Wer verriet die Sowjetunion? - Jegor Ligatschow - E-Book

Wer verriet die Sowjetunion? E-Book

Jegor Ligatschow

4,9

Beschreibung

Der Untergang der Sowjetunion wird mit der "Nichtreformierbarkeit des Systems" erklärt. Ligatschows differenzierte Betrachtung der achtziger Jahre in der Sowjetunion, die mit dem Staatsstreich 1991 ihre Weltmachtstellung einbüßte, führt an die Schaltstellen der Reformpolitik und ihrer Folgen. Er zieht einen Trennstrich zwischen der Zeit der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung bis 1988 und der unter dem Druck nationaler und separatistischer Kräfte kollabierenden Perestroika-Politik, ohne deren Auswirkungen die heutige politische und wirtschaftliche Lage Russlands nicht zu verstehen ist.

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Impressum

ISBN eBook 978-3-360-50023-6

ISBN Print 978-3-360-02153-3

© 2012 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Titel der russischen Originalausgabe:

Kto predal SSSR? algoritm, Moskau 2010

Redaktionell leicht gekürzte Ausgabe

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von plainpicture/J. Cawelius

Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin

erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Die Quellen für Zitate und Übersetzungen von Zitaten werden im Text als Fußnoten angeführt. Sämtliche nicht gekennzeichneten Zitatübersetzungen stammen vom Übersetzer dieses Buches.

Jegor Ligatschow

Wer verriet die Sowjetunion?

Aus dem Russischen von Rolf Junghanns

Das Neue Berlin

Kaderwechsel im Kreml

Im April 1983 wurde ich nach siebzehn Jahren Arbeit im sibirischen Tomsk nach Moskau versetzt und zum Leiter der Organisationsabteilung des ZK der KPdSU ernannt. Diese Abteilung war zuständig für die Kaderfragen und die Parteikomitees. Angesichts des damaligen Systems der Partei- und Staatsführung ging es hier um die Kader im breitesten Sinne – auch die Staats- und Wirtschaftsfunktionäre gehörten dazu.

In jenen Apriltagen entwickelten sich die Ereignisse unvermittelt und rasant. Ich war in die Hauptstadt zu einer Beratung zu Agrarfragen gekommen, die von Juri Andropow, dem Generalsekretär, geleitet wurde. Im Swerdlow-Saal des Kreml hatten sich alle Mitglieder des Politbüros, Sekretäre des ZK und der Gebietskomitees1 der Partei sowie viele Verantwortliche aus der Landwirtschaft versammelt – das waren Funktionäre, die mit der Realisierung des Lebensmittelprogramms zu tun hatten, das ein Jahr zuvor beschlossen worden war.

Den Bericht auf der Beratung hielt Gorbatschow, der sich zu dieser Zeit mit den Agrarproblemen beschäftigte. Seine Rede war heftig und scharf, er kritisierte sowohl lokale Verantwortliche als auch zentrale Stellen.

Ich hatte eine Bitte um Wortmeldung ans Präsidium der Beratung gerichtet, ohne besondere Hoffnungen zu hegen. Die ganze Breshnew-Ära über, all die siebzehn Jahre lang, die ich Erster Sekretär der Gebietsleitung von Tomsk war, gelang es mir kein einziges Mal, auf einem ZK-Plenum das Wort zu erhalten. In den ersten Jahren reichte ich unermüdlich Redeanträge ein, mit den Jahren aber begriff ich, dass man immer wieder nur ein und dieselben Redner ans Pult ließ – diejenigen, die genau wussten, was und wie man reden muss. Ich sah darin keine Intrigen gegen mich persönlich, viele Gebietssekretäre, die ihre nicht leichte Bürde schon lange gewissenhaft trugen, befanden sich in der gleichen Lage.

Als Andropow das Amt des Generalsekretärs angetreten hatte, spürten die Gebietssekretäre, dass im ZK Veränderungen in Gang gekommen waren, neue Hoffnungen keimten auf. Das ermutigte auch mich, auf der Landwirtschaftsberatung einen Redeantrag ins Präsidium zu schicken. Es war noch keine Stunde vergangen – und mir wurde das Wort erteilt. Wie immer hatte ich zuvor einen Redetext vorbereitet – für den Fall der Fälle, schaute aber kaum auf das Papier, denn ich sprach von dem, was mir auf der Seele lag – davon, wie das Gebiet Tomsk innerhalb von sieben, acht Jahren vom Lebensmittelkonsumenten in den Rang eines Lebensmittelproduzenten aufgerückt war. Ich berichtete davon, dass die Bevölkerung Westsibiriens durch die Entwicklung des Erdöl- und Erdgassektors wuchs und dass sie versorgt werden musste, und dies vor allem durch die Entwicklung der regionalen Landwirtschaft.

Die Beratung im Kreml ging am Abend gegen sechs Uhr zu Ende. Ich eilte danach ins ZK, um mit den Sekretären einige konkrete Fragen für Tomsk zu klären. In die Wohnung meines Sohnes, der in Moskau wohnte und den ich vor dem Heimflug nach Tomsk noch besuchen wollte, kam ich erst spätabends. Der Abflug sollte am Morgen sein. Das Ticket hatte ich in der Tasche, ich wollte recht bald ins Bett – in Tomsk war es jetzt schon tiefe Nacht, denn dort haben die Uhren vier Stunden Vorsprung vor Moskau.

Abends um zehn läutete das Telefon. Ich nahm den Hörer ab, ohne freilich zu ahnen, dass dieser späte Anruf mein Leben von Grund auf ändern würde. Und ahnte auch nicht, dass solche spätabendlichen Anrufe auch im Februar 1984 – am Tag, nachdem Andropow starb – und im März 1985 – als Tschernenko gestorben war – schicksalhaft in mein Leben eingreifen sollten. Ich nahm also den Hörer und vernahm: »Jegor, hier ist Michail … Du müsstest morgen früh zu mir kommen.«

Gorbatschow hatte ich Anfang der siebziger Jahre kennengelernt, der Zufall hatte mich und ihn in eine Delegation gebracht, die die Tschechoslowakei besuchte. Anschließend hatten wir auf den Plenarsitzungen des ZK der KPdSU und während der Parteitage, zu denen in Moskau alle Sekretäre der Parteikomitees der Gebiete und Regionen zusammenkamen, immer wieder freundschaftlichen Umgang und tauschten uns zu allgemeinen und speziellen Sachfragen aus. Als Gorbatschow Sekretär des ZK und anschließend Mitglied des Politbüros und zudem verantwortlich für Agrarfragen wurde, war ich oft bei ihm. Außerdem war Gorbatschow in jenen Jahren das einzige Politbüromitglied, das man bis zum späten Abend am Arbeitsplatz erreichen konnte. Diese Tatsache hatte keine geringe Bedeutung für einen Gebietssekretär aus Sibirien, der bei seinen Aufenthalten in Moskau von früh bis spät immer wieder die Institutionen der Hauptstadt »abklapperte«, um die Fragen der Petrolchemie und der Lebensmittelindustrie zu besprechen, Kontingente für die Bauindustrie und die Entwicklung von Tomsk als Zentrum der Wissenschaft und Kultur »loszueisen« und um überhaupt eine Unzahl von Problemen zu klären, die das Leben der Menschen von Tomsk betrafen.

Ich konnte mir ohne Mühe zusammenreimen, dass ich auf der Agrarberatung im Kreml das Wort dank Gorbatschow erhalten hatte. Und so war bei diesem nächtlichen Anruf auch mein erster Gedanke, dass er mit mir über meinen Diskussionsbeitrag sprechen wollte. Nach Meinung der Teilnehmer, die mich nach der Beratung angesprochen hatten, hatte ich jedenfalls genau das Richtige gesagt.

»Michail Sergejewitsch, ich habe mein Flugticket schon in der Tasche, ich fliege am frühen Morgen«, erwiderte ich.

Zwischen uns war es schon seit langem Usus, dass Gorbatschow mich mit »Jegor« ansprach, ich ihn mit Vor- und Vatersnamen2.

»Jegor, du musst doch noch etwas bleiben«, entgegnete Gorbatschow ruhig, und an seinem Tonfall merkte ich, dass sein Anruf nichts mit der heutigen Beratung zu tun hatte. »Das Ticket musst du zurückgeben.«

»Alles klar, ich komme dann am Morgen zu Ihnen«, stimmte ich ohne weitere Diskussion zu, obwohl im Grunde überhaupt nichts klar war.

Für einen Gebietssekretär, der in der Hauptstadt seine Aufgabenlisten abarbeitete, war die Verschiebung des Rückflugs und die Ticketrückgabe kein ungewöhnliches Ereignis. Mal musste ein Treffen mit einem Minister oder einem Leiter des Staatlichen Plankomitees verschoben werden, mal tat sich die Möglichkeit für eine ungeplante Zusammenkunft auf. Und wenn man einen Rückweg von 3000 Kilometern hat, bleibt man besser einen Tag länger, als dass man die Reise noch einmal antreten muss.

Am nächsten Morgen trat ich Punkt zehn bei Gorbatschow an – Haupteingang, 2. Obergeschoss rechts. Es war ein Donnerstag, für elf Uhr war die Sitzung des Politbüros anberaumt. Das hatte ich selbstverständlich berücksichtigt, denn ich wusste, dass die Zeitplanung für die Politbürositzungen unantastbar war: Immer am Donnerstag und immer um elf – diese Ordnung war schon zu Lenins Zeiten eingeführt worden und blieb im Großen und Ganzen bis zum XXVIII. Parteitag der KPdSU, also bis 1990 bestehen.

Gorbatschow empfing mich augenblicklich und brachte mich gleich nach der Begrüßung in Verblüffung: »Jegor, es bildet sich die Ansicht heraus, dass du zur Arbeit ins ZK versetzt und zum Leiter der Organisationsabteilung ernannt werden solltest. Das ist das, was ich dir fürs Erste sagen kann. Mehr nicht. Alles hängt davon ab, wie sich die Ereignisse entwickeln. Juri Wladimirowitsch bittet dich zum Gespräch. Er hat mich gebeten, vorab mit dir zu sprechen, was ich hiermit tue. Das ist ein Auftrag von Andropow.«

Ich war erst einmal etwas verwirrt. Die Dinge lagen nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Denn die Organisationsabteilung, kurz »Orgabteilung«, wurde zu jener Zeit von Iwan Kapitonow geleitet. Das Politbüro hatte natürlich das Recht, seine Ablösung zu beschließen, Kapitonow war aber Sekretär des ZK, und da lag die Entscheidungsbefugnis allein beim Plenum des ZK. Außerdem war zu dieser Zeit der Zweite Sekretär des ZK der KPdSU, Tschernenko, im Urlaub. In seiner Gegenwart hätte sich Gorbatschow wohl kaum so entschieden in Kaderfragen einmischen können. Unter den Mitgliedern des Politbüros herrschte eine stillschweigende, aber unerschütterliche Subordination: In Kaderfragen mischt sich keiner ein, der nicht zuständig ist. An diese Ordnung hielt ich mich übrigens im Weiteren auch selbst ganz eisern. Die Regelung verhinderte weitgehend, dass einzelne ZK-Mitglieder Einfluss auf die Kaderauswahl nehmen konnten. Dieses Recht blieb dem Generalsekretär vorbehalten und selbstverständlich auch dem Politbüro insgesamt, denn die endgültige Entscheidung wurde kollektiv getroffen. Da die Ereignisse ganz offenbar nicht standardgemäß abliefen, wurde mir klar, dass Gorbatschow das Vertrauen Andropows genoss.

Zum ersten Mal wurde ich zur Arbeit ins ZK 1961 gerufen – das war schon eine Zeit, in der die alten Trotzkismus-Anschuldigungen, die zu Stalins Zeiten bedrohlich über mich hereingebrochen waren, dem Vorankommen nicht mehr schadeten und kein Hindernis für eine Arbeit im zentralen Apparat mehr darstellten. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, möchte ich erwähnen, dass ich in den fünfziger Jahren Sekretär des Rayonkomitees3 der Partei in jenem Bezirk von Nowosibirsk war, wo Akademgorodok, das berühmte Akademiestädtchen, aufgebaut wurde. Während der gesamten Startphase von Akademgorodok und der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR – ein Zentrum internationalen Ranges – arbeitete ich Seite an Seite mit den Akademiemitgliedern Lawrentjew, Christianowitsch, Martschuk, Budker und vielen anderen herausragenden sowjetischen Wissenschaftlern, von denen ich vieles, sehr vieles lernte. Da ich auch zum Sekretär für Ideologie der Gebietsleitung Nowosibirsk gewählt worden war, kam ich aus dieser Funktion heraus ins ZK, wo ich stellvertretender Abteilungsleiter für Agitation und Propaganda für die RSFSR wurde. Und nach der darauffolgenden Reorganisation, die in jenen Jahren den Parteiapparat aufwühlte, wurde ich stellvertretender Leiter der Orgabteilung des Büros.

Die ersten zwei, drei Jahre über war es für mich interessant, im ZK zu arbeiten. Mein Horizont erweiterte sich, bekam ich einen tieferen Einblick in die gesellschaftlichen Entwicklungen. Solche Lernprozesse sind immer sehr spannend. Allmählich aber begann ich mich mehr und mehr nach der lebendigen Arbeit mit den Menschen zu sehnen. Mein Interesse an der Arbeit schwand, ich war niedergedrückt, quälte mich und kam abends in unleidlicher Stimmung heim. Nachdem ich mich mit meiner Frau Sinaida Iwanowna beraten hatte, schrieb ich 1965 ein Gesuch an Breshnew, mich zur Parteiarbeit irgendwohin weit weg von Moskau zu schicken, am besten nach Sibirien. Vorab hatte ich das Ganze mit meinem direkten Vorgesetzten, dem Leiter der Organisationsabteilung Kapitonow, besprochen – er sagte mir seine Unterstützung zu.

In der Zeit nach Stalin hatte die Rotation der führenden Parteikader – ihre Versetzung aus der Zentrale an die Peripherie und zurück – einen ganz bestimmten Charakter, war ganz und gar nicht zufällig, sondern zielgerichtet. Nachdem Chruschtschow seine Opponenten Molotow, Malenkow, Bulganin und Kaganowitsch ins politische Nichts verbannt und sich endgültig an der Macht etabliert hatte, leitete er 1959 einen neuen Zyklus des Kaderaustauschs in Moskau ein. Viele Parteifunktionäre wurden damals unter unterschiedlichen Vorwänden aus Moskau abberufen. So hatte der Erste Sekretär des Gebietskomitees Moskau Kapitonow nun in Iwanowo zu arbeiten, der Zweite Sekretär des Stadtkomitees Moskau Martschenko wurde nach Tomsk beordert und so weiter.

Bei Breshnew setzte sogleich ein gegenläufiger Prozess ein. Kapitonow wurde umgehend, noch 1964, nach Moskau zurückgeholt und als Leiter der Orgabteilung eingesetzt. Martschenko bekam den Rückruf von Tomsk nach Moskau … Breshnew sammelte also die, die Chruschtschow geschasst hatte, um sich und brachte die aus Moskau weg, die Chruschtschow um sich geschart hatte.

Zurück zum Jahr 1965. Ich hatte damals keine Zweifel, dass mein Gesuch an Breshnew schnell behandelt werden würde. Zu jener Zeit drängte sich kaum jemand danach, Moskau in Richtung Provinz zu verlassen, und noch weniger nach Sibirien. Für mich sollte es übrigens der dritte Wechsel von Moskau nach Sibirien sein. Es verging aber eine Woche, eine zweite und dritte, ohne dass von »oben« etwas zu hören war. Erst nach etwa einem Monat wurde ich zum Generalsekretär4 gerufen. In dessen Arbeitsraum saß auch Kapitonow. Mir war freilich klar, dass meine Frage positiv entschieden worden war – der Generalsekretär lädt niemanden wegen einer Absage zu sich. Aber welche Stadt man mir anbieten würde, das wusste ich nicht.

Breshnew, damals noch ein energischer und tatkräftiger Mann, sagte: »Setz dich … du warst sicher beunruhigt, weil wir dich so lange nicht gerufen haben? Das lag nicht an dir, mit dir ist alles klar, dich kennen wir … Dass es so lange gedauert hat, lag an Martschenko, wir haben lange nach einem Platz für ihn gesucht. Also, dich zieht es nach Sibirien? Ja, wir haben uns das durch den Kopf gehen lassen und wollen dich nach Tomsk schicken. Was hältst du davon?«

Dass ich nach Sibirien geschickt werden sollte – das war einfach Glück! Tomsk aber löste bei mir keine besondere Freude aus. Ich wusste, dass das Gebiet Tomsk zurückgeblieben war und »weitab vom Schuss« lag. Der damalige Sekretär des Gebietsparteikomitees hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als nach Moskau zurückbeordert zu werden. Dementsprechend war auch der Gang der Dinge im Gebiet. All diese Gedanken behielt ich aber für mich und gab sofort mein Einverständnis.

Kaum dass ich Breshnews Kabinett verlassen hatte, erschien mir diese Entscheidung gar nicht so schlecht, jedenfalls konnte man in diesem sibirischen Gebiet nach Herzenslust arbeiten und beweisen, was in einem steckte.

Heute kann ich mit dem Abstand der Jahre sagen, dass die Zeit in Tomsk die interessanteste und beste meines Lebens war. Schwere Tage gab es viele, doch zur Last fiel mir keiner.

Das war keine Zeit der »Stagnation«, wie es oft demagogisch behauptet wird, sondern eine Epoche des schöpferischen sozialistischen Aufbaus. In dieser Zeit wurde der westsibirische petrochemische Komplex mit einer Fördermenge von über 300 Millionen Jahrestonnen Erdöl geschaffen, auf den sich heute das bourgeoise Russland stützt. Ich bin stolz, dass ich an der Errichtung dieses Komplexes fast zwanzig Jahre lang unmittelbar beteiligt war. Hier wurden über zwanzig Städte errichtet – und ich spreche nur von Westsibirien. Heute hingegen gibt es keine einzige neue Ortschaft, während zehntausende Dörfer und Städte heruntergekommen sind.

Das Leben hat mich in diesen Jahren mit wunderbaren Mensch zusammengebracht! Das war wohl das Wichtigste, denn ohne einen echten Zusammenhalt bleibt das Dasein des Menschen leer. Als ich 1983 nach Moskau flog und mich auf dem Tomsker Flughafen von den Mitgliedern des Büros des Gebietsparteikomitees verabschiedete, sagte ich zu ihnen: »Ja, siebzehn Jahre – das waren nicht nur siebzehn Augenblicke des Frühlings5 …«

An jenem Morgen, als ich aus dem Munde von Gorbatschow die unerwartete Nachricht hörte, erinnerte ich mich sogleich an die Ereignisse von 1964/1965, als Iwan Kapitonow ins ZK kam. Definitiv wurde mir jetzt klar: In der Partei beginnt tatsächlich eine neue Etappe – die Auswechselung des Leiters der Organisationsabteilung bewies das ohne jeden Zweifel. Und dann dachte ich noch: Die Fügungen des Schicksals sind eigenartig – als ich vor siebzehn Jahren aus dem Verantwortungsbereich Kapitonows nach Sibirien ging, konnte ich damals ahnen, dass man mich als seinen Nachfolger ausersehen würde? Kapitonow war, das sei angemerkt, ein Mensch von anständigem und ehrlichem Charakter, die Frage stand aber objektiv so: Unabhängig von seinen persönlichen Qualitäten musste ein Mann, der bei Breshnew die Kaderfragen in der Hand hatte, bei Andropow seinen Posten abgeben. Das verstand sich von selbst.

Mittlerweile hatte Gorbatschow den Hörer des Kreml-Telefons abgenommen, durch das die Politbüromitglieder mit dem Generalsekretär verbunden waren.

»Juri Wladimirowitsch, bei mir ist Ligatschow. Wann könnten Sie ihn empfangen? … Gut, ich sage es ihm.« Als er den Hörer aufgelegt hatte, sagte er ermunternd:

»Er empfängt dich gleich jetzt. Du kannst gehen. Nun, Jegor, Erfolg!«

Ich stieg in die vierte Etage hinauf und ging ins Zimmer 6, wo nach alter Tradition die Generalsekretäre arbeiteten. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits zweiundsechzig Jahre alt. Ich hatte einen Lebensweg hinter mir, in dem es genügend dramatische Momente gegeben hatte. Und über die Jahrzehnte hatte ich auch einiges an politischer Erfahrung gesammelt. Das Gebiet Tomsk hatte sich »gemausert«, war zu eigenständiger Größe herangewachsen. Alles in allem wusste ich, was ich wert war. Aber ich hatte nicht die geringsten Karriereabsichten – das war meine Stärke. Ja, an was für eine Karriere war mit zweiundsechzig auch zu denken? Der mögliche neue Ruf nach Moskau versetzte mich also nicht in besondere Verzückung. Physisch fühlte ich mich jedoch dank meiner gesunden Lebensweise bestens und war bereit, auch weiterhin Probleme aller Art bei den Hörnern zu packen.

Mir sind Lew Tolstois Gedanken sehr nahe, der geschrieben hatte, dass der Mensch auf dem Gipfel der Jahre seine persönlichen Ambitionen hinter sich lässt und die Möglichkeit erlangt, sich voll auf seine staatsbürgerlichen Empfindungen, auf den Dienst für sein Vaterland zu konzentrieren. Tolstoi brachte diesen innerlichen Umschwung zwar mit dem Alter von fünfzig in Verbindung, seit damals ist aber viel Zeit verflossen und die Altersgrenzen haben sich mittlerweile verschoben. Dennoch gilt, dass auf der Machtebene Führungspersönlichkeiten unterschiedlichen Alters zusammengebracht werden müssen. Gesunden Ehrgeizes, wie er jüngeren Leute eigen ist, bedarf es in einer Führungsgruppe genau so wie Erfahrung und Umsicht, die man mit dem Alter erlangt.

Als man die Breshnew-Zeit später als Jahre der Stagnation betitelte, war ich mit dieser Definition nur teilweise einverstanden. Ja, im Führungskern der Partei hatte sich ganz offensichtlich ein Übergewicht an Politikern fortgeschrittenen Alters herausgebildet, die keine Perspektive mehr hatten und nur darum besorgt waren, die Macht in ihren Händen zu behalten. Betrachtet man aber unser Land mit seinen unermesslichen Weiten insgesamt, so war das Bild nicht generell so.

In diesen Jahren wurden im Osten des Landes mächtige volkswirtschaftliche Komplexe geschaffen, unter ihnen der westsibirische Erdöl-Erdgas-Petrochemie-Komplex von internationalem Rang. Im europäischen Teil des Landes wurden das »AvtoVAZ«-Automobilwerk6, das »KamAZ«-Lkw-Werk und andere Bauobjekte errichtet. In den sechziger und siebziger Jahren wuchs das Nationaleinkommen um das Vierfache, der neugeschaffene Wohnraum um mehr als das Dreifache. Zudem konnte die militärstrategische Parität der UdSSR mit den USA hergestellt werden. Dank der Anstrengungen vieler Menschen bewegte sich das Land weiter voran, wobei in den letzten Jahren der Breshnew-Führung das Tempo des Wirtschaftswachstums merklich abfiel, Machtmissbrauch um sich griff, die Disziplin zurückging und ganze Bereich im Land außerhalb von Kritik standen. In bestimmten Regionen und Sphären stand die Stagnation tatsächlich in Blüte (wenn sich diese Begriffe so überhaupt paaren lassen), anderswo ging die Entwicklung aber voran. Ich bin ein Gegner dieser generellen, verallgemeinernden politischen Etikettierungen, die auch heute noch fest in den Köpfen sitzen. Alle Erscheinungen des Lebens von früher mit einem einzigen Schlagwort charakterisieren zu wollen – das ist nichts als eine Masche. So etwas hatten wir doch schon einmal durchlebt – »Kosmopolitismus«, »Voluntarismus« … »Stagnation« ist ein Terminus aus dem gleichen staatsanwaltlichen Vokabular.

Ich schreibe das vor dem Hintergrund, dass 1983, als Andropow Generalsekretär wurde, ich und viele andere Sekretäre der Gebietsparteikomitees ungeduldig Veränderungen erwarteten, denn wir sahen, dass das Land in eine sozialökonomische Sackgasse geraten war. Nun galt es, sich für das Neue einzubringen und unser Land mit aller Kraft zurück auf die Magistrale zu bringen. Darin, dass unter Andropow, einem klugen Mann von leider schwacher Gesundheit, das politische Gewicht des jungen und energischen Gorbatschow schnell zu steigen begann, sah ich ein gutes Vorzeichen. Und als mir in Andropows und Gorbatschows Plänen eine bestimmte Rolle zugedacht wurde – eine sichtbare, aber gleichwohl nur eine Hilfsfunktion, eine Arbeitsaufgabe und keineswegs eine Führungsrolle –, da war ich ohne Schwanken bereit, diese zu übernehmen. Der Kaderwechsel entsprach insgesamt durchaus meinen Auffassungen. Mich wollten sie in jenem Bereich einsetzen, in dem es um die praktische Umsetzung dieser Aufgabe ging – es muss sein, also packen wir es an! Andere Erwägungen hatte ich damals keine. Angesichts meines Alters ging ich davon aus, dass die mir angebotene Aufgabe die letzte in meinem Leben sein würde, und stellte mich darauf ein, das Rad dabei ordentlich in Schwung zu bringen, wie es bei uns heißt: »den guten Menschen zum Wohle, den Teufeln eingeheizt«.

So eingestimmt, betrat ich das Kabinett Andropows, der mich ebenfalls ohne Aufschub zu sich hereinkommen ließ. Er fragte sofort: »Gorbatschow hat mit Ihnen gesprochen?«

»Ja.«

»Ich werde dem Politbüro den Vorschlag unterbreiten, dass Sie zum Leiter der Organisationsabteilung ernannt werden. Was sagen Sie dazu? Wir haben Sie gründlich geprüft …«

Überflüssige Fragen zu stellen war nicht angebracht. Ich antwortete kurz: »Ich bin einverstanden. Danke für das Vertrauen.«

»Dann werden wir heute auf der Politbürositzung um elf über Ihre Ernennung abstimmen.«

»Gleich heute?«, entfuhr es mir ganz ungewollt. Ein solches Tempo hatte ich nun doch nicht erwartet.

»Worauf sollen wir noch warten? Wir müssen die Dinge anpacken.« Das ganze Gespräch dauerte etwa zehn Minuten. Als ich Andropows Kabinett verließ, schaute ich auf die Uhr. Da die Sitzungen üblicherweise mit Kaderfragen anfingen, durfte ich mich nicht verspäten. Um zu Gorbatschow zu gehen und ihm vom Gespräch mit Andropow zu berichten, blieb keine Zeit, zumal er sicher schon losgefahren war. Die Mitglieder des Politbüros versammelten sich immer vor dem Eintreffen des Generalsekretärs im »Nussbaum-Kabinett«.

Ich stieg die Treppe hinab, ging hinaus auf den Alten Platz7 und lief schnellen Schrittes durch die Kuibyschew-Straße in Richtung Kreml.

1Parteikomitee (oft auch nur Komitee): Leitung der KPdSU auf zentraler oder lokaler Ebene (Union, Republik, Gebiet, Region, Stadt, Rayon, Betrieb u.a.).

2Die Anrede mit Vor- und Vatersnamen gilt in Russland als die höfliche Anrede, die Anrede mit Vornamen als die vertrauliche Anrede unter Bekannten und Freunden.

3Rayon (russ.): hier Bezirk einer Stadt, ansonsten auch Kreis eines Gebiets.

4Fußnote von Ligatschow: Streng genommen war Breshnew zu jener Zeit Erster Sekretär des ZK der KPdSU. Der Einfachheit halber bezeichne ich seine Funktion aber so, wie es dann später üblich war.

5Wortspiel mit dem Titel des populären mehrteiligen Fernsehfilms »Siebzehn Augenblicke des Frühlings« (1973), nach dem gleichnamigen Roman von Julian Semjonow.

6Hersteller der Pkw vom Typ »Lada« und »Niwa«.

7 Der Platz, an dem sich die ZK-Gebäude befanden. Russ.: Staraja ploshchad´.

Das Jahr Andropows

Die Sitzungen des Politbüros fanden in der zweiten Etage eines historischen Gebäudes im Kreml statt, einem Raum mit hohen Decken und hohen Fenstern, durch die man auf die Kremlmauer blicken konnte, gleich nebenan lagen der Rote Platz und das Lenin-Mausoleum. Im Innern hatte dieser Teil des Regierungsgebäudes erhebliche Umgestaltungen durchgemacht, die Räume waren modern ausgestattet und alle erforderlichen Kommunikationskanäle vorhanden. Hier befand sich aber nicht nur der Sitzungssaal des Politbüros, sondern auch das Kreml-Kabinett des Generalsekretärs und dessen Büro. Und außerdem gab es das sogenannte »Nussbaum-Kabinett« mit einem großen runden Tisch, an dem sich die Mitglieder der obersten politischen Führung vor Sitzungsbeginn austauschten. Bisweilen wurden an diesem runden Tisch vorab, quasi inoffiziell – ohne Stenogramm und Protokoll –, wichtige und komplizierte Fragen der Tagesordnung diskutiert. Es versteht sich, dass an den Sitzungen auch die Kandidaten des Politbüros und die Sekretäre des ZK teilnahmen. Sie kamen aber direkt in den langgestreckten Saal und setzten sich gleich an den langen Tisch, wo jeder seinen ständigen Platz hatte (wenn dies auch nicht offiziell ausgewiesen war). Gäste wurden an den kleinen Tischen platziert, die längs der Wände standen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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