Wer nicht sucht, der findet - Gudrun Schury - E-Book

Wer nicht sucht, der findet E-Book

Gudrun Schury

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Beschreibung

Zweifellos verdanken wir unser Wissen von der Welt großen Forschungsleistungen. Doch ebenso großen Anteil an wegweisenden Entdeckungen und Erfindungen hat »Professor Zufall«. Gudrun Schury erzählt von großen Entdeckungen, mit denen niemand gerechnet hatte.

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LESEPROBE

Schury, Gudrun

Wer nicht sucht, der findet

Zufallsentdeckungen in der Wissenschaft erzählt von Gudrun Schury

LESEPROBE

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40171-3

|7|Zufall und Klugheit

Die Reise der Prinzen von Serendip

Eines Tages zogen die drei Söhne des Herrschers von Serendip hinaus in die Welt, um sich zu vervollkommnen. Sie suchten nichts Besonderes, doch sie fanden einiges; sie lösten verzwickte Rätsel, erklärten schwierige Zusammenhänge, bewahrten Menschen vor dem Tod und führten Liebende zusammen. Durch Zufall und Klugheit kamen sie so weit.

Diese Geschichte erzählt der italienische Dichter Christoforo Armeno im Jahr 1557 unter dem Titel Die Reise der drei jungen Söhne des Königs von Serendip.

Die alte Geschichte wäre fast vergessen worden, wenn sie nicht nach zwei Jahrhunderten in England wieder aufgetaucht wäre und in der Folge dem englischen Wörterbuch ein ganz neues Wort geschenkt hätte: serendipity.

Wie all dies zusammenhängt – Serendip und serendipity, Zufall und Klugheit, Dichtung und Wahrheit –, soll nun erzählt werden.

Die Reise der Prinzen von Serendip: ein Märchen

Zufall wollte es, dass dem großen und mächtigen König Giaffer aus dem Reiche Serendip keine einzige Tochter, wohl aber drei Söhne geboren wurden. In jenen alten Zeiten war es freilich ein Glück, gleich drei wohlgestalte und talentvolle Söhne zu haben, die einmal die Herrschaft in Serendip übernehmen könnten, welches eine fruchtbare Insel ist und später den Namen Ceylon und abermals später den Namen Sri Lanka tragen sollte.

Um die drei Prinzen recht tüchtig werden zu lassen, bestellte König Giaffer die weisesten Lehrer des Landes. Und schon bald waren die Jünglinge gelehrter |8|als alle anderen Söhne im Reich. Um ihre Ausbildung zu vervollkommnen, beschloss der König, sie auf Reisen zu schicken, damit sie die Welt und deren Wunder sähen. Sie sollten selbst erleben, was die Bücher sie nur durch Worte gelehrt hatten. Binnen acht Tagen verließen die Prinzen ihre Heimat und gingen in die Welt hinaus.

Kaiser Behram und das Kamel

Als Erstes kamen sie in das Reich des großen und mächtigen Kaisers Behram. Nicht weit von der kaiserlichen Hauptstadt trafen sie einen Kameltreiber, dem eins seiner Tiere entlaufen war. »Habt ihr nicht«, so fragte dieser, »mein Kamel gesehen?« Augenblicklich bekam er die Antwort, dass die drei Brüder sein Lasttier genau auf der Straße bemerkt hätten, die sie gerade entlanggezogen seien. Und damit der Kameltreiber ihnen glaubte, gaben sie dessen Kennzeichen an: »Das Kamel war auf einem Auge blind«, sagte der Älteste, der Zweite fügte hinzu: »es fehlte ihm ein Zahn«, der Dritte ergänzte: »und es war lahm. Ganz sicher muss das Kamel auf dem Weg hinter uns sein.« Da wurde der Kameltreiber ganz vergnügt und machte sich auf die Suche. Nachdem er wohl zwanzig Meilen umsonst gelaufen war, kehrte er um und fand am folgenden Tag die drei Jünglinge wieder, die gerade an einer Quelle saßen und ihr Mittagessen verzehrten. »Ihr habt mich zum Besten gehalten, denn ich habe kein einziges Haar von meinem Kamel zu Gesicht bekommen«, jammerte er. Darauf antwortete der älteste Bruder: »Wir sprechen die Wahrheit, und damit du uns glaubst, will ich dir noch ein Kennzeichen geben: Dein Kamel war beladen, auf der einen Seite trug es Butter, auf der anderen Honig.« »Und ich«, fügte der zweite Bruder hinzu, »sage dir, dass eine Frau auf deinem Kamel saß.« »Und ich«, sagte der dritte Bruder, »versichere dir, dass diese Frau schwanger ist.«

Als der Kameltreiber das hörte, dachte er bei sich: Wer so viele wahre Zeichen angeben kann, der muss mein Kamel gestohlen haben! Und er ließ die drei Prinzen verhaften und als Straßenräuber anklagen.

Als Kaiser Behram das hörte, wurde er zornig. Denn er war stolz darauf, dass man in seinem ganzen Reich sicher und ohne Furcht vor Straßenräubern |9|reisen konnte. Also sagte er zu den drei gefangenen Söhnen Giaffers: »Ich bin fest überzeugt, dass ihr das Kamel gestohlen habt, schon wegen der von euch angegebenen Zeichen, wie mir dieser Kameltreiber hier versichert. Eigentlich müsstet ihr augenblicklich als Kameldiebe erst gespießt und dann gehangen werden. Da ich aber ein milder Herrscher bin, gebe ich euch einen Tag Aufschub: Wenn ihr nicht bis morgen früh das Tier wieder beschafft, so sollt ihr den schimpflichen Tod von Straßenräubern sterben!« Traurig antworteten die Jünglinge: »Majestät! Wir sind drei Wanderer, die auf Wanderschaft gehen, und diese haben wir nur unternommen, um fremde Länder, Sitten und Gebräuche zu studieren und die Wunder, die sich in der Welt zeigen. Diesem Kameltreiber hier sagten wir zum Scherz, wir hätten sein Kamel gesehen, obwohl wir weiter nichts gesehen hatten als viele Zeichen des verlorenen Kamels. Dass sich diese Zeichen als richtig erweisen, zerrt uns nun vor den Richterstuhl, so unschuldig wir auch sind. Dieses ist die Wahrheit, sollte es sich anders verhalten, so sind wir bereit, den härtesten und grausamsten Tod zu sterben!« Doch Behram glaubte ihnen nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand sechs Kennzeichen eines vermissten Kamels richtig benennen würde, es sei denn, er hatte es gestohlen. Und er ließ die Prinzen wieder in den Kerker werfen.

Nun aber traf es sich, dass ein Nachbar des Kameltreibers das verlorene Tier auf der Straße fand und seinem Besitzer zurückbrachte. Sowie dieser seinen Irrtum erkannte, eilte er, es dem Kaiser anzuzeigen. Behram ließ die Jünglinge augenblicklich befreien und vor seinen Thron führen, begierig zu erfahren, wie sie die Zeichen des weggelaufenen Tiers hatten erraten können.

»Dass das verlorene Kamel, o Herr, auf einem Auge blind war«, sagte der Älteste, »bemerkte ich daran, weil das Gras auf der einen Seite der Straße, obwohl mager und trocken, doch ganz zertreten und abgeweidet war, auf der anderen Seite dagegen fett und frisch und unberührt. Das Kamel musste auf der Seite mit dem guten Gras blind gewesen sein, denn sonst hätte es nicht das schlechte gefressen.« Der Zweite fuhr fort: »Dass dem Kamel ein Zahn fehle, o Herr, schloss ich daraus, dass ich fast jeden Schritt auf dem Weg etwas gekautes Gras fand, genau von der Größe, dass es durch eine Zahnlücke passt.« »Und dass es lahm sei, o Herr,« fügte der Dritte an, »folgerte ich daraus, dass drei der Fußspuren deutlich hervortraten, die vierte aber kaum |10|und daher von einem Nachschleifen des Beines herrührte.« Der Kaiser war außerordentlich erstaunt über den Scharfsinn der drei Prinzen aus Serendip und bat sie inständig, auch noch zu erzählen, wie sie die übrigen drei Zeichen erraten hatten. Wieder begann der älteste Sohn: »O Herr! Dass die Ladung des Tiers auf der einen Seite Butter, welche ein wenig getropft hatte, auf der anderen Honig war, welcher den süßesten Geruch zu verströmen pflegt, merkte ich daran, dass ich wohl eine Meile lang auf der einen Seite der Straße zahlreiche Ameisen sah, welche die Butter lieben, auf der anderen Straßenseite aber Fliegen, welche dem Honig nachfliegen.« »Und dass eine Frau, o Herr, darauf sei«, sagte der zweitälteste Sohn, »erklärte ich mir auf folgende Weise: Hier und da erblickte ich Spuren, wo das Kamel sich hingekniet hatte, um den Reiter absteigen zu lassen. Neben der Spur des Kamels war ein menschlicher Fußabdruck, so zierlich, dass er von einem Jüngling oder einer Frau sein musste. Ich verschaffte mir Gewissheit, indem ich meine Finger in das Urinbächlein neben dem Fußabdruck tauchte. Ich roch daran, und als ich augenblicklich eine fleischliche Begierde in meinen Lenden fühlte, wusste ich, dass der Abdruck vom Fuß einer Frau rührte.« Der jüngste Sohn schließlich sprach: »Dass diese Frau ferner schwanger sei, entnahm ich aus der Spur ihrer Hand, welche sich auf dem Boden zeigte; denn wegen der Schwere ihres Leibes hatte sie sich, nachdem sie Wasser gelassen hatte, mit der Hand aufhelfen müssen.«

Die Reden der Jünglinge nötigten dem Kaiser Behram tiefe Bewunderung für ihren Scharfsinn ab, und er bat sie, sich, solange es ihnen gefallen möge, als seine geehrten Gäste zu betrachten. Mindestens vier Stunden täglich führte er schöne, gelehrte und merkenswerte Gespräche mit ihnen und hatte jedes Mal großes Vergnügen an ihrer großen Klugheit und ihrem raschen Geist. Manchmal versteckte er sich auch in einem Kämmerchen neben ihrem Gemach und lauschte heimlich, da er sie immer von bedeutsamen Gegenständen reden hörte.

Nachdem die drei Söhne des Königs Giaffer noch viele Proben ihres Scharfsinns abgelegt und sogar den Kaiser davor bewahrt hatten, vom vergifteten Trank eines ihm übel wollenden Ministers zu trinken, nachdem sie sich also weise und wohltätig erwiesen hatten, verließen sie das Reich des Kaisers Behram und fuhren nach Indien. Denn der Kaiser hatte sie gebeten, von dort den Spiegel der Gerechtigkeit zu holen.

|11|Dieser Zauberspiegel war in der Lage, Übeltäter zu überführen und Streitigkeiten zu schlichten, sodass man weder Anwälte noch Richter brauchte. Man lebte dank der Kraft des Spiegels in so tiefem Frieden, dass das Reich einem wahren Paradies glich. Durch einen Streit unter den Vorfahren des Kaisers Behram war der Zauberspiegel jedoch nach Indien gelangt und dort im Besitz einer jungfräulichen Königin. Weil Kaiser Behram mit den drei Prinzen aus Serendip so verständige und scharfsinnige Jünglinge an seinem Hof wusste, sprach er zu ihnen: »Da ich euch als Menschen von hohem und edlem Geist kenne, rede ich mir ein, dass, wenn ihr euch in dieser Angelegenheit bemühen wollt, ihr mir den Spiegel, das heißt die Ruhe und das Glück meiner Herrschaft, wieder erlangen werdet. Wenn ihr dies ausführen wollt, so verspreche ich, euch zu Herren eines großen Schatzes zu machen.«

Als die drei Brüder die Worte des Kaisers vernommen hatten, versprachen sie ihm wegen der großen Ehren, die sie von ihm empfangen hatten, nach Indien zu reisen und nicht ohne den Spiegel zurückzukehren.

Diliramma

Der Kaiser blieb in großer Zuversicht zurück, da er den Spiegel bald wieder zu erlangen hoffte. Um sich die Zeit bis zu ihrer Rückkehr zu vertreiben, ließ er aus allen Teilen seines Reiches die besten Sänger und Musiker kommen. Unter den Künstlern, die an seinen Hof kamen, war auch eine Sklavin von außerordentlicher Schönheit, die in Musik jeder Art so vortrefflich war, dass sie alle Meister ihrer Zeit übertraf. Als die junge Frau, welche Diliramma hieß, vor dem Thron Behrams erschien, geschah es durch ihre seltene Schönheit, ihre Kunst im Lautenspiel und durch die Lieblichkeit ihrer Stimme, dass dieser sich leidenschaftlich in sie verliebte. Er kaufte sie für eine große Summe, ließ sie in prächtige Gewänder kleiden und wollte sie fortan immer um sich haben.

Da geschah es eines Tages, als er mit Diliramma auf die Jagd gegangen war, dass er sich zu ihr wandte und sagte: »Siehst du diesen Hirsch? Den will ich schießen. Sage mir, welchen Teil seines Körpers ich mit dem Pfeil treffen |12|soll!« Diliramma antwortete: »O Herr! Da ich weiß, welch ausgezeichneter Schütze Ihr seid, so sage ich: Schießt so, dass Ihr mit einem einzigen Pfeil einen Fuß des Tiers an sein Ohr heftet!« Behram entledigte sich der Aufgabe, indem er zunächst auf das Ohr des Hirsches mit einer hölzernen Kugel schoss. Als sich dieser wegen des Schmerzes mit dem Fuß am Ohr kratzte, nahm der Kaiser seinen Bogen und hatte flugs dem Hirsch mit einem Pfeil den Fuß ans Ohr genagelt. Vergnügt wandte sich Behram an seine Sklavin, in der Meinung, dass er sie beeindruckt hätte. Doch Diliramma war an diesem Tag zu Scherz und Spott aufgelegt und sagte: »O Herr! Ich bin überzeugt, dass jedem anderen durch die List mit der Kugel, die dem Hirsch das Ohr kratzen hieß, ebenfalls solch ein Schuss gelungen wäre!«

Über diese Worte, die noch dazu die ganze Jagdgesellschaft gehört hatte, geriet der Kaiser augenblicklich so sehr in Zorn, dass er Befehl gab, Diliramma zu fesseln und in einen Wald zu führen, wo die wilden Tiere sie in der Nacht fressen sollten. Kein Jammern half dem Mädchen, und es dachte nicht anders, als dass sein sicherer Tod nahe sei. Doch der Zufall wollte es, dass eine Gesellschaft von Kaufleuten durch den Wald kam, die schöne Gefangene sah und mit sich nahm. Der Älteste von ihnen konnte sich bald von ihrer Kunstfertigkeit auf der Laute und von ihrem schönen Gesang überzeugen, und so nahm er sie als seine Tochter an und führte sie mit sich in sein Land.

Behram bereute aber bereits bitter, was er Diliramma angetan hatte. Er schickte seine Diener in jenen Wald zurück mit dem Befehl, sie sollten in jedem Winkel suchen und nicht ohne sie wiederkehren. Doch alles Suchen blieb vergebens. Nicht die kleinste Spur war von dem Mädchen zu finden. Der Kaiser war nun sicher, dass die wilden Tiere seine Geliebte gefressen hatten. Über dieses Unglück zutiefst betrübt, verfiel er in große Schwermut und daraufhin in eine schlimme Krankheit, die ihn vollständig des Schlafes beraubte. So verzehrte er sich in Bitterkeit und erwartete von Stunde zu Stunde den Tod. Die Minister des Reiches waren darüber sehr besorgt und beschlossen, dass alle Ärzte ihre Künste anwenden müssten, damit ihr Herr bis zur Rückkehr der drei Prinzen, die in Indien den Spiegel der Gerechtigkeit wiedererlangen sollten, überlebe. Denn sie waren überzeugt, dass die drei klugen Brüder ein Mittel gegen die Krankheit des Kaisers finden würden.

|13|In Indien

Unterdessen waren die drei Brüder von der Königin in Indien mit allen Ehren empfangen und mit den köstlichsten Speisen und den edelsten Weinen bewirtet worden. Den gewünschten Zauberspiegel wollte sie aber nur hergeben, wenn einer der drei Brüder sie zur Frau nehme, so sei sichergestellt, dass auch dann kein Übel über ihr Reich komme, wenn der Spiegel wieder zurückgegeben war. Allerdings müsste dieser Mann von hoher Herkunft sein. Nur so sei er würdig, an ihrer Seite König von Indien zu werden. Der Minister bat die drei Brüder, ihm unter Eid zu offenbaren, wer sie waren. Also schwuren sie einen Eid, dass sie die Söhne des Königs Giaffer von Serendip seien, und erzählten alles, was ihnen bislang begegnet war.

Am nächsten Tag warb der Minister im Namen der Königin um die Hand des zweitältesten Jünglings, der ihr am besten gefiel. Dieser wollte aber nicht entscheiden, bevor er sich nicht mit seinen Brüdern beratschlagt hatte. Sie hielten also Rat und beschlossen dann, der Königin zu antworten, dass der mittlere Bruder die Ehre einer Heirat annehmen wolle, sie aber alle drei zunächst zu ihrem Vater heimkehren und seine Erlaubnis einholen wollten.

Sieben Paläste

Reich beschenkt und im Besitz des Spiegels kehrten die Prinzen zu Kaiser Behram zurück. Sobald der Kaiser von ihren Abenteuern gehört hatte, sagte er ihnen unendlichen Dank, teilte ihnen aber zugleich seine Verfehlung gegen die holde Diliramma mit. Er hoffe, die drei Brüder könnten ihn von seiner schweren Krankheit heilen, da er sonst unstreitig bald sterben werde. Voller Mitleid sprach der älteste der Söhne Giaffers zu ihm: »O Herr! Ich will euch ein Mittel angeben gegen eure schwere Krankheit, und das ist folgendes: Ihr habt in der Nähe Eurer kaiserlichen Hauptstadt ein gar schönes Stück Land. Wenn Ihr Eure Gesundheit wiedererlangen wollt, so lasst dort sieben Paläste von sieben verschiedenen Farben bauen. Verbringt, mit dem Montag beginnend, jede Nacht einer Woche in einem anderen Palast.« »Und außerdem«, sagte der zweitälteste Sohn, »sollt Ihr sieben Gesandte in die sieben Zonen |14|der Welt schicken, die müssen Euch von dort sieben Jungfrauen, Töchter der größten Fürsten, bringen. Von denen setzt Ihr je eine in jeden Palast und bringt die Woche mit ihnen in angenehmen und süßen Gesprächen zu.« Und der jüngste Sohn fügte hinzu: »Erlasst den Befehl, dass in den sieben größten Städten Eures Reichs bekannt gemacht werde, dass jeweils der beste Erzähler von dort vor Euch erscheine, damit er Euch eine schöne Geschichte erzähle.«

Kaiser Behram folgte diesem Rat, ließ die Paläste errichten, ließ jeden kostbar in einer anderen Farbe ausschmücken und in jeden eine vornehme Jungfrau und einen Erzähler bringen. Als alles bereit war, wartete er den ersten Tag der Woche ab, begab sich dann in den ersten Palast, der ganz in Silber gehalten war, ließ auch seine Diener in Silberstoffe kleiden, legte sich auf einen silbernen Diwan, plauderte die halbe Nacht lang mit der ersten Jungfrau und ließ schließlich den ersten Erzähler kommen. Dieser küsste dem Kaiser die Hände und begann seine Geschichte.

Nachdem er geendigt hatte, fühlte sich Behram schon ein wenig besser und begann zu glauben, dass der Rat der Jünglinge ihm Hilfe bringen würde. Am nächsten Tag, dem Dienstag, begab er sich in den zweiten Palast, der über und über mit Purpur geschmückt war, ließ das ganze Hofgesinde in dieselbe Farbe kleiden, unterhielt sich mit der zweiten Jungfrau über viele schöne Dinge und ließ dann den zweiten Erzähler kommen. Dieser küsste dem Kaiser die Hände und begann seine Geschichte.

Nachdem er seine Erzählung, die sehr lustig ausging, beendet hatte, konnte sich Behram des Lachens nicht enthalten. Darüber waren die Grafen, Barone und Herzöge sehr froh, da sie sahen, dass ihr Herr mit jedem Tag größere Besserung zeigte. Am folgenden Mittwoch wurde der dritte Palast bezogen, der Kaiser sprach mit der dritten Jungfrau und lauschte dem dritten Erzähler. So auch am Donnerstag und am Freitag und am Sonnabend. Und an jedem Tag wurde der kranke Kaiser etwas munterer und kräftiger.

Als Behram den sechsten Palast und die sechste Jungfrau und den sechsten Erzähler verlassen hatte, fühlte er seine frühere Gesundheit fast vollständig wiedergewonnen. Nun gab er den Befehl, dass sich der Hofstaat am folgenden Sonntagmorgen in goldene Kleider hüllen möge, um mit ihm zusammen zum siebten, dem goldenen Palast zu reiten. Nachdem Behram sich eine Zeit lang mit der siebten Jungfrau auf dem goldenen Diwan unterhalten hatte, bat |15|er den siebten Erzähler, mit seiner Geschichte anzufangen. Dieser sprach: »Die anderen Erzähler, o Herr, haben, wie ich glaube, von den Geschicken Fremder berichtet, ich aber will Euch von meinem eigenen Leben berichten. Ich komme aus einem Land, das sich vor allen anderen Künsten in der Musik auszeichnet. Auch ich versuchte mich darin und hatte das Glück, in wenigen Jahren zum Meister auf der Laute zu werden. Indem ich diese Kunst viele Einwohner lehrte und auch Gäste der Stadt unterrichtete, verdiente ich eine Menge Geld. Nun geschah es aber, dass ein alter Kaufmann in unsere Stadt kam, der ein junges Mädchen bei sich hatte. Diese spielte die Laute so vortrefflich, dass man auf der ganzen Welt nicht ihresgleichen gehört hatte. Da unser Fürst große Liebe zur Musik empfand, besuchte er den Kaufmann und ließ sich das Mädchen vorführen. Kaum hatte er die ersten Töne auf der Laute gehört, verliebte er sich leidenschaftlich. Sie spielte so lieblich, dass er sie mit einem kostbaren Juwel beschenkte, bevor er ging.

Inzwischen hatte sich der Ruf der Lautenspielerin so in unserer Stadt verbreitet, dass ich mein ganzes Ansehen, meinen Ruf und in der Folge meine Schüler verlor. Darüber war ich so traurig, dass ich eines Tages den Kaufmann aufsuchte und um eine Unterredung bat. Er gewährte mir diese und führte mich zu dem Mädchen, das mich ihre Kunst bereitwillig hören ließ. Augenblicklich verliebte ich mich so leidenschaftlich in ihr Spiel, dass ich sie und den Kaufmann demütig bat, mich als Diener anzunehmen. Ich wurde erhört und durfte von dem Tag an die Arbeiten im Zimmer der Tochter übernehmen.

Da ich mir in ihrem Dienst viel Mühe gab und sie mir zugetan war, ehrte sie mich bald wie einen leiblichen Vater. Oft, wenn ich in ihrem Zimmer war, hörte ich sie seufzen, und zwar jedes Mal, wenn sie die Laute spielte. Als ich sie nach ihrem Kummer fragte, eröffnete sie mir unter Tränen ihr Schicksal, bat mich, dieses geheim zu halten, ihr aber zu helfen. Wisset denn, so sprach sie, dass ich einst am Hof eines mächtigen Herrschers spielte, der mich mit kostbaren Gewändern und Schmuckstücken ausstatten ließ und bald in so heftiger Liebe zu mir entbrannte, dass ich, obgleich seine Sklavin, alles von ihm zu erlangen vermochte. Weil aber das Glück dem Menschen nicht lange hold zu sein pflegt, geschah es bald darauf, dass mich mein Herr auf die Jagd mitnahm. Auf meinen Vorschlag hin nagelte er einem Hirschen den Fuß mit einem Pfeil an das Ohr, glaubte aber durch einige Worte, die ich unbedacht |16|ausgestoßen hatte, seine Ehre befleckt. In plötzlichem, glühendem Zorn ließ er mich fesseln und in einem Wald dem Fraß durch wilde Tiere aussetzen. Doch das Schicksal wollte es, dass sich eine Gesellschaft von Kaufleuten meiner erbarmte und der Älteste von ihnen mich zur Tochter nahm. Weil ich aber die glückliche Zeit bei meinem früheren Herrn nicht vergessen kann und mich von Liebe zu ihm noch heftig ergriffen fühle, kann ich die Seufzer nicht zurückhalten, jedes Mal, wenn ich die Laute zur Hand nehme.

Nachdem die junge Frau ihre Erzählung geendet hatte, machte ich mich auf den Weg, ihren früheren Herrn zu suchen und ihn wissen zu lassen, dass die Dame, obwohl er sie zu so grausamem Tode verurteilte, in Liebe zu ihm brenne. Und hier bin ich nun.«

Als Kaiser Behram diese Worte hörte, sagte er zu sich: »Das ist meine Diliramma!« Er schickte sogleich Boten zu ihrem Stiefvater und ließ große Schätze dafür bieten, wenn er Diliramma zu ihm führte. Nicht lange darauf kamen die beiden tatsächlich an den Hof. Als der Kaiser Diliramma sah, konnte er die Tränen nicht zurückhalten und war so glücklich, dass es sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Dann bekannte er dem Kaufmann seine damalige Grausamkeit gegen Diliramma, wie er sie bitter bereut, daraufhin krank geworden und erst nach der Geschichte des siebten Erzählers, der sich als Diener der Diliramma entpuppt habe, wieder ganz gesund und glücklich geworden sei. Mit vielem Gold beschenkt, kehrte der Kaufmann in seine Heimat zurück, und auch der Diener wurde mit reichen Geschenken bedacht.

Später rief Kaiser Behram die drei Prinzen von Serendip zu sich und sprach zu ihnen: »O ihr edlen und klugen Jünglinge! In Wahrheit erkenne ich jetzt, dass, während sämtliche Ärzte meines Reiches kein Mittel gegen meine schwere Krankheit wussten, ihr allein durch euren feinen Verstand und Rat mir meine frühere Gesundheit zurückgegeben habt. Wie aber seid ihr auf ein solches Mittel, mein Leben zu retten, verfallen?« Darauf antwortete der älteste Prinz: »Herr, ich bemerkte, dass Ihr aufgrund Eures Kummers nicht schlafen konntet und Ihr deshalb in schwere Krankheit fielet. Und weil ich weiß, dass viele Übel durch ihr Gegenteil behoben werden, so dachte ich, dass Ihr in Eurem eigenen Schloss nie den heilenden Schlaf finden würdet, und so hieß ich Euch sieben Paläste bauen und sieben Nächte in fremden Mauern zubringen.« »Und ich«, sagte der zweitälteste Prinz, »erkannte, dass Diliramma, die Ihr so liebtet, die Ursache Eures Leidens war, und glaubte deshalb, wenn |17|Ihr Euch einmal mit anderen Mädchen unterhieltet, Ihr den Kummer vergessen und genesen würdet. Deshalb riet ich Euch, in die sieben Paläste sieben schöne Mädchen bringen zu lassen.« Der dritte Prinz fügte hinzu: »Ich konnte nicht glauben, dass Diliramma von wilden Tieren gefressen wurde, da sich keine Spur ihres Todes im Walde fand. Ich schloss daher, wenn Ihr in den verschiedenen Provinzen Eures Reichs bekannt gäbet, dass Euch sieben Erzähler geschickt werden sollten, die Ihr, nachdem sie Euch eine schöne Geschichte erzählt hätten, reich belohnen wolltet, so würde Diliramma Euch durch dieses Mittel Nachricht von ihrem Zustand und Aufenthalt geben.«

Kaiser Behram dankte den drei Jünglingen für ihren hohen und edlen Verstand, beschenkte sie mit großen Reichtümern und ließ sie nach Hause ziehen.

In Serendip angekommen, fanden sie ihren alten Vater König Giaffer krank vor. Er empfing aber seine Söhne mit großer Freude und sah, dass sie nun nicht nur weise und gelehrt waren, sondern auch mancherlei Sitten und Gebräuche verschiedener Völker kennen gelernt hatten. Er gab ihnen seinen Segen und starb bald darauf.

Der älteste Sohn folgte ihm in der Regierung und herrschte lange mit großer Klugheit. Der zweite Sohn begab sich seinem Versprechen gemäß nach Indien und heiratete die Königin. Und es dauerte nicht lange, da trug Kaiser Behram, der eine junge Tochter hatte, dem dritten Sohn diese zur Frau an. Der Prinz willigte ein und kehrte an den Hof Behrams zurück. Dort wurde die Hochzeit feierlich vollzogen. Als der alte Kaiser kurze Zeit später starb, folgte er ihm auf den Thron.

Das ist die Geschichte der drei Königssöhne, die auszogen, um Weisheit zu suchen. Ein jeder fand sie, und sein Glück dazu.

Das Prinzip Zufall

Was hier gerade erzählt wurde, ist nur ein kleiner Teil der Geschichte von der Reise der drei Prinzen aus Serendip. Denn das Original ist mehr als zwölf Mal so lang und fast so verschachtelt wie die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.

|18|Wie bei vielen Mythen und Märchen gibt es auch hier verschiedene Erzählstränge bei verschiedenen Völkern. Die Reise der drei Prinzen ist eine Sammlung von vielen Geschichten, die ursprünglich aus dem persisch-arabischen und vor allem aus dem indischen Raum stammen. Die Sammlung wurde 1557 von dem Italiener Christoforo Armeno in Venedig als Buch veröffentlicht. Er schreibt, er habe die Geschichten aus dem persischen Original übersetzt. Vermutlich hat Armeno aber lediglich eine Reihe von Geschichten bearbeitet und neu geordnet. Jedenfalls wurde bis jetzt kein persisches Original entdeckt, und so lange gilt Christoforo Armeno als Autor des Buches. Sein Name ist allerdings wahrscheinlich nur erfunden – er heißt übersetzt einfach »Christoph, der Armenier«.

Aus dem Italienischen des 16. Jahrhunderts wanderten die Drei Prinzen dann durch Übersetzungen nach Frankreich, England, Holland und Deutschland. Richtig berühmt, so bekannt wie die Märchensammlung der Brüder Grimm und wie Tausendundeine Nacht, wurden sie aber nicht.

Doch am 28. Januar 1754 schrieb der englische Dichter Horace Walpole seinem Freund Horace Mann einen Brief. Darin erzählt er von Funden, die er immer wieder mache und »serendipity« nenne. Warum? Er habe einmal ein Märchen gelesen mit dem Titel The Three Princes of Serendip. Es handle sich um die Geschichte von drei Königssöhnen, die immer durch Zufall und Scharfsinn Dinge entdeckten, nach denen sie gar nicht suchten. Weil ihm die Geschichte so gefiel, nannte Horace Walpole dieses Vorgehen »serendipity«. Seitdem gibt es das Wort im Englischen, und auch die Italiener, Franzosen, Spanier, Portugiesen, Niederländer und Schweden haben es als Fremdwort in ihre Sprache übernommen. Der Sinngehalt von »serendipity« lässt sich nicht in einfachen Worten ausdrücken oder in andere Sprachen übertragen, und so sagt man auch im Deutschen »Serendipität«. Eine englische Übersetzervereinigung wählte 2004 »serendipity« zu einem der zehn Wörter, die am schwersten zu übersetzen sind.

Ähnlich wie die ursprüngliche Märchensammlung schlummerte dieses Wort lange in den Nebenkammern des allgemeinen Gedächtnisses. Als man 1833 die Briefe von Horace Walpole herausgab, tauchte es auf und dann genau 100 Jahre später im englischen Wörterbuch Oxford Dictionary und dann erst wieder in den 1970er Jahren.

Vielerorts gibt es heute Geschäfte, die sich »Serendipity« nennen, wahrscheinlich|19|, weil man mit lauter sündhaft teuren Dingen herauskommt, die man gar nicht gesucht hat. Schiffe, Rockbands und Szenekneipen heißen »Serendipity«. In dem amerikanischen Film Dogma spielte 1999 Salma Hayek die Muse »Serendipity«. Ebenfalls in den USA wurde 2001 der Film Serendipity gedreht, in dem der Zufall zwei Liebende wieder zusammenbringt. Das Internet ist voll mit Hinweisen auf das Serendipity-Surf-Vergnügen, bei dem man durch Zufall unerwartete Entdeckungen macht. Unter der Adresse »serendip.brynmawr.edu« kann man am Internetforum eines amerikanischen Colleges teilnehmen, das sich dem verzweigten und abenteuerlichen Wegenetz der Wissenschaften widmet. Sogar ein Forschungsprojekt zum Aufspüren von außerirdischem Leben heißt nach dem guten alten SERENDIP: »Search for Extraterrestrial Radio Emissions of Nearby Developed Intelligent Populations«. Einer der Projektgründer ist Arthur C. Clarke, der Autor von 2001 – Odyssee im Weltraum. Er lebt seit langem in Sri Lanka, und was ihn dorthin führte, so schreibt er in seiner Biografie The view from Serendip, war – Serendipity.

Die Verbindung des Wortes »serendipity« mit Geschichten über Zufallsfunde ist nicht neu. Der Soziologe Robert K. Merton entdeckte es 1949 für sein Werk Social Theory and Social Structure. Er war vier Jahre zuvor im Oxford English Dictionary auf »serendipity« gestoßen, weil er ein anderes Wort mit »se« nachschlagen wollte. Ein reiner Zufallsfund also! Das Wort und vor allem die Idee »serendipity« ließen ihn nicht mehr los. Über viele Jahre bis 1958 entstand ein Manuskript, das erst 2004 nach dem Tod Mertons veröffentlicht wurde unter dem Titel The Travels and Adventures of Serendipity. Der Autor verfolgt hier die Wort- und Bedeutungsgeschichte von Serendipity, schreibt über die Rolle des Zufalls in verschiedenen Wissensgebieten und ermuntert die Forschung, Ergebnisse auch und gerade dort zu erwarten, wo man sie nicht gesucht hat.

Royston M. Roberts schrieb dreißig Jahre nach Merton ein Buch mit zahlreichen Beispielen von Zufallsentdeckungen in der Wissenschaft: Serendipity – Accidental Discoveries in Science. Andere Autoren folgten. Alle bezogen sich auf die Briefstelle von Horace Walpole. Aber niemand achtete auf die ursprüngliche Quelle des Wortes.

Ich wollte es genauer wissen. Was erleben die drei Prinzen in diesem alten Märchen? Warum wurden sie zu Namensgebern für die Serendipity?

|20|Die drei Prinzen zeigen auf ihren verschlungenen Wegen vor allem eines: Um etwas herauszubekommen, muss man mit offenen Augen durch die Welt gehen. Wenn man einzelne Zeichen und Spuren sorgfältig liest, sie mit Klugheit und Scharfsinn richtig deutet und kreativ nutzt, können daraus wichtige Entdeckungen entstehen.

Der Zufall spielt dabei die Rolle eines wohlmeinenden Störenfrieds. Man sucht eine ganz bestimmte Art von Erkenntnissen, macht weite Reisen, forscht – und dann kommt alles anders. Auch braucht der Zufall den aufmerksamen Beobachter. Sicher passiert in jedem Augenblick irgendwo etwas, das sich nicht vorherberechnen ließ. Aber erst der denkende Mensch, der hinschaut und die Gelegenheit beim Schopf ergreift, macht aus dem Zufallsereignis einen Fortschritt für die Wissenschaft.

Alle Geschichten, die im Folgenden erzählt werden, haben diese drei Bestandteile gemeinsam: Zufall, Aufmerksamkeit, Forschergeist. Der Titel des Buches, Wer nicht sucht, der findet, soll keineswegs andeuten, dass große Entdeckungen dem Menschen ganz ohne Eigeninitiative zufliegen. Ein wacher Geist gehört zu jedem gelösten Rätsel. Oft allerdings wurden ganz andere Dinge gesucht als jene, die letztlich gefunden wurden. Ohne den Zufall wäre keine dieser Geschichten passiert, durch die Aufmerksamkeit von Fachleuten oder Laien wurden sie als bedeutsam erkannt, und erst der Forschergeist bei ihrer Interpretation führte zu neuen Erkenntnissen.

Wenn ich mir was wünschen dürfte

Ich erzähle Geschichten aus den vergangenen 500 Jahren, die wahr sind, aber so märchenhaft klingen wie die alte Fabel von den drei Königssöhnen aus Serendip. Geschichten, die in der Wüste, auf dem Feld, im Gebirge, im Weinberg, im Apfelgarten, auf dem Friedhof, auf dem Dachboden, im Schrank passierten. Geschichten von Weltsensationen, verborgen unter der Erde, im Urwald, in der Tiefsee. Geschichten von Rätseln, die sich plötzlich durch die Macht des Zufalls lösten. Geschichten von alten Knochen, brüchigen Pergamenten und gefriergetrockneten Mumien. Geschichten vom Retten, Bewahren und Erforschen, aber auch vom Stehlen, Tricksen und Spuren-Verwischen.

|21|Sie sollen zeigen, wie der Zufall in unsere Welt des Wissens eingreifen kann, wenn er auf hellwache Köpfe trifft.

Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann dies: dass meine Leser zu Prinzessinnen und Prinzen aus Serendip werden, die mir auf meinen Pfaden und Umwegen folgen, um unbekannte Gegenden zu entdecken – und dabei vieles, was sie gar nicht suchten.

|22|Warum schreit er nicht?

Die Laokoon-Gruppe

Bekanntlich liegt Rom auf sieben Hügeln. Sie heißen Kapitol, Palatin, Aventin, Caelius, Esquilin, Viminal und Quirinal. Heutzutage ist es manchmal nicht einfach, diese sieben Hügel noch zu erkennen, denn die Millionenstadt hat sie ganz mit Gebäuden und Straßen überzogen. Vor 500 Jahren war Rom zwar auch schon eine große, quirlige Stadt mit ungefähr 50000 Einwohnern, aber doch außerhalb des Stadtkerns noch sehr ländlich. Im Forum Romanum weideten Schafe und Kühe, auf dem Kolosseum wucherte Unkraut, der Circus Maximus diente als Gemüsegarten. Rings um die wenigen Landhäuser lagen Felder, Wäldchen und Gärten, und auf den Hügeln baute man zwischen antiken Ruinen Oliven und Wein an.

Marmor statt Trauben

Mit dem Weinbau hat auch der Zufallsfund zu tun, der Archäologen, Kunstwissenschaftler und Dichter seitdem nicht mehr losgelassen hat. Der römische Bürger Felice de Fredis baute zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf dem Hügel Esquilin Trauben an, wie so viele Römer, die für den Weinvorrat der Stadt sorgten. Das Gebiet liegt mitten in Rom, nicht weit vom Kolosseum entfernt, in der Nähe der Kirche San Pietro in Vincoli, »Heiliger Peter in Ketten«, eine der ältesten Kirchen in Rom.

Felice de Fredis war auch am 14. Januar 1506 in seinem Weinberg beschäftigt, als er beim Umgraben auf die Decke eines Gewölbes stieß. Er musste, so hieß es später, ungefähr »sechs Armlängen tief« graben, um zu sehen, was da lag. Wie lang wird so ein Arm gewesen sein? Auch nicht kürzer oder |23|länger als heute: vielleicht 60 bis 70 Zentimeter. Demnach verbarg sich das Geheimnis in ungefähr vier Metern Tiefe.

Was der Winzer dann sah, war schon phantastisch genug, »eine sehr alte unterirdische Kammer mit wunderschönem Fußboden und farbiger Wandverkleidung in Einlegearbeit«. Aber noch unglaublicher war eine lebensgroße, offensichtlich ebenfalls sehr alte Figurengruppe aus Marmor, die fast unversehrt dort unten stand: Ein älterer und zwei sehr junge Männer links und rechts von ihm, alle drei ganz nackt, werden von zwei langen Schlangen umschlungen.

Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass man in Rom etwas Antikes findet, wenn man im Boden gräbt. Schließlich war das Gebiet bereits mindestens ab 1000 v. Chr. besiedelt, und jeder der römischen Herrscher hatte sich im Stadtgebiet verewigt mit Palästen, Straßen, Brücken, Thermen, Tempeln, Statuen oder Grabmonumenten. Unter dem Weinberg von Felice de Fredis gab es mehrere Bebauungsschichten übereinander, die aus der römischen Kaiserzeit stammten. Kaiser Nero hatte hier in den Jahren 64 bis 68 v. Chr. sein Domus aurea, sein »Goldenes Haus« errichtet, und 40 Jahre später hatte Kaiser Trajan über der Ruine seine Thermen gebaut. Das waren im ganzen Altertum verbreitete öffentliche Badeanstalten. Dort konnte man im warmen Wasser plantschen, sich abrubbeln und einölen lassen und dabei mit anderen Gästen plaudern; die Männer blieben unter sich, und die Frauen auch. In der Regel hatten die Thermen Ankleideräume, Fußbodenheizung, ein Heiß- sowie ein Kaltwasserbad, Warmwasserwannen, ein lauwarmes Luftbad, ein Schwimmbecken und großzügige Höfe. In den Thermen des Trajan gab es zusätzlich große Säle und Bibliotheken.

In einem der unterirdischen Räume wurde offenbar die Statuengruppe aufgestellt. Wahrscheinlich wollte man sie vor Beschädigung oder Zerstörung schützen und brachte sie in dem Gewölbe in Sicherheit, wo sie die Jahrhunderte überdauerte und erst im Januar 1506 zufällig wiederentdeckt wurde.

Allen anderen Werken vorzuziehen

Weil der Fund so aufregend war, erfuhr damals jeder in Rom davon. Auch ein gewisser Francesco da Sangallo hatte noch um 1567 im Gedächtnis, was |24|er als Zwölfjähriger miterlebt hatte. Sein Vater Giuliano war im Jahr 1506 päpstlicher Architekt gewesen. Als Papst Julius II. erfuhr, was man da gefunden hatte, schickte er einen Boten zu seinem Architekten. »Und mein Vater«, so erinnerte sich Francesco, »machte sich augenblicklich auf den Weg. Da Michelangelo Buonarroti gerade in unserem Haus weilte, … wollte mein Vater, dass er mitgehe. Und so machten wir uns auf, ich hinter dem Sattel bei meinem Vater sitzend. Kaum waren wir zu dem Ort gekommen, wo die Statuen waren, da sagte mein Vater: das ist der Laokoon, den Plinius erwähnt. Er ließ das Loch erweitern, damit man die Statuen herausziehen konnte.« Welch ein kluger Vater und welch ein berühmter Begleiter! Giuliano da Sangallo erkannte mit einem Blick die Bedeutung der Skulpturen, und Michelangelo als Bildhauer-Fachmann konnte ihren Zustand nach der Freilegung beurteilen. Obwohl die Statuen sehr gut erhalten waren, fehlten doch der rechte Arm Laokoons, der rechte Arm des jüngeren Sohnes, die rechte Hand des älteren Sohnes, der Kopf der Schlange, die Laokoon beißt, sowie der gemeinsame Sockel.

Man kann sich das Erstaunen über diesen Fund gar nicht groß genug vorstellen. Denn jeder Gebildete hatte schon einmal jene Stelle gelesen, auf die Sangallo anspielte: In seiner Naturgeschichte (Historia naturalis) aus dem Jahr 77 n. Chr. berichtet der Geschichtsschreiber Plinius der Ältere, dass er diese Figurengruppe in Rom im Palast des Kaisers Titus gesehen habe. Sie stamme von den Künstlern Hagesandros, Polydoros und Athanodoros von der Insel Rhodos. Noch nichts Besonderes! Aber Plinius wagt eine überschwängliche Behauptung: Der »Laokoon« sei ein Kunstwerk, das »allen anderen Werken der Malerei und Bildhauerei vorzuziehen« sei! Bemerkenswert ist, dass Plinius die Figurengruppe nicht nur als Gipfel der Bildhauerkunst sieht, sondern an die Spitze von Bildhauerkunst und Malerei stellt!

Aber schon bald konnte niemand mehr diese Aussage nachprüfen. Plinius kam bei dem schrecklichen Vulkanausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Chr. ums Leben, und die Laokoon-Gruppe verschwand im Dunkel. Bis 1506 wusste man zwar von diesem angeblichen Wunderwerk der Kunst, aber jeder hatte nur davon gelesen, keiner hatte es gesehen. Die berühmte Beschreibung des Plinius ist auch der Grund dafür, dass Sangallo sofort ahnte, was da im Weinberg zum Vorschein kam: die sagenhafte Laokoon-Gruppe, die in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts auf Rhodos entstanden war. Heute wissen |25|wir, dass es sich um die Marmorfassung eines noch älteren Monuments aus Bronze, entstanden um 140 v. Chr., handelt.

Glücksfall

Zusammen mit Felice de Fredis, Giuliano de Sangallo und seinem Sohn Francesco feierte ganz Rom die Entdeckung der Skulpturen, die so lange verschollen waren. Es gab Feste, man zeichnete die Figuren ab, und schon bald erschienen erste Gedichte auf das Ereignis. Nun musste die Frage gelöst werden, was weiter geschehen sollte. Mancher hätte das berühmte Kunstwerk gern in seinem Haus aufgestellt, doch den Vorzug bekam der wichtigste Mann in Rom, Papst Julius II. Schon am 23. März war er stolzer Besitzer der Laokoon-Gruppe. Natürlich erhielt Felice de Fredis einen angemessenen Preis für seinen Fund. Ihm und später seinem Sohn sollten ab sofort die Zolleinnahmen von einem der Tore Roms zustehen; das bedeutete bis zu 600 Golddukaten im Jahr. Zusätzlich bekam er eine Abfindung von 1500 Dukaten. Offensichtlich verstand er es, den unbedingten Besitzwunsch des Papstes zu Geld zu machen. Im Kaufvertrag wurde sogar festgehalten, »die Laokoongruppe gefalle dem Papst so sehr, dass er das Bildwerk im Vatikan aufgestellt wissen wolle, um ständig an die dargestellte Begebenheit erinnert zu werden.«

Für die Kunstgeschichte war es ein besonderer Glücksfall, dass der Papst die Statuen kaufte. Denn nur er hatte die entsprechenden Mittel und Räume, um sie angemessen zu präsentieren. Julius II. ließ die Laokoon-Gruppe an eine Stelle bringen, die er gerade von dem bekannten Architekten Bramante für solche Zwecke hatte entwerfen lassen: in den Vatikan und dort in den Innenhof des Belvedere. Diesen Hof nennt man »Cortile delle Statue«, den Statuenhof. Hier wurden die meistbewunderten antiken Statuen aufgestellt, für die man zu jener Zeit, der Renaissance, eine ganz besondere Vorliebe hatte. Sie galten als Gipfel und Muster aller Kunst. Neben der Laokoon-Gruppe stehen im Cortile delle Statue auch heute noch die berühmten Figuren der Venus mit dem Amorknaben, des Hermes »Antinous«, zweier Flussgötter, des »Torso vom Belvedere« sowie des »Apoll vom Belvedere«. Schon |26|damals muss der Cortile delle Statue einen wunderbaren Eindruck vermittelt haben, denn die Kunstwerke standen inmitten von Zypressen, duftenden Orangenbäumen, Lorbeerbüschen, blühenden Sträuchern und plätschernden Brunnen. Der päpstliche Architekt Giuliano da Sangallo durfte dann noch eine Architektur-Rahmung entwerfen, in der man die Laokoon-Gruppe wirkungsvoll aufstellen konnte.

Fast 30 Jahre lang blieben die Statuen unangetastet. Papst Clemens VII. wollte sie dann gern wieder in einem vollständigen Zustand sehen. Zwar gibt es in den vatikanischen Museen einen einzelnen Laokoon-Ergänzungsarm, der von Michelangelo stammen soll, doch ist das sehr zweifelhaft. Sicher ist jedenfalls, dass ein Schüler von Michelangelo, Angelo da Montorsoli, im Jahr 1532 den Auftrag erhielt. Er modellierte einen neuen Arm und brachte ihn so an, wie er sich das Original vorstellte: Laokoon versucht mit weit nach oben gestrecktem Arm, die Schlange von sich weg zu drücken. Durch die Betonung der Diagonale, die nun von der rechten Hand Laokoons über seinen linken Oberschenkel bis hinunter zum Fuß reicht, bekommt das ganze Bildwerk einen sehr bewegten Ausdruck, der den heftigen Kampf Laokoons herausstellt.

Zu dieser Auffassung wurde Montorsoli sicher durch die Dichtung angeregt. Denn eine der wenigen Textstellen, aus denen man die Sage erfahren konnte, war sehr dramatisch. Der römische Dichter Vergil schildert im zweiten Kapitel seines Epos Aeneis die Vorgeschichte der Eroberung Trojas. Genau: das ist die mit dem trojanischen Pferd!

Vergil erzählt also von Laokoon, dem Priester des Gottes Neptun. Er steht am Meeresufer vor der Stadt Troja und bereitet zusammen mit seinen zwei Söhnen einen Stier als Schlachtopfer vor. In diesem Moment wollen die Trojaner ein riesiges hölzernes Pferd in ihre Stadt ziehen. Sie halten es nur für ein Weihegeschenk an die Göttin Athene (aber wir wissen, dass darin die Griechen unter der Führung von Odysseus sitzen, die mit dieser List in die Stadt gelangen wollen, um sie zu zerstören). Der Priester Laokoon nun warnt die Trojaner vor dem Pferd, ja, er wirft sogar seinen Speer dagegen, sodass man im Inneren ein Klirren hört (wir wissen: das sind die Waffen der Griechen). Das erzürnt die Göttin Athene so sehr, dass sie zwei ungeheure Schlangen aus dem Meer schickt, die Laokoon und seine Söhne umwinden und sie töten. Wie furchtbar dieser Tod gewesen sein muss, malt uns Vergil anschaulich aus:

|27|… sofort um die Leiber, die jungen,beider Söhne schlingen nun beide Schlangen die grauseWindung, weiden den Biss an den armen, elenden Gliedern.Dann ergreifen den Vater sie auch, der mit Waffen zu Hilfeherstürmt, schnüren ihn ein in Riesenwindungen, und schonzweimal die Mitte umschlungen und zweimal die schuppigen Rückenum seinen Hals, überragen sie hoch mit Haupt ihn und Nacken.Jener bemüht mit den Händen sich hart, zu zerreißen die Knoten,schwarz übergossen von Geifer und Gift an den heiligen Binden,furchtbar zugleich tönt klagend sein Schrei hinauf zu den Sternen.

Dichter und Denker

Kaum war die Laokoon-Gruppe in Rom aufgetaucht, diente sie zahlreichen Künstlern als Anregung und zur Auseinandersetzung mit künstlerischen Theorien. In Deutschland begann die eigentliche Kenntnisnahme erst im 18. Jahrhundert, aber dann sofort mit einem ungeheuren Schlagwort, mit dem der »edlen Einfalt und stillen Größe«. Es war der Altertumskundler Johann Joachim Winckelmann, der es prägte in seiner Abhandlung Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst aus dem Jahr 1755.

Heutzutage würde man ein derart sperrig wirkendes Werk wahrscheinlich nicht freiwillig in die Hand nehmen, aber damals machte Winckelmann damit Furore. Er entwickelte aus seiner Anschauung der griechisch-antiken Kunst die Vorstellung eines deutschen »Klassizismus«. Sie besagt, dass man sich in der Bildhauerei, in der Malerei und letztlich auch in der Dichtung an die klassischen Werke der griechischen Antike halten müsse, dann werde man wirklich Großes schaffen. Er behauptete: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.«

Jemanden einfach nachzuahmen – das klingt wie das Gegenteil von Kreativität! Aber für Winckelmann stand fest, dass der Gipfel der Kunst schon einmal erreicht worden war, eben in den griechischen Werken mit ihrer »idealischen Schönheit«.

|28|Die Laokoon-Gruppe dient ihm als vollkommenes Beispiel für eine idealische Schönheit, die auch den Schmerz darstellen könne. So hebt er besonders hervor, dass Laokoon nicht mit verzerrtem Gesicht seinen Schmerz im Moment des Schlangenbisses herausschreit, sondern verhalten bleibt. Er schreibt über Laokoon: »Er erhebet kein schreckliches Geschrei, wie Vergil von seinem Laokoon singet: Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen … sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können.« Und Winckelmann schließt aus dieser Beobachtung: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.«

Wie wichtig Winckelmann und seine Kunstbetrachtung war und ist, zeigt die weitere Geschichte. Er wurde nicht nur sozusagen zum Vater der deutschen Klassik und der klassischen Altertumswissenschaft, sondern auch einer neuen Bildungsidee, die dann letztlich zum humanistischen Gymnasium führte. Außerdem hörten die Dichter, Kunstwissenschaftler und Philosophen bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht mehr auf, das Laokoon-Problem zu diskutieren und sich über die Gattungen der bildenden Kunst und Dichtung auszutauschen. Und alles ausgehend von einer einzigen Skulpturengruppe aus Marmor!

Besonders berühmt geworden ist eine Erwiderung von Gotthold Ephraim Lessing auf Winckelmanns Gedanken. In seiner Abhandlung Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) greift er die Frage nach Laokoons Ausdruck von Schmerz auf. Anders als Winckelmann sieht er die Ursache seines Nicht-Schreiens aber nicht in der »edlen Seele« Laokoons begründet. Er meint vielmehr, dass es auf den Bildhauer ankomme. Ein wirklich großer Künstler würde die »höchste Schönheit« des Körpers nicht mit dem größten Schmerz verbinden, »weil das Schreien … das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet«. Lessing schlägt ein Gedankenspiel vor: »Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe.« Statt einer allgemein seelischen Idee sieht Lessing also eine einzelne künstlerische Idee verwirklicht: den Schmerz so darzustellen, |29|dass ein schönes Kunstwerk daraus wird und wir Betrachter eine Wirkung davon in unserem Inneren spüren.

Damit war der Frage »Warum schreit er nicht?« eine neue Antwort gegeben, allerdings nicht die letzte. Denn immer wieder kam man darauf zurück, warum wohl in der Dichtung der Ausdruck des Schmerzes so heftig war, in der Bildhauerei aber nicht. Vergil hatte ja in seiner Aeneis nicht gespart mit Einzelheiten über den mörderischen Kampf Laokoons und seiner Söhne gegen die Leiber und Zähne der Schlangen. Aber in jeder Dichtung geht so ein grässlicher Augenblick auch wieder vorbei, wird abgelöst von neuen Szenen. In Gemälden und Skulpturen bleibt er dagegen ein für allemal festgehalten – wie das Foto eines sterbenden Soldaten ihn für immer zwischen Leben und Tod zeigt.

Napoleon

Man könnte meinen: Solange die Gelehrten und Dichter sich fernab über die Laokoon-Gruppe stritten, solange stand sie friedlich in ihrem Statuenhof. Doch der Frieden wurde 1798 brutal gestört, als Napoleon, Oberbefehlshaber der französischen Italien-Armee, Rom besetzte. Er ließ Papst Pius VI. als Gefangenen nach Frankreich bringen und wandelte den Kirchenstaat in eine Republik unter französischer Führung um.

Nach dem Einmarsch französischer Truppen in Rom wurde ein Vertrag aufgesetzt, in dem es hieß: »Es sollen aus der Stadt Rom Gemälde, Bücher und Manuskripte, Statuen und Kunstwerke fortgeschafft werden, die es wert sind, dass man sie nach Frankreich bringt«. Die Laokoon-Gruppe war es natürlich wert, nach Frankreich geschafft zu werden!

Napoleon wollte »sein« Paris zur schönsten Stadt der Welt machen und mit allem ausschmücken, was Rang, Schönheit und Namen hatte. Zu diesem Zweck taufte er auch den Louvre um in »Musée Napoléon«!

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