Wer mordet schon in Franken? - Friederike Schmöe - E-Book

Wer mordet schon in Franken? E-Book

Friederike Schmöe

4,4

Beschreibung

Wie kam es zu dem Dreifachmord im Paradiestal, bei dem zwei Jungen und ein Mädchen ihr Leben verloren? Und was hat die Tramperin, die tragischerweise an einem Nacho erstickt, so Wertvolles in ihrem Rucksack, dass ihr ein Motorradfahrer durch die ganze Fränkische Schweiz folgt? Es geht blutig zur Sache, auch in anderen Ecken des wald- und burgenreichen Frankenlandes wird gelyncht und gemordet. Suspense und Sightseeing zwischen Nürnberg, Würzburg und Hof.

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Friederike Schmöe

Wer mordet schon in Franken?

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Söllner – Fotolia.com

und © Polizeihistorischer Verein Stuttgart e.V.

ISBN 978-3-8392-4308-4

Tödliches Tao

– Coburg und Coburger Land mit Obermaintal –

»Mein Mann wurde tot in einem Hotelzimmer in Coburg gefunden.« Die schick gekleidete Dame, die zu Privatdetektivin Katinka Palfy in die Detektei gekommen war, schien sich mehr vor den Flusen auf dem Besuchersessel zu ekeln als vor dem unschönen Ableben ihres Gatten.

Katinka setzte gerade an, ihr Mitgefühl zu bekunden, doch ihre neue Klientin kam ihr zuvor.

»Tja, nichts zu machen. Ich brauche professionelle Hilfe, und die Coburger Polizei hat Sie empfohlen.« Wilma Koch blickte prüfend auf ihre rot lackierten Fingernägel.

»Mich – empfohlen?«

»Allerdings. Hauptkommissar Wolf Schilling, ein sehr kultivierter Mensch. Er geht von Selbstmord aus. Aber ich kann mich mit dem Gedanken nicht abfinden. Harald war kein Typ, der einen so feigen Abgang macht.«

Hauptkommissar Wolf Schilling! Kultiviert konnte man ihn nennen; oder besser einen feinen Pinkel. Katinka lehnte sich zurück. Vor Jahren hatte sie mit ihm – oder eher gegen ihn? – einen Fall in Coburg gelöst. Irgendwas mit einer Werbeagentur. Hardo Uttenreuther, ihr Lebensgefährte und seines Zeichens Polizist wie Schilling, war im Lauf des mysteriösen Falles auf der Veste Coburg1angeschossen worden und hatte nur dank einer Notoperation überlebt. Katinka dachte nicht gern an jene Nacht, in der Hardos Leben am seidenen Faden hing. Aus der Not heraus hatte sie damals mit Schilling ein effektives Team gebildet. Aber dass er sie empfahl?

»Ihr Mann«, fasste Katinka zusammen, was Wilma ihr berichtet hatte, »hat sich also aus Göttingen, wo Sie wohnen, nach Coburg begeben, um dort zu … meditieren?«

»Er war in einem labilen Zustand. Geschäftlich geht nichts mehr. Wir haben eine Software-Firma. Aber die Kunden sind weggebrochen, die vielen Kleinunternehmer, die wir früher bedient haben, können sich uns gar nicht mehr leisten und basteln sich lieber selbst ein paar halb gare Internetseiten.« Wilma entnahm ihrer Krokohandtasche ein Taschentuch und tupfte sich die Augen. Es kam Katinka so vor, als würde sie erst jetzt, auf dem schmuddeligen Sessel in der Detektei, so richtig begreifen, dass ihr Leben sich von einer Minute auf die andere brutal geändert hatte.

»Ihr Mann ist mit dieser Entwicklung nicht zurechtgekommen?«

»Wir haben in den guten Jahren Geld auf die Seite gelegt. Verhungert wären wir nicht so schnell.«

Zweifelnd musterte Katinka die schicke Aufmachung ihrer Klientin. Einen gewissen Abstrich bei den Luxusgütern würde sie bestimmt machen müssen.

»Aber er konnte es seelisch einfach nicht verkraften, so dermaßen abzusacken. Nichts zu tun zu haben. Harald ist – war – ein Workoholic. Verstehen Sie?«

»Sie haben also keine Schulden?«

»Natürlich nicht!« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Könnte Ihr Mann Schulden haben, von denen Sie nichts wissen?«

»Ich mache seit Jahren die Buchhaltung für die Firma. Wir sind in den schwarzen Zahlen. Den einzigen Programmierer, der fest angestellt war, haben wir entlassen. Die letzten Aufträge wurden auf Honorarbasis an Freiberufler vergeben. Sofern Harald nicht alles selbst gemacht hat.« Sie seufzte tief und presste erneut das Taschentuch auf ihre Augen. Als sie sich gefasst hatte, fuhr sie fort: »Der Punkt ist, dass Harald sich plötzlich für Meditation und autogenes Training und solche Sachen interessiert hat. Das fand ich seltsam, weil er mit Esoterik eigentlich nichts am Hut hatte. Er glaubte nur an das, was er sehen konnte. Solange die Geschäfte gut liefen, gab es auch keinen Grund, sich mit dem Tao oder dem I Ging oder was weiß ich zu beschäftigen. Aber in den letzten Monaten interessierte sich Harald plötzlich für fernöstliche Lebensweisheiten. Er las stapelweise Selbsthilfebücher. Das war auch der Grund, warum er nach Coburg fuhr. Er brauche eine Auszeit, sagte er, wolle aber gleichzeitig den Autor eines dieser Ratgeber kennenlernen: Bodo Sawatzki.«

»Nie gehört.«

Wilma Koch schnaubte. »Verpasst haben Sie nichts.« Sie kramte ein Buch mit einem Umschlag in Grün und Pink aus ihrer Handtasche und schleuderte es auf Katinkas Schreibtisch. »Hier. Das ist Haralds Exemplar. Er schleppte es permanent mit sich herum. Die Polizei fand es in seinem Hotelzimmer.« Sie kniff die Lippen zusammen und starrte aus dem Fenster hinaus in die enge Gasse, in der die Sommerhitze zwischen den Häusern klebte. »Ich bin der Meinung, dass er nicht Selbstmord begangen haben kann. Er war einfach nicht der Typ dafür.«

Katinka nahm das Buch in die Hand und las den Titel: ›Das Tao deines Neuanfangs‹.

*

Während Katinka nach Coburg fuhr, notierte sie sich im Geist die wichtigsten Fragen an Hauptkommissar Schilling. Sie musste unbedingt wissen, ob die Polizei die letzten Lebenstage von Harald Koch rekonstruiert hatte. Die Sonne glänzte auf den Weizenfeldern, die sich im sanften Wind wiegten. Im Juli wirkte die Natur wie aus dem Reisekatalog. Zwar durchschnitt die Autobahn seit einigen Jahren diesen Teil Oberfrankens, der Gottesgarten 2  genannt wurde, was Katinkas Meinung nach alles sagte. Doch der Schönheit der Landschaft tat nicht einmal das graue Asphaltband wirklichen Abbruch. Rechts erhob sich der Staffelberg 3, der Katinka an einen alten Fall erinnerte, wie so vieles hier in der Gegend. Ein paar Kilometer weiter sah man die Basilika Vierzehnheiligen 4.liegen, umgeben von dunklem Wald, bestrahlt von der Sonne. Der Sandstein leuchtete warm. Genau gegenüber thronte das Kloster Banz5 auf seinem Hügel. Katinka fand, es wäre genau der richtige Zeitpunkt für eine Wanderung im kühlen Wald. Womöglich klärte sich das Geheimnis um Harald Kochs Tod sehr schnell auf. Dann würde sie einen Tag blaumachen, soviel stand fest.

*

Hauptkommissar Wolf Schilling begrüßte Katinka in seinem Büro. Er trug einen leichten cremefarbenen Sommeranzug und weiße Schuhe. Sein Geschmack war also immer noch reichlich überkandidelt.

»Nur herein, nur herein, Frau Palfy. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich ein bisschen Werbung für Sie gemacht habe?«

Katinka schloss die Tür hinter sich. »Im Gegenteil.«

»Setzen Sie sich. Wollen Sie wissen, was wir haben?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Harald Koch hat sich vor fünf Tagen im Hotel garni Schwarz in der Webergasse eingemietet. Sozusagen mitten im Zentrum, aber ruhig gelegen, nur sechs Zimmer. Das Haus wird privat betrieben, das Ehepaar Schwarz macht alles allein. Keine Angestellten, keine Videokamera, kein Nichts.« Er blickte Katinka vielsagend an. »Frau Schwarz beschreibt Koch als sehr ruhig und zuvorkommend. Er war einer von den Gästen, die nach dem Sightseeing früh am Abend ins Hotel zurückkommen und nicht noch einmal ausfliegen. Sie legt sich bald schlafen, gegen zehn, und stets war Koch schon in sein Zimmer gegangen. Auch an jenem Abend, als er starb.«

»Kam nach Koch noch jemand?«

»Wir haben das rekonstruiert. Im Augenblick läuft ja das Schlossplatzfest 6, und das Hotel war ausgebucht. Aber alle anderen Gäste gaben an, erst nach Mitternacht zurückgekommen zu sein. Wir haben alle überprüft. Sie haben durch die Bank ein Alibi. Kein Wunder, wenn sie mit x anderen auf dem Schlossplatz feiern! Niemand von ihnen kannte Harald Koch. Um ehrlich zu sein, Frau Palfy, die Selbstmord-These ist plausibel! Da waren keine Spuren von Gewaltanwendung. Der Mann hat sich den Knoten selbst geknüpft und sich an dem Balken aufgehängt, den die Hoteleigentümer vor Jahren beim Renovieren freigelegt haben. Wobei«, Schilling wühlte in einem Papierstapel, »lediglich eine Sache auffällt: Koch hatte eine gehörige Menge Rohypnol im Blut. Sie wissen, was das ist?«

»Eine K.o.-Droge.«

»Sozusagen. Ein Mediziner hätte es anders ausgedrückt. Ein Schlaf- und Beruhigungsmittel. Wir gehen davon aus, dass er es brauchte, um schlafen zu können. Dummerweise allerdings muss er vorher Alkohol getrunken haben. Er hatte 1,6 Promille im Blut. Beides zusammen knockt einen Menschen dann wirklich aus. Und Koch war ein Fliegengewicht: 65 Kilo bei einer Größe von 1,74.«

»Todeszeitpunkt?«

»Circa vier Uhr morgens.«

»Sonst hat der Rechtsmediziner nichts gefunden?«

»Absolut nichts. Der Mann war gesund wie ein Lämmchen. Im Hotelzimmer waren keine Überbleibsel von Drinks oder Medikamenten zu finden. Die Kante hat er sich anderswo gegeben.«

»Was wissen Sie über seine letzten Lebenstage?«

»Nichts. Er frühstückte regelmäßig morgens um acht, verließ das Hotel gegen zehn und kam abends gegen acht zurück. Es gibt ein paar Belege in seiner Brieftasche, meistens Restaurants, in denen er essen gegangen ist, und einen Tankbeleg.« Schilling nahm den Papierstapel in die Hände und stieß ihn einige Male auf Kante. »Frau Schwarz bemerkte an besagtem Morgen, dass die Hintertür des Hotels, die in den Innenhof führt, nur einmal abgeschlossen war. Sie selbst dreht den Schlüssel immer zweimal um.«

»Das ist nicht viel als Hinweis. Genaugenommen gar nichts.«

»Da haben Sie recht!« Sorgfältig packte Schilling die Unterlagen in eine Mappe.

*

»Hat Ihr Mann Schlafmittel verschrieben bekommen?«, fragte Katinka. Sie stand auf den Arkaden beim Hofgarten und blickte hinunter auf das Treiben auf dem Schlossplatz. Die Gourmets pendelten bereits zwischen Weizenbier, Prosecco, Fischbrötchen und Spanferkel. Die Zelte und Sitzgruppen wucherten zwischen Landestheater und Ehrenburg 7 wie weiße Pilze. Trotz des Tumults strahlte das herzogliche Ensemble unten auf dem Platz etwas Feierliches aus. Der Duft nach Gebratenem machte Katinka einen umwerfenden Appetit.

»Ich habe es der Polizei schon gesagt!«, regte Wilma Koch sich auf. »Er hat keine Medikamente genommen. Nicht ein einziges. Er ist auch nie zum Arzt gegangen.«

Katinka glaubte, ein kurzes Zögern in Wilmas Stimme zu hören.

»Womöglich hat er Ihnen nichts davon erzählt?«

»Ausgeschlossen.«

Es war nicht anders als üblich: Hinterbliebene, insbesondere von Suizidopfern, mussten sich erst ganz langsam an die Erkenntnis herantasten, dass sie den Menschen, den sie verloren hatten, eben nicht so genau gekannt hatten, wie sie sich das einredeten.

»Wie sieht es mit Alkohol aus?«

»Er liebte Wein. Rotwein. Abends machten wir uns schon mal eine Flasche auf. Er genoss das.« Wilma legte eine Pause ein. Katinka hörte, wie sie sich schnäuzte. »Aber wir tranken nicht, um uns zu betäuben. Verstehen Sie?«

»Ich melde mich wieder.« Katinka legte auf und marschierte die Treppen hinunter auf den Schlossplatz. Zeit für ein Brötchen mit Bismarckhering musste sein. Eine Musikkapelle blies sich warm. Dixieland. Ein schmissiger Rhythmus.

*

Frau Schwarz, die Hotelwirtin, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hinter dem Rezeptionstresen herum.

»Verstehen Sie doch! Das ist eine Katastrophe für uns. Ein echtes Desaster! Wir sind nur ein kleines Haus. Von den Einnahmen kann man kaum leben, wir sind angewiesen auf die großen Events wie das Sambafest 8 oder das Schlossplatzfest. Coburg liegt eben immer noch ein bisschen am Ende der Welt.«

»Ich kann Ihr Problem nachvollziehen, Frau Schwarz. Dennoch: Meine Klientin ist überzeugt, dass ihr Mann nicht Selbstmord begangen hat.«

»Die Polizei hat mich auch gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass da jemand nachgeholfen hat. Aber woher soll ich das wissen? Ich habe niemanden gesehen, niemanden gehört. Ich stehe morgens um fünf Uhr auf, um das Frühstück für meine Gäste zu richten, deswegen schlafe ich mit Ohropax. Außerdem, wenn ich es recht überlege, dann war der Herr Koch schon so ein Typ, von dem man sich vorstellt, dass er mit seinen Problemen nicht mehr zurechtkommt.«

»Inwiefern?«

»Er war immer allein, sprach mit keinem, auch nicht im Frühstücksraum, er sagte nicht mal ›Guten Morgen‹, nickte nur, freundlich wirkte er, das allerdings, aber geredet hat er mit niemandem. Las auch keine Zeitung. Hatte immer nur ein Buch dabei und darin vertiefte er sich, sobald ich ihm den Kaffee serviert hatte.«

»Hat er getrunken?«

»So wirkte er nicht. Und er kam ja früh nach Hause. Er war bestimmt nicht in Coburg, um die große Sause auf dem Schlossplatz mitzumachen. Ich nehme an, er hatte hier beruflich zu tun. Trug eine Aktentasche mit sich herum. Einen PC besaß er allerdings nicht. Hat mich gar nicht nach dem WLAN-Code gefragt. Danach erkundigen sich die Gäste immer als Erstes. Also, er war wirklich nett! Es machte ihm auch gar nichts aus, in dem Einzelzimmer im Erdgeschoss zu schlafen, obwohl es zur Straße geht.« Frau Schwarz schürzte die Lippen. »Nicht alle Gäste sind so zuvorkommend. Ich schlug ihm vor, sich doch mal was Schönes in der Umgebung anzuschauen. Vielleicht das Naturkundemuseum 9, das ist wirklich einen Besuch wert! Ich gehe ab und zu hin. Ich mag die völkerkundliche Abteilung, die wurde von unseren Coburger Herzögen gegründet!« Stolz richtete sie sich auf, als wolle sie damit andeuten, selbst die Linie der Adeligen fortzusetzen.

»Was für ein Buch?«

»Ach, das hatte so einen bunten Umschlag. Und war ziemlich dick. Wie es hieß, weiß ich nicht. Vielleicht ein Fachbuch?«

*

Bodo Sawatzki erklärte sich bereit, mit Katinka zu sprechen. Er sei im Vorstand des Coburger Kunstvereins 10, sagte er, und wäre dort, um etwas zu besprechen, aber er könnte sich freimachen, wenigstens für ein paar Minuten, sie könnten sich gleich an Ort und Stelle treffen.

Katinka querte also wieder die Feinschmeckerparty und stieg erneut die Stufen in den Hofgarten hinauf. Die Veste Coburg saß auf ihrem Berg in der Sonne, glänzend wie ein Juwel. Katinka hatte die Festung ganz anders in Erinnerung. Als Hardo dort beinahe sein Leben gelassen hatte, war Winter gewesen, Nebel und Frost.

Sie fand den Kleinen Rosengarten 11 sofort. Ein Jongleur übte auf einem schmalen Rasenstück, Springbrunnen plätscherten, und vom nahen Kindergarten drang übermütiges Geschrei herüber. Am oberen Ende des kleinen Parks stand ein modernes weißes Gebäude. Das musste der Kunstverein sein.

»Nicht so eilig!«, rief jemand.

Katinka blinzelte in der Sonne, um den Mann mit der sonoren Stimme ausfindig zu machen. Er saß auf einer Bank im Schatten. Schräg hinter ihm spielte ein steinerner Gott Pan auf seiner Flöte.

»Grüß Gott!« Katinka trat zu ihm. Er war ein massiger Typ mit einem breiten, freundlichen Gesicht, trug Jeans und ein gelbes Hemd, das seine gebräunte Haut betonte.

»Sie sind vermutlich die Privatdetektivin.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, eine richtige Pranke. »Bodo Sawatzki.«

»Katinka Palfy.«

»Und Sie wollen mich zu dem armen Schlucker befragen?«

»Kannten Sie Harald Koch?« Katinka setzte sich neben den Hünen.

»Er wollte mich unbedingt kennenlernen. Das passiert selbst einem ziemlich bekannten Autor wie mir nicht allzu häufig.«

»Sie schreiben Ratgeberliteratur, nicht wahr?«

»Genau. Meine Frau und ich machen das gemeinsam. Meistens jedenfalls. Wir leben unsere Ehe quasi nicht nur für uns, sondern wir erkunden auch, wie man als Paar Konflikte lösen kann, und teilen unsere Wege den Lesern mit. Bisher haben wir sechs Bücher zum großen Thema ›Paarkonflikte‹ geschrieben. Sind Sie verheiratet?«

»Nein. Hatte Harald Koch ein Eheproblem?«

»Das weiß ich nicht. Er kontaktierte mich per Mail und wollte wissen, ob ich Anfang Juli Zeit für ein Gespräch hätte. Er interessierte sich sehr für mein neuestes Buch: ›Das Tao deines Neuanfangs‹.«

»Worum geht es da?«

»In der Lebensmitte denken viele Menschen darüber nach, sich noch einmal neu zu orientieren. Man nennt diese Phase vielfach abschätzig Midlife-Crisis. Aber ich sehe die Unzufriedenheit und die Zweifel, die bei vielen hochkommen, als Chance: Das Leben heutzutage ist lang, man bekommt noch einmal die Möglichkeit, neue Wege einzuschlagen.«

»Freie Liebe und Flipflops statt Pumps?«

Sawatzki lachte. »So ungefähr. Gerade Männer wollen aus der Verantwortung raus, die sie sich aufgehalst haben. Sie dürsten nach neuen Erfahrungen, die ihnen beweisen, dass das Leben noch nicht gelaufen ist.«

»Deswegen die vielen Ehescheidungen!«

»Seien Sie doch nicht so despektierlich!« Der bisher freundliche, fast kameradschaftliche Ton des Mannes erstarb. »Zwischen 40 und 50 stehen die Zeichen auf Neuanfang. Es muss ja nicht bedeuten, dass ein Mann seine Familie verlässt und mit einer viel jüngeren Frau etwas anfängt. Man kann auch darauf hinarbeiten, der bestehenden Beziehung wieder mehr Leben einzuhauchen.«

»Wollte Harald Koch Sie deshalb kennenlernen? Um einen Rat zu bekommen?«

»Hinweise und Anregungen enthält mein Buch. Er war neugierig auf mich als Person. Wie ich es geschafft habe, die Krise mehr oder weniger unbeschadet zu überwinden. Übrigens ganz entscheidend mit der Hilfe von Sieglinde. Meiner Frau.«

»Welchen Eindruck machte Koch auf Sie?«

»Sie meinen, ob er suizidgefährdet war? Wissen Sie, Frau Palfy, wenn man das sehen könnte, ließen sich viele Kata­strophen vermeiden.« In seinen gönnerhaften Ton schlich sich so etwas wie Genervtheit ein.

»Dennoch müssen Sie sich doch ein Bild von ihm gemacht haben! Meine Klientin glaubt nicht an Selbstmord. Sie hält ihren Mann für stark genug, um eine Krise zu überstehen.«

»Sie haben recht.« Sawatzkis Stimme wurde wieder samtweich. »Nicht jeder, der in einer Krise steckt, geht an ihr zugrunde. Die allermeisten gehen gestärkt daraus hervor. Das analysiere ich in meinem Buch.«

Katinka sah dem Jongleur zu, der seine Keulen einpackte und davonschlenderte.

»Hat Ihnen Harald Koch irgendetwas über sich erzählt, was auf Feindschaften hindeutet?«

»Sie meinen, jemand wollte ihn ermorden?« Sawatzki riss die Augen auf.

»Nun ja, wenn er nicht Suizid begangen hat, dann hat ihn jemand anders aufgehängt.«

»Aber dann hätte er sich doch gewehrt, nehme ich an?«

»Er war ziemlich ausgeknockt. Alkohol und eine anständige Portion Chemie.«

»Ach!« Sawatzki räusperte sich. »Ich muss weiter, Frau Palfy. Nein, Koch hat nichts durchblicken lassen, was auf Selbstmordabsichten hindeutete. Wir haben eine knappe Stunde geplaudert, viel kann da ja nicht zur Sprache kommen, nicht wahr? Und schließlich spricht man nicht sofort über derart intime Dinge.« Er erhob sich und streckte Katinka seine Hand hin. »War nett, Sie kennenzulernen. Haben Sie eigentlich schon das Grabungsmuseum Kirchhof 12 angesehen? Sie sind doch Archäologin, oder? Lohnt sich!« Mit einem Augenzwinkern drehte er sich um und eilte zum Kunstverein hinüber.

Katinka atmete durch. Dass sie einmal Archäologie studiert hatte, bevor sie Privatermittlerin geworden war, erschien ihr wie eine Information aus einer Lichtjahre entfernten Welt. Allerdings eine sehr wertvolle Information. Denn sie besagte, dass Sawatzki sich über sie kundig gemacht hatte.

*

Der Nachmittag glühte vor Hitze, doch hinter der Veste ballten sich Wolken in einem unschönen Grau zusammen. Katinka stand neben einer Fressbude auf dem Schlossplatz und verleibte sich gerade ein Schnitzelsandwich ein, als jemand sie anrempelte.

»He!« Beinahe wäre ihr das Brötchen aus der Hand gerutscht.

»’tschuldigung!« Die Frau, die sie gestoßen hatte, war ungefähr einen halben Kopf kleiner als Katinka. Sie hielt einen Pappteller mit einem Matjeshering darauf in der Hand. »Sie sind Detektivin?«

»Nein. Primadonna.«

Die Frau lachte.

»Nichts für ungut. Lauschen ist nicht gerade die feine Art. Aber seien Sie vorsichtig mit Sawatzki. Fragen Sie mal seine Frau, was die zu seinen Büchern meint.« Die Frau zückte einen Kuli, kritzelte eine Telefonnummer auf ihre Serviette und steckte sie Katinka zu. »Tschau!«

*

Die Nummer erwies sich als Handyanschluss von Sieglinde Sawatzki. Die Gattin des Ratgeberautors zierte sich, erklärte sich aber bereit, mit Katinka zu sprechen, als diese erläuterte, sie nehme an, Harald Koch sei ermordet worden. Sie trafen sich vor den Arkaden und spazierten dann in gemächlichem Tempo in den Hofgarten hinauf. Frau Sawatzki war eine sehr schlanke, energische Person. Man hätte sie kernig nennen können. Ihr unnatürlich sonnenbraunes Gesicht allerdings sah verlebt aus, richtig abgearbeitet. Auch ihre Stimme klang resigniert.

»Bodo hat mir von dem Mann erzählt.« Sie eilten den Berg hinauf, Sieglinde Sawatzki voran. Sie folgten zuerst einem breiten Weg, der am Naturkundemuseum vorbeiführte, dann bogen sie in einen schmaleren ein.

»Haben Sie Harald Koch auch getroffen?« Katinka musste sich bemühen, Schritt zu halten. Es war heiß, die grauen Wolken, die sie vorhin schon gesehen hatte, wälzten sich immer weiter über die Stadt.

»Nein.«

»Schade. Ich hatte gehofft, Sie hätten ihn kennengelernt, damit ich mir ein besseres Bild machen kann. Denn Suizid ist in seinem Fall nicht sehr wahrscheinlich!«

»Sie meinen, er wurde ermordet?«, fragte Sieglinde sichtlich schockiert.

»Das ist nicht sicher«, antwortete Katinka. Warum hatte die Frau auf dem Schlossplatz ihr Sieglindes Handynummer zugesteckt? Und warum hastete die Buchautorengattin den Festungsberg hinauf, als gelte es das Leben? Wenigstens wuchsen hier oben hohe Bäume und warfen angenehmen Schatten. Sie setzten sich auf eine Bank. Zur Veste führten steile Stufen hinauf, und direkt vor ihnen fiel der Hang abrupt ab. »Ist es üblich, dass Leser bei Ihrem Mann vorstellig werden, um ihn kennenzulernen?«

»Total unüblich. Per Mail melden sich etliche. Dankbare Leute, die ihm sagen, wie sehr seine Bücher ihnen geholfen haben. Aber persönlich zeigt sich kaum jemand.«

»Sind das Menschen, die eine Krise überwunden haben?«

»Genau. Meistens Frauen. Es lebe die Krise!« Sieglinde lachte.

Meistens Frauen, dachte Katinka. Der Paarberater hat sicher eine enorm hohe Zahl weiblicher Fans.

»Beantwortet Ihr Mann alle diese Anfragen?«

»Ich beantworte sie. Bodo hasst das Internet. Es ist einfach nicht sein Medium. Er unterhält zwar eine Facebook-Seite, aber ich pflege sie.«

Katinka musste lächeln. »Das heißt, Sie beantworten die Mails als Frau Sawatzki oder als …«

»Nein, als Herr Sawatzki.«

»Die Leute, denen Sie antworten, glauben also, Sie wären Ihr Mann?«

»Genau.« Sieglinde kniff den Mund zusammen. Von der Seite sah ihr von Falten durchzogenes braunes Gesicht aus wie eine übergroße Rosine.

Fliegen umschwirrten Katinka. Sie scheuchte sie weg und klatschte eine Mücke tot, die sich auf ihrem nackten Arm niedergelassen hatte. Bodo Sawatzki bekam Fanpost von Frauen, die er aber nicht beantwortete, sondern seine Frau machte das für ihn. Bedeutete das, dass die Fanpost an ihm vorbeiging? Oder unterhielt er ohne das Wissen seiner Frau ein weiteres E-Mail-Postfach, um persönlich die Kontaktpflege zu seinen Leserinnen zu betreiben? Zu ausgewählten Leserinnen womöglich?

»Schreiben Sie an seinen Büchern mit?«

»Bitte?« Sieglinde riss den Kopf herum, als hätte Katinka sie aus weiter Ferne herbeigerufen. »Ich tippe sie. Tippte. Bei ›Tao deines Neuanfangs‹ habe ich allerdings dankend verzichtet. Für die Schreiberei hat er sich eine Sekretärin genommen.«

»Warum?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich habe ein Problem mit der Halswirbelsäule. Stundenlang am Computer zu sitzen, kommt für mich nicht mehr infrage.«

»Gibt es momentan ein aktuelles Buchprojekt?«

»Nein. Aber warum fragen Sie danach? Ich denke, Sie interessieren sich für Harald Koch?«

»Wie hat Koch denn Kontakt zu Ihrem Mann aufgenommen?«

Die Frau wandte den Blick ab. »Ich habe keine Ahnung.«

Also doch, dachte Katinka. Sawatzki hat noch ein extra Postfach. Oder Sieglinde lügt und sie kennt Koch.

*

Katinka war froh, wieder in der Stadt zu sein. Die Stille oben im Hofgarten war ihr richtig unheimlich vorgekommen, vor allem an der Seite von Sieglinde Sawatzki. Müde von der Schwüle des Tages und den ungeklärten Fragen, setzte sie sich in eine Eisdiele am Marktplatz. Gerade wollte sie ihre Auftraggeberin anrufen, um sie über den Fortgang der Ermittlungen in Kenntnis zu setzen, als sich jemand an ihren Tisch setzte. Die Frau, die ihr Sieglindes Handynummer zugesteckt hatte.

»Moment!« Katinka hielt ihr Handy noch in der Hand und einer spontanen Eingebung folgend aktivierte sie die Kamerafunktion, während sie sagte: »Ich muss diese SMS gerade noch abschicken.« Sie drückte auf ›Aufnahme‹ und speicherte das Foto der Unbekannten. »So. Jetzt habe ich Zeit. Verraten Sie mir, wer Sie sind und warum Sie mir folgen und mich mit Informationen bestücken?«

»Ich bin Bodos Sekretärin gewesen. Nur für das eine Buch. ›Das Tao deines Neuanfangs‹.« Sie winkte dem Kellner und bestellte zwei Espressi. Katinka widersprach nicht. »Nachdem die ersten Rezensionen rausgekommen sind, hat er anfragende Journalisten immer an mich verwiesen. Ich verwalte auch die ganzen Informationen und Materialien, die die Pressestelle des Verlages zusammengestellt hat.«

»Und?«

Die Espressi kamen. Katinka stürzte ihren in einem Schluck hinunter. Allein der köstliche Duft vermittelte ihr das Gefühl, sofort fitter und ausgeschlafener zu sein.

»Eines Tages erhielt ich eine Anfrage von einem gewissen Harald Koch. Er wollte Sawatzki kennenlernen. Aber Sawatzki hatte keine Lust, ihn zu treffen. Er rief mich an, bat mich, an seiner Stelle mit dem Mann zu reden. Was ich auch gemacht habe.«

»Aber …?«

»Koch hat sich nicht abwimmeln lassen. Er war sehr freundlich, wollte aber unbedingt mit dem Autor persönlich sprechen.«

»Woher rührte sein Interesse an Sawatzki?« Gierig blickte Katinka auf den noch unberührten Espresso ihrer Gesprächspartnerin. »Ich meine, über die Inhalte des Buches waren Sie doch sicher genauso informiert wie der Autor selbst.«

»Vermutlich besser.« Sie lachte auf. »Meiner Meinung nach hat Sawatzki lediglich die Hauptthesen seiner anderen Bücher verrührt, ein paar Beispiele dazugestellt und permanent die Ausdrücke ›Tao‹, ›neuer Weg‹, ›Neuanfang‹ und so weiter verwendet. Er hat diktiert, ich habe das Zeug stilistisch überarbeitet. Änderungsvorschläge hat er ohne Weiteres akzeptiert. Er ist keiner von diesen Autoren, die um jedes Komma kämpfen.«

»Sie machen also öfter solche Schreibarbeiten?«

»Das ist mein Brotjob.« Endlich nahm sie ihr Tässchen und trank.

Katinka bestellte einen zweiten Espresso. »Wie ging es dann weiter? Konnten Sie Harald Koch abwimmeln?«

»Er bekam die Privatadresse der Sawatzkis raus und schlug dort auf. Sawatzki rief mich an und machte mich zur Schnecke. Unterstellte, dass ich die Adresse verraten hätte. Dabei steht er im Telefonbuch!«

»Und dann?«

Die Frau zuckte die Achseln. »Seitdem schwärzt mich Sawatzki bei allen möglichen Leuten an. Schwer für mich, ein neues Projekt zu finden. Wer eine Privatsekretärin sucht, legt Wert auf Diskretion.«

»Aber Sie waren ja gar nicht indiskret.«

»Natürlich nicht! Aber Sieglinde weiß mehr.«

Der zweite Espresso kam. Katinka trank ihn genüsslich aus. Zwischen Bodo und Sieglinde Sawatzki stand es anscheinend nicht zum Besten.

*

Frau Schwarz betrachtete das Foto, das Katinka von Sawatzkis Privatsekretärin geschossen hatte.

»Nein, diese Frau habe ich hier noch nie gesehen. Aber einmal, ich glaube, das war am Abend, bevor Herr Koch starb, da brachte ihn eine Frau hierher. Er stieg aus dem Auto, sie fuhr weiter.«

»Konnten Sie erkennen, wer die Frau war?«, fragte sie ohne viel Hoffnung.

»Ich kenne sie nicht. Als Koch ausstieg, fiel das Licht im Wageninneren der Frau ins Gesicht.« Frau Schwarz suchte nach Worten. »Sie sah aus wie aus Holz geschnitzt.«

Sieglinde Sawatzki!, schoss es Katinka durch den Kopf.

*

Katinka erkundigte sich in einer Buchhandlung in der Fußgängerzone nach den Titeln, die unter dem Autorennamen Bodo Sawatzki verkauft wurden. Laut der Buchhändlerin wurden sie stark nachgefragt. Insbesondere von Frauen in den mittleren Jahren. Die Klappentexte der Bände zeigten ein Autorenfoto, auf dem Sawatzki mit seiner Frau abgelichtet war. Sieglinde wirkte viel jünger, richtig lebenslustig. Anscheinend hatten die beiden sich einmal gut verstanden, aber mittlerweile funktionierte etwas in ihrer Beziehung nicht mehr. Entweder hatte sich der hünenhafte Bodo mit der sonoren Stimme mit anderen Frauen eingelassen, oder Sieglinde hatte Affären, vielleicht sogar mit Harald Koch. Katinka fuhr mit ihrem Beetle Cabrio in die Bergstraße, wo Sawatzkis laut Telefonbuch wohnten. Die Schwüle machte ihr zu schaffen. Sie hatte keine Lust, noch einmal den steilen Berg zu Fuß zu erklimmen. In der Ferne grollte Donner.

Die Sawatzkis wohnten in einer schicken, im Jugendstil errichteten Villa, die ein bisschen tiefer lag als die Straße und von einem Garten mit hohen Bäumen umgeben war. Das Geschäft mit der Beratungsliteratur schien ausgezeichnet zu laufen. In der Düsternis des sich ankündigenden Gewitters allerdings wirkte das Anwesen abweisend. Katinka schloss das Verdeck, stieg aus und klingelte.

Sieglinde öffnete. »Sie schon wieder?«

»Pardon. Es ist wichtig. Darf ich reinkommen?«

»Ich wüsste nicht, was wir noch zu besprechen hätten.« Energisch stemmte Sieglinde die Hände in die Hüften.

»Ein wirklich interessantes Thema wäre Ihre Affäre mit Harald Koch«, entgegnete Katinka zuckersüß. »Bestimmt würde es auch Ihrem Mann zum Nachdenken Anlass geben.«

Sieglindes unnatürlich braunes Gesicht wurde bleich. Eine fahle, schmutzig gelbe Farbe. Was hatte Harald Koch an dieser Frau gefunden?

»Kommen Sie rein.«

Katinka folgte ihr in ein Wohnzimmer voller weißer Polster, die auf dem ebenfalls weißen Teppichboden verstreut lagen.

»Kaffee? Es ist gerade welcher fertig.«

»Gern.« Katinka fühlte sich trotz der beiden Espressi immer noch abgekämpft. Es musste am Wetter liegen. Wenn das Gewitter erst mal losbrach, würde es ihr besser gehen.

Sieglinde kam mit einem Tablett wieder, auf dem eine Tasse mit Kaffee, ein Milchkännchen und ein Zuckerstreuer standen.

»Danke.« Katinka gab ein wenig Milch in die Tasse. Der Kaffee tat gut.

»Setzen Sie sich.« Sieglinde machte eine auffordernde Handbewegung.

»Ich stehe lieber.« Katinka wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es geht mir nicht um Ihre Ehe oder die moralische Frage nach der Rechtmäßigkeit des Ehebruchs. Doch der Tod von Harald Koch ist in einem anderen Licht zu sehen, wenn …«

»Wenn was?« Sieglinde kam drohend auf Katinka zu. »Glauben Sie, ich habe ihn umgebracht?«

Allmählich näherkommende Donnerschläge unterstrichen ihren wütenden Unterton.

»Ich glaube nichts, ich stelle Fragen, sammle Indizien und kombiniere.« Sie kann es nicht gewesen sein, dachte Katinka. Sie konnte Koch zwar mit Alkohol und Medikamenten betäuben, dazu hatte sie sowohl die Mittel als auch die Möglichkeit, aber ihn an dem Balken in seinem Zimmer aufknüpfen, das hätte sie nicht geschafft.

»Dann viel Spaß. Buchten Sie meinen Mann ein!«

»War er es?«

Sieglinde wandte sich ab.

»War er es? Aus Eifersucht?«

Keine Antwort.

»Schönes Haus.« Katinka musste ihre Strategie umstellen. Sie besah sich die eingebauten Bücherregale. Romane, Ratgeber, Fachbücher über Pharmakologie, Medizin, Technik, Psychiatrie, Psychologie. »Wow. Braucht Ihr Mann all diese wissenschaftliche Literatur für seine schriftstellerische Arbeit?«

»Ich bin Apothekerin. War. Habe meinem Mann zuliebe aufgehört.«

»Sie hatten eine Affäre mit Harald Koch!« Katinka trat dicht an Sieglinde heran. »Ihr Mann hat Wind davon bekommen und …«

Sieglinde ging zur Terrassentür. Schob sie auf. Windstöße fegten durch die Bäume. Irgendwo brach ein Ast ab. Immer noch fiel kein Tropfen Regen. »Er war unerträglich eifersüchtig. Er selbst hat eine Blondine nach der anderen an Land gezogen. Aber als ich meinen Spaß haben wollte, waren ihm schon diese paar Tage mit Harald zu viel.«

»Herr Koch hat bei Ihnen geklingelt? Hier in der Villa? So haben Sie sich kennengelernt?« Katinka hatte Mühe, sich auf ihre Fragen zu konzentrieren.

»Bodo hatte zu tun. Irgendwelche Besprechungen. Ich mochte Harald vom ersten Moment an. Er hatte so etwas … Bescheidenes. Wir redeten stundenlang. Verstanden uns umwerfend gut.«

Die Haustür ging. »Sieglinde?«, tönte Sawatzkis sonores Organ.

»Mörder!«, keifte seine Frau.

Katinka zückte ihr Handy und wählte Wolf Schillings Telefonnummer.

Bodo Sawatzki betrat den Raum, das Gesicht zu einem gequälten Lächeln verzogen. Mit seinem kräftigen Körperbau kann er durchaus einen anderen Mann schachmatt setzen und dann aufhängen, dachte Katinka.

»Schilling?«, meldete sich der Kommissar am anderen Ende der Leitung.

Ein Donnerschlag ließ die drei Menschen in dem weißen Zimmer zusammenzucken.

»Spinnst du, Sieglinde?«, sagte Sawatzki.

»Schilling hier?«, wiederholte der Kommissar ungeduldig.

»Palfy hier, ich …«, begann Katinka.

»Du bist an allem schuld!«, kreischte Sieglinde.

Sawatzki lief rot an. »Ich? Du hast sie ja nicht mehr alle. Ich hätte wirklich allen Grund, mich zu freuen, wenn du mit einem anderen durchgehen würdest.«

»Bergstraße!«, flüsterte Katinka ins Telefon. »Schnell!«

Die Blicke des Ehepaares richteten sich auf sie. Katinka sah, wie Sieglinde hinter sich griff. Irgendwas stimmte nicht. Das weiße Wohnzimmer drehte sich um sie.

»Was läuft hier?«, brüllte Bodo Sawatzki.

Katinka fand sich auf den Knien wieder. Ihr war höllisch schlecht. Sie musste an die frische Luft! Sofort! Wenn nur endlich der Regen losbräche!

»Was hast du gemacht?« Sawatzkis tiefe Stimme hallte von den Wänden wider.

Er war es nicht, dachte Katinka. Sie war es. Aber warum, zum Teufel?

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Sieglinde mit einer Brechstange in der Hand durch das Wohnzimmer auf sie zu kam. Aus ihren Augen sprühte Hass. In Panik kroch Katinka los, auf die Terrassentür zu. Sieglinde holte aus, schlug zu. Die Brechstange sauste Zentimeter neben Katinkas Kopf auf den Teppichboden.

»Sie beide«, keuchte sie. »Sie haben ihn gemeinsam …« Katinka fielen die Augen zu.

Sie hat mir was in den Kaffee getan. Ich war unvorsichtig. Jetzt ist es zu spät.

*

Das Screening im Klinikum ergab eine beträchtliche Menge Rohypnol in Katinkas Blut. Von der Blutabnahme bekam sie kaum etwas mit. Am nächsten Morgen fühlte sie sich scheußlich verkatert, aber kräftig genug, um das Krankenhaus zu verlassen.

Wolf Schilling holte sie ab.

»Das war knapp!«, kommentierte er. »Seien Sie vorsichtiger mit Ihrer Kaffeesucht!«

»Als ich die Bücher über Pharmakologie sah, rührte sich etwas in meinem Hinterkopf. Aber bis ich den Zusammenhang begriff, war alles zu spät.«

»Die Sawatzkis haben Koch gemeinschaftlich umgebracht. Sieglinde wollte es später ihrem Mann in die Schuhe schieben. Um ihn loszuwerden.«

»Sie war nicht in Harald Koch verliebt?«

»Nein. Nach ihrer Aussage war er der erste männliche Fan, der sich bei ihrem Mann vorstellte. Sie dachte, Koch wäre das geeignete Objekt, um ihrem Göttergatten seine Untreue heimzuzahlen. Nur zum Schein natürlich! Sie wollte ihn eifersüchtig machen, damit er am eigenen Leib mitkriegt, wie sich Ehebruch anfühlt. Aber dann wurde ihr klar, dass eine auseinanderbrechende Ehe im Fall des Paarkonfliktberaters bei der Öffentlichkeit nicht gut ankommen würde. Deshalb musste Koch ausgeschaltet werden. Damit er nicht plauderte.«

Katinka rechnete sich den Rest der Geschichte selbst aus. Sobald die Eheleute Sawatzki sich die Konsequenzen öffentlicher Untreue vor Augen führten, fürchteten sie einen empfindlichen Einbruch bei den Tantiemen. Harald Koch hatte wahrscheinlich nicht einmal geahnt, in welcher Weise Sieglinde ihn instrumentalisierte.

»Sieglinde verschaffte sich Zugang zu Kochs Zimmer«, sagte sie. »Das konnte sie leicht, denn er wohnte im Erdgeschoss, zur Straße, sie brauchte nur an die Scheibe zu klopfen. Er öffnete die Haustür. Anschließend hat Sieglinde wahrscheinlich die Hintertür aufgesperrt, damit ihr Mann rein konnte.«

»Und nach vollbrachter Tat haben sie die Hintertür wieder zugemacht.«

»Allerdings nur einmal den Schlüssel gedreht, was Frau Schwarz am nächsten Morgen auffiel.«

»Die anderen Gäste haben nichts mitbekommen. Koch hat sich nicht wehren oder um Hilfe rufen können.«

»Ein fast perfekter Mord.«

»Wenn man so will.« Schilling hielt an einer Ampel. »Brauchen Sie ein anständiges Frühstück?«

»Gern. Und einen ordentlichen Kaffee. Ohne K.-o.-Tropfen!«

»Davon gehe ich aus«, erwiderte Schilling.

Freizeittipps

1  Veste Coburg; eine der größten Burgenanlagen Deutschlands, auch »Fränkische Krone« genannt. Berühmt für ihre Kunstsammlungen: Glas, Schlitten, Kupferstiche, Waffen, Rüstungen und vieles mehr. Martin Luther suchte 1530 für einige Monate auf der Veste Zuflucht und arbeitete währenddessen an seiner Bibelübersetzung.

2Gottesgarten; malerischer Landstrich am Obermain zwischen Lichtenfels, Weismain und Ebensfeld mit Kloster Banz, Basilika Vierzehnheiligen und Staffelberg als besonders faszinierenden Höhepunkten.

3Staffelberg; 539 m hoher markanter Berg im Obermaintal mit Hochplateau, der bereits in der Jungsteinzeit besiedelt gewesen sein soll. Ausgrabungen belegen die Existenz eines keltischen Oppidums, der Stadt Menosgada, die bei Ptolemäus (85 – 160 n. Chr.) erwähnt ist.

4Basilika Vierzehnheiligen; Wallfahrtsbasilika im Rokokostil, im 18. Jh. nach Plänen von Balthasar Neumann gebaut.

5Kloster Banz; ehemaliges Benediktinerkloster, bis zur Säkularisierung 1803 das älteste Kloster am Obermain. Heute Tagungsstätte.

6Schlossplatzfest; größte Gourmetmeile Nordbayerns mit Musik- und Showprogramm. Das Fest findet alljährlich im Juli statt.

7  Schloss Ehrenburg; ehemalige Stadtresidenz der Coburger Herzöge, am südlichen Rand des Schlossplatzes gelegen. Präsentiert sich nach mehrmaligen Umbauten heute weitgehend im neugotischen Stil.

8  Sambafest; größtes Samba-Festival außerhalb Brasiliens. Es findet seit 1992 jährlich im Juli statt und zieht Hunderttausende Fans an.

9  Naturkundemuseum; auf die Sammeltätigkeit der Coburger Herzöge zurückgehendes Museum. Gezeigt werden u.a. Mineralien, Fossilien, einheimische Tiere und Pflanzen. Besonders beeindruckend ist die Völkerkunde-Dauerausstellung.

10  Kunstverein Coburg e.V.; gezeigt wird Zeitgenössisches sowie Emailkunst.

11  Kleiner Rosengarten; am südlichen Rand des Hofgartens gelegener kleiner Park mit Rosen, Brunnen, Skulpturen.

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Wer einmal einen Nacho aß

– Forchheim und Fränkische Schweiz –

Nachos können tödlich sein. Hätten Sie’s gewusst? Alle quatschen über gesunde Ernährung. Hat mich noch nie besonders interessiert. Ich bin ein Typ, der sich was zwischen die Kiemen schieben muss, und ich gehe vor allem danach, was mein Körper verlangt. Das sind oft Steaks, Frikadellen, Kartoffelsalat mit Mayo. Dazu ein süffiges Bier. Bisher hat mir das nicht geschadet. Ich habe keine Herzbeschwerden, kriege höchstens alle fünf Jahre eine Grippe und das war’s. Aber dann kam die Sache mit der Nacho-Tüte. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, hätten sie an der Tanke Guacamole verkauft. Ich esse nämlich immer Nachos mit Guacamole. Bloß nicht mit diesen roten Chilisoßen, die kann ich auf den Tod nicht ausstehen.

Auf den Tod.

Deswegen kaufte ich also nur die Nachos. Ohne Soße. Als Proviant für meinen Trip durchs Fränkische.

Die Tour war meine Abschiedsreise. Zwei Tage später würde ich den alten Kadett verkaufen. In drei Tagen in ein Flugzeug steigen. Nach Vancouver fliegen und dort neu anfangen.

Was zählte, war die Zukunft. Mit meinem alten Leben in Franken hatte die Person, die ich heute darstelle, nicht mehr viel zu tun. Enttäuschungen, Ängste, Zweifel, Katastrophen. Ich hatte sie entschlossen in einen Sack gestopft und in die Tonne gekloppt. Rein mental natürlich. Es gibt Tausende Bücher, in denen steht, wie das geht, und jedes Jahr erscheinen neue.

Für meine persönliche Misere hieß die Lösung: Kanada. Erst mal Urlaub. Paddeln, Fallschirmspringen, Reiten. Dann einen Job finden. In Kanada liegen die Jobs für jemanden wie mich quasi auf der Straße. Davon ging ich aus. In drei Tagen ging es los. Beinahe hätten mir die Nachos einen fiesen Strich durch die Rechnung gemacht.

Möglich, dass es nicht die Nachos allein waren. Abgesehen von der fehlenden Guacamole könnte ich auch die Engländerin mit der milchweißen Haut verantwortlich machen oder den Kerl, den ich nur wenige Male ganz kurz sah, dessen Namen ich nicht kannte. Egal.

Ich begann meine Abschiedstour in Forchheim. Hier war ich zur Schule gegangen, hatte das erste Mal die Liebe erlitten und meinen Eltern und Lehrern das Leben zur Hölle gemacht. Ich parkte den Kadett vor der Kaiserpfalz13