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12 Kriminalgeschichten rund um das liebste Getränk der Schotten: Eine wertvolle alte Flasche, die gestohlen wird, eine Flaschenpost, die ein Leben rettet, eine Brennerei, die abgefackelt wird, ein Säuferlied, das den Weg zu einem Schmugglerversteck weist oder ein rabenschwarzer Mord ... Der Whisky steht bei jeder der spannenden Storys im Mittelpunkt. Aber nicht immer bringt er den Genießenden Glück. - Nebenbei entführt die Autorin die Lesenden mit authentischem Lokalkolorit ins wunderbare Schottland und weckt die Lust auf eine Reise dorthin - und natürlich auf den Genuss eines wee dram guten Scotch! Mara Laue lebt und arbeitet als Berufsschriftstellerin und freie Künstlerin am Niederrhein. Die vielseitige Autorin schreibt neben Krimis auch Science Fiction, Fantasy- und Horrorromane, Liebesromane, Lyrik und Theaterstücke. .Weitere Informationen unter: www.mara-laue.de
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Seitenzahl: 234
Veröffentlichungsjahr: 2023
Whisky-Feuer
Mara Laue
Impressum
Copyright: vss-verlag
Jahr: 2023
Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt
Covergestaltung: Lydia Zoubek
Verlagsportal: www.vss-verlag.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig
„Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Whiskykrimis zu schreiben?“, werde ich immer wieder gefragt. Ebenso: „Was ist überhaupt ein Whiskykrimi?“ Ich beantworte die zweite Frage zuerst. Ein Whiskykrimi ist ein Krimi, der einen intensiven Bezug zum Whisky hat, sei es, dass ein Whisky oder eine Flasche einer bestimmten Marke eine wichtige Rolle in der Handlung spielt oder dass eine oder mehrere Figuren in der Geschichte ihn bevorzugt trinken. Die Antwort auf die Frage, wie ich auf die Idee gekommen bin, solche Krimis zu schreiben, ist ein bisschen komplizierter.
Alles begann, als ich im Jahr 1987 zum ersten Mal Schottland besuchte. Als ich dieses wunderbare Land betrat, hatte ich das irrationale Gefühl, nach langer Abwesenheit nach Hause zu kommen, ob-wohl ich nie zuvor dort gewesen war. Dieses Gefühl stellt sich bei jedem Besuch von Neuem ein. Bei der Erkundung von Land, Leuten, Sitten und Bräuchen stieß ich zum ersten Mal auf Single Malt Whisky (Erklärung im Anhang „Kleine Whisky(e)ykunde“). Bis dahin kannte ich nur „Blended“ Whisk(e)ys aus dem Supermarkt, und die schmeckten mir nicht besonders.
Der erste Single Malt, den ich nolens volens trank, weil mindestens ein Whisky zum Schottlandbesuch einfach dazugehört, war der achtzehnjährige Talisker Amoroso. Er schmeckte rauchig und süß zugleich und besaß so vielfältige Geschmackskomponenten, die sich erst Schluck für Schluck offenbarten, dass ich kaum glauben konnte, dieses göttlich schmeckende Getränk sei wirklich ein Whisky. Doch so war es. Ich probierte auf meiner Reise durch Schottland weitere Single Malt Whiskys und stellte fest, dass jeder von ihnen eine Klasse weit jenseits der damaligen Supermarkt-Whiskys besaß. (Heute bieten viele Supermärkte auch exquisite Single Malts an.)
Weil so ein guter Whisky aber zu schade ist, um ihn zum „Alltagsgetränk“ zu degradieren oder auf Partys als „Perlen“ an Leute zu verteilen, die ihn gar nicht zu schätzen wissen, blieb er mein Privatgenuss, den ich immer nur zu besonderen Anlässen trinke. Ich feiere mit ihm meine Geburtstage, Weihnachten und sonstige außergewöhnliche Ereignisse. Nachdem ich Berufsschriftstellerin geworden war (2005), gehört zu diesen Ereignissen auch der Abschluss jedes neuen Buchvertrages und die Begrüßung jedes neuerschienenen Buches.
Eines Tages im Jahr 2011 saß ich wieder einmal mit meinem Talisker Amoroso, der seit dem ersten Schluck damals in Schottland immer noch meine persönliche Nummer eins ist, feierte einen neuen Vertragsabschluss und hörte nebenbei die alten Bluessongs von Robert Johnson aus den 1920er Jahren. In dem Moment kam die Muse vorbeigeflogen und flüsterte mir „Talisker Blues“ ins Ohr. Mit dieser Wortkombination konnte ich zunächst nichts anfangen. Doch wenn die Muse küsst, tut sie das nicht ohne Grund.
Innerhalb von Minuten verfestigte sich die Idee zu einem Krimi, in dem es darum geht, dass ein junger Mann nach dem Genuss einer exorbitanten Menge Talisker einen Blackout hat und im Suff seine Freundin ersticht. Dafür muss er zwanzig Jahre ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung kehrt er in seine Heimat, auf die Insel Skye, zurück und versucht, sich ein neues Leben aufzubauen. (Skye wählte ich als Schauplatz, weil der Talisker auf dieser Insel hergestellt wird.) Doch gegen seinen Neuanfang haben etliche Leute etwas einzuwenden und machen ihm das Leben schwer. Als wieder eine Frauenleiche gefunden wird, neben der eine leere Whiskyflasche mit seinen Fingerabdrücken liegt, steht für alle fest, dass er wieder der Täter war. Doch diesmal war er nicht betrunken und weiß genau, dass er die Frau nicht umgebracht hat. Ihm kommen Zweifel: War er vor zwanzig Jahren vielleicht auch unschuldig und jemand hat ihm den Mord angehängt?
Aus dieser Idee entstand mein erster „Whiskykrimi“, der auch den Titel „Talisker Blues“ trägt. Er verkaufte sich so gut, dass der Verlag weitere Kriminalromane mit Bezug zu Whisky und Musik (Blues, Soul, Jazz, Rock usw.) wünschte. Nach einer Lesung aus „Talisker Blues“ in der Familienbildungsstätte meiner Heimatstadt, schlug mir die Kursleiterin vor, im Jahr darauf eine Lesung der besonderen Art zu veranstalten, die mit einer Whiskyverkostung ein-hergehen sollte. So entstand die Vortragsreihe „Whisky und Wort“, die sieben Jahre lang erfolgreich und immer ausgebucht war.
In jeder dieser Lesungen stellte ich zwei bis drei verschiedene Single Malt Whiskys in Verbindung mit einer Kriminalgeschichte vor, in der eben diese Whiskys eine mehr oder weniger intensive Rolle spielen. Schon nach der ersten Lesung kam die Frage auf, ob es diese Storys auch als Buch gibt. Nun machen drei Storys noch kein Buch. Erschwerend, vielmehr verzögernd kam hinzu, dass ich als Berufsschriftstellerin strenge Abgabetermine für meine Romane habe, sodass ich neben dem „Abarbeiten“ dieser Termine kaum Zeit habe, weitere Werke zu schreiben, die noch nicht termingebunden unter Vertrag sind. Deshalb konnte ich jedes Jahr nur höchstens drei Whiskykrimis für „Whisky und Wort“ schreiben.
Doch nun haben sich genug Storys zusammengeläppert, die Sie hier lesen können.
Alle Geschichten spielen in Schottland an verschiedenen Orten von der Großstadt bis zum kleinen Dorf, vom Touristenzentrum bis zum „Hinterwald“. Alle beschriebenen und namentlich genannten Straßen und Landschaften sind authentisch, wovon Sie sich überzeugen können, sollten Sie einmal die betreffenden Gegenden besuchen. Lediglich wo Hausnummern genannt wurden, musste ich diese aus rechtlichen Gründen frei erfinden. Doch jedes Haus hat eine Entsprechung in der Realität, ein Vorbild, dem ich es nachempfunden habe.
Für die Namen meiner Figuren habe ich traditionelle schottische Clannamen verwendet, obwohl natürlich nicht alle Menschen in Schottland traditionelle Namen haben. Viele sind auch aus England und anderen Ländern eingewandert, wie überall auf der Welt. Ein Glossar der in den Storys verwendeten schottisch-gälischen Ausdrücke finden Sie am Ende des Buches.
Ich wünsche Ihnen rabenschwarzes Vergnügen beim Lesen!
„Der Alte muss weg!“ Darin waren sich alle einige. Nur über das Wie gab es noch sehr viel zu diskutieren, vielmehr sorgfältig zu planen.
‚Der Alte’ – das war Fergus Stewart of Darnley, der letzte Nachkomme des Nebenzweigs eines Nebenzweigs des Nebenzweigs des Royal Stewart Clans. Abgesehen von seinem hohen Alter von in-zwischen 89 Jahren war sein hervorstechendstes Merkmal, dass er Besitzer einer alten Burg war, die zwar nicht zum traditionellen Clanerbe gehörte, aber in Steinwurfweite von Ullapool am Loch Broom lag, einem Eldorado für Wanderer, Fischer und Naturbegeisterte. Fergus’ zweites markantes Kennzeichen war seine Liebe zum Whisky. Sein Liebling: Talisker Amoroso, den er kistenweise hortete.
Die Geschwister Johnny, Isobel und Kyle Ross hatten Caisleán Dùil – Burg Hoffnung – wie das Anwesen bezeichnenderweise hieß, zufällig bei einem Urlaub entdeckt und befunden, dass es der perfekte Ort für ihren Plan war, ein Event Hotel zu eröffnen. Ullapool war von Touristen gut besucht und ein Event Hotel in der Art, wie es den Geschwistern vorschwebte, wäre der Knüller – eine Goldgrube, ohne Frage.
Man war sich mit dem alten Fergus schnell einig geworden: Die Geschwister übernahmen die Instandsetzung des sehr renovierungsbedürftigen Gemäuers und zahlten dem Alten eine Leibrente bis an sein Lebensende anstelle eines Kaufpreises. „Das letzte Hemd hat keine Taschen“, hatte Fergus gesagt. „Und wenn ich auf meine alten Tage in Frieden in meiner Burg bleiben und erleben kann, wie sie wieder aufblüht, dann ist das Reichtum genug für mich.“
Die Geschwister hatten nicht protestiert, denn so ein Schnäppchen bekamen sie garantiert nie wieder.
Jedoch war die Sache nicht ganz so idyllisch geworden, wie sie sich das vorgestellt hatten. Statt dass die Renovierungsarbeiten zügig vorangehen durften, bestand der Alte darauf, dass sie nicht vor elf Uhr morgens begonnen wurden, denn: „Ein alter Mann wie ich braucht seinen Schönheitsschlaf.“
Das wäre nicht weiter tragisch gewesen, wenn Fergus nicht insistiert hätte, dass auch während des Mittagessens absolute Stille zu herrschen hatte. Nur die Natur durfte lärmen, aber kein menschengemachtes Gerät. Nachmittags ab vier Uhr durfte kein Hammer mehr geschwungen werden, geschweige denn ein Betonmischer oder irgendein anderes lautes Gerät auch nur einen Mucks von sich geben, weil der Alte um diese Zeit seinen Amoroso ungestört genießen wollte – in Ruhe, die nur unterbrochen werden durfte von dem flüsternden Knirschen des Gemäuers, dem Säuseln des Windes in den Bäumen und den Stimmen der Vögel, die darin nisteten. Wenn Fergus endlich genug Talisker und Stille genossen hatte, waren die Bauarbeiter längst in den Feierabend entschwunden.
Jeden Tag gab es ein Zeitfenster von nur zweieinhalb Stunden, in denen die Burg instandgesetzt werden konnte. Wenn das so weiterging, würden Jahre vergehen, bis das Hotel endlich fertig wäre und Gewinn abwerfen konnte. Doch so viel finanzielles Durchhaltevermögen hatten die Geschwister nicht. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Monate endlich vorankamen, mussten sie ihren Traum begraben. Schon bald hatten sie deshalb begonnen, auf Fergus’ Tod zu hoffen. Eine Regung, für die sie sich einerseits schämten, doch die Situation wurde immer angespannter.
Denn der Alte erwies sich nicht nur als blühend gesund, zäher als das sprichwörtliche Leder und langlebiger als eine Katze mit ihren neun Leben, er hatte auch etwas gegen die Eventvorbereitungen. Die dazugehörige moderne Musik war ihm ein Gräuel, und nichts außer Dudelsackklängen durfte seine Ohren beglücken. Besonders wenn er selbst das Ding spielte, was er ausgiebig mehrmals täglich tat. Obendrein versuchte er Einfluss darauf zu nehmen, in welcher Reihenfolge die Renovierung stattzufinden hatte und machte Terror, wenn die Geschwister dem nicht nachgaben.
Die Nerven lagen bei Kyle, Johnny und Isobel blank, was in der nicht mehr verhandelbaren Entscheidung gipfelte: „Der Alte muss weg!“
„Aber wie?“ Isobel blickte ihre Brüder, mit denen sie sich zur Beratung in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, fragend an.
„Wir vergiften seinen Talisker“, schlug Johnny grimmig vor.
„Bist du wahnsinnig?“, empörte sich Kyle. „Den guten Tropfen vergiften? Das grenzt an Blasphemie! Dieses wunderbare Getränke“, schwärmte er, „dieser Nektar von der Tafel der Götter, dieses Geschmackswunder mit seiner rauchigen Süße, dem pfefferigen Nachbrennen, dem Geschmack nach Meer – und nach mehr – und dieser Hauch von Trockenfrüchten im Abgang ...“
„Hauptsache, der Alte geht endlich ab“, unter-brach ihn Johnnys grimmig. „Mir egal wie.“
„Abgesehen von der Blasphemie, einen guten Talisker zu vergiften“, schlug sich Isobel auf Kyles Seite, „dürfen wir keine Methode wählen, bei der sofort ein Verdacht auf uns fällt. Und egal, was wir vergiften, das können nur wir gewesen sein, weil wir uns mit Fergus die Küche teilen und auch für ihn die Mahlzeiten zubereiten. Gift scheidet also aus.“
„Wie wäre es mit dem klassischen Dolch im Rücken?“, überlegte Kyle. „Meinetwegen auch in der Brust. Während der Alte schläft. Das können wir dann einem Einbrecher in die Schuhe schieben.“
Isobel blickte ihn an, als habe er nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Einbrecher. Hier in Ullapool, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen und die Polizeistation winzig ist, weil sie nichts zu tun hat, außer ab und zu mal Touristen zu ermahnen, nicht zu schnell zu fahren. Wann gab es hier den letzten Einbruch? Seit wir hier wohnen jedenfalls nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Auch bei der Methode fällt der Verdacht sofort auf uns.“
„Und wenn wir uns ein Alibi verschaffen?“ Kyle war nicht bereit, seine Idee kampflos aufzugeben. „Wenn wir alle drei behaupten, zu der Zeit gar nicht im Haus gewesen zu sein und unseren Abgang im Ort so inszenieren, dass etliche Leute uns wegfahren sehen? In der Nacht kommen wir dann zurück – oder nur einer von uns – und erledigen es. Und das Messer entsorgen wir hinterher unauffindbar. Dann ist das eine todsichere Sache. Buchstäblich.“
Die Geschwister schwiegen eine Weile, denn der Plan erschien ihnen machbar.
Schließlich schüttelte Isobel den Kopf. „Aber der Verdacht fiele trotzdem auf uns“, meinte sie. „Denn es wäre schon ein extremer Zufall, dass der Alte ausgerechnet dann ermordet wird, wenn wir nicht da sind. Und die Ermittlungen bei Mordverdacht unternimmt nicht der Dorfsheriff, sondern das CID aus Inverness. Bei denen haben wir keinen Investoren-Bonus wie bei den Leuten hier.“
„Aber beweisen wird man uns nichts können“, beharrte Kyle. „Oder hast du eine bessere Idee?“
Isobel nickte. „Was immer wir tun, es muss wie ein Unfall aussehen.“
„Jagdunfall?“, überlegte sich Johnny. „Eine Kugel aus einem Jagdgewehr trifft ihn, während er seine geliebte Natur genießt ...“
„Idiot!“, fuhr ihm Isobel in die Parade. „Jeder hier weiß, dass wir ein Jagdgewehr haben. Das überprüft die Polizei doch als Erstes. Wenn das dann plötzlich verschwunden ist, haben wir die so lange am Hals, bis sie es entweder gefunden haben oder andere Beweise ausgraben.“ Sie lächelte boshaft. „Er trinkt doch täglichen seinen Amoroso. Und bei der Menge, die er in Küche und Keller gehortet hat, glaubt jeder sofort, dass er einen über den Durst getrunken hat und dann zum Beispiel die Treppe runtergefallen ist. Oder irgendwo ausrutscht und sich beim Aufprall auf dem Boden oder wo auch immer den Schädel einschlägt.“ Sie lächelte breiter. „Und dass er das erforderliche Quantum intus hat, dafür können wir doch sorgen, nicht wahr? Das ist dann wirklich eine todsichere Sache.“
*
Fergus starrte auf die exquisite Sammlung von Taliskerflaschen, die die Geschwister Ross ihm ein-fach so aus heiterem Himmel geschenkt hatten, und fühlte sich gerührt. „Och, Kinder, das wär’ doch nicht nötig gewesen. Der ganze Keller ist doch noch voll!“
Allerdings musste er zugeben, dass sich darin weder der klassische zehnjährige Talisker befand, noch der Dark Storm. Und erst recht nicht der 57° North, der seinem Namen entsprechend 57 Prozent Alkohol hatte. Und seinen geliebten Amoroso hatten sie noch dazugegeben. Wie unglaublich nett von den jungen Leuten, dass sie ihm ein solches Geschenk machten, das nicht billig gewesen war, besonders da sie sich nicht hatten nehmen lassen, von jeder Sorte gleich drei Flaschen zu kaufen.
„Wir wollten mit dir feiern, Fergus, dass wir jetzt seit zwei Jahren eine tolle Familie sind“, wehrte Isobel Ross ab. „Auf den Tag genau.“
Und dazu hatten sie ihn auch noch in ihr gemütliches Wohnzimmer im Obergeschoss der Burg eingeladen, statt das Ganze unten in die nicht ganz so gemütliche riesige Küche zu verlagern. „Och, Kinder“, konnte Fergus nur wiederholen und fühlte Tränen in den Augen. Er wischte sie weg. „Na, dann lasst uns mal feiern!“
Der 57° North wurde zuerst geköpft und Fergus persönlich füllte den jungen Leuten die Tumbler bis fast zum Rand. „Slàinte mhath!“
„Slàinte mhór!“, prosteten die drei zurück.
Fergus trank einen ordentlichen Schluck, der den halben Tumbler leerte, und sah es den jungen Leuten nach, dass sie an dem Whisky nur nippten. Der siebenundfünfzigprozentige North bahnte sich seinen Weg die Kehle hinunter in den Magen. Köstlich! Fergus ließ es sich auch nicht nehmen, seinen Dudelsack zu holen und die alten Weisen zum Besten zu geben. Er fand, dass sie mit jedem Glas, das er leerte, besser klangen.
Nachdem die Flasche leer war, war der Amoroso an der Reihe. Aber Fergus merkte, dass er langsam müde wurde. Insgeheim bewunderte er die jungen Leute, die von dem Alkohol kaum beeinträchtigt zu sein schienen. Ach ja, die Jugend! Er genoss den schönen Nachmittag und den Whisky. Als der Dudelsack anfing zu quäken und Fergus immer öfter die Löcher der Pfeife nicht richtig traf, nahm er das als Zeichen, dass es an der Zeit war, seinen Nachmittagsschlaf anzutreten. Nun ja, es war eigentlich schon Abend.
„Ischsch muuuus’etzt ma...“ Er machte eine Handbewegung, die eigentlich in Richtung auf seinen Wohntrakt zeigen sollte, doch irgendwie geriet sie schief und wirkte, als wollte er ausholend jemanden heranwinken. „Schl-l-l-laahahaaa...“,. versuchte er, den Satz zu vollenden, was sich als ziemlich anstrengend erwies. Er winkte ab und überließ es den Geschwistern, sich den Rest zu denken.
Das Aufstehen erwies sich als noch anstrengen-der. Fergus brauchte drei Versuche und die Hilfe von Johnny an der einen und Kyle an der anderen Seite, um überhaupt auf die Beine zu kommen. Dann ging er langsam zur Tür und versuchte zu ignorieren, dass das ganze Zimmer schwankte wie ein Boot auf dem Loch Broom bei heftigem Wellengang. Aber er schaffte es hinaus auf den Flur und zum Treppenabsatz. Stand oben, starrte in die Tiefe und überlegte, wie er am besten unfallfrei nach unten käme. Er wankte.
Kyle packte Isobels Arm. „Gleich fällt er“, flüsterte er ihr zu. Er hielt gespannt den Atme an.
Doch der Alte dachte nicht daran zu fallen. Stand oben an der Treppen und schwankte hin und her und wieder hin. Streckte ein Bein vor, um den Fuß auf die erste Treppenstufe nach unten zu setzen und – tat es nicht, denn er geriet noch mehr ins Wanken. Drohte zu fallen! Hastig ruderte er mit den Armen in der Luft und bekam das Geländer zu fassen. Hielt sich an ihm fest, während sein Oberkörper wie ein Pendel vor- und zurückschwang.
„Nun fall doch endlich“, zischte Kyle. Doch Fergus hatte nicht vor, ihm den Gefallen zu tun.
„Verdammt, das dauert mir zu lange“, knurrte Johnny. „Er ist besoffen genug, dass jeder den Sturz für einen Unfall hält.“
Er ging energisch zu Fergus, der sich immer noch wankend mit einer Hand am Geländer hielt, streckte beide Hände vor, um dem alten Mann den Todesstoß zu versetzen.
Fergus gewann in diesem Moment einen Teil seines Gleichgewichts zurück, und es gelang ihm, sich dicht an das Geländer zu ziehen – genau in dem Moment, als Johnny seine ganze Kraft und sein eigenes Körpergewicht in den beabsichtigten Stoß legte. Der ging ins Leere. Johnny konnte sich nicht mehr halten. Sein eigener Schwung, der nicht auf den erwarteten Widerstand stieß, riss ihn vorwärts – und er stürzte mit einem entsetzten Schrei die Treppe hinunter. Ein hässliches knackendes Geräusch war zu hören, und der Schrei brach abrupt ab.
„Johnny!“, schrie Isobel und wollte nach unten rennen, um ihrem Bruder zu helfen.
Fergus zuckte von dem Geschrei erschreckt zusammen, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin – leider nicht die Treppe hinunter, sondern direkt vor Isobels Füße. Sie stolperte, fiel über Fergus’ oben am Treppenansatz bäuchlings liegenden Körper und überschlug sich mehrmals auf ihrem unfreiwilligen Weg nach unten. Auch ihr entsetzter Schrei brach nach wenigen Sekunden ab.
„Bel!“, brüllte Kyle und eilte die Treppen hinunter, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht auch noch über Fergus zu stolpern, der vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
Isobel lag unten am Fuß der Treppe halb auf Johnnys leblosem Körper. Johnny hatte sich an irgendeiner Stufe der steinernen Treppe den Schädel aufgeschlagen wie eine Melone und war mausetot. Und Isobel hatte sich, auf den ersten Blick erkennbar, beim Sturz das Genick gebrochen. Kyle konnte es nicht fassen. Er hockte sich neben seine toten Geschwister und war keines klaren Gedankens fähig.
„Och, laddie, dasch dud ma sooo leid“, riss Fergus’ Stimme ihn irgendwann aus seiner Starre.
Er merkte erst jetzt, dass der alte Mann es irgendwie unfallfrei und sehr lebendig die Treppe hinunter geschafft hatte und nun neben ihm saß. Fergus legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter. Kyle spürte eine mordsmäßige Wut in sich hochkochen. Das durfte doch nicht wahr sein! Johnny und Bel waren tot, aber der Alte erfreute sich immer noch seines Lebens. Das sollte er büßen! Kyle hätte ihn am liebsten wieder nach oben geschleift und ihn eigenhändig die Treppe runtergeworfen, aber diesmal so gründlich, dass er nicht überlebte. Er tat es nicht, denn in einer kleinen Ecke seines Verstandes mahnte eine Stimme, dass die Polizei bei einem Unfall mit zwei Toten akribisch den Hergang ermitteln würden. Wenn noch ein dritter Toter dazukam, würden sie noch gründlicher sein und vielleicht nicht mehr an einen Unfall glauben.
Der Alte würde für Johnnys und Bels Tod bezahlen, oh ja! Aber das musste Kyle sehr sorgfältig planen. Erst einmal musste er die nächsten Stunden und Tage überstehen. Irgendwie. Und danach würde er Fergus’ Ableben arrangieren. Aber diesmal todsicher.
*
„Ein wirklich sehr bedauerlicher Unfall“, versicherte Chief Inspector Hamish Usher und schüttelte Kyle die Hand. „Nochmals mein aufrichtiges Beileid für Ihren Verlust.“
Kyle nickte und murmelte einen Dank. Die vergangenen Wochen während denen die Polizei ihre Untersuchungen durchgeführt hatte, waren die Hölle gewesen. Kyle litt nicht nur unter dem Tod seiner Geschwister. Das größte Leid wurde dadurch verursacht, dass der Plan mit dem todsicheren Unfall, der doch hätte klappen müssen, so schiefgegangen und der Alte immer noch quicklebendig war.
Obendrein hatte Fergus sich nicht nehmen lassen, Kyle zu bemuttern, war ständig bei ihm und hatte alles unternommen, um ihn zu trösten. Dabei war er doch schuld an der Katastrophe! Hätte er nicht einfach die Treppe runterfallen können, wie es geplant war? Kyle konnte seine Gegenwart kaum ertragen.
Immerhin hatte Fergus Kyles Version des angeblichen Unfallhergangs bestätigt. Fergus und die Geschwister Ross hatten am Nachmittag gefeiert und allesamt zu tief in die Whiskyflaschen – Plural! – geschaut, Fergus mehr als die anderen, hatte er zu Protokoll gegeben. Johnny und Isobel hatten ihn schließlich gemeinschaftlich zu Bett in sein Schlafzimmer im Erdgeschoss bringen wollen. Oben an der Treppen waren alle drei aus dem Gleichgewicht geraten – Fergus wusste nicht mehr warum oder wie – und das Nächste, woran er sich erinnerte, war, dass die beiden unten tot gelegen hatten. Kyle hatte ergänzt, dass Johnny über seine eigenen Füße gestolpert war und Isobel, die versucht hatte, seinen Absturz zu verhindern, unabsichtlich mit sich gerissen hatte. Wie es aussah, war die Polizei zu dem Schluss gekommen, dass die Schilderung stimmte.
„Ich werde mich nie mehr betrinken“, murmelte Kyle an Chief Inspector Usher gewandt.
Der nickte nur und deutete auf Kyles Wagen, der in der Auffahrt stand und deutlich sichtbar gepackte Koffer auf dem Rücksitz hatte. „Wollen Sie verreisen?“
Kyle nickte ebenfalls. „Zurück nach Glasgow, woher wir ursprünglich kommen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht bleibe ich da. Was soll ich denn ohne Bel und Johnny mit diesem riesigen Gemäuer anfangen?“ Er deutete auf die Burg, ohne sie anzusehen.
„Ich halte die Stellung, laddie!“ versicherte Fergus, der am Eingang stand und ihm zuwinkte. „Fahr vorsichtig!“
Das hatte Kyle vor – und noch etwas ganz anderes. Er winkte Fergus zu, stieg in den Wagen und fuhr davon. Einen besseren Zeugen als Chief Inspector Usher dafür, dass er abgereist war, konnte er sich nicht wünschen.
Er fuhr nach Garve und mietete sich im Garve Country Hotel ein, wo er eine Show daraus machte, den von Trauer zerrissenen Hinterbliebenen zu spielen, der nicht mehr in der Lage war, seinen Weg nach Glasgow fortzusetzen. Die Trauer musste er nicht spielen, denn der Verlust von Isobel und Johnny hatte ihn wirklich sehr mitgenommen. Vor allem, da ihr Tod so sinnlos war. Doch die Show musste sein, damit man sich später an ihn erinnerte und bezeugen konnte, dass Kyle Ross ab sechs Uhr abends im Hotel gewesen und erst am Morgen wieder abgereist war.
Kyle stellte seinen Wagen am äußersten Ende des Hotelparkplatzes ab, wo keine Beleuchtung angebracht war. Anschließend machte er ebenfalls eine Show daraus, auf sein Zimmer zu schlurfen und das Schild „Bitte nicht stören“ an die Tür zu hängen, nachdem er den jungen Mann am Empfang nachdrücklich instruiert hatte, ihn vor morgen früh um acht Uhr auf keinen Fall zu stören.
Anschließend wartete er, dass es im Hotel ruhig wurde, während er in Gedanke seinen Plan noch einmal im Detail durchging. Er hatte sich für seine ursprüngliche Idee, Fergus zu erstechen, entschieden. Das war wirklich eine todsichere Methode. Bel und Johnny hätten von Anfang an darauf hören sollen. Sie hatten sich Sorgen gemacht, dass man ihnen nicht glauben würde, wenn sie sich gegenseitig ein Alibi gaben? Blödsinn! Kyle schaffte ganz allein, sich eins zu konstruieren. Zu dritt wäre das erheblich leichter gewesen. Doch das war nun nicht mehr zu ändern.
Kurz nach Mitternacht war er sich sicher, dass im Hotel alles schlief, denn auch die Rezeption war um diese Zeit nicht mehr besetzt. Trotzdem kletterte er aus dem Fenster, statt den Haupteingang zu benutzen. Bei dem Zimmer im Erdgeschoss, das er eben deswegen hatte haben wollen, kein Problem. Bevor er zu seinem Wagen schlich, vergewisserte er sich, dass alle Fenster des Hauses dunkel oder die Vorhänge zugezogen waren, sodass niemand ihn sehen konnte. Alles war perfekt.
Er stieg in seinen Wagen und lenkte ihn auf die Straße, ohne das Licht einzuschalten. Das aktivierte er erst, als er weit genug vom Hotel entfernt war. Danach fuhr er die ungefähr dreißig Meilen nach Ullapool zurück.
Die Burg lag in völliger Dunkelheit wie jede Nacht und Fergus war bestimmt längst im Bett. Kyle schloss die Tür auf, schlich in die Küche und holte ein schönes scharfes Steakmesser aus der Besteckschublade. In der Küche gab es so viele Messer, dass niemandem auffiele, wenn eins fehlte. Anschließend löschte er das Licht und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit im Haus gewöhnt hatten, denn die Taschenlampe wollte er sicherheitshalber nicht einschalten, obwohl er eine mitgenommen hatte. Den Weg zum Schlafzimmer des Alten war er schon so oft gegangen, dass er ihn auch ohne Licht fand.
Leise drückte er die Klinke herunter und schob die Tür ein Stück auf. Lauschte mit angehaltenem Atem und erwartete, den Alten schnarchen oder doch zumindest atmen zu hören. Aber da war nur Stille. War er etwa schon tot? Im Schlaf abgekratzt? Das wäre natürlich optimal, wenn auch nicht annähernd so befriedigend wie der Mord, den Kyle plante.
Er schlich zum Bett, streckte vorsichtig die Hand aus und tastete nach dem darin liegenden Körper. Doch das Bett war leer. Kyle schaltete nun doch die Taschenlampe ein – und tatsächlich: Fergus lag nicht in seinem Bett und befand sich auch sonst nirgends im Zimmer. Verdammt, wo war der Kerl?
Ein Krachen und Klirren, das klang, als käme es aus dem Keller, gab ihm die Antwort. Zwar war Fergus nach Kyles Wissen bisher noch nie nachts in den Keller gegangen, um sich Nachschub seines Talisker Amorosos zu holen, aber egal. Dass er es heute tat, kam Kyle sehr entgegen. Er ging in den Keller und sah auf den ersten Blick die Bescherung. Fergus war offensichtlich nicht mehr nüchtern und hatte die Flasche, die er aus einer Kiste genommen hatte, fallen gelassen. Mühsam versuchte er nun, die Scherben aufzusammeln und merkte offenbar nicht – oder es war ihm egal –, dass er mitten in der großen Lache des ausgelaufenen Whiskys stand.
Er drehte Kyle den Rücken zu. Perfekt! Kyle schlich an ihn heran, das Messer fest in der Hand. Doch der Alte hatte wohl im Licht der Kellerlampe einen sich bewegenden Schatten gesehen. Er fuhr hoch und herum, stieß einen erschrockenen Schrei aus, rutschte in der Whiskylache aus und landete auf seinem Hintern unsanft mitten in der Nässe. Fasste sich ans Herz.
Doch leider bekam er keinen Herzinfarkt. „Och, Kyle, laddie“, sagte er erleichtert, als er erkannte, wer vor ihm stand. „Du bist’s. Hilf einem alten Mann mal hoch.“ Er streckte ihm die Hand entgegen.
Immer noch perfekt. Das gab Kyle eine herrliche Gelegenheit, dem Alten das Messer in die Brust zu rammen – ganz aus Versehen. Kyle machte einen Schritt auf Fergus zu und rutschte ebenfalls in der Whiskylache aus. Fiel zu Boden – und das Steakmesser bohrte sich schmerzhaft in seinen Oberschenkel. Obendrein auch noch an der empfindlichen Innenseite. Kyle brüllte und beging den Fehler, das Messer aus der Wunde zu reißen. Ein gewaltiger Blutstrahl schoss heraus, der sich nicht stoppen ließ, obwohl er sofort beide Hände darauf presste. Die Erkenntnis, dass das Messer offenbar die Arterie getroffen hatte und jede Hilfe zu spät käme, war Kyles letzter Gedanke, ehe der rapide Blutverlust ihm das Bewusstsein raubte und die ewige Dunkelheit ihn umfing.
*
Chief Inspector Usher kam zu dem Schluss, dass die Geschwister Ross vom Unheil verflucht sein mussten. Erst der tödliche Treppensturz der beiden Jüngeren, jetzt hatte es auch noch den Ältesten erwischt.
Fergus Stewart war außer sich und in Tränen aufgelöst. „Dabei wollte der laddie mir doch nur aufhelfen“, greinte er. „Dann ist er selber gefallen und hat sich dabei das Messer ins Bein gerammt. Und dann ist er so schnell verblutet ...“ Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.
„Wieso hatte er überhaupt ein Messer, als er in den Keller ging?“, überlegte Usher.
„Hat mich bestimmt unten rumoren gehört und gedacht, ich bin ein Einbrecher, der unseren Talisker klaut“, war der alte Mann überzeugt.
Das konnte hinkommen. „Aber wieso ist er zurückgekommen, wo er doch nach Glasgow wollte?“, rätselte Usher. „Noch dazu mitten in der Nacht.“