dadurch immer voller werden. Sie beschleunigen so, dass wir für unsere Wege immer länger brauchen. Sie sprechen gern von Fortschritt durch weniger Fahrzeit und mehr Mobilität. Dabei gibt es den in wichtigen Kerngrößen seit der Steinzeit und Römerzeit nicht: Von damals bis heute machen wir im Schnitt jeden Tag drei Wege außer Haus und sind dafür eine gute Stunde unterwegs.

Aber damit zur guten Nachricht: Wer Verkehr plant, kann die Erkenntnisse auch zugunsten seines Publikums nutzen, kann uns Verkehrsteilnehmern unterm Strich Zeit und bessere Mobilität schenken. Wir sollten nicht den Stadtraum für Verkehrsmittel ummodeln, sondern die richtigen Verkehrsmittel für den vorhandenen Raum fördern. Dabei locken beeindruckende Effizienzgewinne.

Das mag autoritär und bevormundend klingen. Aber es geht ums Gegenteil: um die maximale Freiheit, andere Orte zu erreichen – nahe und ferne, mit kleinem oder großem Aufwand, mit weniger Schäden für andere Menschen, für Städte und Dörfer, Umwelt und Klima. Mit schlankem und schlauem Verkehr können wir den größten Gewinn an Mobilität und Lebensqualität einstreichen.

Eine Warnung an die auch in der Verkehrsdiskussion lauten Ideologen: Ich bemühe mich, in diesem Buch kein Verkehrsmittel zu verherrlichen – nicht mal mein liebstes, die Füße. Und ich verteufele keins. Die leidenschaftlichsten Himmel-und-Hölle-Diskussionen führen Anbeter des Autos und des Fahrrads. Dabei reden und handeln beide oft verblüffend gleich. Und beide überschätzen ihr Verkehrsmittel.

Das Auto in seiner heute üblichen Form ist für Städte falsch konstruiert und wird falsch benutzt. Das Fahrrad wiederum kann das Auto nicht einfach ersetzen und ist auch kein rollender Engel. Aber paradoxerweise kann ein technisches Mittelding zwischen beiden Fahrzeugen viele Autoprobleme lösen und Radschwächen beheben. Es wäre das zweitbeste Individualverkehrsmittel – nach dem effizienten und universellen Zufußgehen, der Grundlage aller Mobilität.

Rotieren ohne Ende

Schneller fahren – länger brauchen

Ungefähr 400 Datendurstige durchschritten am 14. November 2018 die von zwei schlafenden Bronzelöwen bewachte Pforte des Berliner Verkehrsministeriums. Sie versammelten sich im überdachten Lichthof zwischen doppelten Arkadenreihen, die zu Kaisers Zeiten die Zierde der damaligen Bergbau-Akademie waren. Aber keiner der 400 Professorinnen und Fußgänger-Lobbyisten, Dezernentinnen und Referenten, Bahnmanager und Autokonstrukteure interessierte sich für Löwen und wilhelminische Neorenaissance. Alle wollten nur eins: Zahlen. Die gab es an diesem lichten Novembertag zum deutschen Verkehr in einer Fülle und Vielfalt wie noch nie.

Für die Großstudie „Mobilität in Deutschland“ hatten im Auftrag des Ministeriums die Forscher von Infas und anderen Instituten 316. (361 Menschen befragt, von über 100-Jährigen bis zu 11-Jährigen, und für noch Jüngere die Eltern. Von allen wollten die Infas-Leute wissen: Wohin, mit welchen Verkehrsmitteln, wie lange und zu welchem Zweck waren Sie am betrachteten Tag unterwegs? 960. (619 Wege hatten sie am Ende erfasst, garniert mit Fakten zur Person – nicht nur Alter, Geschlecht, Wohnort und Einkommen, sondern auch, wer ein Auto vor der Tür, ein Fahrrad im Keller oder eine Monatskarte in der Tasche hatte. Ob jemand ohne Reisepartner im Bus gesessen hatte oder in Begleitung zu Fuß gegangen war, ob im Dorf oder in der Metropole, und schließlich: Ob die Leute gern auf den Beinen waren oder hinterm Steuer saßen oder ob sie vielleicht ihr Verkehrsmittel hassten?

Ein Riesenaufwand, aber er ist es wert in einem Ministerium, das im Jahr 30 Milliarden Euro in Kanäle, Flughäfen, Radwege, Bahnstrecken und vor allem Straßen steckt und das auf rationalen Grundlagen tun sollte. Trotzdem fehlte einer bei der Präsentation der Zahlen: Minister Andreas Scheuer, dessen etwas düsteres, meist mit Gardinen verhangenes Neorenaissance-Eckbüro nur eine Treppe über dem großen Saal lag. Scheuer hatte in diesen Tagen andere Prioritäten: Er war im Endspurt zur Auftragsvergabe der bald darauf gescheiterten Autobahnmaut.

Was die Wissenschaftler vom Infas-Institut vortrugen, hätte Scheuer auch nicht besonders gefallen. Ihre Zahlen dokumentierten die Fruchtlosigkeit von Jahrzehnten deutscher Verkehrspolitik, die auch dieser Minister ungebrochen fortsetzte. Deutlich wurde das im Vergleich mit älteren Studien der gleichen Art, die Scheuers Vorgänger seit 1976 initiiert hatten.

Auf den ersten Blick zeigte sich ein großer Erfolg. 1976 kam die Erhebung auf ein Durchschnittstempo der deutschen Verkehrsteilnehmer von 19,4 Stundenkilometern. (1) Eingeflossen ist alles vom gemächlichen Fußweg des 90-Jährigen bis zum Jet-Flug der Managerin. Seitdem haben wir mächtig zugelegt: Aus der jüngsten Erhebung, durchgeführt 2017, ergibt sich schon ein Wert von 27,8 Stundenkilometern – fast die Hälfte mehr Tempo. (2)

Was das für Verkehrszeit spart! Die hat ja hinterm Steuer, im Trott auf der Chaussee oder in vollen Zügen oft wenig Lebenswert. Dumm nur: Wir kommen keineswegs rascher irgendwo an. Sondern obwohl wir immer schneller werden, brauchen wir immer mehr Zeit im Verkehr. 1976 waren wir im Schnitt 68 Minuten auf Wegen, Straßen, Schienen und über Wolken unterwegs, 2017 schon 85 Minuten. (3)

Mehr Tempo, aber mehr Zeit im Verkehr? Das klingt paradox, aber die Erklärung ist einfach: Unsere Strecken werden immer länger. Vor 45 Jahren bewegte sich jeder Mensch in der Bundesrepublik rechnerisch 22 Kilometer am Tag. Bei der aktuellen Umfrage waren es schon 39 Kilometer. Das kostet mehr Zusatzzeit, als wir durch Tempo sparen.

Aber ist es das nicht wert – bringt Tempo nicht Freiheit? Wir könnten so mehr Ziele in gleicher Zeit erreichen: noch bei der Oma vorbeifahren, mal eben im Modemarkt am Stadtrand das Sonderangebot schießen, als Handelsvertreter pro Tag zwei Kunden mehr besuchen. Auch das messen die Studien, und hier ist das Ergebnis ernüchternd: Trotz des mächtig gestiegenen Aufwands besuchen wir Schulen, Arbeitsplätze, Läden, Theater, Baggerseen und Partys nicht öfter als vor Jahrzehnten: 1976 erreichten Deutschlands Verkehrsteilnehmer im Schnitt 3,1 Ziele außer Haus pro Tag. Und 2017 ebenfalls 3,1. Hier hat sich gar nichts geändert. Nur der Aufwand im Verkehr ist gestiegen, nicht sein Ertrag.

Dabei quälen wir uns mit dem Verkehr: Er kostet uns nicht nur die 85 täglichen Unterwegs-Minuten, sondern auch lange Stunden, in denen wir für den Autokauf oder das Bahn-Abo arbeiten. Unsere Ausgaben und unser Arbeitseinsatz für Verkehr sind höher als fürs Essen und Trinken, für Gesundheit oder Freizeit. (4)

Aber nicht zum Vergnügen. Der Aussage „Ich fahre gern“ stimmten in der großen Studie von 2017 nur Minderheiten unter den Auto-, Rad-, Bus- und Bahnbenutzern zu. Fußgängerinnen sind relativ am glücklichsten; Zufriedenheit hängt also nicht am Tempo. (5) Wohl aber das Unglück anderer: Tempo lärmt, stinkt, vergiftet Atemluft, schleudert CO₂ in die Luft. Unser Verkehr ist nach dem Heizen der zweitgrößte Klimakiller, den wir als Privatleute verantworten. (6) Er zerschneidet Städte und Landschaften. Er geht uns hart an: 400.000 Menschen verletzt er jedes Jahr, 3.000 tötet er. (7) Tempo raubt Lebenszeit – und oft die Zeit von Menschen, die gar nicht im Tempo-Modus waren. Das ist das Übelste an der alltäglichen Sekundenschinderei.

Dabei hat es vor fast 200 Jahren mit der Eisenbahn und vor über 100 Jahren mit dem Auto so hoffnungsvoll angefangen. Es lockten Freiheit, Raumgewinn in vielerlei Hinsicht, soziale Vernetzung, gar die große globale Vereinigung. „Alle Menschen werden Brüder“ vertonte Beethoven 1824; bei ihm um die Ecke begann gerade der Bau von Österreichs erster Bahnstrecke.

Dass seitdem so viel Hoffnung in chronischen Ärger umgeschlagen ist, hat mit fünf großen, kollektiven Irrtümern zu tun:

Irrtum 1:Tempo macht den Verkehr effizienter. Wenn wir die Priorität auf Geschwindigkeit setzen, gewinnen wir Zeit und alles wird gut.

Aber tatsächlich bremst Tempo in vielfacher Weise und stiehlt Zeit – nicht nur den Schnellen, scheinbar Effizienten selbst, sondern auch vielen anderen. (Kapitel „Durch Tempo Zeit verlieren“)

Irrtum 2:Unsere Wünsche, bestimmte Ziele zu erreichen, prägen den Verkehr.

Tatsächlich ist es umgekehrt. Meist entscheidet das Angebot an Verkehrsmitteln und Wegen, wie wir uns bewegen – und wohin. („Politische Hebel“)

Irrtum 3:Mehr Verkehrsraum bringt mehr Bewegungsfreiheit. Tatsächlich steigt mit zusätzlichem Raum die Nachfrage nach ihm noch stärker. Es wird voller, nicht freier. („Mehr Straßen – mehr Staus“)

Irrtum 4:Verkehrspolitiker müssen dafür sorgen, dass wir unsere Bewegungsform frei wählen können. Bitte Trambahn und Radweg, zwei Fahrspuren und einen schönen breiten Bürgersteig!

Tatsächlich kann keine Stadt das alles überall bieten, weil sie knappe Flächen, Etats und Vorrechte immer nur einmal vergeben kann. Was die einen bekommen, fehlt den anderen. Selbst in einer liberalst möglichen Verkehrspolitik manipuliert jede Entscheidung die angeblich freie Wahl, auch wenn sie das gar nicht will. („Wo selbst Liberale nur autoritär sein können“)

Irrtum 5:Verkehr in großen, engen Städten kann zum Großteil mit Individualfahrzeugen geschehen.

Tatsächlich funktioniert er bei höchster Dichte nur mit Massentransport und auf unseren Füßen. („Straßen schnell verstopfen“)

Alle fünf Einzelirrtümer beruhen auf einem großen: Wir betreiben alle Verkehr, machen da viele Erfahrungen und glauben, was für uns einzeln gilt, das gelte fürs Gesamtsystem: Tempo spare Zeit, Verkehrsraum schaffe Bewegungsfreiheit und mehr Infrastruktur garantiere freie Wahl.

Dumm nur: Im Verkehr ergibt das Streben nach vielen individuellen Vorteilen oft nicht das Beste für alle. Denn Verkehr ist ein System mit tückischen Rückkopplungen: Je schneller wir sein wollen, desto mehr bremsen wir uns gegenseitig aus. Je mehr ein Weg zum Benutzen einlädt, desto voller wird er. Je mehr Verkehrswege wir zur Erschließung von Räumen bauen, desto weiter rücken unsere Ziele weg. Und je mehr von uns das scheinbar beste Verkehrsmittel wählen, desto mehr schlägt Freiheit in lähmende Überfüllung um.

Wie kommen wir da heraus? Nach der alten Parole „Immer schneller auf immer mehr Verkehrswegen“ jedenfalls nicht. Gesucht ist nicht das Höchstmaß an Kilometern und Geschwindigkeit, sondern das beste Maß. Um dieses Optimum herauszufinden, müssen wir eine einfache, aber erstaunlich selten diskutierte Frage abhandeln: Was bezwecken wir eigentlich mit Verkehr? Weit in die Ferne kommen? Schnell hinkommen? Kilometer sammeln? Mehr Orte erreichen? Oder bessere Orte? Das sind ziemlich unterschiedliche Werte und Wünsche. Über sie diskutiert es sich fruchtbarer, wenn wir zuerst zwei wichtige Grundbegriffe klären, die immer wieder vermischt werden, auch in der großen Bundes-Ministerial-Studie: Verkehr und Mobilität.

Verkehr und Mobilität

Viel Aufwand, oft wenig Leistung

Was ist Verkehr? Die Antwort ist ziemlich einfach: das, was da draußen herumwuselt – auf Füßen oder Rädern, Schiffsrümpfen oder Tragflächen. Damit Menschen oder Sachen irgendwohin kommen, ein bisschen aber auch, weil das Wuseln als solches so schön ist – so gesund, aufregend oder entspannend. (8)

Verkehr kann man zählen und messen. Zum Beispiel die Zahl der Fahrzeuge, die einen Punkt passieren. Aber das ist nur von lokalem Wert. Eine Messgröße mit mehr Aussagekraft sind die Personenkilometer – zum Beispiel 50 für einen Einzelnen, der im Auto diese Strecke zurücklegt. Und ebenfalls 50 für hundert Kinder, die einen halben Kilometer zum Spielplatz gehen. Die Messgröße für Sachen ist altmodisch und heißt Tonnenkilometer. Tausend taube Steine sind in dem Sinn viel mehr Verkehr als tausend teure Smartphones, die gleich weit gefahren werden.

Die konventionelle Fachstatistik nennt die Tonnen- oder Personenkilometer „Verkehrsleistung“. (9) Das ist ein ziemlich irritierender Begriff. In anderen Lebensbereichen wird mit „Leistung“ das Ergebnis gemeint. Das Schul-Genie, das nie ackern muss, aber ein Zeugnis voller Einsen hat, bringt deutlich bessere Leistungen als das kleine Licht, das trotz langer Paukerei höchstens Vieren schafft.

Anders im Verkehr. Da gilt als Leistung nicht das Ergebnis: Ziel erreicht! Sondern der Aufwand: Kilometer gefressen! Weite Teile der Verkehrs-Diskussion sind von einer Kilometer und im Güterverkehr von einer Kilometer-mal-Tonnen-Ideologie getrübt. (10) Wer wenig aufwendet, geht statistisch unter: 2017 legten die Menschen in Deutschland knapp 22 Prozent aller Wege außer Haus komplett zu Fuß zurück. (11) An der „Verkehrsleistung“ hatte aber das Gehen nur einen Anteil von 2,9 Prozent, weil die Wege zwar viele, aber oft kurz sind.

Tausend Runden im Hamsterrad sind nach dieser Rechnung auch bei null Millimetern Fortschritt imposant, weil der Nager so viele Umdrehungen gelaufen ist. Dabei sind weite Wege per se nur für Ticket- und Benzinverkäufer gut und für Spediteure, die nach Strecke bezahlt werden. Für die meisten von uns ist Verkehr kein Selbstzweck und die sogenannte Leistung kein Wert an sich. Wir betreiben ihn nur ausnahmsweise als fröhlichen Zeitvertreib, dagegen meist, um irgendwo hinzukommen. Das führt zum oft gebrauchten, rätselvollen Begriff „Mobilität“.

Mobilität: Nur das Ankommen zählt

Alle reden von Mobilität. Aber was meint eigentlich Mobilität im Zusammenhang mit Verkehr? Wenn Sie jetzt keine spontane Antwort haben, nur eine schwammige oder gleich mehrere Antworten, müssen Sie sich nicht schämen: Sie sind auf Augenhöhe mit der Verkehrswissenschaft. Die sagt es nämlich auch nicht genau und einigermaßen einheitlich, sondern verwirrt uns und sich selbst mit inhaltsarmen, nebulösen und widersprüchlichen Definitionen.

Mal ist Mobilität etwas, das man tun könnte – für den ersten Experten „die Möglichkeit einer weitgehenden Beherrschung des Raumes“, (12) für die nächsten zwei Fachleute „Bewegung in möglichen Räumen“. (13) (Gibt es auch unmögliche Räume?) Ein vierter definiert Mobilität als „die Möglichkeit bzw. Fähigkeit der Menschen, … die von ihnen gewünschten Ziele erreichen zu können“. (14) Erklärung Nummer vier dreht sich im Kreis: „Potentielle Mobilität ist die Beweglichkeit von Personen, allgemein und als Möglichkeit.“ (15) Das Potenzielle ist Beweglichkeit und die Beweglichkeit ist eine Möglichkeit, also etwas Potenzielles. Noch Fragen?

Im nächsten Definitionsversuch ist Mobilität das Ergebnis einer Tat, zum Beispiel „die Befriedigung von Bedürfnissen durch Raumveränderung.“ (16) Oder sie ist definiert als „die Beweglichkeitsgrade von Personen und Gütern“. (17) Älter und hübsch grotesk ist die „statische Mobilität“ – Stillstand und Beweglichkeit in einem. (18)

Schließlich der gesamte Nebel in einem Paket: „Die räumliche Mobilität oder territoriale Mobilität beschreibt die Beweglichkeit von Personen und Gütern im geographischen Raum. Zur Mobilität gehört die Möglichkeit und Bereitschaft zur Bewegung. Im Verkehr zeigt sich die realisierte Mobilität.“ (19)

Aber jetzt das gute Ende: Es gibt eine schlichte und brauchbare Definition, immerhin aus einem Standardwerk zur Verkehrsplanung: „Mobilität bezeichnet im Zusammenhang mit Verkehr die Häufigkeit von Ortsveränderungen.“ (20) Noch schlichter: Mobilität ist das Erreichen von Zielen außer Haus. Nicht die Möglichkeit dazu, nicht der Aufwand dafür, sondern das schlichte Ankommen irgendwo.

Das schafft ein klares Verhältnis zwischen Verkehr und Mobilität. Verkehr, das sind die Mittel, die eingesetzt werden: sich bewegende Füße, Fahrzeuge, Flugzeuge. Mobilität ist der Zweck der Bewegung: an einen anderen Ort zu kommen. Viel Verkehr ist hoher Aufwand. Viel Mobilität ist hoher Ertrag. (21)

Und dieser Ertrag ist messbar: mit der Zahl der erreichten Ziele, oder wie es in der zuletzt zitierten Definition heißt: mit der „Häufigkeit von Ortsveränderungen“. Je öfter ein Mensch in einer bestimmten Zeit an irgendeinem Ort ankommt, desto mobiler ist sie oder er. Deutschlands Mobilitätszahl sind die oben erwähnten 3,1 Ziele außer Haus, die der Durchschnittsmensch pro Tag erreicht.

Dazu drängt sich eine kritische Frage auf: Wird da nicht Unvergleichliches gleichgesetzt; hat nicht jeder Weg einen anderen Wert? Soll etwa der Gang zum Gemüseladen um die Ecke so viel zählen wie der Flug nach Neuseeland? Immerhin wendet die Um-die-Welt-Fliegerin über 1.000 Euro und 30 Stunden im engen Jetsitz auf, dagegen der Besucher des Ladens im Quartier für den Weg fast nichts.

Die erste Hälfte stimmt: Wer so viel aufwendet, findet Neuseeland als Ziel ziemlich wertvoll. Die zweite Hälfte stimmt nicht: Der Gang zum Laden kann extrem wichtig sein, auch wenn er fast keinen Aufwand macht. Er ist das einfachste Mittel für ein existenzielles Anliegen: sich und seine Nächsten mit Nahrung am Leben zu halten. Das ist noch mehr wert als ein Urlaub im wunderschönen Manawatū-Wanganui.

Zu behaupten „Mobilität mit wenig Aufwand ist nichts wert“ ist so irrig wie zu sagen: 30.000 beiläufig-natürliche Atemzüge am Tag sind egal, nur der in der teuren Beatmungsmaschine zählt. Die Länge des Weges oder die Kosten sagen nichts über den Wert des Ziels aus. Dieses kann man auch nicht objektiv bewerten und gegen andere gewichten. Dagegen ist es relativ einfach und neutral, jedes Ankommen wertfrei zu zählen. Das misst aussagekräftig, was der Verkehr tatsächlich leistet. Aber es führt gleich zur nächsten Frage: Wenn man Mobilität messen kann – lässt sich dann auch sagen, wie viel Mobilität gut, richtig und anstrebenswert ist?

Nicht weg müssen ist auch schön

3,1 erreichte Ziele pro Tag im Jahr 1976, und 2017 ebenfalls – ist gleichbleibende Mobilität über lange Zeit eigentlich gut, schlecht oder egal? (22) Mein Ergebnis vorweg: Sie ist ziemlich egal. Ortswechsel sind per se weder gut noch schlecht. Stubenhocker sein ist so wenig beglückend oder deprimierend, so wenig tugend- oder lasterhaft wie Fliegender Holländer. Genau wie Verkehr ist auch Mobilität kein Selbstzweck, sondern ihrerseits Dienerin eines Ziels: Man möchte am jeweils besten Ort für das sein, was man gerade tun will. Wir werden mobil, wenn wir am Zielort etwas überhaupt tun oder besser tun können, was am Ort des Starts nicht oder schlechter möglich ist. Aber wir bewegen uns nur, wenn uns das mehr wert ist als der Aufwand, den der Weg macht – der Aufwand an Zeit, Geld, Unannehmlichkeit, Anstrengung und Risiko.

Hohe Mobilität kann für das Glück stehen, immer am jeweils besten Ort zu sein. Oder für das Pech, dauernd woanders hin zu müssen. Niedrige Mobilität haben Gefängnisinsassen, aber auch freie Lebenskünstler, denen ein paradiesisches Plätzchen alles bietet, was sie sich wünschen. Höchst mobil sind glückliche Fahrradbotinnen und gehetzte Zähler-Ableser. Die meisten von uns agieren zwischen den Extremen.

Es gibt fast täglich Gründe für mehrere Ortswechsel – aber auch Gründe, es damit nicht zu übertreiben. Am Morgen geht es ins Büro. Aber dort bleiben wir acht Stunden, statt am Mittag in ein

anderes zu gehen. Abends spazieren wir ins Kino, aber nicht nach dem halben Film noch zum Schlussakt ins Theater. Nach dem Heimweg wechseln wir nicht mitten in der Nacht das Haus. Am Samstag bleibt man lieber drei Stunden beim Großvater, als den Nachmittag in sechs halbe Stunden zu stückeln – bei Opa, im Shopping-Center und mit den Kumpels in der Kneipe, dazwischen und danach dreimal 30 Minuten Fahrt. Kurz: Wir suchen nicht maximale Mobilität, sondern die Balance zwischen Bewegen und Bleiben. Und da kommen wir seit Jahrzehnten auf ein immer gleiches Ergebnis.

Es gibt in unserer vermeintlich immer hektischeren Zeit sogar Lebensfelder, in denen die Mobilität nachlässt: Statt Fachgeschäfte abzuklappern, bestellen wir von daheim aus im Netz. Pizza und Toilettenpapier vom Boten an die Haustür gebracht – das lernten viele in der Corona-Starre erst kennen und manche sogar schätzen. Ebenso das Homeoffice und die Videokonferenz. Die Mobilität sank; ihre Zwecke ließen sich mehr oder weniger gut auch anders erreichen. Genau wie Verkehr war und ist auch Mobilität kein Selbstzweck und kein Qualitätsmerkmal fürs Leben.

Hermann Knoflacher aus Wien, weiser alter Mann der Verkehrsplanung und auch bibelkundig, zeigt uns, dass in der Schöpfungsgeschichte die Mobilität als schwere Strafe in die Welt tritt: „Rastlos und ruhelos wirst Du auf der Erde sein“, sagt Gott zu Kain, nachdem der seinen Bruder Abel ermordet hat. (23) Allerdings hat sich das Sozialprestige seitdem gewandelt: Rasch wechselnde Präsenz an vielen verschiedenen Orten gilt heute als Nachweis von Bedeutung und Beweglichkeit. Wären vielleicht viele Leute doch mobiler, wenn sie könnten – also wenn sie mehr Geld hätten?

Die kombinierte Statistik von Einkommen und Mobilität in der Großstudie von 2017 sagt: ja, aber nur sehr bedingt. Die Mobilität von Armen und Reichen klafft längst nicht so auseinander wie ihre Einkommen. Menschen mit niedrigem Einkommen haben pro Tag 2,7 nicht berufliche Wege, der Gipfel bei höherem Einkommen liegt bei 3,1 Wegen. (24) Die Welt ist also nicht gespalten in Mobilitäts-Arme und einen immer neue Ziele ansteuernden Alltags-Jetset. Andere Faktoren sind wichtiger für das Ausmaß an Mobilität: Ein Großteil der weniger Mobilen bleibt nicht wegen Geldmangels zu Hause, sondern ist alt, muss nicht mehr zur Arbeit oder bleibt vor allem wegen geschwundener Körperkraft öfter daheim als andere.

Bleiben oder sich bewegen – keins ist von grundsätzlich höherer Qualität als das andere. Für Politik und Planung heißt das: Sie sollen Mobilität ermöglichen und erleichtern. Aber mir fällt kein Grund ein, warum sie Menschen zu mehr Mobilität bewegen sollte – oder im Gegenteil zu mehr Häuslichkeit und ruhigem Bleiben. Das eine wie das andere wäre Bevormundung. Es ist darum beruhigend, dass sich der wichtigste Mobilitätskennwert über Jahrzehnte kaum verändert: Wir haben keine Politik, die unsere Mobilität in die eine oder andere Richtung treibt. Wie oft wir uns auf den Weg machen, gibt uns nicht der Staat vor.

Mobilitätspolitik hat zwei andere Aufgaben: Erstens kann – nein, muss sie dafür sorgen, dass alle Menschen existenzielle Ziele erreichen können: Schule, Arbeitsplatz, Laden, Arztpraxis. Das ist in vielen Dörfern nicht selbstverständlich, aber in der Großstadt für viele Alte und Behinderte auch nicht. Zweitens können und sollten Politik und Planung die Qualität unserer Mobilität verbessern. Sie können uns Wege zu Zielen bahnen, an denen wir unsere Wunschdinge besser tun können als an anderen Orten: statt des Hilfsjobs am Ort den guten Job in der City, statt zum Dorfarzt zur Spezialistin für unser Leiden, statt Baggersee Ostsee oder gleich Südsee.

Genau das rechtfertigt auf den ersten Blick den jahrhundertelangen Drang nach mehr Tempo: Je schneller wir sind, desto mehr Orte haben wir zur Wahl. Sollte also Beschleunigung deshalb Ziel der Politik sein? Und ist umgekehrt Entschleunigung bedrohlich, weil sie uns die freie Wahl des Orts beschneidet?

Höheres Tempo – mehr Mobilität?

Hinkommen, wo immer man gerade sein will. Die Welt als Schlaraffenland von Orten zu Füßen haben und immer den einen Platz erreichen können, der das gerade gewünschte Beste bietet: Das ist der Traum von der universellen Mobilität. Die Ferne ist eine geografische Torte. Von der Mitte des Kuchentellers zum Rand wird ein Tortenstück bekanntlich immer breiter. So ist es auch mit den Zielen um uns herum. Wo wir sind, ist der Mittelpunkt unserer räumlichen Torte. Je rascher, bequemer, billiger wir nach außen gelangen können, desto breiter die Raumtorte wird, desto stärker wächst die Zahl der Ziele, die wir zusätzlich zur Wahl bekommen.

Um uns mehr Ziele zu erschließen, scheint es auf den ersten, für viele auch letzten Blick nur ein Mittel zu geben: Tempo, mehr Tempo und noch mehr Tempo. Angenommen, unsere Torte heißt München; unsere vorgegebene Zeit bis zum Ziel ist ein Viertelstündchen. Vom Rathaus am Tortenzentrum Marienplatz erreichen wir in der Viertelstunde zu Fuß alle Punkte der Altstadt – Ziele auf einer Fläche von insgesamt rund drei Quadratkilometern.

Mit dem Fahrrad kommen wir, wenn alle Ampeln uns Grün schenken, in den 15 Minuten auch in einen der umliegenden Stadtteile, etwa die Tortenstücke Schwabing, Bogenhausen, Giesing oder Sendling. Die erreichbare Fläche steigt weit stärker als das Tempo: Bei vierfacher Geschwindigkeit wie zu Fuß erreichen wir jeden Ort in einem 16-mal so großen Gebiet. Und die Viertelstundentorte würde riesig, könnte man mit dem Auto vom Marienplatz kontinuierlich mit Tempo 50 durch München fahren. In diesem sehr theoretischen Fall wäre in 15 Minuten jeder Ort in der Eineinhalb-Millionen-Stadt erreichbar: sechsmal mehr tortensüßes München als per Rad, hundertmal mehr als zu Fuß.

Das ist das große Versprechen der Beschleunigung: Steigt das Tempo, dann wächst der Raum noch viel mehr, den es uns erschließt. Mathematisch gesprochen: Zum Geschwindigkeitsanstieg in Stundenkilometern steigt die erreichbare Fläche im Quadrat. So verspricht schnellerer Verkehr eine explodierende Fülle an Chancen. Statt der paar Jobs in unserem Vorort winken die Karrieren der ganzen Metropole. Statt zwei Wurstbuden erreichen wir in der gleichen Zeit zweihundert nette Restaurants, am Wochenende anstelle einiger Provinztheater mit dem ICE alle deutschen Opernhäuser, oder statt unseres moderigen Herbstteichs per Easyjet sonnige Mittelmeerstrände.

Aber die Beschleunigung täuscht: Je schneller wir sind und je weiter wir fahren können, desto mehr schlägt das allgemeine Tempo gegen uns und sich zurück. Geschwindigkeit spart nicht nur Zeit, sondern verschlingt zugleich viel, so dass am Ende oft nichts gewonnen ist. Darum geht es im nächsten Teil des Buchs.

Straßen schnell verstopfen, Kreuzungen dynamisch lahmlegen

Strecken: Staus durch Abstand

Tempo braucht Raum: als erstes eine möglichst stabile Hülle um das Gerät, das Menschen schnell bewegt. Als zweites Seitenabstand zu anderen, die sich parallel bewegen oder denen man begegnet. Als drdittes und wichtigstes braucht Tempo den Raum nach vorn, den man als nächstes durchqueren will – und den deshalb alle anderen frei lassen sollen. Man besetzt ihn, indem man sich auf ihn zu bewegt.

Dieses Terrain, das alle Verkehrsmittel einschließlich gehender Menschen quasi vor sich her schieben, nenne ich „Anspruchsraum“. Er wächst mit der Geschwindigkeit. Der Anspruchsraum für die jeweils nächste Sekunde entspricht bei zügigem Gehen etwa 1,40 Meter nach vorn. Bei durchschnittlichem Fahrradtempo sind es 5,5 Meter und vor Autos mit Tempo 50 schon fast 14 Meter.

Immer wieder überschneiden sich mehrere Anspruchsräume. Das ist die Mutter aller Verkehrskonflikte: Einer muss auf seinen Anspruch verzichten oder zwei stoßen zusammen. „Konfliktflächen“ werden die sich überschneidenden Anspruchsräume darum auch genannt. (25 Regeln sollen entscheiden, wer zuerst den Raum nutzen darf und wer warten muss. Aber oft entscheiden nicht sie. sondern Stärke oder Dreistigkeit. Wer für sich ein geringeres Risiko sieht, nimmt den Raum und hofft, dass die anderen warten. Meist greifen ihn die Schnelleren.

Ihre Anspruchsräume sind immens groß. Wer quer über eine Fahrbahn ohne Zebrastreifen gehen will, auf der sich ein Auto mit Tempo 50 nähert, überlegt intuitiv: Schaffe ich das noch, wenn die oder der nicht bremst? Mit viel Straßenerfahrung kalkuliert ein Mensch zu Fuß: Es ist ohne Spurt und Sprung sicher zu schaffen, wenn das Auto in frühestens fünf Sekunden hier ist. (26) Der Fünf-Sekunden-Anspruchsraum eines Fahrzeugs mit diesem Tempo ist 69 Meter lang.

Und Menschen zu Fuß finden das Radfahren auf engen Gehwegen nicht deshalb dreist, weil da jemand auf dem Sattel sitzt. Sondern weil dieser Jemand so schnell ist, dass er vom ohnehin knappen Raum illegal eine Zone von etlichen Metern beansprucht, aus der alle anderen gefälligst auf die Seite springen sollen.

Wer in einem Fahrzeug hinter anderen herfährt, schließt oft aus Ungeduld dicht auf – so dicht, dass die Vorderen in den eigenen Anspruchsraum für die nächste Sekunde geraten. Man verlässt sich darauf, dass sie nicht plötzlich langsamer werden oder gar anhalten. Passiert das doch und war der Abstand zu gering zum Bremsen und Halten, ist das Ergebnis ein Auffahrunfall.

Anspruchs- und Abstandsräume beanspruchen einen viel größeren Teil der Fahrbahnfläche als die Fahrzeuge selbst. Das zeigt die Satellitenansicht auf Google Maps für jedes beliebige Stück Autobahn: Wo nicht gerade Stau ist, sieht man wenige Rechtecke Blech auf großen, meist unbedeckten Strecken Asphalt. (27) Es gilt erst recht für Flugzeuge und Bahnen: Beim Landeanflug sind zwischen zwei Maschinen 5,6 Kilometer Abstand vorgeschrieben. (28) ICE-Züge fahren bei Höchsttempo mit etwa 15 Kilometern Abstand hintereinander. (29)

Mit ihrer immensen Größe sind die Anspruchs- und Abstandsräume auch die Mütter vieler Kapazitätsprobleme von Verkehrswegen, von Stockungen und Staus. Das besondere Tempo-Problem dabei: Steigt die Geschwindigkeit, dann steigt der nötige Bremsweg viel stärker, nämlich im Quadrat zu ihr. Damit wächst auch der nötige Abstand.

Es gibt aber auch einen Gegeneffekt: Hat ein Fahrzeug in hohem Tempo einen bestimmten Punkt passiert und sich von ihm entfernt, dann ist rasch wieder Platz für das nächste. Bei niedrigem Tempo ist dieser Effekt größer als der mindernde Effekt durch die nötigen Abstände, bei hohem Tempo ist er kleiner. Die höchste Leistungsfähigkeit hat eine Fahrspur bei dem Tempo, bei dem die beiden Effekte sich gegenseitig aufheben. Das ist die bei knappem Verkehrsraum optimale Geschwindigkeit.

Dieses Optimum liegt für durchschnittlich fünf Meter lange Fahrzeuge bei 22,5 Stundenkilometern. Hier können unter Wahrung der Sicherheit am meisten Autos pro Stunde die Fahrbahn nutzen. (30))) Zwischen zwei Fahrzeugen werden hier 11,3 Meter Sicherheitsabstand benötigt. Zum Vergleich: Beim Tempo 50 sind es knapp 39 Meter.

Das Tempo ist der erste wichtige Faktor für die Leistungsfähigkeit von Strecken. Der zweite, die Länge eines Verkehrsmittels oder-teilnehmers, spielt nur eine rechnerische Nebenrolle. Der dritte Faktor ist wieder wichtiger: die Breite des Verkehrsmittels und die von ihm verlangten Seitenabstände. Autos brauchen eine knapp drei Meter breite Spur. Das reicht für zwei Fahrräder oder nicht zu schnelle Motorräder, und es reicht bequem für drei Fußgänger in gleicher Richtung.

Ein vierter, ebenfalls bedeutender Faktor ist die Auslastung von Verkehrsmitteln. Beim Paar Füße ist sie naturgemäß 1 zu 1, bei Fahrrädern kann man den gleichen Wert ansetzen (außer vor dem Kindergarten beim Bringen und Abholen). Für Motorräder rechne ich mit einem Sozius auf jedem zehnten Fahrzeug; in Autos im Stadtverkehr sitzen im Schnitt 1,3 Menschen. (31) Das ergibt für einen drei Meter breiten Verkehrsweg die in der Grafik abgebildeten Leistungsfähigkeiten. (32) Hier zeigt sich, wie viel Sand ins enge Getriebe des Stadtverkehrs große, schnelle und schwach besetzte Fahrzeuge werfen: so viel, dass der Sand immer wieder große Teil der Maschine lähmt.

Kreuzungen: Wo PS-Starke leistungsschwach sind

Große Kreuzungen sind die Synapsen der Stadt: Hier laufen die urbanen Nervenstränge aus allen Richtungen zusammen. Hier müssen alle umeinander herum und aneinander vorbei. Kreuzungen sind geprägt von ständiger Begegnung Ungleicher auf gleichem Raum – von sich selbst bewegenden Menschen, schlanken und voluminösen Fahrzeugen, von Verletzlichen und Gepanzerten. Der Raum ist begrenzt; im Gewusel lauern Konflikte und drohen Kollisionen.

Kreuzungen sind noch öfter als Strecken die Flaschenhälse, die die Kapazität von Wegen begrenzen. Wer macht die Engpässe? Die Old School der Verkehrswissenschaft hat da einen ziemlich einseitigen Blick. So erwähnt der Bochumer Professor Werner Brilon gleich dreimal in einer 13-seitigen Präsentation zu „Knotenpunkten ohne Lichtsignalanlage“ die leidige „Leistungsminderung durch Fußgänger“. (33) Sein Dresdner Kollege Reinhold Maier verkündet schlicht: „Fußgänger vermindern die Kapazität“. (34) Wessen Leistung und Kapazität, das muss kaum ausgesprochen werden: die für beide Professoren maßgebliche für Kraftfahrzeuge natürlich. Beide führen „Abminderungsfaktoren“ an: Maßzahlen dafür, wie für die raumgreifenden schnellen Verkehrsmittel die Kapazität wegen der lästigen Zweibeiner sinkt.

Aber gelegentlich können sie auch anders. Eine erweiterte Betrachtung kommt vom erwähnten Werner Brilon und seinem Kollegen Thorsten Miltner. (35) In der Einleitung ihrer Schrift aus dem Jahr 2003 präsentierten sie der Fachwelt eine Erkenntnis, die Laien nicht sehr überrascht, aber manchen Planern offenbar noch vermittelt werden musste und bis heute muss: „Insbesondere innerorts nutzen auch die Verkehrsteilnehmerarten Fußgänger und Radfahrer in zum Teil erheblichem, im Stadtzentrum teils sogar dominierendem Maße die Knotenpunkte. Eine Berücksichtigung dieser Verkehrsteilnehmer erscheint deshalb notwendig.“ (36)

Bei Brilon und Miltner kommen zwei Fußgänger-Belange vor: Wartezeiten und Gefährdungen durch Motorfahrzeuge. Aber ein zentrales Thema schneiden sie auch in dieser Studie nur kurz und abwehrend an: Könnte eine Kreuzung vielleicht viel leistungsfähiger werden, wenn man sie vor allem für die Bedürfnisse von Menschen zu Fuß einrichtet, dazu nach Möglichkeit für Busse, Bahnen, Fahrräder? Aber das wird nicht berechnet. Denn die Gesamtkapazität ist egal, nur die Teilkapazität für Kraftfahrzeuge zählt.

Brilon und Miltner stellen fest: „Für Fußgänger ist es nicht sinnvoll, Kapazitäten zu berechnen, von denen aus auf die mittlere Wartezeit geschlossen werden kann. Die Kapazität für Fußgänger hängt ... vom Raumangebot, d. h. der Breite der Geh- und Überwege ab.“ (37) Es kommen schon alle irgendwie rüber – und solange sie anderen nicht zu lange im Weg herumlaufen, ist es egal, wie viele sie sind.

Statt die von kapazitätsmindernden Verkehrsmitteln verursachten Probleme an der Wurzel zu packen und sie durch leistungsstärkere zu ersetzen, dreht man verzweifelt an kleinen Schräubchen: Hier neue Ampeln, dort eine Abbiegespur, anderswo längeres Aussperren der zweibeinigen „Abminderer“ durch mehr Fußgänger-Rot.