What Does This Button Do? - Bruce Dickinson - E-Book + Hörbuch

What Does This Button Do? Hörbuch

Bruce Dickinson

4,8

Beschreibung

Unterwegs mit dem ungewöhnlichsten Rockstar unserer Zeit

Bruce Dickinson ist ein einzigartiges Universalgenie. Er ist seit über fünfunddreißig Jahren gefeierter Sänger der erfolgreichsten Heavy-Metal-Band der Welt - Iron Maiden. Er ist gleichzeitig Pilot (er fliegt die Ed Force One, die bandeigene 747!), Motivationsredner, Drehbuch- und Romanautor, Radiomoderator und war jahrelang erstklassiger Fechter auf Weltklasseniveau. Von seinen Fans wird er regelrecht verehrt. Jetzt erzählt er die besten Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben, darin schreibt er auch über seinen dramatischen Kampf gegen den Zungenkrebs, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte.

Iron Maiden sind mit über 90 Millionen verkauften Alben und über 2.000 Konzerten eine der erfolgreichsten Rockbands aller Zeiten. Bruce Dickinson ist darüber hinaus auch als Solokünstler regelmäßig in den Charts zu finden. Seine Memoiren hat er handschriftlich selbst verfasst.

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Zeit:12 Std. 26 min

Sprecher:Michael J. Diekmann

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Das Buch

»Ich hatte Pickel, trug einen Anorak, hatte mit Kugelschreiber ›Purple‹ und ›Sabbath‹ auf die Oberschenkel meiner blauen Jeans-Schlaghose gekritzelt und fuhr ein unfassbar lautes, uncooles Mofa. Ach ja, und ich wollte Schlagzeuger werden.«

Bruce Dickinson ist ein einzigartiges Universalgenie. Er ist seit über fünfunddreißig Jahren gefeierter Sänger der erfolgreichsten Heavy-Metal-Band der Welt – Iron Maiden. Er ist gleichzeitig Pilot, Luftfahrtunternehmer, Motivationsredner, Bierbrauer, Drehbuch- und Romanautor, Radiomoderator und war jahrelang erstklassiger Fechter auf Weltklasseniveau.

Jetzt erzählt er die besten Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben, von seiner exzentrischen britischen Kindheit, dem unfassbaren Aufstieg von Maiden, seiner Philosophie des Fechtens, der Schönheit des Fliegens und seinem dramatischen Kampf gegen den Zungenkrebs, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte.

Intelligent, witzig und unterhaltsam – Dickinsons Autobiografie liefert intime Einblicke in das Leben, das Herz und die Gedankenwelt einer echten Rocklegende.

Der Autor

Bruce Dickinson ist seit über dreißig Jahren Leadsänger von Iron Maiden, hat darüber hinaus auch eine erfolgreiche Karriere als Solokünstler und diverse andere Betätigungsfelder. Iron Maiden sind mit über 90 Millionen verkauften Alben und über 2.000 Konzerten eine der erfolgreichsten Rockbands aller Zeiten. Bruce Dickinson lebt in London, England.

BRUCE

DICKINSON

What does this button do?

Die Autobiografie

Aus dem Englischen von

Matthias Jost, Daniel Müller,

Harriet Fricke und Dieter Fuchs

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel WHAT DOES THIS BUTTON DO?bei HarperCollinsPublishers, London

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Copyright © 2017 by Bruce Dickinson

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Covergestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung des Originalumschlags von Claire Ward © HarperCollinsPublishers Ltd 2017

Covermotive: © John McMurtrie (front), © Ross Halfin (back and spine), © Paul Harries (author), Shutterstock (flaps).

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-20252-1 V005

Für Paddy, Austin, Griffin und Kia.

Wenn die Ewigkeit versagt, seid ihr immer noch da.

Vorwort

Ich war schon zwei Stunden über Murmansk gekreist, aber die Russen ließen uns einfach nicht landen. »Landeerlaubnis verweigert«, teilte man mir mit breitem Mr.-Chekov-Akzent mit.

Ich wusste nicht, ob der Fluglotse ein Fan von Iron Maiden war, aber er hätte mir ohnehin nicht geglaubt. Ein Rockstar, der im Nebenberuf als Pilot arbeitete – unvorstellbar. Außerdem hatte ich Eddie nicht an Bord, denn dies war nicht die Ed Force One. Es war ein Angelausflug.

Eine Boeing 757 der Astraeus Airlines mit zweihundert leeren Plätzen und mir als Erstem Offizier. Auf dem Flug von Gatwick nach Murmansk waren nur zwanzig Passagiere an Bord: viele Männer namens John Smith mit Personenschutz, bewaffnet bis an die Zähne. Obwohl Lord Heseltine das nicht wirklich brauchte. Er war ziemlich gut darin, eine Keule zu schwingen, wenn er musste. Dann war da noch Max Hastings, früherer Redakteur des Daily Telegraph. Ich fragte mich, ob der Fluglotse wohl irgendeinen seiner Leitartikel gelesen hatte. Vermutlich nicht.

»Welche Fische gibt es eigentlich in Murmansk?«, hatte ich einen der John Smiths gefragt.

»Besondere Fische«, hatte er trocken geantwortet.

»Große Fische?«, erwiderte ich.

»Sehr große«, schloss er, als er das Cockpit verließ.

Murmansk war das Hauptquartier der Arktisflotte der Sowjetunion. Lord Heseltine war früher Verteidigungsminister gewesen, und was Max Hastings nicht über die Streitkräfte dieser Welt wusste, war es nicht wert, gedruckt zu werden.

Die Welt unter uns war hinter einem Wattekissen aus tief hängenden Wolken verborgen. Für die Verhandlungen hatte ich ein Funkgerät und ein altes Nokia-Handy dabei. Erstaunlicherweise gab es auf halber Distanz jeder Warteschleife sogar Empfang, also konnte ich das Einsatzzentrum der Fluglinie per SMS verständigen, das dann über die britische Botschaft mit Moskau in Verbindung trat. Kein Satellitentelefon, kein GPS, kein iPad, kein WLAN.

Wie James Bond am Anfang von Skyfall zu Q sagt: »Eine Pistole und ein Sender. Weihnachten stelle ich mir anders vor.«

Nach zwei Stunden, in denen wir uns in jeder Hinsicht im Kreis gedreht hatten, veränderten sich die Spielregeln plötzlich: »Wenn Sie nicht verschwinden, werden wir Sie abschießen.«

Als wir abdrehten und Ivalo in Finnland ansteuerten, dachte ich mir, dass ich eines Tages ein Buch darüber schreiben sollte.

Born in ’58

Die Ereignisse, die einen Charakter formen, können auf seltsame und unvorhersehbare Weise zusammenhängen. Ich wuchs bis zur Geburt meiner Schwester 1963 als Einzelkind bei meinen Großeltern auf. Es kann eine Weile dauern, bis man die Dynamik innerhalb von Familien begriffen hat, und ich brauchte ganz schön lange, bis der Groschen fiel. Doch dann wurde mir klar, dass meine Erziehung von einer Mischung aus Schuldgefühlen, unerwiderter Liebe und Eifersucht geprägt war, sowie einem unerschütterlichen Pflichtgefühl und dem Zwang, stets alles zu geben. Heute weiß ich, dass da nicht viel Zuneigung im Spiel war, aber doch immerhin ein gewisser Blick fürs Detail. Angesichts der Umstände hätte es viel schlechter für mich laufen können.

Meine echte Mutter war früh schwanger geworden und hatte gerade noch rechtzeitig einen etwas älteren Soldaten geheiratet. Er hieß Bruce. Ihr Vater war beauftragt worden, das Werben der beiden zu überwachen, doch er war weder geistig noch moralisch streng genug, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Ich vermute, dass er insgeheim auf der Seite der jungen Liebenden war. Ganz anders als meine Großmutter: Ihr einziges Kind wurde von einem Raufbold gestohlen, der noch nicht mal aus dem Norden Englands stammte, sondern ein Eindringling aus den flachen Sümpfen und der möwenverdreckten Einöde von Norfolk war. Ost-England. Eine Welt aus Marsch, Moor und Morast, seit Jahrhunderten die Heimat von Nonkonformisten, Anarchisten und Schmarotzern.

Meine Mutter war eine zierliche Person, arbeitete in einem Schuhgeschäft und hatte ein Stipendium für die Royal Ballet School gewonnen, doch ihre Mutter hatte ihr verboten, nach London zu ziehen. Ihr war die Chance genommen worden, ihren Traum auszuleben, also stürzte sie sich auf den nächsten, und ein Teil davon war ich. Ich betrachtete oft ein Bild von ihr, auf dem sie Ballettschuhe trug, sie war ungefähr vierzehn. Es schien mir völlig unmöglich, dass das meine Mutter sein sollte, dieses feenhafte Sternchen, so naiv und voller Freude. Das Bild auf dem Kaminsims stand für alles, was hätte passieren können. Das Tanzen war Vergangenheit, jetzt ging es nur noch um die Pflicht – und einen gelegentlichen Gin Tonic.

Meine Eltern waren so jung, dass ich in keiner Weise nachvollziehen kann, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Im Leben ging es um Bildung, es ging darum, der Arbeiterklasse zu entkommen, aber trotzdem mehrere Jobs zu haben. Die einzige Sünde bestand darin, sich nicht wirklich anzustrengen.

Mein Vater war ein sehr ernster Mann, und er strengte sich mächtig an. Er entstammte einer sechsköpfigen Familie, der Sohn eines Bauernmädchens, das mit zwölf Jahren in die Knechtschaft verkauft worden war, und eines ordinären örtlichen Bauarbeiters, der Motorrad fuhr und als Kapitän eine Fußballmannschaft in Great Yarmouth auf den Platz führte. Die große Liebe meines Vaters waren Maschinen und die Welt der Mechanismen, der Steuerung, Entwicklung und Zeichenkunst. Er liebte Autos, und er liebte es, sie zu fahren. Allerdings war er der Meinung, die Gesetze bezüglich Geschwindigkeit, Anschnallpflicht und Alkohol am Steuer würden für ihn nicht gelten. Als ihm sein Führerschein entzogen wurde, meldete er sich freiwillig zum Militär. Freiwillige wurden besser bezahlt als Wehrdienstleistende, und die Armee schien nicht besonders wählerisch zu sein, wenn es darum ging, wer ihre Jeeps fuhr.

Nachdem das Militär ihm die Fahrerlaubnis umgehend wieder erteilt hatte, bekam er dank seiner technischen und zeichnerischen Fähigkeiten eine Stelle bei der Planung des Weltuntergangs. An einem Tisch in Düsseldorf zog er sorgfältig die Kreise der Millionen von Toten, die in der prophezeiten Apokalypse des Kalten Krieges erwartet wurden. Den Rest der Zeit gab er sich dem Whisky hin, vermutlich, um die Langeweile und die Hoffnungslosigkeit zu ertränken. Doch noch als Soldat gelang es dem muskulösen Schwimm-Champion (im Schmetterlingsstil!) von Norfolk, das Herz meiner zerbrechlichen Ballerina-Mutter zu erobern.

Für meine Großmutter Lily stellte ich als der unerwünschte Nachwuchs des Mannes, der ihre einzige Tochter gestohlen hatte, die leibhaftige Ausgeburt der Hölle dar. Für meinen Großvater Austin jedoch war ich der Sohn, den er selbst nie hatte. Und so wurden die beiden während meiner ersten fünf Lebensjahre zu Ersatzeltern. Meine frühe Kindheit war gar nicht mal so übel: lange Spaziergänge im Wald, Kaninchenlöcher, die magischen Sonnenuntergänge eines Winters im Flachland und Frost, der unter dem purpurnen Himmel glitzerte.

Meine wahren Eltern tingelten unterdessen durch die Nachtclubs, wo sie eine Hundeschau aufführten. Pudel, Reife, Turnanzüge. Auch eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Wir wohnten in einer Sozialbausiedlung, 52 Manton Crescent. Die Zahl war in Weiß an die Mauer der gewöhnlichen, aus Ziegeln gebauten Doppel-Mietshaushälfte gemalt. Benannt war die Straße nach dem Kohlebergwerk, in dem mein Großvater arbeitete.

Seine Karriere als Grubenarbeiter hatte er schon mit dreizehn begonnen. Dafür war er eigentlich zu klein gewesen, doch er gab nicht nur ein falsches Alter an, sondern log listigerweise auch noch unverfroren über seine Größe – die wie bei mir nicht gerade überragend war. Laut den Regeln war man groß genug, um unter Tage zu gehen, wenn die Laterne, die an einer Kordel am Gürtel hing, nicht über den Boden schleifte. Also machte er einfach zwei Knoten in die Kordel. Fast wäre er in den Krieg gezogen, doch er kam nicht weiter als bis zum Gartentor. Er war zwar als freiwilliger Teilzeit-Reservist Mitglied der Territorial Army. Aber als Bergarbeiter war seine Arbeit zu wichtig, um ihn an die Front zu schicken.

Und so stand er da in seiner Uniform, während seine Einheit in Frankreich in die Schlacht marschierte. Es war einer dieser Zurück in die Zukunft-Momente: Hätte er das Gartentor geöffnet, um mit seinen Kumpels in den Krieg zu ziehen, wären viele Dinge nicht passiert – mich eingeschlossen. Aber meine Großmutter stand trotzig in der Tür und sagte: »Wenn du verdammt nochmal jetzt gehst, werde ich bei deiner Rückkehr nicht mehr hier sein.« Er blieb. Die meisten aus seinem Regiment kamen nie nach Hause.

Aufgrund der Arbeit meines Großvaters bekamen wir nicht nur die Sozialwohnung gestellt, sondern auch Kohle frei Haus geliefert. Die Kunst, den Ofen zu befeuern, der unser Haus wärmte, machte mich zu dem leidenschaftlichen Pyromanen, der ich heute noch bin. Dafür hatten wir kein Telefon, keinen Kühlschrank, keine Heizung, kein Auto, nicht mal eine Toilette im Haus. Stattdessen mussten wir die Kühlschränke anderer Leute verwenden und benutzten eine kleine Vorratskammer. Sie war feucht und kalt, also hielt ich mich von ihr fern, so gut es ging. In der Küche gab es zwei elektrische Kochplatten und einen Backofen, der ebenfalls mit Kohle betrieben wurde. Strom betrachteten wir als Luxus, den man unbedingt meiden musste. Aber wir besaßen einen Staubsauger und mein Lieblingsgerät: eine Mangel – zwei Walzen, die das Wasser aus der frisch gewaschenen Kleidung quetschten. Sie wurden mit einem riesigen Griff gedreht, woraufhin die trocken gepressten Bettlaken, Hemden und Hosen in einen Korb purzelten.

Für mich gab es eine Plastikbadewanne – mein Großvater kehrte ja immer sauber aus den Waschräumen der Mine zurück. Manchmal kam er aber auch aus dem Pub nach Hause, stank nach Bier und Zwiebeln, kroch zu mir ins Bett und fing an, laut zu schnarchen. Im Mondlicht, das durch die hauchdünnen Vorhänge schien, konnte ich die blauen Narben auf seinem Rücken sehen, Andenken an ein Leben unter Tage.

Wir hatten einen Schuppen, in dem auf Holzstücke eingehämmert und geschlagen wurde. Warum, weiß ich nicht, aber für mich war dieser Schuppen ein ideales Versteck, das sich abwechselnd in ein Raumschiff, Schloss oder U-Boot verwandelte. Zwei alte Eisenbahnschwellen in unserem kleinen Hof wurden zum Segelboot, und ich angelte immer wieder Haifische aus den Rissen im Betonboden. Dann gab es da noch den Schrebergarten voller Chrysanthemen, die jedoch nicht lange überlebten: Sie gingen in Rauch auf, als sie eines Nachts von einer Feuerwerksrakete getroffen wurden.

Haustiere hatten wir keine, außer einem Goldfisch namens Peter, der verdächtig lange lebte.

Eines hatten wir jedoch: einen Fernseher, Fixpunkt meiner gesamten frühen Kindheit. Sein Bildschirm – vielleicht sieben oder acht Zoll in der Diagonale, in Schwarzweiß und mit körnigem Bild – brachte die große weite Welt in unser Haus. Da es sich um einen uralten Röhrenfernseher handelte, brauchte er mehrere Minuten, um warm zu werden. Beim Ausschalten dagegen verdichtete sich sein Licht langsam zu einem kleinen Punkt – ein Schauspiel, das für sich selbst genommen schon sehenswert war. Manchmal hatten wir Gäste, die vorbeikamen, um ihn zu bewundern und zu streicheln. Gar nicht mal, um das Programm anzusehen. So faszinierend war er. Die geheimnisvollen Knöpfe und Räder auf der Vorderseite mussten wie große Zahlenschlösser gedreht werden, um einen der beiden verfügbaren Kanäle zu wählen.

Die Außenwelt, also alles jenseits von Worksop, lernte man hauptsächlich durch Klatsch und Tratsch oder den Daily Mirror kennen. Die Tageszeitung wurde immer zum Feuermachen verwendet, und ich las die Nachrichten meistens erst kurz bevor sie im flammenden Inferno landeten. Als Yuri Gagarin als erster Mensch in den Weltraum flog, starrte ich das Foto an und dachte: Wie können wir das nur verbrennen? Ich faltete den Artikel zusammen und hob ihn auf.

Wenn Klatsch und Zeitungsmeldungen nicht genügten, konnte man die Außenwelt auch mit einem Telefonanruf erreichen. Die große rote Telefonzelle diente in unserem Viertel als Ansteckungszentrum für Husten, Schnupfen, Grippe oder Beulenpest. In Stoßzeiten bildete sich davor immer eine lange Schlange. Für jedes Telefonat musste man eine höllische Kombination aus Knöpfen und Rädern drücken und drehen, ganz zu schweigen von dem Riesenhaufen Kleingeld, den man für längere Gespräche benötigte.

Es war wie eine sehr unpraktische Version von Twitter: Die Anzahl der Worte wurde durch Geld und die erbosten Blicke der anderen zwanzig Leute begrenzt, die Schlange standen, um sich die rauch- und speichelgetränkte Sprechmuschel an den Mund zu halten und die haaröl- und schweißbeschichtete Bakelit-Hörmuschel ans Ohr zu drücken.

In Worksop hatte man gewisse Verhaltensregeln zu befolgen, auch wenn die Etikette auf der Straße eher entspannt gehandhabt wurde. Es gab nur sehr wenig Kriminalität und praktisch keinen Verkehr. Meine Großeltern gingen überallhin zu Fuß oder nahmen den Bus. Acht bis sechzehn Kilometer quer durch die Felder zur Arbeit zu laufen war für sie seit jeher normal gewesen, also tat ich es auch.

Die ganze Gegend bewegte sich permanent im Rhythmus der Schichtarbeit. Wenn die Vorhänge im ersten Stock zugezogen waren, bedeutete das: »Leise gehen, Grubenarbeiter schläft.« Waren es die Wohnzimmervorhänge im Erdgeschoss, hieß das: »Schnell weiterlaufen, Leiche wird untersucht.« Laut meiner Großmutter eine makabre, aber gängige Praxis. Ich saß also oft in unserem Wohnzimmer, das immer eiskalt, totenstill und mit Zaumzeugbeschlägen und Kerzenhaltern geschmückt war, die ständig poliert werden mussten, und stellte mir vor, wo die Leiche wohl liegen würde.

Abends änderte sich die Stimmung, und unser Zuhause verwandelte sich in einen Comicstrip von Gary Larson. Hölzerne Klappstühle machten den Raum zu einem Pop-up-Friseursalon, in dem Blau die einzige Farbe und eine Turmfrisur der einzige Schnitt waren. Frauen mit dicken Knien und Plastiktüten auf dem Kopf saßen unter Hitzelampen, wo sie langsam verdampften, während meine Großmutter sie röstete, ihnen Locken verpasste und den schrecklichen Geruch von feuchtem Haar und industriellem Shampoo verbreitete.

Mein Onkel John wurde zu meinem Fluchthelfer und drückte die entscheidenden Knöpfe für den nächsten Abschnitt meines Lebens.

Dabei war er eigentlich gar nicht mein richtiger Onkel, sondern mein Taufpate. John war der beste Freund meines Großvaters und hatte als Mitglied der britischen Luftwaffe im Krieg gedient. Die expandierende Royal Air Force hatte ihn als intelligenten Jungen aus der Arbeiterklasse bereitwillig aufgenommen. Schließlich benötigte sie eine ganze Generation technisch begabter Männer, die rar gesät waren. Man nannte sie nach dem legendären britischen Flieger »Trenchard’s Apprentices«, und Flight Sergeant John Booker war einer von ihnen. Als Elektrotechniker hatte er während der Belagerung von Malta – einer Insel, die Hitler um jeden Preis vernichten wollte – einige der schlimmsten Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs überlebt.

Ich besitze alle seine Medaillen sowie ein Exemplar seiner Soldatenbibel mit handschriftlich markierten Versen, die in unvorstellbar dunklen Momenten für moralische Unterstützung sorgen sollten. Und es gibt Fotos von ihm, einmal sogar in voller Flugmontur. Für ihn als Mitglied des Bodenpersonals eigentlich völlig unnötig – das Bild entstand einfach nur aus Spaß.

Wenn ich auf seinem Knie saß, erzählte er mir Geschichten über Flugzeuge. Ich berührte dabei seine silberne Spitfire-Lehrlingsmedaille oder eine vierstrahlige Liberator aus Messing mit einer Plexiglas-Propellerscheibe, die aus einer abgeschossenen Spitfire geschmolzen worden war. Ihr Holzsockel war mit grünem Filz beklebt, der von einem zertrümmerten Snookertisch aus einem zerbombten Club in Malta stammte. Er sprach von Luftschiffen, der Geschichte des Maschinenbaus in Großbritannien, Düsentriebwerken, Vulcan-Kampfflugzeugen, Seeschlachten und Testpiloten. Davon inspiriert saß ich wie viele Jungen meiner Generation stundenlang da und baute Modellflugzeuge. Es grenzte an ein Wunder, dass meine Plastikpiloten ihre Gefechte überlebten, schließlich waren ihre Körper komplett von Klebstoff umhüllt, während die Kanzeln ihrer Maschinen von schmierigen Fingerabdrücken verdunkelt wurden. Der Modell-Laden in Worksop, in dem ich damals meine Plastikflotte erstanden habe, existierte erstaunlicherweise immer noch, als ich das letzte Mal zur Beerdigung meiner Großmutter dort war.

Als technisch veranlagter Typ hatte Onkel John eigenhändig einen Teich von der Größe des Möhnesees angelegt, in dem zahlreiche rote Goldfische schwammen, die von Kaninchendraht geschützt wurden. Außerdem fuhr er einen wunderschönen Ford Consul, natürlich einwandfrei gepflegt. Und es war dieses Auto, das mich zu meiner ersten Flugschau brachte – Anfang der Sechzigerjahre, als Arbeitsschutz etwas für Feiglinge war und der Begriff der Lärmminderung noch gar nicht existierte.

Erderschütternde Düsenjets wie die Vulcan ließen Dächer erbeben, wenn sie mit ihren riesigen Deltaflügeln vertikale Rollen vollführten, während English Electric Lightnings (im Grunde Überschall-Feuerwerkskörper, auf denen ein Mann ritt) kopfüber vorbeischossen und dabei mit dem Höhenruder fast die Startbahn aufrissen. Ich war schwer beeindruckt.

Onkel John hatte mir die Welt der Maschinen eröffnet, und ich war ebenso fasziniert von den Dampflokomotiven, die immer noch am Bahnhof von Worksop ihren Dienst verrichteten. Der Bahnhof und seine Fußgängerbrücke haben sich bis heute so gut wie gar nicht verändert. Ich könnte schwören, dass sie immer noch aus demselben Holz bestehen, auf dem ich als Kind stand, eingenebelt von einer Wolke aus Rauch, Dampf und Asche, mit beißendem Teergeruch in der Nase. Vor nicht allzu langer Zeit bin ich noch einmal zu diesem Bahnhof hin- und wieder zurückgelaufen. Es kam mir verdammt weit vor, aber als kleiner Junge war das gar nichts für mich. Den Geruch bin ich nie ganz losgeworden.

Ich hätte mich damals sofort dafür entschieden, Lokomotivführer zu werden, vielleicht auch Jagdflieger. Und wenn mich das dann langweilen sollte, war ja immer noch eine Karriere als Astronaut möglich, zumindest in meinen Träumen.

Doch irgendwann musste der Spaß ja aufhören, also ging ich zur Schule. Die Manton Primary School war die örtliche Grundschule für die Kinder der Bergarbeiter. Bevor sie vor einigen Jahren ihre Pforten schloss, erlangte sie bei den Revolverblattlesern der Nation traurige Berühmtheit als die Schule, in der Fünfjährige ihre Lehrer verprügelten. Nun, ich kann mich zwar nicht daran erinnern, irgendwelche Lehrer vermöbelt zu haben, aber sehr wohl daran, dass ich nach einer Auseinandersetzung darüber, wer im Krippenspiel den Engel darstellen sollte, eine wichtige Lektion fürs Leben bekam – und Boxunterricht. Ich wollte diese Flügel unbedingt haben, aber in der Rauferei, die außerhalb des Schulgeländes weiterging, holte ich mir stattdessen eine ordentliche Tracht Prügel ab. Kein sehr befriedigender Ausgang. Als ich zerzaust und mit zerrissenen Kleidern nach Hause kam, setzte sich mein Großvater zu mir und öffnete meine Hände, die weich und dicklich waren. Seine dagegen waren rau wie Schmirgelpapier, und schwielige Hautstücke klebten wie Kokosflocken in den tiefen Falten, die sich auftaten, wenn er vor mir seine Handflächen spreizte. Ich kann mich noch gut an das Flackern in seinen Augen erinnern.

»Mach mal eine Faust, Junge«, sagte er. Also tat ich es.

»Nicht so, du brichst dir noch den Daumen. So.«

Er zeigte es mir.

»So?«

»Genau so. Jetzt schlag meine Hand.«

Es war nicht ganz wie in Karate Kid – weder ließ er mich einbeinig am Rand eines Bootes stehen, noch schenkte er mir andere große Hollywood-Momente. Doch nach etwa einer Woche nahm er mich beiseite und sagte sanft, aber mit stählerner Entschlossenheit: »Jetzt geh los und finde den Jungen, der dir das angetan hat. Und zeig’s ihm«.

Also tat ich es.

Ich hielt etwa zwanzig Minuten durch, bis mich ein Lehrer davonzerrte und mit äußerst festem Griff nach Hause eskortierte. Mein Boxunterricht war wohl etwas zu effektiv gewesen, während mein Urteilsvermögen im Alter von vier oder fünf Jahren noch zu wünschen übrig ließ.

Das Klopfen auf den Briefkasten lockte einen ungerührten Großvater in Hausschuhen, weißem Unterhemd und weiten Hosen nach draußen. Ich weiß nicht mehr, was der Lehrer sagte, aber sehr wohl noch, was Großvater antwortete: »Ich kümmere mich darum.«

Daraufhin wurde ich freigelassen.

Ich bekam keine Schläge oder eine Standpauke. Stattdessen hielt mir mein Großvater mit leiser Enttäuschung einen Vortrag über die Moral von Prügeleien und die allgemeinen Spielregeln, die im Wesentlichen lauteten: Mobbe niemanden, stehe für dich selbst ein und schlage niemals eine Frau. Er war ein sanfter, nachsichtiger und absolut anständiger Mann, der stets das beschützte, was ihm wichtig war.

Nicht übel für 1962.

Unterdessen waren meine leiblichen Eltern Sonia und Bruce von ihrer Hundeschau-Tournee zurückgekehrt und wohnten nun in Sheffield. Sonntags besuchten sie uns zum Mittagessen. Das braune Bakelit-Radio, das bei diesen Gelegenheiten lief, besitze ich noch heute. Es waren sehr angestrengte Aufeinandertreffen, denen ich eine lebenslange Abscheu vor Mahlzeiten am Tisch, Gin und Lippenstift zu verdanken habe. Ich stocherte in meinem Essen herum und musste mir endlose Lektionen über rationierte Lebensmittel anhören, und dass ich meinen Rosenkohl aufessen solle. Natürlich wurde längst nichts mehr rationiert, aber das wollte niemand wahrhaben. Genau dieser Nachkriegs-Blues sorgte außerdem dafür, dass man die Badewanne kaum eine Handbreit füllen durfte, Strom nur in absoluten Notfällen benutzte und grauenhafte Angst davor hatte, sich bei langen Telefongesprächen seelisch aufzulösen.

Die Unterhaltungen drehten sich meist um Katastrophen in der näheren Umgebung. Der oder die hatte einen Schlaganfall, Tante soundso war die Treppe runtergefallen, immer mehr Teenager wurden schwanger, irgendein armer Kerl war durch eine der zahlreichen Abraumhalden gebrochen, die es um die Mine herum gab, und hatte sich in der Glut darunter schreckliche Verbrennungen zugezogen.

Nach einem dieser Sonntagstreffen, bei dem ich brav meinen Rosenkohl und das Hühnchen aufgegessen hatte, das zuvor in unserem Garten herumgelaufen war, war die Zeit gekommen, um bei meinen richtigen Eltern einzuziehen. In Onkel Johns Wagen durfte ich immer vorne mitfahren, aber jetzt saß ich auf dem Rücksitz und starrte durch die Heckscheibe. Die ersten fünf Jahre meines Lebens wurden in der Ferne immer kleiner und verschwanden schließlich um die Ecke.

Vor mir lag eine ungewisse Zukunft. Ich hatte kämpfen gelernt, mir mehrere fiese Krankheiten eingefangen, meine eigene Luftwaffe aufgebaut und stand kurz davor, die Schwerkraft zu überwinden. Das Leben mit meinen Eltern – wie schwer konnte das schon sein?

Life on Mars

Ich habe nie Tabak geraucht. Nur gelegentlich mal einen Joint, als ich zwischen neunzehn und einundzwanzig war, aber dazu kommen wir später noch. In Anwesenheit meiner Eltern habe ich jedoch passiv mindestens eine Schachtel am Tag inhaliert. Mein Gott, konnten die beiden qualmen! Als ich sechzehn war, versuchten sie, mich ebenfalls zu einem Anhänger des bösen Krauts zu machen. Es war mein größter Akt der Rebellion, mich ihren gelb verfärbten Krallen zu entziehen.

Es wurde viel getrunken, oft zügellos. Mein Vater war außerdem vehement gegen das Anschnallen, aus Angst, die Gurte könnten ihn strangulieren. Irgendwann hörte ich auf zu zählen, wie oft er sturzbetrunken nach Hause fuhr.

Man kann als Kind sein blaues Wunder erleben – oder seine blauen Eltern.

Folglich halte ich wenig von Autofahren unter Alkoholeinfluss. Was mich zu einem großen Heuchler macht, denn auch ich hielt mich in meiner Jugend für unzerstörbar. Doch zum Glück wurde ich erwachsen, bevor ich mich – oder, was viel wichtiger ist, jemand anderen – umbrachte.

Mit diesem kleinen Exkurs haben wir allerdings schon viel zu weit vorgespult. Dabei existierte noch nicht mal der Schalter eines Kassettenrekorders, als ich an meine neue Schule in Manor Top kam, einer angeblich ziemlich üblen Gegend von Sheffield.

Ich fand sie gar nicht so übel. Dort lernte ich, wie man einen faltigen Vorhang aus Kartoffelpüree, Erbsen und Fisch (es war schließlich Freitag) zwischen den Lippen hervorpresste. Wer den längsten fabrizierte, bevor er vom Mund abriss, hatte gewonnen.

Gary Larson muss ebenfalls auf diese Schule gegangen sein, denn die gruseligen Hornbrillen der weiblichen Belegschaft sorgten für den typischen Designer-KZ-Wächterinnen-Look der Sexploitation-Filme aus den Siebzigerjahren. Aber noch besser waren die Hannibal-Lecter-Typen, von denen man die Prügelstrafe verpasst bekam – etwa wenn man Kartoffelpüree und Erbsen zweckentfremdet hatte. Die ausgestreckte Handfläche bekam den Schlagstock zu spüren, doch ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht erinnern, ob es wirklich besonders wehtat. Es schien mir lediglich bizarr, dass der Vorgang dann auch noch mit gebotenem Ernst in das Bestrafungsbuch eingetragen wurde. Ich fühlte mich dabei wie ein Sträfling im gestreiften Pyjama auf der Teufelsinsel.

Lange blieb ich nicht auf dieser Schule, denn wir zogen um. Ein Leben in ständiger Bewegung sollte für mich später zum Dauerzustand werden, doch für meine Familie gab es damals im Wesentlichen nur einen Grund für die häufigen Ortswechsel: Geld verdienen. Mein Zuhause war jetzt ein Keller, den ich mit meiner neuen Schwester Helena teilen musste, mittlerweile bereits ein richtiges fühlendes Wesen, das sogar sprechen konnte.

Durch ein Fenster von der Größe eines iPad blickte man auf einen Graben voller toter Blätter. Es gab einen Kühlschrank mit einem unterhaltsamen elektrischen Defekt: Manchmal berührte ich ihn mit einem feuchten Tuch und testete, wie viel Strom ich aushielt, bis meine Zähne zu klappern begannen. Am oberen Ende der Steintreppe befand sich der Rest der Menschheit. Und oh, welch Menschheit das war! Ich wohnte in einem Hotel, einem Gästehaus. Mein Vater hatte es gekauft, und meine Eltern leiteten es. Und auf dem Parkplatz davor verkaufte er Gebrauchtwagen.

Richtig spannend wurde es, als er auch das Nachbarhaus erstand. Plötzlich schlug das Imperium zurück und verband die beiden Gebäude mit einem Anbau. Dad rollte seine Pläne aus, die er selbst gezeichnet hatte. Ich fand ein Stück Tapete und versuchte, darauf ein Raumschiff zu entwerfen, um damit zum Mars zu fliegen.

Bauarbeiter tauchten auf und schienen für ihn zu arbeiten. Auch ich fand eine Anstellung, wenn auch eine ziemlich schlecht bezahlte. Statt Häuser zu errichten, riss ich sie ab, was verdammt viel Spaß machte. Toiletten zu vernichten war meine Spezialität. Später auf der Uni konnte ich deshalb die Aufrufe gewisser Leute zur »Zerstörung des Systems« nie richtig ernst nehmen – schließlich wusste ich mehr über das Zertrümmern von Spülkästen, als sie es jemals tun würden. Es war alles sehr beeindruckend.

Als Nächstes wurde im Lindrick – so hieß unser Hotel – eine Bar nach Dads Entwürfen eingebaut. Am Wochenende schien das Lindrick nie wirklich zu schließen, vor allem, wenn er hinter der Theke stand. Montags hörte ich dann von Lily die Geschichten. »Oh, Mr. Soundso verpasste Mr. Rigby eine Kopfnuss … und dann tanzte dieser andere Herr auf dem Tisch und fiel um. Oh, da zerbrach doch glatt der Tisch. Und der war auch noch aus Teakholz …«

Die Geschäftsreisenden schliefen sich durch alle Betten, und einige der Gäste waren einfach nur seltsam. Ein besonders unheimlicher Typ, der zwei Wochen lang bei uns wohnte, gab mir seine Visitenkarte und sagte: »Ich mache Karma Yoga.« Er verließ das Hotel um sieben Uhr abends und wanderte bis zum Morgengrauen durch die Straßen. Und nein, er hatte keinen Hund, mit dem er Gassi ging.

Andere Leute kamen, und manche gingen nie wieder. Einige starben im Bett. Wenn jemand aber auf besonders grausame Art ums Leben kam, informierte uns Oma Lily: »Sie verbrannte in ihrem Auto …«

Eines Abends überraschten zwei Herren einander im Dunkeln, die beide glaubten, dass sie gerade eine Frau befummelten. Am nächsten Morgen gab es einiges klarzustellen. Es war, als würde man in einem permanenten Zustand der Farce leben.

Das Hotel wurde ständig erweitert, und immer mehr Verwandte zogen nach Sheffield. Ethel und Morris, meine Großeltern väterlicherseits, verkauften ihre Privatpension am Meer und zogen ein paar Häuser weiter ein. Großvater Dickinson war dem schurkischen Schauspieler Wilfrid Hyde-White wie aus dem Gesicht geschnitten, sprach aber mit einem ziemlich starken Norfolk-Akzent. Mit einer Selbstgedrehten hinter einem Ohr, einem Bleistift hinter dem anderen und der Sportzeitung unter dem Arm machte er sich daran, Gebäude »umzufunktionieren«, wie man heute sagen würde. In der Praxis bedeutete das, sie abzureißen, aber mit denselben Ziegeln woanders wieder aufzubauen.

Großmutter Dickinson war eine beeindruckende Frau: über 1,80 Meter groß, mit tiefschwarzen Locken und einem Blick, der einen Baum aus einer Entfernung von zwanzig Schritten fällen konnte. Sie hatte als Magd gearbeitet und war direkt aus dem Bahnwaggon auf einem Feld herausgekauft worden, in dem sie mit achtzehn anderen Mädchen hauste. Leichtfüßig wie sie war, hätte sie als Sportlerin Karriere machen können, aber sie konnte sich keine Schuhe leisten. Barfuß hatte sie im 200-Meter-Rennen keine Chance gegen die Konkurrenz mit Spikes. Eine Erniedrigung, die sie bis zu ihrem Tod nie vergaß.

Während Ethel Kuchen backte, kam Morris oft mit einer halb gerauchten Selbstgedrehten von der Toilette, wo er mehrere Rennpferde in der Zeitung markiert hatte. »Hier, Kleiner – aber verrate es niemandem«, sagte er dann, während er mir ein bisschen Kleingeld zusteckte, das er sich nach jahrelangem Hantieren mit Ziegeln und Maurerkellen zusammengespart hatte.

Bei einem Familientreffen mit zahlreichen Drinks in unserer Hotelbar tat mir mein Onkel Rod gleich mehrere Gefallen. Unter anderem überzeugte er mich davon, mich nie tätowieren zu lassen. Onkel Rod (und er war tatsächlich mein Onkel – der Bruder meines Vaters) war unglaublich charismatisch. Er sah ein bisschen wie einer dieser zwielichtigen Gangster aus, die sich gerne mit leichten Mädchen umgaben. Ich war zehn und saß auf seinem Knie, während er mir das britische System der Altersfreigabe im Kino erklärte: »Also, da gibt’s Filme, die ein X bekommen, und da gibt’s das X für Sex und das X für Horror …«

Was auch immer er danach sagte, nahm ich nicht mehr wahr, denn ich betrachtete fasziniert die Narben auf seinen Handrücken. Onkel Rod hatte in seiner Jugend die Angewohnheit gehabt, die Autos anderer Leute auszuleihen – ohne deren Erlaubnis. Trotz aller Bemühungen seiner Familie war er darin so erfolgreich, dass er schließlich in einer furchtbaren Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter landete. Dort war es üblich, sich mit Ziegelstaub und Tinte selbst zu tätowieren, als lebenslange Erinnerung daran, dass man ein Produkt dieser Einrichtung war. Onkel Rod hatte sich die Tattoos aber für viel Geld wieder entfernen lassen – eine frühe Form der Hauttransplantation, die heute als Spezialeffekt in einem billigen Horrorstreifen durchgehen würde. Mein einziger Gedanke war: Ich glaube, ich bleibe lieber so, wie ich bin. Das sieht nicht besonders spaßig aus.

Dann sprach er wieder von Kriegsfilmen. Mit meinem Großvater Austin hatte ich jede Menge davon angesehen: Kampfgeschwader 633, Mai 1943 – Die Zerstörung der Talsperren, Luftschlacht um England, Der Angriff der leichten Brigade.

»Und was ist mit Eisstation Zebra?«, warf ich ein.

»Hab ich nicht gesehen«, grummelte er und wandte sich wieder seinem Bier zu.

Eisstation Zebra war der Film, der zu meiner ersten Begegnung mit einer Rock’n’Roll-Band führte, komplett mit einem Truck, E-Gitarren und Gigs. Sie hießen The Casuals. Mit ihrem Song »Jesamine« hatten sie einen echten Hit gehabt und wurden nun für einwöchige Engagements in Clubs gebucht. Sie wohnten bei uns im Hotel, und tagsüber – für diese Kreaturen der Nacht bedeutete das frühestens mittags – kamen sie aus ihren Zimmern, übernächtigt und langhaarig, in Plateaustiefeln und weißen Hosen, und bekamen von Lily ein spätes Frühstück aus Tee und Toast serviert. Sie fand das wahnsinnig aufregend.

Mit meinen Fragen über Raketen und U-Boote muss ich ziemlich frühreif gewirkt haben. Um mir etwas entgegenzuhalten, brachte der Gitarrist seine E-Gitarre herunter. Ich durfte sie halten. Sie war überraschend schwer. Dann erklärte er mir ausführlich, wie sie funktionierte. Ich starrte auf die runden Stahlscheiben unter den Saiten und versuchte mir vorzustellen, wie der mächtige Klang entstand, wenn er mit so winzigen Fragmenten und derart blechern klingenden, scheppernden Saiten erzeugt wurde.

Wie die meisten Bands langweilten die Jungs sich tagsüber zu Tode. Also beschlossen sie eines Nachmittags, sich einen Film anzusehen. Im Sheffield Gaumont lief Eisstation Zebra. Und so kam es, dass ich, ganze zehn Jahre alt, mit einer Rock’n’Roll-Band im Kino saß und mir mit Popcorn in der Hand einen Kriegsfilm über Atom-U-Boote und Raketen ansah. Ich dachte: So lässt es sich leben.

Dad baute sein Imperium aus und kaufte eine bankrotte Tankstelle auf. Es handelte sich um ein riesiges Gelände, ein altes Straßenbahndepot mit vier uralten Zapfsäulen, ohne Vordach, aber mit einer Werkstatt, in der Öl und Dreck an fünfzig Jahre alten Mauern klebten. Das Autogeschäft begann unser Leben zu dominieren. Wenn ich nicht gerade beim »Umfunktionieren« alter Gebäude von Baugerüsten fiel, war ich der Tankwart, polierte Autos und schrubbte mit Drahtwolle Felgen sauber, bis meine Finger schmerzten. Ich putzte Windschutzscheiben, prüfte den Reifendruck und sah immer mehr Autos kommen und gehen.

Dad war eine wandelnde Enzyklopädie über Autoteile und als Mechaniker ein wahres Naturtalent. Er ging jedem Problem sofort auf den Grund. Seine Diagnosen waren nur selten falsch. Er wusste alles über die Herkunft des Auspuffs an einem beliebigen Fiat und warum er dem entsprechenden Teil am Ford überlegen war, aber eigentlich waren ja eh beide von einem unbekannten Genie aus Ungarn entworfen worden. Solche Sachen eben. Wenn er mal anfing, konnte er stundenlang davon erzählen.

Wir verkauften das Hotel, als er eine Lancia-Niederlassung übernahm. Die Geschäfte liefen blendend, bis sie ein Modell auf den Markt brachten, das schneller rostete, als man es fahren konnte. Auch an den Hausverkäufen muss er gut verdient haben, denn normale Arbeiterfamilien konnten sich damals noch Häuser leisten, und es kam zu einem wahren Immobilien-Boom. Einmal begingen wir jedoch den Fehler, unsere Bleibe zu verkaufen, bevor wir eine neue gefunden hatten. Es muss ein wirklich gutes Geschäft gewesen sein.

Letztendlich zogen wir in ein Reihenhaus nur hundert Meter von dem Hotel entfernt, das wir ein Jahr zuvor verlassen hatten. Manche Leute sind süchtig nach Crack. Wir waren süchtig nach Umzügen.

Du willst Schule? Du kriegst Schule

Während all das passierte, wurde ich in eine Art Treibhaus umgesiedelt. Man entzog mich dem schlechten Einfluss von Kartoffelpüree, Spucke und Raufereien mit den Nachbarsjungen und verfrachtete mich in eine völlig neue Welt: eine Privatschule.

Birkdale war unter anderem die Alma Mater von Monty-Python-Star Michael Palin und eine der eigenartigsten, exzentrischsten Bildungseinrichtungen, die ich je gesehen habe. Tatsächlich hatte ich dort am Ende aber eine ziemlich gute Zeit. Anfangs hingegen wurde ich hin und wieder gemobbt. Nichts im Vergleich zu dem, was ich später im Internat erleben sollte.

Mobbing ist das, was passiert, wenn schwache Menschen ihr Ego aufblasen müssen, indem sie andere verprügeln oder erniedrigen. Und als Neuankömmling – oder jemand, der einfach nur anders ist – wird man schnell zur Zielscheibe. Ich erfüllte beide Kriterien. Die Pausen waren am schlimmsten. Zwölf Kinder, die mich an die Mülltonnen drängten und auf mich einschlugen, während eine Lehrerin tatenlos zusah, die wohl irgendeine kranke Machtfantasie auslebte. Zu Ehren meiner beiden Großväter weigerte ich mich aber, klein beizugeben. Meine Chancen standen mehr als schlecht, aber ich schlug zurück. Ich ließ mich nicht unterkriegen.

Nach etwa einem Jahr wurden die Angriffe seltener, und nach einem weiteren Jahr war es, als wäre nie etwas passiert. Ich schien mich in das Gruppengefüge integriert zu haben – zumindest dachten sie das.

Bücher, die Bibliothek, das Schreiben und die Schauspielerei wurden zu meiner Zuflucht. Die Engelsflügel aus meiner Kindheit holten mich wieder ein, und mein Name wurde sogar erstmals in einer Kritik zu unserer Schulaufführung im Sheffield Star erwähnt: »Maulwurf mit verschmiertem Gesicht, gespielt von Paul Dickinson.« (Bruce ist natürlich mein zweiter Vorname, aber das wusstet ihr sicher.)

Enttäuschend war nur, dass sie mit keinem Wort erwähnten, wie ich das Publikum zum Lachen gebracht hatte. Zu den frühen Lektionen in komödiantischem Timing während unserer Schulproduktion von Der Wind in den Weiden gehörte das Fallenlassen meines Holzschwerts mitten in einer dramatischen Pause. Das wurde mit ebenso großem Gelächter im Zuschauerraum quittiert wie meine Rezitation des Textes »Ratz, dieses Huhn ist köstlich«, während ich dabei ganz offensichtlich Zitronenkuchen aß.

Es folgten weitere Produktionen, und ich liebte es, auf der Bühne zu stehen. Auch wenn die Schauspieler das alles für meinen Geschmack ein bisschen zu ernst nahmen.

Der Unterricht ging währenddessen weiter wie immer. Soll heißen: Ich kann mich an nichts davon erinnern, außer dass Merinoschafe ein umwerfendes Fell haben und mein Geschichtslehrer Mr. Quiney für Tolkien nur diese wunderbaren Worte übrighatte: »Ein verdammtes Gelage nach dem anderen, eine lange, langweilige Wanderung, eine Schlacht und ein paar schlechte Lieder.« Ich las Der Hobbit und Der Herr der Ringe, als ich zwölf war. Unterhaltsam, aber er lag nicht ganz falsch mit seiner Einschätzung.

Für diejenigen, die Französisch lernen wollten, war Mr. White zuständig. Allerdings interessierte sich Mr. White einzig und allein für seine riesige Modelleisenbahn, die die Hälfte des obersten Stockwerks einnahm. Französischunterricht hieß also, zwanzig Minuten lang dabei zuzusehen, wie der Flying Scotsman im Maßstab H0 seine Runden drehte.

Die Schüler wurden in A-, B-, C- und D-Klassen aufgeteilt, von den Klügsten bis hin zu den ernsthaft Überforderten oder einfach nur Gelangweilten. Ich wechselte ständig zwischen allen hin und her. Einfach nur gelangweilt war ich zwar immer, doch mit der Aussicht auf ein Fahrrad mit Rennlenker wurde ich dazu bestochen, mich mittels guter Noten in der Hierarchie nach oben zu arbeiten.

Gegen Ende meiner Zeit in Birkdale fand ich mich schließlich in einer Klasse mit nur acht Schülern wieder, und wir hatten eigentlich gar keinen Unterricht im üblichen Sinne mehr. Wir saßen zusammen, unterhielten uns, debattierten, diskutierten, schrieben und spielten einander Streiche. Lehrer kamen herein, und wir unterhielten uns auf Augenhöhe mit ihnen. Es war fantastisch. In meinem Kopf explodierten die Ideen nur so wie Popcorn in der Pfanne. Großartig.

Natürlich gab es dafür einen Grund. Ziel dieses Prozesses war es, die ziemlich harten, eine ganze Woche dauernden Prüfungen zu bestehen, um mit zwölf oder dreizehn in das Internatssystem zu kommen, wo man dann blieb, bis man achtzehn war. Das schafften nur die Besten.

Die großen Jungs.

Die Schule war aber nicht der einzige Ort, an dem man sich bilden konnte. Ich lernte Fahrradfahren und sauste durch unser Viertel. Ich hatte einen Chemiekasten, der sich aber standhaft weigerte, irgendetwas Unterhaltsames zu fabrizieren. Und mein Dad brachte mir das Schachspielen bei. Wir spielten oft, bis ich ihn eines Tages besiegte und wir damit aufhörten.

Im Urlaub in Great Yarmouth verbrachte ich meine Zeit umgeben von Blecheimern voller Pennys. »Ein Eimer voll Geld« war für mich keine Redewendung, sondern ein Dauerprojekt mit dem Ziel, in die Spielhalle an der Strandpromenade zu gehen. Sie gehörte den Eltern meines Cousins Russell.

Jede Reise nach Great Yarmouth führte in die Wohnung über der Spielhalle. Sie war mit fragwürdigen Couchtischen möbliert, getragen von Statuen nubischer Sklaven. Der Teppich wirkte wie ein weißes, haariges Meer aus synthetischen Ranken und sah aus, als würde er einen auffressen, wenn man die falschen Schuhe trug. Erst gab es Smalltalk, dann bekam ich die abgelegten Klamotten meiner Cousins überreicht: hässliche Strickpullis mit Wildlederbesatz und andere Monstrositäten, die mich wie einen Fünfzigjährigen aussehen ließen.

Schwimmen zu können lag bei uns in der Familie. Mein Vater war als Kind einfach in den Norfolk Broads ins Wasser geworfen worden. Ich lernte es unter seiner Anleitung, aber zum Glück mit wesentlich humaneren Methoden. Irgendwo in einem schimmeligen Koffer versteckt sich noch meine Urkunde von den Heeley Baths in Sheffield, die bestätigt, dass ich an jenem Tag zehn Meter in einem gängigen Stil zurückgelegt hatte. Nach einer Dosis Chlor, die im Ersten Weltkrieg ein ganzes Bataillon zu Blinden gemacht hätte, blinzelte ich mit geröteten Augen ins Sonnenlicht und war erleichtert, dass die Qual endlich vorbei war. Mein Dad fühlte sich im Wasser so wohl wie ein Fisch und schwamm als Kind problemlos fünf Kilometer durch den Ozean. Ich dagegen hielt es schon immer für eine Art vorgezogenes Ertrinken. Mir liegt eher das Untergehen im Blut. »Entspann dich«, rufen diejenigen mit Auftrieb, doch leider folgt mein Körper unweigerlich der Schwerkraft.

Bevor wir nun durch die heiligen Pforten eines englischen Elite-Internats schreiten, gibt es noch ein paar Puzzlestücke, die ich auf den Tisch legen sollte.

Ich war ein ziemlicher Einzelgänger. Ich interessierte mich nicht für Sport. An den Wochenenden verbrachte ich lange Nachmittage in der Bücherei. Ich hatte Kriegsspiele für mich entdeckt und informierte mich abends über die Genauigkeit der Brown-Bess-Muskete und die Taktik von Infanterie in Quadratformation. Oder ich malte meine Blechsoldaten an, die ich bald auf den nichtsahnenden Napoleon loslassen würde.

Mein Onkel Stewart, ein Lehrer, hatte mal eine örtliche Tischtennis-Meisterschaft gewonnen, also erschien eines Tages an Weihnachten eine Tischtennisplatte in unserem Haus. Dad und seine Brüder lieferten sich darauf heiße Gefechte, stritten darüber, wer gewonnen hatte, und gingen dann in den Pub.

Ich machte mich sofort daran, auf der Platte die Schlacht von Waterloo nachzustellen. Das Ding war grün und flach – perfekt. Nur eines von vielen kleinen Ereignissen, die meinem Vater seltsam vorkamen, als wäre die Zweckentfremdung einer Tischtennisplatte irgendwie unmännlich.

Der Tag kam näher, an dem ich von zu Hause ausziehen und für die nächsten vier Jahre an der Oundle School in Northamptonshire meine Zelte aufschlagen würde. Kein guter Zeitpunkt, um eine wunderbare Pickelsammlung zu entwickeln, aber da weit und breit keine Mädchen in Sicht waren, auch kein wirkliches Problem. Diese eitrigen Beulen hatte ich der Anwendung einer Mischung aus Motoröl, verbranntem Reifengummi und schmutzverkrusteten Fingernägeln zu verdanken. Kurz vor meinem Quasi-Auszug von zu Hause hatte ich den Motorsport für mich entdeckt.

Der Vater meines Schulfreundes Tim und seines großen Bruders Nick war sehr leidenschaftlich. Er fuhr einen gigantischen Cadillac und hatte einen riesigen Anhänger mit einem Mini-Rennstall für seine Söhne. Soweit ich wusste, besaß er einen Nachtclub und trank Gerstenwein in rauen Mengen.

Die 100-Kubikzentimeter-Gokarts mit Drehventilen waren richtig schnell. Ich hatte noch nie zuvor auch nur ein Lenkrad in der Hand gehabt, aber ich stieg einfach ein, ließ mich anstoßen und raste auf die erste Kurve am Ende der langen Geraden in Lindholme zu, einer ehemaligen Basis der Royal Air Force.

Dann lenkte ich ein, machte eine 360-Grad-Drehung und ließ den Motor absterben. Dasselbe passierte in praktisch jeder Kurve, bis ich zum Anhänger zurückkehrte, gefolgt von zwei durchgeschwitzten Brüdern, die auf dem letzten Loch pfiffen, nachdem sie mich um die ganze Rennstrecke verfolgt und mir immer wieder Starthilfe gegeben hatten.

In der Nachbesprechung wurde schnell klar, dass ich noch viel zu lernen hatte. Am Ende des Tages fühlte es sich aber an, als würde ich fliegen: Vollgas, die Gerade runter, so hart und spät wie möglich auf die Bremse, während mir das Adrenalin durch die Hände und das Herz schoss. Tatsächlich schaffte ich es wohl nur mit Ach und Krach ins Ziel, ohne von der Strecke abzukommen, aber was soll’s. Lokomotivführer, Jagdflieger und Astronaut – ab jetzt stand auch Rennfahrer auf der Liste.

Himmlischer Aufsteiger

Bevor wir aufs Internat gehen, würde ich gerne noch ein wenig über Religion sprechen. Schon mit vier Jahren hatte ich Erfahrungen damit gesammelt. Ich hatte aktiv und passiv damit experimentiert – viel zu früh. Das Ergebnis war allerdings völlig überraschend und der unumstößliche Beweis dafür, dass Gottes Wege unergründlich sind.

An meine Taufe kann ich mich nicht erinnern, aber offenbar genehmigte ich mir dabei eine Menge Weihwasser. Ich hätte im Taufbecken ertrinken können. Mein tiefer Schluck von Gottes Spezialsauce ließ zwar keinen Heiligenschein erstrahlen, aber vielleicht hatte er etwas mit meinem frühen Interesse an Engelsflügeln zu tun.

In der Schule hatte es das übliche Erntedankfest und ein paar langweilige Weihnachtslieder gegeben. Doch erst in Birkdale kam ich zum ersten Mal mit religiösem Eifer, Bibelstunden und dem Kampf gegen Satan an allen Fronten in Berührung.

Es gab eine Kabale fanatischer Lehrer, die – ob aus Zufall oder Absicht – auch die Schulausflüge leiteten. Einer davon führte uns nach Fort William in Schottland.

Zehn Tage Camping, in denen wir wenig zimperliche, quasi-militärische Spiele spielten, Berge bestiegen, Flüsse überquerten, von Bäumen auf andere Bäume sprangen (wer erinnert sich noch an das Holzfällerlied von Monty Python?) und einer religiösen Gehirnwäsche unterzogen wurden. Wie bei Bear Grylls, nur ohne jede Fluchtmöglichkeit.

Es gab Gebete und Vorträge, und bei den allabendlichen Versammlungen wurden die Kinder aufgefordert, aufzustehen und ihre Sünden zu bekennen. Die Belohnung dafür bestand aus überschwänglichem Lob, Umarmungen und Applaus. Ich erhob mich und zeigte auf eine Fliege an der Wand. Es handelte sich zweifellos um einen Diener Satans, denn sie hatte mich von dem Schwachsinn abgelenkt, den diese Teilzeit-Erlöser und Vollzeit-Lehrer von sich gaben.

Mit zehn fehlte mir noch jeglicher Sinn für Ironie. Ich wurde in die Gemeinde aufgenommen und war erfolgreich missioniert worden. Meine Aufgabe im Leben war es nun, Menschen zu Jesus Christus zu bekehren.

Nun, ich war immer für eine gute Mission zu haben, also machte ich mich auf den Weg in den Ort und versuchte, ein paar Mädchen aus den Highlands zu konvertieren. Dazu gab ich ihnen einen Flyer und lud sie auf den Campingplatz zu einem bunten frommen Abend mit glückseligen Kirchenliedern, furchtbarer Gitarrenbegleitung und Strickpullovern ein.

»Verpiss dich, Arschloch«, lautete die unmissverständliche Antwort.

Zu Hause in Sheffield schrieb ich mich bei der Christian Union ein, wo ich ein kleines Abzeichen trug und dazu ermutigt wurde, Dämonen im Angriff und diverse andere, weniger einfallsreiche Abhandlungen zu lesen. In einigen davon ging es um Themen wie Masturbation und Ehe. Ich war verwirrt und fragte mich: Gingen die Hand in Hand?

Verwirrt waren auch meine Eltern, die nur selten in die Nähe einer Kirche gekommen waren, seit ich mit neun Monaten eine zur Hälfte verschluckt hatte. Aber sie tolerierten es, schließlich erschien es ihnen harmlos und gab mir sonntags etwas zu tun.

Wenig später kamen Hormone ins Spiel, und ich begann, Mädchen in einem ganz anderen Licht zu sehen. Ich wollte sie nicht mehr nur bekehren. Zwar war ich mir nicht sicher, was genau mich sonst noch an ihnen reizte. Aber es juckte mich in den Fingern.

Mein Schulfreund Tim wusste genau, was er mit seinen Fingern anstellen wollte. Erstaunlicherweise hatte bislang noch niemand über Sex gesprochen, außer um uns einzubläuen, dass er eine Sünde war. Wenn überhaupt, war er nur erlaubt, um Babys zu machen. Weiteres Nachbohren bei diesem sexuell schon ziemlich fortgeschrittenen Burschen ergab, dass er in seiner Freizeit so einiges mit einer Socke und seinem Pyjama anzufangen wusste.

»Und was passiert dann?«, fragte ich und versuchte, es mir bildlich vorzustellen.

Also erzählte er es mir.

»Wirklich?« Mir war das alles neu. Doch wie heißt es so schön? Gott hasst Feiglinge, also tauschte ich Askese gegen Onanie ein. Und was die Sonntagsschule betraf: Im Kampf zwischen hemmungslosem Wichsen und der Christian Union konnte es nur einen Gewinner geben. Masturbation und Büchereien retteten meine Seele vor engstirnigen Missionaren und einer unerträglich engen religiösen Zwangsjacke. Gott sei Dank.

Gott und seine unergründlichen Wege hatten allerdings durchaus ihre guten Seiten.

Der offizielle Hüter unseres spirituellen Wohlbefindens in Birkdale hieß Pfarrer B. S. Sharp. Er war damals der Vikar von Gleadless in Millstone Grit, einer wunderbar finsteren, viktorianischen Kirche. Batty, so sein Spitzname, war anders als die Teilzeit-Eiferer. Er war mehr als nur ein bisschen exzentrisch und stocktaub. Für einen Pfarrer galt er als relativ harmlos.

Batty leitete den Musikunterricht. Die gesamte Schule kam in sein Gotteshaus gelatscht und fing zu singen an, während er auf und ab lief, mit den Armen fuchtelte und scheinbar nicht bemerkte, dass keiner der Jungen (Mädchen gab es natürlich nicht) im Takt war oder den Ton traf. Auch ich murmelte mehr, als dass ich sang, und als er schließlich zu mir kam, blieb er stehen, neigte den Kopf (ein bisschen wie ein Papagei) und sah mich an. Vermutlich brachte er sein gutes Ohr in Position.

»Sing lauter, Junge«, sagte er.

Also sang ich ein bisschen lauter. Dann kam er mit seinem Gesicht ganz nah an meinen Mund. Ich sah, dass ihm viele Zähne ausgefallen waren, und musste mich zusammenreißen, um nicht zu lachen.

»Sing lauter, Junge.«

Nun, ich mag eine gute Herausforderung, also brüllte ich, so laut ich konnte. Als ich erst einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Die Scham fiel von mir ab, und ich sang weiter bis zum Ende der Strophe. Es fühlte sich wunderbar an. Nicht, dass ich das damals zugeben konnte.

Er stand auf, fuchtelte wieder ein bisschen mit den Armen herum und lehnte sich dann wieder zu mir.

»Du hast eine sehr schöne Stimme, Kleiner«, sagte er. Dann marschierte er davon, und ich sah ihn nie wieder.

Wenn es einen Gott gibt, hat er oder sie nur Unsinn im Kopf.

Der Chorleiter in Oundle war von meiner Engelsstimme leider weit weniger begeistert als Batty. Es wurde bald klar, dass Singen, jedenfalls in der Kirche, mehr als unerwünscht war. Die Schulkapelle als eine Kirche zu bezeichnen wurde ihr jedoch auch nicht wirklich gerecht.

Die Kapelle von Oundle sah sich vielmehr als eine Kathedrale. Mindestens. Sie hatte einen Chor, und es gab die üblichen, möglicherweise sogar nachprüfbaren Gerüchte über Chorknaben und -leiter. Die Schüler im Chor trugen identische Gewänder und mussten ihre Freizeit mit nutzlosen Lobpreisungen des Herrn verbringen, bis ihnen die Stimmen versagten.

Es gab eine Gesangsprüfung, an der alle teilnehmen mussten. Ich war äußerst stolz darauf, dabei mit Pauken und Trompeten durchgefallen zu sein. Jede Note, die auf der Klaviatur weiß war, erwiderte ich mit einer schwarzen. Dann bekam ich einen Zettel in die Hand gedrückt, den ich meinem Hausleiter bringen sollte. Darauf stand: »Dickinson – Sidney House, KEIN SÄNGER.«

Die Rache des Räucherherings

Mir war nie ganz klar, warum ich auf dem Internat gelandet war. Meine Eltern hatten mich wiederholt gefragt, ob ich das wollte, und mein instinktiver Gedanke war immer derselbe: Hauptsache, ich komme hier raus. Also lächelte ich, bestand die knallharten Aufnahmeprüfungen, unterzog mich dem IQ-Test und ging zum Bewerbungsgespräch. Der IQ-Test war das Einzige, was mir auch nur im Entferntesten Spaß machte, denn er war interessant, und man musste nichts auswendig lernen. Man musste einfach nur sein Bestes geben. Im Frühsommer kam dann der Brief. Ich hatte bestanden: So sieht die Schuluniform aus, zahlen Sie uns bitte einen Haufen Geld.

Oundle war und ist noch immer eine kleine Marktstadt nahe Peterborough in der lieblichen Provinz von Northamptonshire. Sie liegt in einer Biegung des ruhigen, aber oft widerspenstigen Flusses Nene auf einem Hügel über der Flussaue. Fotheringhay Castle mit der dazugehörigen Kirche erhebt sich ein paar Kilometer entfernt, und die ganze Gegend ist durchdrungen von englischer (nicht britischer) Geschichte.

Die Schule nahm den halben Ort ein. Die meisten alten Gebäude beherbergten entweder Klassenzimmer oder Schlafsäle. Das Institut war im sechzehnten Jahrhundert von der Krämergilde der City of London gegründet worden. Sein Dreh- und Angelpunkt war der Hof im Stil der großen Eliteuniversitäten mit Säulen, Kolonnaden, prächtigen Marmorbalustraden und einer Architektur, die einen daran erinnern sollte, was man war. Nämlich klein, dumm und unbedeutend.

In jeder Ecke dieses Hofes waren Ehemalige auf Tafeln zu sehen. Die Besten aus den Disziplinen Rugby, Fives, Leichtathletik, Klassische Literatur, Mathematik. Dazu all die Jungen, deren Namen erst aufgeschrieben wurden, nachdem sie als gefallene Helden in Leichensäcken aus einem der Weltkriege zurückgekehrt waren. Es waren einige.

Ich wusste immer noch nicht, warum ich hier war. Durch das Bestehen all dieser grauenhaften Prüfungen hatte ich wohl irgendetwas bewiesen. Ein anderer Grund könnte gewesen sein, dass meine Tante dort Köchin war. Die Logik dahinter war mir nicht ganz klar, und selbst ich begriff nicht, was das Essen in der Schulkantine mit akademischer Leistung zu tun hatte. Doch es wurde oft angedeutet, dass mein Leben dort einfach sein würde, wenn die Leute wussten, dass meine Tante in der Küche stand.

Niemand aus meiner Familie, egal von welchem Ast des Stammbaums, war je auf eine Privatschule gegangen. Mein Vater hatte es aufs Gymnasium geschafft, aber nicht auf die Universität, da Ethel sich die Hochschulbildung nur für einen ihrer vier Söhne leisten konnte. Stewart war der Älteste, also durfte er aufs College.

Dad vergaß das nie.

Für meine Schwester liefen die Dinge völlig anders. Sie ging mit bescheidenen akademischen Qualifikationen von der Schule, wurde aber nach einem langen, anstrengenden Weg praktisch ohne irgendeine Ausbildung zu einer der besten Springreiterinnen der Welt. Während ich mit neunzehn meinen Arsch durch die Pubs von Ost-London schleppte, um vor drei Leuten zu spielen, debütierte meine vierzehnjährige Schwester in der »Horse of the Year«-Show in der Wembley Arena mit einem Pferd, das sie selbst trainiert hatte.

Nachdem ich mit dreizehn Sheffield verlassen hatte, begann ich also einen Prozess der Abnabelung von meiner Familie und der unfreiwilligen Entfremdung von der Menschheit an sich, wenigstens für ein paar Jahre. Ob ich als Person dadurch mehr gewonnen oder verloren habe, lässt sich selbst rückblickend nur schwer beantworten.

Dass dieses Bildungs-Treibhaus für die schulischen Leistungen von Vorteil war, stand allerdings außer Frage. Die weniger Guten wurden besser, und die wirklich Talentierten konnten strahlen, mit wenigen Ausnahmen. Ich weiß noch, dass ich konsequent durchschnittlich war, aber manchen aus diversen anderen Gründen im Gedächtnis blieb.

Alle Jungen wurden einem Haus mit fünfzig oder sechzig Schülern zugeteilt, das dann ihren Stammsitz bildete. Konkurrenz war ein alles beherrschendes Thema. Es gab Wettkämpfe zwischen Schulen, zwischen den Häusern und innerhalb der Häuser. Auf der Suche nach Siegern wurde nichts unversucht gelassen. Wer nicht im Sport gewann, konnte es im akademischen Bereich versuchen. Wenn das auch nicht funktionierte, nun ja – dann hatte man ein Problem. Vielleicht war Oundle doch nicht der richtige Ort für dich.

Mein Haus hieß Sidney, hatte eine prächtige Fassade und eine breite Kiesauffahrt. Es grenzte an endlose Rugby- und Cricketfelder und war meilenweit von den Klassenzimmern entfernt. Noch heute renne ich mehr, als dass ich gehe, aus Todesangst, ich könnte zu spät in den Literaturunterricht kommen. Schon vor dem Mittagessen legte ich so jeden Tag wohl um die acht Kilometer zurück, und das mit Schulbüchern unter dem Arm. Heute erledigen wahrscheinlich Hoverboards und iPads die ganze Arbeit.

Doch tägliche Gewaltmärsche waren nicht die einzige Herausforderung. Noch bevor Peitschen, Ketten und stumpfe Waffen (mehr dazu später) mich erwischten, durfte ich erst mal eine Salmonellenvergiftung über mich ergehen lassen. Neben rotem Lippenstift und Turmfrisuren gehört überbackener Fisch zu dem Horrorkabinett der Dinge, die mich bis heute verfolgen.

Meine liebe Tante Dee hatte versucht, mich und zwanzig andere Jungs aus meinem Haus zu töten. Clevere Detektivarbeit ergab, dass das mikrobische Pathogen von einem Servierlöffel stammte. Die Unglücklichen, die sich in der Kantine für die linke Schlange entschieden hatten, mussten Pasteurs Rache über sich ergehen lassen. Die in der rechten Schlange kamen ungeschoren davon. Drei Stunden nach dem Verzehr des fischgewordenen Brechmittels setzten die Magenkrämpfe ein. Kurz danach kam ich auf die Krankenstation, wo schon diverse Schulkameraden mit ähnlichen Symptomen lagen. Drei Tage lang sprudelte es nur so aus jeder verfügbaren Körperöffnung. Die Textzeile »And I filled their living corpses with my bile« aus dem Song »If Eternity Should Fail« bedurfte keiner großen Vorstellungskraft.

Wir verbrachten viel Zeit mit Sport. Wer nicht gut darin war, wurde als »erbärmlich« abgestempelt. Wer gut darin war, wandelte auf einer kleinen Wolke und galt als unfehlbar.

Es gab unzählige Rugbymannschaften an der Schule, ein Bootshaus mit Achtern, Vierern und Skulls, dazu noch Cricket, Tontaubenschießen, Tennis, Squash und das kaum bekannte, aber beliebte Fives.

Bevor man in eines der Boote steigen durfte, musste man sich dem »Bootstest« unterziehen. Hexen im Mittelalter durchlebten eine ähnliche Qual. Dazu gehörte es, sich in Armeestiefel, Jeans und einen dicken Armee-Wollpullover stecken und dann in den Fluss werfen zu lassen.

Von einer Brücke über die Nene aus beobachtete man das Ertrinken der jungen Hexen. Die Opfer wurden hochgehoben und in das eiskalte Wasser geschmissen, dann mussten sie etwa fünfundzwanzig Meter schwimmen, ohne abzusaufen. Man kann sich vorstellen, wie sehr ich das genoss. Ich galt als potenzieller Ruderer, also gewährte man mir ganz diskret noch einen zweiten Versuch, dann einen dritten. Sie hätten wohl einfach weitergemacht, bis ich ertrunken wäre, also hörte ich auf zu atmen, dachte an meine Taufe und schluckte eine Menge Wasser, bis ich endlich mit einem Bootshaken herausgefischt wurde. Der Test wurde kurz darauf abgebrochen, nachdem man tote Kühe entdeckt hatte, die an einer furchtbaren Krankheit gestorben waren und aufgebläht ein Stück weiter im Wasser trieben.

Natürlich wurde ich gemobbt, doch wie schon zuvor gab ich auch hier nicht klein bei, änderte nicht meine Meinung und hielt nicht die Klappe. So kam es zwei Jahre später zu einem größeren Zwischenfall. Eltern wurden einbestellt, es gab ein paar Schulverweise, und dann wuchs wieder Gras über die Sache. Doch während dieser zwei Jahre war das Leben mal mehr, mal weniger höllisch.

Wir waren in Schlafsälen untergebracht, die Armeebaracken ähnelten: kalte, riesige Fenster ohne Vorhänge und Eisenbetten in zwei Reihen, dünne Matratzen auf Spanplatten, ein paar Decken und Baumwolllaken. Es gab keinerlei Privatsphäre, keine Schlösser an den Schubladen, und natürlich nur Gemeinschaftsbäder und -waschräume. Interessant wurde es immer, sobald die Lichter ausgingen. Wenn der Lehrer verschwunden war, weckte mich der Hausälteste. Eine halbe Stunde später versammelte sich eine kleine Menschenmenge um ihn. Er war etwa achtzehn, ein großer Kerl. Und er hatte ein Kissen zu einem kleinen Ball zusammengeknüllt.

»Zeit für deine Lektion, Dickinson. Verteidige dich«, sagte er dann.

Nach den Boxregeln wurde jedenfalls nicht gekämpft, und viel dagegen tun konnte ich sowieso nicht – außer einen Vorrat an Wut und Hass anzulegen. Mein Bett war oft vorgenässt oder mit Eiern beschmiert, manchmal waren meine Sachen voller Spülmittel. Und dabei handelte es sich nur um kleinere Verletzungen der Intimsphäre.

Im zweiten Jahr war ich dann richtig angepisst. Rugby reichte nicht mal ansatzweise, um diese Wut zu kanalisieren, dabei mochte ich den Sport sogar sehr gerne. Man mag es kaum glauben, aber ich war einer der Pfeiler, und als die anderen dann wuchsen, während ich es nicht tat, spielte ich mal als Hakler (kein Spaß), mal als Gedrängehalb (auch eher unlustig) und fand dann endlich meine Position als Flanker.

Mein Ausweg war die Army Cadet Force, die Jugendorganisation der britischen Armee. Klar, auch da gab es eine Hierarchie, aber seltsamerweise hatte es das Regime dort nicht auf mich allein abgesehen. Alle mussten denselben Mist ertragen. Wir waren vierhundert Kadetten, und ich stieg schnell auf, bis ich eines Tages den erhabenen Rang des Unteroffiziers erhielt.

Es gab nur zwei von uns. Der andere war Ian, einer meiner wenigen engen Freunde in Oundle, der später Oberstleutnant im Highland Regiment wurde und an einigen ziemlich brenzligen Orten diente. Fünfundzwanzig Jahre später traf ich ihn mal in einem dreckigen Hotel in Jeddah. Ich war dort als Kapitän einer Boeing 757, die Saudi Airlines während des Hadsch gechartert hatte. Er war Leiter der saudischen Nationalgarde. Auch nicht übel.

In Oundle genossen wir unerwartete Privilegien. In der Waffenkammer der Schule gab es genug Schusswaffen für einen Staatsstreich in einem kleinen afrikanischen Land, Original-Ausrüstung aus dem Zweiten Weltkrieg. Da waren etwa hundert 303-Lee-Enfield-Gewehre, ein halbes Dutzend Bren-Knarren, Knallgranaten, 2-Zoll-Mörser, Rauchgranaten sowie scharfe Munition und Platzpatronen. Wir hatten beide den Führungskurs der Bodentruppen absolviert, wo wir die neueste Ausrüstung bekamen und zwei Wochen in Thetford damit verbrachten, aus Hubschraubern geschubst zu werden, 24-, 36- und 48-stündige Übungen durchzuführen und uns jede Menge Blasen zu holen.

Mein Kolonnenführer war früher beim SAS gewesen und sagte mir, meine Leistung sei überdurchschnittlich in Sachen Teamwork, aber sonst überall nur Durchschnitt. Im Sommer wurde ich zum Royal Anglian Regiment und den Royal Green Jackets abgestellt und hing in Lympstone bei den Royal Marines von diversen Seilen. Ich hatte die ernsthafte Absicht, zur Armee zu gehen.

Ian und ich schmiedeten einen Plan, wie wir unsere Mittwochnachmittage interessanter und produktiver gestalten konnten. Erstaunlicherweise hatten wir mit sechzehn die Befugnis, Gewehre und automatische Schusswaffen, Sprengstoff und Platzpatronen aus der Kammer zu holen. Und genau das taten wir auch jeden Mittwoch. Erst dachten wir uns Szenarien aus, dann marschierten wir bis an die Zähne bewaffnet in den Wald und ballerten aufeinander, was das Zeug hielt.

Ich sollte vielleicht noch etwas mehr über die Oundle School erzählen. Vor 1914 brauchte das Empire vor allem Technokraten. Die traditionellen Privatschulen lehrten Altgriechisch und Latein – perfekt für die zukünftigen Beamten. Doch die bevorstehenden finsteren Zeiten verlangten nach Anführern, die etwas von Metallarbeit, Maschinenbau und Elektronik verstanden.