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When the rubber hits the road markiert den Zeitpunkt des Inkrafttretens des teilrevidierten Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) sowie der teilrevidierten Aufsichtsverordnung (AVO) am 1. Januar 2024. Zahlreiche Umsetzungsfragen sind bereits zuvor diskutiert und gelöst worden, aber einige Themenkreise beschäftigen auch nach dem Inkrafttreten der Teilrevisionen die Praxis. Die im Umsetzungsprozess diskutierten Problemstellungen, die Lösungsansätze und die noch offenen Fragen waren Gegenstand einer Tagung des Europa Instituts an der Universität Zürich am 24. Januar 2024. Verschiedene Mitwirkende haben über ihre Erfahrungen berichtet und ihre Ansätze zur Lösung der noch offenen Fragen vorgelegt. Um die so gewonnenen Erkenntnisse einer weiteren Leserschaft zugänglich zu machen, liegen nun auf den Vorträgen beruhende Artikel und Berichte über die beiden Diskussionsrunden im vorliegenden Tagungsband vor.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
When the rubber hits the road - Umsetzung der VAG/AVO Revision Copyright © by Hansjürg Appenzeller und Monica Mächler is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International, except where otherwise noted.
© 2024 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)
Herausgeber: Hansjürg Appenzeller, Monica Mächler – Europa Institut an der Universität ZürichVerlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch)Produktion, Satz & Vertrieb:buchundnetz.comISBN:978-3-03805-712-3 (Print – Softcover)978-3-03805-713-0 (PDF)978-3-03805-714-7 (ePub)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-712Version: 1.04 – 20240829
Das Werk ist als gedrucktes Buch und als Open-Access-Publikation in verschiedenen digitalen Formaten verfügbar: https://eizpublishing.ch/publikationen/when-the-rubber-hits-the-road-umsetzung-der-vagavo-revision/.
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When the rubber hits the road markiert den Zeitpunkt des Inkrafttretens des teilrevidierten Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) sowie der teilrevidierten Aufsichtsverordnung (AVO) am 1. Januar 2024. Zahlreiche Umsetzungsfragen sind bereits zuvor diskutiert und gelöst worden, aber einige Themenkreise beschäftigen auch nach dem Inkrafttreten der Teilrevisionen die Praxis.
Die im Umsetzungsprozess diskutierten Problemstellungen, die Lösungsansätze und die noch offenen Fragen waren Gegenstand einer Tagung des Europa Instituts an der Universität Zürich am 24. Januar 2024.
Im ersten Teil der Tagung stellte Monica Mächler die beiden Teilrevisionen in Bezug zu den internationalen Entwicklungen der letzten Jahre. Birgit Rutishauser Hernandez Ortega erläuterte die Schwerpunkte in der Umsetzung der beiden Revisionen aus der Perspektive der Aufsichtsbehörde FINMA. Die Regeln zur qualifizierten Lebensversicherung mit einem Fokus auf Information und Dokumentation im Vertrieb wurden von Alexander Lacher und Chiara Di Pietro vertieft. Daran schlossen sich weitere Ausführungen zum Vertrieb an: Helmut Studer befasste sich mit ausgewählten Fragen zu den teilrevidierten Regeln betreffend ungebundene Versicherungsvermittler und -vermittlerinnen. Claudia Biedermann setzte sich mit der Aufsicht über gebundene Vermittlerinnen und Vermittler auseinander. Eine Diskussionsrunde zu diesen Vorträgen unter der Moderation von Helmut Heiss schloss den ersten Teil ab.
Der zweite Teil war den regulatorischen Entwicklungen in verschiedenen Bereichen gewidmet. Zuerst befasste sich Hansjürg Appenzeller mit ESG und führte eine 360° Betrachtung aus der Perspektive der beiden teilrevidierten Erlasse durch. Vanessa Isler und Lutz Wilhelmy widmeten sich dem überarbeiteten SST mit einem Fokus auf risikoabsorbierende Kapitalinstrumente. Im Anschluss daran behandelte Julia Ender Amacker die Frage, ob Versicherungsunternehmen jetzt über mehr Freiraum in der Anlagepolitik verfügen. Abgeschlossen wurde der zweite Teil ebenfalls durch eine Diskussionsrunde unter der Leitung von Rupert Schaefer.
Um die so gewonnenen Erkenntnisse einer weiteren Leserschaft zugänglich zu machen, liegen nun auf den Vorträgen beruhende Artikel und Berichte über die beiden Diskussionsrunden im vorliegenden Tagungsband vor. Die Herausgeber danken zunächst den Referenten und Referentinnen sowie den Moderatoren der Diskussionsrunden für ihre Mitwirkung bei der Tagung und die Niederschriften der Beiträge. Zugleich gebührt ein besonderer Dank dem EIZ Publishing, insbesondere Tobias Baumgartner und Janick Elsener, für die wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Publikation. Die Ausführungen sind auf dem Stand von Januar 2024 mit vereinzelten Nachführungen bis zur Niederschrift.
Zürich, im Juni 2024 Hansjürg Appenzeller / Monica Mächler
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Revisionen von VAG und AVO – Einbettung in internationale Entwicklungen
Dr. Monica Mächler, Rechtsanwältin, Mitglied des Verwaltungsrats der Zurich Insurance Group AG, Zürich
Schwerpunkte in der Umsetzung der Revisionen von VAG und AVO
Birgit Rutishauser Hernandez Ortega, Direktorin ad interim, Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA, Bern
Qualifizierte Lebensversicherungen: Information und Dokumentation im Vertrieb
Dr. Alexander Lacher, Head Insurance Advisory, Partner bei KPMG AG, ZürichChiara Di Pietro, Consultant, Insurance Regulations & Compliance bei KPMG AG, Zürich
Ausgewählte Fragen zur Regelung der ungebundenen Versicherungsvermittler
Dr. Helmut Studer, General Counsel, Kessler & Co AG, Zürich
Aufsicht über die gebundenen Vermittlerinnen und Vermittler
Claudia Biedermann, LL.M., Rechtsanwältin, General Counsel Zurich Schweiz, Zurich Insurance Company, Zürich
Paneldiskussion „When the rubber hits the road – Umsetzung der VAG/AVO-Revision“ als Abschluss der Referate vom Vormittag
Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Heiss, Ordinarius für Privatrecht, Rechtsvergleichung und IPR an der Universität Zürich; Of-Counsel in Zürich
ESG: 360°-Betrachtung aus VAG/AVO-Perspektive
Dr. Hansjürg Appenzeller, MCJ, Rechtsanwalt, Partner bei Homburger AG, Zürich
Überarbeiteter SST – Fokus auf risikoabsorbierende Kapitalinstrumente
Vanessa Isler, LL.M., Rechtsanwältin, Head of Regulatory Affairs, Zurich Insurance Company, Zürich Dr. Lutz Wilhelmy, Aktuar SAV, Risk & Regulation Advisor, Director, Group Risk Management, Swiss Re Management Ltd, Zürich
Mehr Freiraum in der Anlagepolitik?
Julia Ender Amacker, LL.M., Rechtsanwältin, Head Legal and Compliance, AXA Schweiz, Winterthur
Paneldiskussion „When the rubber hits the road – Umsetzung der VAG/AVO-Revision“ als Abschluss der Referate des Nachmittags
Rupert Schaefer, LL.M., Rechtsanwalt, Exekutivdirektor Strategie, Policy und Steuerung, Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Frankfurt am Main
Monica Mächler
Betrachtet man die Regulierungslandschaft der letzten Jahre rund um die Schweiz, entsteht schnell der Eindruck, dass es sich um ein dynamisches Umfeld handelt. Die International Association of Insurance Supervisors (IAIS)[1] plant, den Insurance Capital Standard as a Prescribed Capital Requirement (ICS)[2] für international aktive Versicherungsgruppen bis Ende 2024 zu verabschieden, in der Europäischen Union und in Grossbritannien sind die prudenziellen Anforderungen überprüft worden, und punktuell werden Problemlösungen etwa zu recovery and resolution, policyholder protection und protection gaps entwickelt. Auch nicht-europäische Jurisdiktionen haben ihre Versicherungsregulierung aktualisiert. Ausserhalb der Versicherungsaufsicht und in der Regel sektorübergreifend werden weltweit vermehrt Technologie und Nachhaltigkeit reguliert, was sich auch auf das Versicherungsgeschäft auswirkt. Schliesslich werden in der Bankenregulierung die Ereignisse des Jahres 2023 verarbeitet[3], und es schliesst sich daran die Frage an, ob bankenaufsichtsrechtliche Entwicklungen auch Wirkungen auf die Versicherungsregulierung entfalten werden.
Dieser erste Eindruck soll im folgenden zweiten Teil für verschiedene geographische Räume überprüft werden, auch wenn es bei einem Überblick bleiben wird (siehe unten, II.). Zuerst werden stets die Entwicklungen im Bereich der Versicherungsregulierung dargestellt, danach folgen die Neuerungen des allgemeinen Rechts mit Rückwirkungen auf die regulatorische Erfassung des Versicherungssektors. Abschliessend (siehe unten, III.) wird der Versuch gewagt, die internationalen Tendenzen herauszukristallisieren und ihre Bedeutung für die Schweiz zu erfassen.
Die IAIS hat im Jahr 2023 eine voraussichtlich letzte umfassende Vernehmlassung zum ICS durchgeführt. Damit verbunden ist auch die Vernehmlassung zu den Änderungen der Insurance Core Principles (ICPs) 14 (Valuation) und 17 (Capital Adequacy).[4] Alles zielt auf eine Verabschiedung des ICS durch die IAIS im Spätherbst 2024 ab, dessen Umsetzung Gegenstand eines Übergangsregimes werden dürfte.[5]
Zugleich wird das Ergebnis der Prüfung erwartet, ob die US Aggregation Method zu Ergebnissen führt, welche mit denjenigen des ICS vergleichbar sind. Diese Beurteilung wird gestützt auf die IAIS Comparability criteria that will be used to assess whether the Aggregation Method provides comparable outcomes to the Insurance Capital Standard[6] vom März 2023 durchgeführt. In der Aggregation Method werden, verkürzt ausgedrückt, die Kapitalanforderungen der lokalen Aufsichtsregimes, wo sich die Aktivitäten der Gruppe abspielen, addiert und allenfalls noch ajustiert.[7]
Die IAIS befasst sich gleichzeitig auch mit der Entwicklung ihrer Position zu verschiedenen weiteren Themen. Von den Veröffentlichungen des Jahres 2023 sind etwa das Issues Paper on roles and functioning of policyholder protection schemes (PPSs)[8], das Papier zu Regulation and supervision of artificial intelligence and machine learning (AI/ML) in insurance: a thematic review,[9] das Issues Paper on Insurance Sector Operational Resilience[10], die Vernehmlassungen zu Draft Application Papers betreffend Climate Risk Scenario Analysis und zu Climate Risk Conduct[11] und ein Bericht mit dem Titel A call to action: the role of insurance supervisors in addressing natural catastrophe protection gaps[12] zu nennen.
Im Jahr 2024 folgten die Konsultationen zu Proposed changes to ICP Guidance to reflect climate risk[13] und zum Draft Application Paper on supervising diversity, equity and inclusion: the governance, risk management and culture perspective.[14] Weiter sind die Draft revisions related to theHolistic Framework in ICPs 12 and 16 and related to ComFrame standards in die Vernehmlassung gegeben worden, welche insbesondere eine Stärkung des Risikomanagements sowie der Vorbereitungen und der Instrumente für recovery andresolution vorsehen.[15] Zugleich hat die IAIS angekündigt, sich demnächst vertieft mit den Risiken zunehmender Investitionen in alternative Anlagen und der ebenfalls zunehmenden, vor allem den Lebensversicherungssektor betreffenden crossborder asset-intensive reinsurance, bei der die Bewertung der Aktiven oft grössere Risiken beinhaltet als die biometrischen Risiken, zu befassen.[16]
Aus den Veröffentlichungen des Financial Stability Board (FSB),[17] die Impulse für die Versicherungsregulierung entwickeln könnten, ist zunächst der Bericht zu Bank Failures, Preliminary lessons learnt for resolution[18] vom Oktober 2023 zu nennen. Es wird darin festgehalten, dass in mehreren Themenbereichen vertiefende Überlegungen erforderlich sind[19]; davon sind zwar Fragen zu public backstop financing für die Versicherungsregulierung weniger von Belang. Anregungen für die Versicherungsregulierung dürften indessen aus der vertieften Befassung mit Fragen zur Wahl der Resolution strategy und der einzelnen Instrumente hervorgehen, die auf einem präventiven Resolution plan beruhen sollen. Ebenso ist zu verfolgen, wie die Anforderungen an die Kommunikation und Koordination näher bestimmt werden. Dasselbe trifft hinsichtlich der Durchführbarkeit des bail-in zu. Und auch aus den Überlegungen zur Restrukturierung nach der Stabilisierung dürften Impulse hervorgehen, welche für die Versicherungsregulierung von Belang sein könnten.
Aufmerksamkeit verdient auch der am 29. Februar 2024 veröffentlichte Bericht Peer Review of Switzerland betreffend die Umsetzung des framework for systemically important banks.[20] Darin und in der dazugehörenden Pressemitteilung wird der Schweiz empfohlen, den Aufsichtsrahmen mit zusätzlichen Ressourcen, mit einem Ausbau des Aufsichtsregimes über zentrale Verantwortungsträger, mit früher einsetzbaren Interventionsinstrumenten (unter Würdigung nicht nur von quantitativen, sondern auch von qualitativen Elementen und Marktdaten) und mit einer Reihe von Massnahmen zur Sicherung der Planung und Umsetzung von recovery and resolution Mechanismen zu verstärken.[21]
Zunächst ist von Bedeutung, dass im Dezember 2023 der Europäische Rat und das Europäische Parlament sich zur Revision der Solvency II Richtlinie und zur neuen Insurance Recovery and Resolution Richtlinie vorläufig geeinigt haben.[22] Die definitiven Texte sind am 23. April 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedet worden und werden im Folgenden verkürzt als revidierte Solvency II Richtlinie sowie IRRD zitiert.[23]
Hinsichtlich der revidierten Solvency II Richtlinie bedeutet das, dass zunächst Investitionen in nachhaltige Anlagen zur Umsetzung des Green Deal gefördert werden sollen. Zugleich werden die Bestimmungen zu den langfristigen Garantien modifiziert und makroprudenzielle Instrumente in das Regelwerk eingefügt. Gleichzeitig sollen Nachhaltigkeitsaspekte über das ORSA und das prudenzielle Regelwerk erfasst werden. Der Verwaltungsaufwand für kleine und mittlere Versicherungsunternehmen soll reduziert und der Verbraucherschutz bei grenzüberschreitenden Transaktionen im Binnenmarkt verstärkt werden. Die revidierte Solvency II Richtlinie wird zu Revisionen bzw. Ergänzungen delegierter Verordnungen führen und zusätzliche nachgelagerte Regulierungen sind zu erwarten. EIOPA hat in diesem Kontext im Dezember 2023 eine Vernehmlassung zu einem Papier über Prudential Treatment of Sustainability Risks eröffnet.[24]
Bedeutsam ist auch die Entwicklung der IRRD. Demnach müssen die Mitgliedstaaten Abwicklungsbehörden bezeichnen. Sodann ist vorgesehen, dass für 60% jedes Markts (Nichtlebensversicherung[25] und Lebensversicherung[26] in der Direkt- und Rückversicherung) Sanierungspläne und für 40% jedes Markts Abwicklungspläne vorliegen müssen.[27] Zudem werden die Ziele, Bedingungen und allgemeinen Prinzipien der Abwicklung geregelt.[28] Schliesslich werden die Abwicklungsinstrumente bezeichnet:
das Instrument des Solvent-Run-Off-Managements;das Instrument der Unternehmensveräusserung;das Instrument des Brückenunternehmens;das Instrument der Ausgliederung von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten;das Instrument der Herabschreibung oder Umwandlung.[29]Bei der Regulierung im Technologiesektor erfährt derzeit der Artificial Intelligence (AI) Act grosse Aufmerksamkeit, der am 12. Juli 2024 im Amtsblatt publiziert wurde.[30] Daneben sind der Data Act[31] zum fairen Zugang und zur fairen Nutzung von Daten (2023) und der Data Governance Act[32] (2022) zum Umgang mit Daten von erheblicher Bedeutung. Dazu kommt etwa der Digital Operational Resilience Act[33] von 2022, der auf die Bewältigung operationeller Risiken fokussiert ist, sowie der Digital Markets Act[34] von 2022, der insbesondere die Tätigkeit der grossen Gatekeepers in den digitalen Märkten reguliert.
Was Nachhaltigkeit betrifft, sind Regulierungen aus den folgenden drei Bereichen zu erwähnen:
Zunächst ist auf die Taxonomy Regulation[35] von 2020 und die ihr nachgelagerten Erlasse hinzuweisen, welche die ökologisch nachhaltigen Wirtschaftstätigkeiten erfassen sollen.Sodann ist der Bereich der Offenlegungsvorschriften zu erwähnen: Als jüngste Regulierung ist die Corporate Sustainability Directive (CSRD)[36] im Jahr 2022 ergangen, welche nunmehr auch durch die Corporate Sustainability Reporting Standards[37] ergänzt wurde. Weiter ist die Sustainable Financial Disclosure Regulation (SFDR)[38] von 2019 zu erwähnen und die Non-Financial Reporting Directive (NFRD)[39] von 2014 ist ebenfalls noch von Belang.Schliesslich sind die Bestrebungen zum Verbot von Greenwashing zu nennen, wozu sich punktuell divergierende Umschreibungen etwa in der Erwägung 11 der Taxonomy Regulation,[40] in der Erwägung 7 des Mifid II Delegated Act,[41] in der Erwägung 16 der SFDR Delegated Regulation[42] oder im Vorschlag einer Richtlinie über Umweltaussagen vom 22. März 2022[43] zu finden. EIOPA hat im Dezember 2023 eine Opinion on sustainability claims and greenwashing in the insurance and pensions sectors[44] in Vernehmlassung gegeben.Nach dem Brexit ist die Finanzmarktregulierung in Grossbritannien einer vertieften Überprüfung unterzogen worden. Daraus ist der Financial Services and Market Act 2023 hervorgegangen, welcher zuvor als anwendbar bezeichnetes EU Recht grundsätzlich widerruft. Der Prudential Regulatory Authority (PRA)[45] und der Financial Conduct Authority (FCA)[46] werden wieder vermehrt rule making powers einräumt, was sich auch in der Weiterentwicklung der Versicherungsregulierung niederschlagen wird.[47]
Zur prudenziellen Versicherungsregulierung unter dem Namen Solvency UK wurden im Juni 2023 Entwürfe für The Insurance and Reinsurance Undertakings (Prudential Requirements) Regulations (No 1 and 2)[48] veröffentlicht. Sie sehen unter anderem eine geringere risk margin, Änderungen beim long term adjustment, keine Kapitalanforderungen für die britischen Zweigniederlassungen von ausländischen Versicherungsunternehmen, Erleichterungen für Neueintritte in den Versicherungsmarkt, gestraffte Regeln für interne Modelle, Erleichterungen bei Übergangsregimes für Solvency I Modelle und Reduktionen der reporting duties vor.[49] Im Dezember 2023 wurde gestützt darauf The Insurance and Reinsurance Undertakings (Prudential Requirements) (Risk Margin) Regulations 2023[50] verabschiedet.
Zu beachten sind auch die Vernehmlassung von Januar 2023 zu einem Insurer Resolution Regime[51] und die Ergebnisse samt Stellungnahme der Regierung[52], die im August 2023 veröffentlicht wurden. Das vorgeschlagene Regime beinhaltet Grundlagen für die Formulierung der Resolution conditions sowie der Stabilisation tools auf, die sich durch Flexibilität und Berücksichtigung der Eigenheiten des Versicherungsgeschäftes auszeichnen.
Von den neueren finanzmarktrechtlichen Verlautbarungen ist auch das Discussion paper on Artificial Intelligence and Machine Learning[53] zu erwähnen, das die Bank of England[54] einschliesslich der PRA und der FCA im Oktober 2022 veröffentlicht und wozu die Bank of England 2023 Kommentare publiziert hat.[55]
Ausserhalb der Finanzmarktregulierung werden auch in Grossbritannien die Entwicklungen der Technologie und der Nachhaltigkeit zunehmend sektorübergreifend erfasst, was den Versicherungssektor ebenfalls betrifft. Dass die Vorteile der digitalen Technologie bewirtschaftet und die Nachteile regulatorisch vermieden werden sollen, geht aus dem Policy paper zu Digital Regulation: driving growth and unlocking innovation[56] vom Oktober 2023 hervor. Im Digital Markets, Competition and Consumers Act[57] von 2023 werden für den digitalen Markt die wettbewerbsrechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz der Konsumenten abgesteckt.
Im Nachhaltigkeitsbereich wurde 2023 eine Vernehmlassung zur Umsetzung der Sustainability Reporting Standards[58], die im Wesentlichen auf den Vorschlägen des International Sustainability Standards Board (ISSB)[59] der IFRS Foundation[60] beruhen, mit dem Ziel der Umsetzung in Grossbritannien durchgeführt. Zu erwähnen ist, dass bereits seit 2021 der Green Claims Code (GCC)[61] der Competition and Markets Authority (CMA)[62] besteht, wonach Aussagen zur Nachhaltigkeit von Produkten und Dienstleistungen auf ihre Substanz geprüft werden können.
Im Hinblick auf die Prüfung der Vergleichbarkeit zum ICS hat die National Association of Insurance Supervisors (NAIC)[63] im September 2023 eine Darstellung zur Provisional AM [Aggregation Method] for Use in the Comparability Assessment[64] veröffentlicht. Sie hat 2023 auch ein Model Bulletin on the Use of Artificial Intelligence Systems by Insurers[65] entwickelt. Nachhaltigkeitsüberlegungen haben im selben Jahr zu einer Vernehmlassung zu einem NAIC National Climate Resilience Strategy[66]geführt. Erwähnenswert ist ferner eine Publikation aus dem Jahr 2022 einer NAIC Task Force zu Regulatory Considerations Applicable (But not Exclusive) to Private Equity (PE) Owned Insurers;[67] darin werden Prüfungsbedürfnisse bei Private Equity Investments in Versicherungsunternehmen, die oft mit Anlageverträgen verbunden sind, aufgelistet.
Im Technologiebereich ist von den punktuellen Entwicklungen auf Bundesebene etwa der Blueprint for an AI Bill of Rights[68] von 2022 zu erwähnen. Zahlreiche neue Erlasse beispielsweise zu Artificial Intelligence finden sich auf einzelstaatlicher Ebene etwa in Massachusetts, New York, Illinois und Kalifornien.[69]
Was die Regulierung von Nachhaltigkeit betrifft, bestehen kontroverse Diskussionen. Auf Bundesebene sind der Executive Order 14008 von Januar 2021 zu Tackling climate crisis at home and abroad[70] sowie der Executive Order 3939 von Dezember 2021 zu Catalyzing Clean Energy Industries and Jobs Through Federal Sustainability[71] erwähnenswert. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der US Inflation Reduction Act[72], der für viele Nachhaltigkeitsprojekte im Bereich der Energiewende Subventionen vorsieht. Auf der Ebene der Einzelstaaten zeigt sich ein tief gespaltenes Bild betreffend Nachhaltigkeitsregulierung, das von einer dezidierten Ablehnung und Pönalisierung zu einer proaktiven Unterstützung reicht.[73]
Schliesslich ist aus dem Kontext der Bankenregulierung und -aufsicht die Review of the Federal Reserve’s Supervision and Regulation of Silicon Valley Bank[74] des Board of Governors of the Federal Reserve System[75] zu erwähnen, wo neben Managementversagen auch Mängel in der Aufsicht und in der Regulierung festgestellt wurden.
Als Abrundung werden im Folgenden beispielhaft Entwicklungen in Australien, Brasilien, Kanada und China herausgegriffen.
Im Bereich der spezifischen Versicherungsregulierung fällt auf, dass auch in diesen Jurisdiktionen die prudenzielle Regulierung optimiert wird. Zu erwähnen ist die Teilrevision von 2023 der Insurance Regulations[76] in Australien, die Erneuerung der Regulierung zu Personal Lines[77] in Brasilien von 2022 oder die 2022 in Angriff genommene Phase II des China Risk Oriented Solvency System (C-Ross).[78] Dazu kommt, dass auch innerhalb der Versicherungsregulierung vermehrt Nachhaltigkeitsthemen aufgegriffen werden, wie etwa die Regulation No. 666/2022 Guidelines on sustainability requirements for the insurance sector[79] von 2022 in Brasilien, die Guideline B-15 zu Climate Risk Management[80] aus dem Jahr 2023 des kanadischen Office of the Superintendent of Financial Institutions (OSFI)[81] sowie die Green Finance Guidelines for the Banking and the Insurance Industry[82] von 2022 in China.
Was die sektorübergreifende Förderung der Nachhaltigkeit betrifft, sind in verschiedenen Jurisdiktionen erweiterte Offenlegungsstandards erlassen worden, so etwa die Global ESG Reporting Rules,[83] die in Brasilien ab 2026 gelten sollen, oder die Guidelines for the Content and Format of Information Disclosure by Companies Offering Securities to the Public No. 2 – Content and Format of Annual Reports,[84] die in China 2021 revidiert wurden. Sodann werden in verschiedenen Jurisdiktionen die umweltbezogenen materiellen Bestimmungen erweitert.
Was die neuesten, alle Sektoren erfassenden Entwicklungen im Technologiesektor betrifft, sind etwa die Projekte einer AI Regulierung nach dem Vorbild des EU AI Act in Brasilien[85] sowie der Entwurf eines kanadischen Artificial Intelligence and Data Act[86] zu erwähnen.
Der weltumspannende tour d’horizon durch die neuesten Entwicklungen der Versicherungsregulierung und der auf den Versicherungssektor zurückwirkenden allgemeinen Regulierung bestätigt, dass eine intensive Dynamik vorliegt. So wird sich etwa im globalen Standardsetting entscheiden, ob für die nächsten Jahren mit dem ICS ein tragfähiger globaler Kapitalstandard für Versicherungsgruppen mit internationalen Aktivitäten entsteht. Nicht unbedeutend wird sein, wie die Prüfung der Vergleichbarkeit der Ergebnisse der US-amerikanischen Aggregation Method ausfallen wird.
Im Gegensatz zur Phase nach der Grossen Finanzkrise von 2008, wo die Initiative mehrheitlich vom globalen Standardsetting ausging, ist heute ein Nebeneinander von Impulsen aus dem globalen Standardsetting und regionalen sowie nationalen Quellen zu erkennen. Auch die regionalen (supranationalen) und nationalen Gesetzgeber liefern wichtige Anstösse. Am intensivsten sind die regulatorischen Aktivitäten gegenwärtig in der EU mit der Erfassung von Nachhaltigkeit und Technologie. Sie beeinflussen mit unterschiedlicher Wirkung die Regulierung weltweit. International ist allerdings im Bereich der AI-Technologie noch ein vorsichtiges Vortasten zu beobachten, währenddem in Sachen Nachhaltigkeit besonders in den USA deutlich divergierende, teilweise gar antagonistische Positionen eingenommen werden.
Aus der Bewältigung verschiedener Bankenzusammenbrüche im Jahr 2023 sind mittlerweile Impulse für regulatorische Verstärkungen erkennbar und werden vermutlich bald weiter ausgearbeitet. Es ist denkbar, dass sie teilweise auch auf den Versicherungssektor durchschlagen, etwa in den Bereichen der Wahl der ResolutionStrategy und der Resolution Tools, die Koordination und Kommunikation sowie die anschliessende Restrukturierung. Zudem könnte die Diskussion um Policyholder Protection Schemes wieder an Fahrt zulegen.
Vergleicht man diese internationalen Bewegungen mit den Teilrevisionen des VAG sowie der AVO, die am 1. Januar 2024 in Kraft getreten sind[87], lässt sich feststellen, dass das VAG und die AVO im Bereich der prudenziellen Regulierung eine wesentliche Aktualisierung erfahren haben und nun auf einem sehr soliden Stand sind.
Mit den erwähnten Teilrevisionen sind in der Schweiz die Grundlagen geschaffen worden, um mit internationalem Standardsetting kompatibel zu sein. Art. 9c VAG sieht vor, dass der Bundesrat zur Erfüllung internationaler Kapitalstandards – wie des ICS – ergänzend oder alternativ zu den schweizerischen Solvenzvorschriften weitere Kapitalanforderungssysteme vorgeben kann, namentlich für international tätige Versicherungsgruppen und -konglomerate. Damit kann ein internationaler Kapitalstandard auch in der Schweiz zur Anwendung gebracht werden. Zudem sind mit den neuen Art. 52a ff. VAG spezielle Bestimmungen zur Sanierung in das VAG eingefügt worden, welche der Umsetzung der FSB Key Attributes of Effective Resolution Regimes for Financial Institutions[88] dienen.
Des Weiteren ist festzuhalten, dass mit Art. 22 VAG zum Risikomanagement seit Langem eine tragfähige Grundlage besteht, um die Risiken aus dem jüngsten Technologieschub und aus Gefährdungen der Nachhaltigkeit zu erfassen. Spezifisch aus der Versicherungsregulierung gibt es diesbezüglich bislang nur die Offenlegungsvorschriften betreffend klimabezogene Finanzrisiken für die Versicherungsgruppen bzw. Versicherungsunternehmen der Kategorie 2.[89] Neu ist der Entwurf eines FINMA Rundschreibens zu naturbezogenen Finanzrisiken, zu dem im Februar 2024 die Anhörung eröffnet wurde.[90]
Angesichts der intensiven Regulierungsaktivitäten zu Technologie und Nachhaltigkeit rund um die Schweiz wird es auch hier unumgänglich sein, im Inland differenzierte Antworten zu suchen und zu finden. Lösungen können sektorübergreifend angelegt sein, mögen aber Spezifikationen für den Finanzmarkt generell oder den Versicherungssektor erfordern; es ist zu hoffen, dass bei der Weiterentwicklung der Versicherungsregulierung der Fokus auf das Geschäftsmodell der Versicherung und die Risikoperspektive gerichtet bleibt.
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Insgesamt erlaubt die Betrachtung der internationalen Entwicklungen, eine Einordnung der nunmehr geltenden schweizerischen Versicherungsregulierung vorzunehmen. Gleichzeitig wird damit sichergestellt, dass bei der Befassung mit den gegenwärtig noch offenen Themenkreisen besonders betreffend Nachhaltigkeit und Technologie die Lösungsansätze in der EU, aber gleichzeitig auch Regulierungsoptionen aus anderen Jurisdiktionen in die Diskussion einbezogen werden.