West-Berlin - Elke Kimmel - E-Book

West-Berlin E-Book

Elke Kimmel

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Beschreibung

Spione und Musiker, Hausbesetzer und Bürgerliche, Politiker und Gastarbeiter – die Mischung machte West-Berlin aus. Was war das Besondere an der Stadt? Warum ist sie für viele immer noch ein Sehnsuchtsort? Elke Kimmel beschreibt, wie verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten West-Berlin erlebten, wie sie sich zurechtfanden oder scheiterten und einander begegneten. So entsteht eine faszinierende Alltags- und Kulturgeschichte der verschwundenen Halbstadt: von der Luftbrücke über den Mauerbau und die Flächensanierung bis hin zur Grenzöffnung im November 1989.

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Seitenzahl: 325

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Elke Kimmel

WEST-BERLIN

Biografie einerHalbstadt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, August 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom August 2018

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Fotos von Herbert Maschke:

Café Kranzler und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Kurfürstendamm, um 1963

Lektorat: Jana Fröbel, Ch. Links Verlag

eISBN 978-3-86284-427-2

Inhalt

Über den Mythos West-Berlins. Prolog

Eine Insel · Und die Insulaner ·Freiheit und Freiheiten · Anfang undEnde · Der Bindestrich ·Was dieses Buch nicht will

Fehlstart ins Wirtschaftswunder. 1946 bis 1961

Die Entstehungszeit West-Berlins; vom Alltag einer Trümmerfrau, vom schwierigen Anfang eines Flüchtlings aus der DDR und aus der Biografie des Doppelagenten Heinz Gläske

Überleben · Arbeit in Ruinen ·Neuanfang 1949 · »Vorposten der freienWelt« · Ein Bauer in der Stadt ·Die Feinde sind unter uns ·Auf verlorenem Posten?

Nach dem Mauerbau. 1961 bis 1967/68

Die Reaktionen auf die Teilung der Stadt; Ausschnitte aus dem Leben des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt, wie ein junger Mann das SED-Regime bekämpfte und Einblicke in den Alltag des türkischen Gastarbeiters Hasan K.

Sonntag, 13. August 1961 · Wege von Westnach Ost · Der »Regierende« ·Illegal von Ost nach West · Leben mitder Mauer · Neu-West-Berliner

Hauptstadt der Unzufriedenen. 1968 bis 1975

Wie sich die West-Berliner in der Halbstadt auf Dauer einrichteten und wie einige von ihnen die entstehenden Freiräume nutzten; Inge Viett wurde in West-Berlin Terroristin, Volker Ludwig entwickelte eine neue Art von Jugendtheater, und Erich L. pendelte täglich zur Arbeit nach West-Berlin

Unruhige Jugend · Der Polizeistaatsbesuch ·Ostern 1968 · Ein Wegin den Untergrund · Revolution inden Kinderzimmern · Gebaute Albträume ·Anlaufstellen des Ostens

Die bleierne Zeit. 1975 bis 1986

Jahre, in denen erst mal nichts zu passieren schien und in denen sich doch alles änderte; Einblicke in das Leben des Fernsehmoderators Hans Rosenthal, in die Drogenkarriere von Christiane F. und in die bewegte Existenz des Schriftstellers Klaus Schlesinger zwischen Ost- und West-Berlin

Selbsthilfe · The show must go on ·Von der »Filzokratie« in den Bausumpf ·Zuwanderermilieus · Grenzgänger · Unter die Räder gekommen ·Der berühmteste Berlin-Gast

Die letzten Tage West-Berlins. 1987 bis 1990

Beide Stadthälften feierten 750 Jahre Berlin, West-Berlin wurde Kulturhauptstadt und war ab 1990 keine Insel mehr; die Karriere der Sozialpolitikerin Ingrid Stahmer, der Weg einer Friedrichshainerin über Ungarn nach Neukölln und Erlebnisse eines Studenten in West-Berlin

Eklat am Kurfürstendamm · Vom Landin die Mauerstadt · Der unaufhaltsameAufstieg der Alternativen · Ausnahmezustände · Von Charlottenburg nachSchöneberg · Über Ungarn nach Neukölln · Stippvisiten in West-Berlin ·Nach dem Rausch

West-Berlin – nur ein Rückblick? Epilog

West-Berlin in der Nische · Was istgeblieben von West-Berlin? · Weder armnoch sexy · Die letzten West-Berliner

Anhang

Anmerkungen · Eine ChronikWest-Berlins · Personenregister ·Bildnachweis · Dank ·Über die Autorin

Über den Mythos West-Berlins

Prolog

Was genau macht West-Berlin besonders, warum gibt es immer noch viele, die der Halbstadt nachtrauern? Selbst wenn man berücksichtigt, dass wie bei anderen untergegangenen Sehnsuchtsorten viele der eigenen Vergangenheit, dem jüngeren und leichteren Ich nachhängen und dass der leicht goldige Schimmer selbstverständlich auch einer Eintrübung durch eine älter werdende Alt-West-Berliner Gesellschaft zu verdanken ist, bleibt möglicherweise ein Rest, der sich durchaus rational erklären lässt.

Eine Insel

West-Berlin war seit 1948/49 eine Insel, zwar eine mit vielfachen und sehr verschiedenartigen Verbindungen ins Umland, aber dennoch eine Exklave der Bundesrepublik inmitten der Deutschen Demokratischen Republik. Straßen, Flüsse, Brücken, Fernbahn-, U-Bahn- und S-Bahn-Linien verbanden die Insel mit Ost-Berlin, Potsdam und Brandenburg, fast jeder hatte Verwandte oder Freunde auf der anderen Seite der zunächst kaum störenden Grenze. Und nicht wenige arbeiteten in Treptow oder Schöneweide, wohnten aber in Tempelhof oder Wedding – oder umgekehrt. Mit anderen Worten: West-Berlin war weniger eine richtige Insel als eine Hallig: Bei schönem Wetter und Ebbe erreichbar und gut angebunden, bei Sturm waren seine Bewohner von der Welt abgeschnitten und fühlten sich mitunter von allen verlassen. Was für die Inselbewohner in der Nordsee die Naturgewalten, war für den West-Berliner das Auf und Ab der jeweiligen politischen Großwetterlage, die es genau zu beobachten und der es sich anzupassen galt. Gemeinsam ist den Halligen Hooge, Langeneß, Oland und West-Berlin außerdem, dass sich unter den sehr spezifischen Bedingungen auch sehr spezielle Charaktere herausbildeten.

Hinzu kam, dass West-Berlin nicht nur geografisch weit entfernt von den westdeutschen Großstädten Hamburg, Köln, Frankfurt am Main und München war. Noch weiter war der Weg in die Hauptstadt Bonn am anderen Ende der Republik. West-Berlin und seine Bewohner waren darüber hinaus durch eine grundsätzlich andere Mentalität geprägt als die Menschen im Süden und Westen der Bundesrepublik. Während Berlin (und Preußen) historisch nach Osten geguckt, enge Verbindungen zu den östlichen Nachbarn unterhalten hatte und beispielsweise die typischen Zuwanderer in die Reichshauptstadt aus Schlesien stammten, orientierte sich der Rest der Republik entweder nach Skandinavien (wie etwa Schleswig-Holstein), in Richtung England (wie die Hamburger), nach Belgien und den Niederlanden (wie die Region zwischen Köln und Aachen), nach Italien und Österreich (wie Bayern) oder Frankreich (insbesondere Baden und das Saarland). Was östlich der Elbe geschah, interessierte häufig nicht.

Geografisch hatte das Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Verlust der deutschen Ostgebiete für Berlin gravierende Folgen – die ehemalige Reichshauptstadt war aus dem Zentrum Deutschlands in eine Randlage geraten. In den ersten Jahren nach dem Krieg kamen noch Tausende aus den ehemaligen Ostgebieten und aus der sowjetisch besetzten Zone beziehungsweise der DDR nach West-Berlin, mit dem Mauerbau 1961 aber ließ die Migration aus dem Osten stark nach und kam bis zum Ende der deutschen Teilung zumindest zeitweise fast zum Erliegen. Die mit der Politik Willy Brandts verbundene Zuwanderung von (Spät-) Aussiedlern aus Polen und der Sowjetunion sowie von sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlingen ebenfalls aus der UdSSR unterstreicht diesen Befund. Seit den 1960er-Jahren kamen die Neu-(West-)Berliner aus Schwaben, Westfalen und Niedersachsen – zumindest was die Migration aus Deutschland anbelangte. In West-Berlin trafen die sehr verschiedenen Mentalitäten ungebremst aufeinander.

Selbst wenn die offizielle Propaganda jede Zuwanderung begrüßte, schließlich galt West-Berlin als überalterte und sterbende Stadt, gab es durchaus Vorbehalte gegenüber der einen oder anderen Gruppe, etwa den Türken. Die Aufnahme der verschiedenen Migranten veränderte – das wird ein Thema des vorliegenden Buches sein – die Halbstadt erheblich: West-Berlin war eben nicht die gleichsam unvollständige Fortsetzung Groß-Berlins (ebenso wenig wie Ost-Berlin dies war), mit der Integration der verschiedenen Zuwanderergruppen entwickelte es einen spezifischen Charakter. Einen Charakter, der mit dem Ende West-Berlins seinerseits wieder in Auflösung begriffen und nur noch an wenigen Ecken aufblitzt und eher schemenhaft erkennbar ist.

Nun hatten andere Städte sicher größere Zuwanderungsraten als West-Berlin, das tatsächlich bis Mitte der 1980er Jahr um Jahr weniger Einwohner zählte. Aber dadurch, dass die Halbstadt nur einen geringen Austausch mit dem Umland hatte, entstand hier ein einzigartiges Biotop. Einzigartig deshalb, weil viele junge Menschen gerade wegen der Randlage hierherkamen – und es waren nicht nur diejenigen, die den Wehrdienst dadurch elegant umgingen. Trotz der Mauer – oder gerade wegen ihr – war West-Berlin in vielem freier als »Westdeutschland«. Es gab hier eine vergleichsweise breite Avantgarde, die sich im Schatten der Mauer Freiräume erkämpfte. Ironischerweise wurden jene Freiräume ausgerechnet von den »Spießern« finanziert, die so mancher Lebenskünstler abgrundtief verachtete. Denn West-Berlin, seine Infrastruktur und seine Bevölkerung wurden mit Milliarden D-Mark Steuermitteln aus Bonn subventioniert.

Auch wenn West-Berlin keine echte Insel war, vermieden es die meisten, außerhalb von Urlaubsreisen einen Fuß ins Umland zu setzen – eine Ausnahme waren allenfalls jene, die Ostverwandtschaft hatten. Ansonsten beschränkten sich die »Kontakte« auf den Grenzübertritt bei Dreilinden und die Fahrt über die Transitautobahn ins Bundesgebiet. Wer es sich leisten konnte, ersparte sich diesen Weg und schaute sich die DDR aus der Vogelperspektive an. Die West-Berliner blickten nur selten über die Mauer, meist standen sie mit dem Rücken zu ihr, was Konzentration und Enge erhöhte: In West-Berlin konnte man sich kaum aus dem Weg gehen. So entstand dank der räumlichen Beschränktheit aus den verschiedenen Zutaten auch etwas Neues, indem nämlich Milieus, die ansonsten ungestört und unbeeinflusst voneinander nebeneinander leben konnten, aufeinandertrafen und aneinandergerieten. Insofern lautet die banale Aussage an dieser Stelle: West-Berlin wurde besonders durch die außerordentlich verschiedenen Menschen, die hier lebten.

Und die Insulaner

Weniger banal ist es, diese Milieus zu beschreiben, ihre jeweiligen Besonderheiten und die Konfliktlinien zu anderen Lebenswelten herauszuarbeiten. Dies vor dem Hintergrund der historischen Situation zu leisten, ist eine der Aufgaben, die sich die Autorin dieses Buches gestellt hat. Dabei bestanden die Schwierigkeiten weniger darin, Informationen aus dem untergegangenen West-Berlin zu bekommen, als darin, Wichtiges und Interessantes von weniger Relevantem zu trennen. Überdies geht es weniger darum, historische Persönlichkeiten vorzustellen. Der Mythos der Halbstadt verdankt sich nicht nur oder ganz besonders den jeweiligen »Regierenden« und ganz sicher nicht historischen Großereignissen, sondern einer spezifischen Gemengelage.

Dazu gehört, dass es in West-Berlin eben alles und alle gab: wildes Partyvolk, für das die Feier erst richtig begann, wenn andere sich mehr oder weniger mühsam aus dem Bett quälten (wie etwa im »Einbeinigen Homo« an der Mittenwalder Straße), und Berliner Originale wie den »Fernsehdoktor« Günter Pfitzmann, der im noblen Zehlendorf von einigen Kindern gefürchtet wurde, weil er notfalls sehr lautstark die Einhaltung der Mittagsruhe forderte; gehorsame Genossen aus Ost-Berlin, die in den Besucherbüros Anträge von eingeschüchterten, arroganten und zuweilen einfach nur genervten West-Berlinern entgegennahmen und ihrem obersten Dienstherrn Erich Mielke über die Zusammenarbeit mit den West-Kollegen berichteten, und Theaterleute wie Volker Ludwig, denen bloße Unterhaltung ebenso wie die Erziehung »artiger« Kinder zu wenig war; Trümmerfrauen, die mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, und den Entertainer Hans Rosenthal, der mit »Dalli Dalli« Fernsehgeschichte schrieb; Frauen, deren Gerechtigkeitssinn jedes Maß verlor und die letztlich bereit waren, über Leichen zu gehen, wie die RAF-Terroristin Inge Viett, ebenso wie korrupte (Lokal-)Politiker, die augenscheinlich von vornherein nur ihr eigenes Wohlergehen im Sinn hatten; Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR, die sich hier ihren Verwandten ungeachtet der Mauer am nächsten fühlten, und Spitzel, für die die Nähe zum Osten Voraussetzung ihres Handelns war; eine jugendliche Drogensüchtige wie Christiane F., die die Mauerstadt hinter sich lassen musste, um clean zu werden, und einen Künstler wie David Bowie, der hier ein neues Leben anfing; Studenten, die sich dem Wehrdienst entzogen und West-Berlin auch deshalb toll fanden, weil es so weit weg von allem war, was ihnen spießig erschien, und junge Frauen, die der geistigen Enge der DDR entkommen wollten; Türken, die für ihre Familien daheim schufteten. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Wichtig ist, dass sie alle in West-Berlin ihr Zuhause fanden, dass West-Berlin in diesen Jahren der einzige Ort war, an dem sich erbitterte Antikommunisten ebenso heimisch fühlten wie unbeugsame Stalinisten und autonome Linke, und dass sich die verschiedenen Gruppen in einer Weise gegenseitig beeinflussten und teils auch radikalisierten, die einzigartig in Deutschland war.

Freiheit und Freiheiten

Ein Punkt, an dem niemand vorbeikommt, der sich mit West-Berlin befasst, ist die Bedeutung des Begriffs Freiheit für die Stadt und ihre Bewohner.1 Was genau darunter zu verstehen war, darüber gingen die Meinungen in den verschiedenen Milieus weit auseinander, ganz zu schweigen davon, dass man sich im Bundesgebiet kaum vorstellen konnte, dass man sich in der Mauerstadt nicht rund um die Uhr eingesperrt und unfrei fühlte. Praktisch mit der Geburtsstunde West-Berlins als »freier Stadt« verbunden war die Verknüpfung von Freiheit mit Antikommunismus, sie war insofern die in diesem Kontext älteste Interpretation und behauptete sich in einigen Kreisen bis zum Fall der Mauer (und sogar darüber hinaus). In diesem Geist entstand der Sender Freies Berlin (SFB) und wurde die Freiheitsglocke im Rathaus Schöneberg installiert. Die Freiheit implizierte häufig auch eine Kontrolle nach innen – in die freie Gemeinschaft West-Berlins hinein, wo linke (egal, ob linksliberal, -radikal oder -autonom) Bewegungen und Gruppierungen stets mit großer Skepsis betrachtet und nicht selten grob bekämpft wurden. Dass sich aber vielfach junge Menschen hier einfanden, um ihrerseits frei von den Gängelungen der spießbürgerlichen Gesellschaft der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre zu sein, belegt, dass diese Kontrolle meist scheiterte. Auch die Befreiung von der in der Bundesrepublik 1956 gesetzlich verankerten Wehrpflicht machte die eingemauerte Stadt attraktiv für junge Zuzügler. Eine besondere Dynamik entstand daraus, dass die verschiedenen Definitionen und Vorstellungen von Freiheit in West-Berlin unvermittelt aufeinandertrafen – diese Prozesse sollen im vorliegenden Buch geschildert werden.

Anfang und Ende

Neben dem Was gilt es, die Frage nach dem Wann anzusprechen: Wann begann West-Berlin West-Berlin zu sein? Zumindest als Arbeitshypothese ist als Ausgangspunkt der Beginn der Berlin-Blockade im Juni 1948 brauchbar – auch wenn das heißt, dass West-Berlin nicht aus sich selbst heraus entstand, sondern eigentlich ein Geschöpf der Sowjetunion war. Ob sich tatsächlich schon in diesen Monaten der Abriegelung ein eigenständiges West-Berlin-Bewusstsein entwickelte, wird zu prüfen sein, aber in diesem Zeitraum waren die Bewohner der Westsektoren erstmals aufgefordert, sich gegen die politische Führung der Nachbarn im sowjetischen Sektor zu positionieren.

Offiziell hörte West-Berlin mit dem 3. Oktober 1990, spätestens aber mit den ersten gemeinsamen Wahlen zum Abgeordnetenhaus zwei Monate später, auf zu existieren. Inoffiziell gibt es immer noch vieles in Berlin, das »typisch West-Berlin« ist – Institutionen wie das Traditionslokal »Leydicke« in Schöneberg, wie der Feinkostladen »Rogacki« in der Wilmersdorfer Straße oder der Konkurrent »Lindner«. Dennoch sind viele vergleichbare Institutionen in den letzten Jahren verschwunden: angefangen beim Kinosterben am Kurfürstendamm – vom »Gloria« bis zum »Royal-Palast« haben viele Filmbühnen aufgeben müssen – über die Lebensmittelläden »Bolle«, »Meyer« und »Kaiser’s«, bis hin zu der Bebauung rund um die Gedächtniskirche, die mit dem »Bikini Berlin« aufgehübscht wurde. Während sich das legendäre »Schwarze Café« und die Autonomenkneipe »Syndikat« in der Weisestraße bis heute behaupten können, musste das Kreuzberger »Enzian« des West-Berlin-Originals Norbert Hähnel 2007 schließen. Neben den Einrichtungen sterben die »echten« West-Berliner aus: Harald Juhnke, Günter Pfitzmann, Edith Hancke und Brigitte Mira sind tot, einzig der Stadionbarde Frank Zander hält nach wie vor die Stellung. Um andere, wie die Protagonisten der linksalternativen Avantgarde, ist es still geworden. Somit scheint die Überlegung gerechtfertigt, dass West-Berliner zu sein ein generationelles Phänomen ist.

Der Bindestrich

Bleibt noch die Frage nach der »richtigen« Schreibweise: Ob es nun West-Berlin, Westberlin oder Berlin (West) heißt, darüber sind viele hitzige Debatten geführt worden.2 Wer Westberlin schreibe, unterstütze die Politik der SED und der Sowjetunion, die behaupteten, die Mauerstadt sei eine selbständige politische Einheit und als solche vollständig, was schon deshalb lächerlich war und ist, weil es wohl keine andere Stadt in der Bundesrepublik gab, die so sehr am Tropf des Bundes hing. Nichtsdestotrotz war die Schreibweise ohne Bindestrich weit verbreitet, nicht nur in linken oder SED-hörigen Kreisen, denn man konnte sie auch als rein geografische Beschreibung ansehen. Bis in die 1960er-Jahre hinein benutzte sie selbst der Tagesspiegel.3 Auch die dem Duden folgende Rechtschreibung fordert die Zusammenschreibung.

Dennoch hat sich die Schreibweise mit Bindestrich durchgesetzt: Einerseits bildet sie das Nicht-Vollständige, die Halbheit der Mauerstadt, besser ab und erinnert daran, dass es auf der anderen Seite Ost-Berlin gab. Andererseits war diese Schreibweise in der Zeit, von der dieses Buch handelt, üblich und gab dem Sonderbewusstsein und dem Selbstbehauptungswillen derer, die hier lebten, einen präzisen Ausdruck: Bindestrich-Städte gibt es in Deutschland sonst nicht. Die dritte Schreibweise – Berlin (West) – war zwar im allgemeinen Schriftgebrauch kaum üblich, entsprach aber als einzige ab Mitte der 1960er-Jahre den offiziellen Vorgaben. Demzufolge taucht sie in allen amtlichen Schreiben auf.4 Ansonsten sieht man sie noch heute in Literaturverzeichnissen, um den Verlagsort eindeutig auszuweisen.

In diesem Buch wird ausschließlich die Bindestrich-Schreibweise verwendet. Dies scheint mir historisch angemessen und bringt den temporären Charakter der Halbstadt zum Ausdruck, die sich zwar großartig fand, aber immer ein bisschen großspurig auftrat, um mögliche Selbstzweifel von vornherein zu bekämpfen. Letztlich brauchte West-Berlin Ost-Berlin auch deshalb, weil sich der eigene Glanz besonders gut vor den grauen Fassaden des anderen Teils ausnahm: Die eigene »große Klappe« lebte von der Bescheidenheit der armen Verwandten »drüben« – selbst wenn diese im DDR-Vergleich wenig bescheiden waren. Erst der Blick über die Mauer bestätigte, dass man selbst es doch sehr gut getroffen hatte. Darüber hinaus hat sich diese Schreibweise seit 1990 eingebürgert, und es gibt keinen Grund, mit dieser Gewohnheit zu brechen.

Was dieses Buch nicht will

Ein Buch über West-Berlin zu schreiben ist nicht zuletzt deshalb eine Herausforderung, weil es schnell so aussehen könnte, als wolle man versuchen, das Rad neu zu erfinden. Das ist hier definitiv nicht beabsichtigt. Es gibt eine ganze Reihe von Büchern über West-Berlin, ja, es scheint fast so, als wenn mit wachsendem zeitlichen Abstand zum eigentlichen Ende der Halbstadt immer mehr Bücher erscheinen. Nicht zuletzt hat auch die große Schau des Berliner Stadtmuseums im Ephraim-Palais 2014/15 den Hype noch einmal angeheizt.5 So gibt es eine große Anzahl von Bildbänden, die in schönen 1950er-Jahre-Farben Charlottenburg zeigen, oder – dann in Schwarz-Weiß – Punks und Alternative in Berlin-Kreuzberg in den 1980ern. Nicht zu vergessen jene Bücher, die von farbenfroh-skurrilen Ansichten der Mauer leben. Einen Überblick über einige neuere Publikationen hat Hanno Hochmuth zusammengetragen.6 Immer stärker findet daneben die Subkultur Beachtung, wie etwa in dem 2016 veröffentlichten Band Die wilden Achtziger von Christian Schulz.7

Neben den Fotobänden ist an erster Stelle die umfangreiche Kulturgeschichte Die Insel von Wilfried Rott zu erwähnen.8 Zwar widmet sich Rott nicht ausschließlich der Kulturszene in der Halbstadt, legt aber sein Hauptaugenmerk auf die Aktivitäten in diesem Bereich. Einen ähnlichen Schwerpunkt hat der West-Berlin-Band von Olaf Leitner, der Interviews, Reportagen und Beobachtungen versammelt hat.9 Neben diesen Gesamtdarstellungen existiert eine fast unübersehbare Zahl von Bezirks- und Kiezgeschichten sowie Bücher, die sich mit einzelnen Straßenzügen oder gar Häusern befassen, teils eher textlastig und traditionellen Charakters sind wie die von der Historischen Kommission zu Berlin herausgegebenen Bände,10 teils reich bebildert wie die von den Bezirksmuseen herausgegebenen (Mikro-)Studien.11 Hinzu kommen Berlingeschichten, die auch, aber nicht ausschließlich die Jahre der Teilung beschreiben beziehungsweise auch Ost-Berlin behandeln.12 Ebenfalls zahlreich sind die Bücher, die sich mit Einzelaspekten wie der Jugend-, Alternativ- und Subkultur befassen.13 Und natürlich Erinnerungsliteratur: »Klassisch« sind hier die Bücher von Horst Bosetzky,14 gerade in den letzten Jahren aber sind viele Autorinnen hinzugekommen, die sich an ihre Jugend im West-Berlin der 1970er- und 1980er-Jahre erinnern.15

Alle diese Titel aufzuführen, würde mehrere Seiten füllen – zumal sie durch jene Autoren ergänzt werden müssten, die sich schon als Miterlebende und Zeitgenossen Gedanken über ihr Leben in West-Berlin gemacht haben, wie etwa Klaus Schlesinger16 und Michael Sontheimer,17 aber auch der Showmaster Hans Rosenthal.18

Dass es so viele Bücher über West-Berlin gibt, macht es mir letztlich einfach, Mut zur Lücke zu zeigen. Eine weitere vollständige Geschichte zu schreiben, ist weder notwendig noch besonders interessant. Stattdessen möchte ich beschreiben, wie verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten diese Stadt erlebten, wie sie sich zurechtfanden oder scheiterten und wie sie sich begegneten. Ich möchte erzählen, wie sich West-Berlin in den 1960er-Jahren anfühlte und wie in den 1980ern. Was Menschen besonders fanden und warum sie gegen bestimmte Erscheinungen protestierten. Warum sie sich trotz allem hier wohler fühlten als an jedem anderen Ort des Universums, oder warum sie zumindest glaubten, dass das so sei. Ich versuche zu erklären, warum West-Berlin für viele immer noch ein Sehnsuchtsort ist, dessen architektonische Abschaffung viele Menschen erbost oder traurig macht. Insofern ist dieses Buch auch eine Anregung dazu, den – noch – vielfältigen Spuren, die West-Berlin in Berlin hinterlassen hat, aufmerksamer zu begegnen und sie als das zu behandeln, was sie sind: Erinnerungen an eine Stadt, die es so (aller Wahrscheinlichkeit nach) nie wieder geben wird.

»Von Lenin soll der Ausspruch stammen: Wer Berlin hat, hat Deutschland, und Deutschland ist der Schlüssel für Europa. Die im Juni 1948 beginnende Blockade Berlins durch die Sowjetunion ist die erste Schlacht des Kalten Krieges – und endete mit einer Niederlage Stalins (…).«1

Egon Bahr, SPD-Politiker, 2015

»Die Blockade, das war eigentlich nur, daß der Russe die Grenzen abgesperrt hat, daß man nicht mit Sachen in die Westsektoren reinkommt. (…) Die Kontrollen waren stichprobenartig.«2

Harry Lange, West-Berliner, um 1987

Fehlstart ins Wirtschaftswunder

1946 bis 1961

Die »erste Schlacht des Kalten Krieges« war zugleich die erste Warnung, dass aus dem vorübergehenden Sonderstatus Berlins eine Dauereinrichtung werden könnte. Anders als die österreichische Hauptstadt Wien, die nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls in verschiedene Sektoren aufgeteilt wurde, blieb Berlin bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989 eine geteilte Stadt.

Berlin wurde Ende der 1940er-Jahre zu der Stadt, in der Ost und West am heftigsten aufeinanderprallten, zu der Stadt, in der sich der beginnende Kalte Krieg mitunter sehr heiß anfühlte. Die Konflikte, die zwischen den vier Siegermächten bei der gemeinsamen Verwaltung der Stadt aufbrachen, waren schon vor der Blockade spürbar, aber im Alltag waren die meisten Menschen mit anderen Problemen beschäftigt, die sich nicht immer unmittelbar auf Uneinigkeiten zwischen den Alliierten zurückführen ließen. Viele von ihnen wohnten unter teils erbärmlichen Bedingungen in Kellern, Bunkern und halb zerbombten Häusern, und es fehlte ihnen nicht nur an Essbarem: Auch gute (warme) Kleidung war Mangelware, von Heizmaterial ganz zu schweigen.

Hinzu kam die Ungewissheit darüber, ob geliebte Menschen noch lebten. Zudem trafen in Berlin viele heimatlos gewordene Vertriebene und Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten ein, Menschen, die mangels anderer Perspektive vorübergehend oder dauerhaft hier blieben. Auch zwei Jahre nach dem Krieg war hier alles knapp. Im extrem kalten und langen Winter 1946/47 erfroren zahlreiche Menschen in ihren »Wohnungen« – und viele Hunderte verloren die Hoffnung, dass sich ihre Lebensumstände irgendwann zum Besseren wenden würden. Die politische Lage machte sich für sie vor allem durch zusätzliche Hürden im Alltag bemerkbar, und sie belastete die Menschen durch die heraufziehende Kriegsgefahr.

Notunterkunft in einem ehemaligen Varieté: Besonders Alte und Kranke waren im Winter 1946/47 gefährdet und wurden vorsorglich in provisorischen »Heimen« untergebracht.

Schon Anfang 1948 hatten die Sowjets immer mal wieder die Muskeln spielen lassen, sie hatten die Zufahrtswege für die Alliierten versperrt oder den Strom abgestellt: untrügliche Zeichen dafür, dass sie den anderen Mächten den Aufenthalt in Berlin verleiden wollten. Letztlich war es die amerikanische Regierung, die klar signalisierte, dass sie die Westsektoren keineswegs räumen würde. Berlin schien im Kontext der Eindämmungspolitik des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman zu bedeutend, um aufgegeben zu werden. Die Westsektoren Berlin waren überdies eng verwoben mit dem Umland. Eine Abriegelung der Westsektoren Berlins vom Umland erschien den meisten Menschen schon deshalb katastrophal, weil die Versorgung über Lebensmittelmarken und Bezugsscheine allein niemanden satt machte – wer irgend konnte, versuchte seine letzte Habe bei brandenburgischen Bauern gegen Kartoffeln, Milch und Eier zu tauschen. Mittelbar lebten auch die, die nicht hinauskonnten, von diesen »Reisen«, denn viele Waren wechselten auf dem Schwarzmarkt den Besitzer. Auch Razzien und Kontrollen an den Bahnhöfen und den Umschlagplätzen unterdrückten den illegalen Handel nicht – weder in den Westsektoren noch im Ostsektor. Auf den Fotos von Schwarzmärkten und von mit »Hamsterern« überfüllten Zügen sind West- und Ost-Berliner nicht zu unterscheiden. Und auch in der Zeit der Blockade, also in den Tagen, in denen sich langsam ein spezifisches West-Berliner Bewusstsein herausbildete, das aus der Insellage resultierte, konnten (und mussten) die Menschen zum Hamstern ins Umland.

Nach dem erneut harten Winter 1947/48 gab es indes nicht nur bedrohliche Zeichen für die Zukunft: Die amerikanische Regierung kündigte einen europäischen Hilfsplan an, der Besserung versprach, und eine Währungsreform sollte die Wirtschaft ankurbeln. Was für die Westzonen vergleichsweise unproblematisch war – dort wurden ab dem 20. Juni 1948 an jeden Haushaltsvorstand 40 D-Mark ausgegeben –, sorgte in Berlin für neue Unsicherheit, weil unklar war, wo genau die neue Währung gelten sollte. Tatsächlich kam als Erstes am 23. Juni nicht die »Deutsche Mark« nach Berlin, sondern die von den Sowjets eingeführte »Klebe-« oder »Tapetenmark«. Nur einen Tag später wurde in den Westsektoren die West-Währungsreform durchgeführt, sodass dort nun zwei Währungen parallel galten. Auch in den Westsektoren gab es vorübergehend eine wundersame Vermehrung von Waren. Eine Wilmersdorferin erinnert sich: »Kaum durften wir in den Schaufenstern herrliche Würste und Käse bewundern, da waren sie auch schon wieder weg.«3 Ursache war die am selben Tag einsetzende Blockade durch die sowjetischen Streitkräfte. Niemand glaubte, dass es technische Probleme waren, die eine Reparatur sämtlicher Brücken auf den Transitstrecken durch die Sowjetzone erforderten, als die Zufahrtswege am 24. Juni 1948 gesperrt wurden. Es handelte sich um eine Machtdemonstration und die Durchführung der westlichen Währungsreform auch in den Westsektoren ein geeigneter Anlass für diese. Die sowjetische Besatzungsmacht wollte zeigen, dass sie die Kontrolle darüber besaß, wer und was nach Berlin gelangte.

Überleben

Was die Blockade bedeutete, beschrieb der Spiegel im Juli 1948: die Rückkehr zum Leben »wie in alten Zeiten, etwa wie 45«. Kerzenlicht (wenn überhaupt) statt Strom aus der Steckdose, tagsüber überfüllte U- und Straßenbahnen (von 18 bis 6 Uhr fuhren die öffentlichen Verkehrsmittel nicht) und viel zu wenig zu essen. Den Berlinern fehlte allerdings meist der Vergleich mit »normalen« Zuständen. Egon Bahr, den der Tagesspiegel 1948 nach Hamburg schickte, fiel erst angesichts der »hell erleuchteten Stadt« auf, wie dunkel West-Berlin war.4 Am besten ging es denen, die noch etwas zum Tauschen hatten: Sie konnten versuchen, im besser versorgten Ostteil oder im Umland »schwarz« Essbares zu ergattern. Mit etwas Glück wurden sie auf dem Rückweg nicht von den Volkspolizeistreifen erwischt, die diese Art des Einkaufs zu unterbinden suchten. Die westlichen Stellen akzeptierten das Hamstern ebenso wie sie nichts gegen Ost-Berliner unternahmen, die Lebensmittel über die Sektorengrenzen schmuggelten.5

Erst ab Dezember 1948 waren die Ost-West-Kontrollen annähernd so dicht, wie östliche und westliche Propaganda unisono behaupteten, dass kaum noch Waren durchkamen.6 Zwar gelangten mit der von den Alliierten, insbesondere den Amerikanern, organisierten Luftbrücke tonnenweise Lebensmittel, Kleidung und Maschinen, vor allem aber Öl und Kohle in die »belagerte« Stadt, aber auch die »Rosinenbomber« konnten den Grundbedarf nur teilweise decken.

Ganz anders verhielt es sich mit dem an sich legalen Bezug von Lebensmitteln im sowjetischen Sektor, der ab Ende Juli 1948 möglich war: Der sowjetische Stadtkommandant ermunterte die West-Berliner ausdrücklich dazu. Aber es machten nur relativ wenige Menschen von dem Angebot Gebrauch – nicht mehr als fünf Prozent der West-Berliner Bevölkerung –, obwohl dies doch ein leichter Weg gewesen zu sein scheint, zu auskömmlicheren Lebensmittelrationen zu gelangen.7 Die ostdeutschen Behörden hatten die Berliner Rationen sogar eigens zulasten derer in der sowjetischen Zone aufgestockt. Wo die individuelle Moral der »Insulaner« (so nannten sich manche in Anspielung auf das RIAS-Rundfunkkabarett) nicht reichte, wurde sie durch Aufrufe gestärkt oder in ungezählten Versammlungen unterstützt, die die Versorgung im sowjetischen Sektor als Verrat am freien Westen brandmarkten. Zusätzlich wurde derart illoyales Verhalten dadurch erschwert, dass die Ost- wie Westbehörden die jeweiligen Kartenempfänger registrierten und später gar eidesstaatliche Erklärungen verlangten, dass die Betreffenden nicht auch im Osten Rationen empfingen. Schlimmer noch: Der Druck, die »Rückkehrer« in das West-Berliner Kartensystem grundsätzlich abzuweisen, wuchs – wer sich wie »Herr Schimpf« und »Frau Schande« einmal für die »Kommunisten« entschieden hatte, sollte bestraft und ausgegrenzt werden. Auch bei der »Währungsergänzungsverordnung« vom 21. März 1949 wurden die angeblichen »Verräter« benachteiligt. Nicht einmal vor den Opfern der NS-Diktatur machten die Antikommunisten in den Ämtern Halt – ihre Bezüge wurden gekürzt beziehungsweise ihre Möglichkeiten zum Währungstausch Ost in West beschnitten.8 Dass vielen Menschen gar nichts anderes übrigblieb, als einen Weg zu suchen, der, wenn auch nicht legal oder moralisch einwandfrei, einigermaßen satt machte und warm hielt, steht auf einem anderen Blatt. »Das waren keine Helden, die wollten überleben, nichts weiter, haben mit allen Mitteln gearbeitet, geschoben, jeder auf seine Weise.«9

»Tag für Tag werden enorme Mengen bewirtschafteter Lebensmittel aus der Ostzone nach Berlin verschleppt. Die Landesregierung Brandenburg hat nunmehr beschlossen, gegen die Hamsterer und Schieber strengste Kontrollmaßnahmen anzuwenden«, lautete die Bildunterschrift des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes im Oktober 1948.

»Herr Schimpf« und »Frau Schande« werden als Feinde des wirtschaftlichen Wiederaufbaus im Westen diffamiert. Plakat um 1950

Auch Dora Rauh, die seit Ende 1946 wieder in Berlin lebte, gehörte zu denen, die um die nackte Existenz kämpften.10 Sie schuftet tagtäglich als Trümmerfrau in Charlottenburg, klopft Steine ab, schleppt Dutzende Eimer Schutt beiseite und schiebt viel zu viele Loren und hat doch zu wenig Geld, um davon zu leben. Mehr als einmal erlebt sie, wie ihre Kolleginnen in Ohnmacht fallen. Eine Frau, deren Arbeit Mann und Kinder ernähren muss, stirbt gar auf dem Trümmerfeld.

Es ist für sie keine Frage, sich im Juni 1948 auf dem Alexanderplatz in die Schlange derer einzureihen, die einen Teil ihrer Barschaft in Ost-»Klebemark« umtauschen wollen. Populär ist das nicht, und nur wenige West-Berlinerinnen haben den Mut, es offen zu tun. Aber die ausgemergelte Frau kann mit diesem (im Westen nutzlosen) Geld dringend benötigte Lebensmittel im Ostsektor kaufen. Sie stellt sich wenig später erneut an, dieses Mal geht es um die »Deutsche Mark«. Sich einmal satt zu essen, kann sie sich aber nur deshalb leisten, weil ihre findige Mitbewohnerin einen Tag lang am Bahnhof Zoologischer Garten – einem der Schauplätze des anhaltenden Schwarzmarktes – Ost- in Westgeld und zurück tauscht: 40 DM Gewinn sind das Ergebnis dieser Schiebergeschäfte, fast das Zehnfache von dem, was Dora Rauh an einem Tag verdient.

Andrang vor einer Wechselstube am Wittenbergplatz, 1948/49

Einziger Lichtblick in dieser Zeit ist, dass sie hier Ewald trifft, in den sie sich sofort verliebt. Die Freizeitvergnügen der beiden sind bescheiden: Mal fahren sie zum Tempelhofer Feld und schauen sich Starts und Landungen der »Rosinenbomber« an, mal gehen sie an der Havel spazieren. Baden ist wegen der Seuchengefahr verboten.11 Beide erleben die Rede Ernst Reuters vor dem Reichstag live: »Reuter schrie in die Menge, die Menge schrie und ich schrie: ganz Berlin war ein Schrei«, beschreibt sie die Kundgebung am 9. September 1948.12

Obwohl sie die Politik der Sowjets nicht gutheißt, kann sie nicht anders, als im Ostteil Lebensmittel zu kaufen. Die offiziellen Rationen sind zu dürftig, um die nun schwangere Frau bei Kräften zu halten. Ihr Freund findet zwar vorübergehend eine Anstellung an der Hochschule der Künste, wird aber schon bald entlassen, weil er sich angeblich kommunistisch betätigt hat. Wie auch Dora Rauh fällt es ihm schwer, sich widerspruchslos den häufig unreflektierten antikommunistischen Ansichten und Parolen anzupassen, die oft in dumpfem Hass auf »die Russen« aufgehen.

Beide wursteln sich mehr schlecht als recht durch und sind wie ihre Nachbarn erleichtert, als im Mai 1949 die Blockade aufgehoben wird. Die Geschäfte sind nun – wie in der Westzone – bestens gefüllt mit allem, was das Herz begehrt, doch für Dora und Ewald ist das Elend noch lange nicht zu Ende, zumal die Schwangerschaft mit einer Totgeburt endet. Die Arbeitslosigkeit in den Westsektoren bleibt hoch. Selbst um die harte Arbeit auf dem Bau muss Dora kämpfen. Erst als sie wegen der pazifistischen Haltung ihres Lebenspartners immer häufiger attackiert wird, kündigt sie. Beide arbeiten vorübergehend als West-Ost-Grenzgänger in Ost-Berlin, werden aber entlassen, weil sie ihr Zimmer in Halensee nicht aufgeben wollen. Noch 1953 halten sich die beiden mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.

Ebenfalls hart waren die Blockademonate für den Handwerker Max Baumann, dessen Geschichte der Spiegel im Juli 1948 erzählte:13 Der »tüchtige Handwerker« hat seinen Arbeitsplatz in einer Tempelhofer Werkzeugfabrik verloren, die durch die Blockade weder Strom noch Kohle noch Grundstoffe hat, um die Produktion fortzusetzen. Seinen letzten Lohn kassiert die Volkspolizei, die ihn in einer der unter Ost-Berlin durchfahrenden U-Bahnen kontrolliert hat: Selbst »im Untergrund« ist das Mitführen von Westmark verboten. Die Baumanns, ein Ehepaar um die fünfzig mit einem kriegsversehrten Sohn, Herbert, müssen nun von dem wenigen leben, was es auf Marken gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Tochter und ihr neugeborenes Baby wieder nach Hause kommen müssen, weil in ihrer Neubauwohnung alles elektrisch läuft und bei Stromsperre eben gar nicht. So fürchtet die Tochter um das Leben ihres Säuglings, weil sie keine Möglichkeit hat, die Babynahrung zu erwärmen. Sie selbst ist stark geschwächt und muss mitten in der Nacht zum Röntgen, um eine Tbc-Erkrankung auszuschließen: Die Stromsperre betrifft auch Krankenhäuser und Arztpraxen. Helene Baumann hat in diesen Tagen eigentlich Grund zu feiern, weil sie 50 Jahre alt wird. So entschließt sie sich schweren Herzens, die Eheringe als den letzten wertvollen Familienbesitz auf dem Schwarzmarkt zu verhökern.

Allen Widrigkeiten zum Trotz bleiben die Baumanns ihrer Stadt treu. Nur Sohn Herbert kehrt Berlin den Rücken, um das angefangene Studium in Westdeutschland, in der Trizone, dem Zusammenschluss von amerikanisch, britisch und französisch besetzter Zone, fortzusetzen, eine zeitgemäß politisch korrekte Entscheidung. Als völlig inakzeptabel wird hingegen der Entschluss eines von Herberts Kommilitonen angesehen, der in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) eintritt und damit an einer ostdeutschen Uni studieren kann. Solches Ausscheren aus der gemeinsamen antikommunistischen Abwehrhaltung wird als Verrat gewertet.

Rückblickend mag man propagandistisch zugespitzte Geschichten wie die der Baumanns relativieren, doch sie prägten das Bild von Blockade und »Eingesperrten«, zumal sie durch Hilferufe aus West-Berlin vielfach wiederholt wurden. So flehte etwa die Charlottenburgerin Lilly in einem Brief vom 24. September 1948 ihre Freundin Erna in der Westzone an, sie zu unterstützen: Ihre Ernährung sei »furchtbar mangelhaft«. Grundsätzlich sei sie ja bereit, dieses Leben auf sich zu nehmen und »große Opfer« für »die anderen Völker« zu bringen, aber sie glaube immer öfter, dass Westdeutschland »unsere Opfer und Abwehr gar nicht zu würdigen« wisse.14 Immerhin, argumentiert Lilly trotzigselbstbewusst, seien es die Berliner, die die freie Welt gegen den Kommunismus verteidigten, allerdings mit immer weniger Enthusiasmus, schließlich sei nicht einzusehen, warum es nur ihnen so schlecht gehen solle. Anscheinend wollte sie ihrem dringenden Appell, Lebensmittel nach Charlottenburg zu schicken, Nachdruck verleihen. Viele »Fresspakete« fanden trotz und während der Blockade ihren Weg nach Berlin.

Auch andere Stimmen und selbst offizielle Erhebungen zeigen, dass die Grenzen nach West-Berlin nicht ganz so dicht waren, wie die zeitgenössische Propaganda glauben machen wollte. So führte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 1949 aus, dass mithilfe der Luftbrücke nur zwei Drittel der notwendigen Lebensmittel nach West-Berlin gelangt seien – das fehlende Drittel habe man durch den Abbau von Lagerbeständen, durch »Kompensationsgeschäfte mit der Ostzone«, durch »Bezüge auf dem Schwarzen Markt, der seinerseits überwiegend aus Lieferungen aus der Ostzone gespeist wurde«, und »durch zusätzliche Bezüge aus dem Westen« beschafft.15 Wirklich lebensbedrohlich war die Situation der alten Menschen, die physisch nicht ohne weiteres in Lage waren, die mitunter strapaziösen Wege der Lebensmittelbeschaffung durchzustehen, beziehungsweise die nichts (mehr) hatten, was sie tauschen konnten.

Moralisch gingen die meisten West-Berliner – in den Monaten der Blockade wurde aus den Westsektoren West-Berlin und die Siegermächte zu »Schutzmächten« – gestärkt aus den Monaten der Abriegelung hervor. Die von diesen garantierte Sicherheit gegenüber der kommunistischen Bedrohung, vor allem aber das Gefühl, nicht im Stich gelassen worden zu sein, verlieh vielen »Insulanern« neues Selbstbewusstsein. Die Luftbrücke gehörte unverzichtbar zum Gründungsmythos der Halbstadt. Besonders prägnant verkörperte der erste Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Ernst Reuter, die Aufwertung von Besiegten zu Partnern. Die West-Berliner dankten es ihrem »Regierenden« und seiner Partei mit einer vorerst durch nichts zu schmälernden Loyalität: »Most West Berliners (66 %) felt that their city was a vital center in the world situation. A symbol of the East-West-struggle. (…) West Berliners expressed confidence not only in themselves but also in their city government, the Senate. Nine per cent were very satisfied and 57 per cent were satisfied.«16 Die Mehrheit der West-Berliner betrachtete demnach die eigene Stadt als Symbol und Zentrum des Kalten Krieges und vertraute dem Senat: Insgesamt 66 Prozent äußerten sich zufrieden mit der Stadtregierung. Diese Haltung ist bemerkenswert, zumal zu berücksichtigen ist, dass die Lage vieler Bewohner noch bis in die 1950er-Jahre hinein alles andere als rosig war: Die Zahl der Arbeitslosen war hoch. Noch 1952 war jeder vierte West-Berliner (fast 250 000) davon betroffen, und es war keine Besserung in Sicht. Den meisten Menschen, die hier lebten, war dies durchaus bewusst, dennoch äußerte nicht einmal jeder Vierte die Bereitschaft, die Stadt gegen einen komfortableren Ort einzutauschen, obwohl auch die Versorgung mit Wohnraum immer noch dramatisch schlecht war.17

Für die West-Berliner war die Erinnerung an die während der Blockade erlebte, von außen bedrohte, aber nach innen geeinte »Durchhaltegemeinschaft« sehr wichtig. Sie gewannen daraus eine neue, positive Identität. Kritische Stimmen allerdings waren in dieser Gemeinschaft unbeliebt, und die Rolle von Kontakten in den Ostteil der Stadt blendete man gerade im Nachhinein aus.18 Das Ende der Blockade markierte indes, ungeachtet der individuellen Erfahrungen der West-Berliner, für fast alle einen deutlichen Bruch in der Biografie und das Gefühl, dass es bergauf gehe, dass das Schlimmste überstanden sei.19

Die Luftbrücke als verbindende Erinnerung von Besiegten und Siegern: Berliner beobachten vom S-Bahnhof Tempelhof aus ein startendes Flugzeug, 1948.

Gut sieben Jahre lang klebten Bundesbürger auf jede Postsendung innerhalb der Bundesrepublik zusätzlich eine »Notopfermarke« für die West-Berliner.

Bedeutsam war darüber hinaus die psychologische Wirkung der überaus präsenten Luftbrücke. Anders als der tatsächliche Anteil an der Versorgung der blockierten Stadt ist sie kaum zu überschätzen. Zudem brachten die Flugzeuge nicht nur Lebensmittel nach Berlin, sie nahmen auf dem Rückweg Richtung Westen auch Produkte mit und unterstützten damit die Wirtschaftsbetriebe in der Stadt. Viele, die als Kinder Zeugen der täglich aufs Neue bewiesenen Loyalität geworden oder gar mit einem »Rosinenbomber« zum Aufpäppeln in die Westzonen mitgeflogen waren, bewahrten sich ihre kritiklose Amerikabegeisterung zeitlebens. Die amerikanischen (und die britischen) Piloten wurden in diesen Tagen zu Helden, die ihr Leben überdies für Menschen einsetzten, denen sie noch kurz zuvor als »Todfeinde« gegolten hatten. Auch waren die schrecklichen Verbrechen der Deutschen vielen Besatzungssoldaten präsent.

Seltsamerweise fühlten sich die meisten West-Berliner nicht annähernd so intensiv den Menschen im späteren Bundesgebiet verbunden – obwohl auch diese durch Abgaben und Mehrkosten den West-Berlinern entscheidend halfen. Am markantesten waren wohl die blauen »Notopfer Berlin«-Marken. Bis 1956 wurde jeder Brief zusätzlich mit dem »Notopfer« frankiert, es sei denn, er ging an einen Adressaten in West-Berlin oder in der »Ostzone«, zusätzlich floss ein Prozent von Löhnen und Gehältern in den Westzonen an die Hilfe für Berlin. Den West-Berlinern reichten diese »Opfer« nicht: Sie fühlten sich im Stich gelassen und entwickelten ein trotziges Selbstgefühl, das sich daraus speiste, weder ost- noch westdeutsch zu sein, sondern für ein spezielles drittes Deutsch-Sein zu stehen. »Der Westen war eine andere Welt«, eine, in der Menschen »genussvoll und ungeniert Torten fraßen« und in der es wenig Bewusstsein dafür gab, dass gar nicht weit weg der »Kampf ums Überleben« unvermindert weiterging, wie Egon Bahr sich erinnerte.20 Dazu passte es, sich von den Westdeutschen unverstanden zu fühlen, wofür es durchaus Belege gab. So fand etwa der Film Berliner Ballade mit dem mageren Gert Fröbe als »Otto Normalverbraucher« in der Hauptrolle in den Westzonen nur wenig Beifall, während die Berliner ihn liebten.

Arbeit in Ruinen

Während der Blockade spitzte sich die Lage der produzierenden Unternehmen in den westlichen Sektoren zu, weil viel zu wenig Rohstoffe und Vorprodukte geliefert werden konnten. In der Folge waren im Frühjahr 1949 mehr als 120 000 Menschen arbeitslos, jeden Monat schlossen etwa 500 weitere Betriebe, und viele andere drosselten die Produktion erheblich. Der Winter war hart: Statt der benötigten 8000 Tonnen Kohle täglich kamen maximal 6000 Tonnen über die Luftbrücke. Unter diesen Bedingungen verheizten die Menschen sogar ihren geliebten Tiergarten beziehungsweise die dort wachsenden Bäume. Bürgermeister Ferdinand Friedensburg plante sogar – als letzte Reserve gewissermaßen –, auf die geringen Braunkohlevorkommen in Reinickendorf zurückzugreifen.