Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses - Karlheinz Franke - E-Book

Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses E-Book

Karlheinz Franke

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Beschreibung

Aus seinen 'Gehilfen', die Johann Hinrich Wichern aus ganz Deutschland in das von ihm 1833 gegründete Rauhe Haus rief, damit sie ihn bei seiner Erziehungsarbeit unterstützten und die von den Jungen in den Erziehungsfamilien 'Brüder' genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab seiner Inneren Mission auf, die 'Berufsarbeiter', die als 'Hausväter' in 'Rettungshäusern' und ähnlichen Einrichtungen, als Strafvollzugsbetreuer oder als 'Stadtmissionare' in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden. Aus diesen Gehilfen entwickelte sich später der Beruf Diakon / Diakonin und Sozialpädagoge / Sozialpädagogin. Zehn dieser Brüder des Rauhen Hauses aus Wicherns Zeit bis in unsere Tage werden in diesem Buch in kurzen Lebensportraits oder längeren Selbstzeugnissen vorgestellt. Diese 'Genossen der Barmherzigkeit' und christlichen Botschafter unter dem einfachen Volk geben mit ihrem teilweise aufopferungsvollen Leben Zeugnis von der Liebe, die sie durch Jesus Christus erfahren haben. Als Zeugen des Alltags ihrer Zeit gestatten sie uns einen guten Einblick in die Geschichte des Rauhen Hauses, der Inneren Mission, der Diakonie der Evangelischen Kirche, der Wohlfahrtspflege in deutschen Landen, aber auch ganz allgemein in das Alltagsleben früherer Generationen.

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Karlheinz Franke und andere - Anthologie

Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses

Band 11 in der gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“ bei Jürgen Ruszkowski

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Dietrich Sattler: Genossen der Barmherzigkeit

Christoph Friedrich Götzky, ein Zeitgenosse Johann Hinrich Wicherns

Johann Conrad Drojewsky – Stadtmissionar in Bremen

Diakon Karl Titze – Hafenmissionar in Valparaiso/Chile

Erinnerungen des Stadtmissionars Philipp Schmidt

Philipp Schmidt als Stadtmissionar

Zeugnis für Diakon Rudolf Krause

Diakon Karl Titze

Diakon Otto Bretschneider

Diakon August Füßinger, Inpektor des Rauhen Hauses

Diakon Friedrich Jahnke

Diakon Paul Hatje – Altenheim-Hausvater – Brüderältester

Diakon Heinrich Ketelsen

Diakon Sigismund Muelenz – später Pfarrer

Diakon Gerhard Niemer

Diakon Siegfried Strathmeier

Horst Schönrock

Diakon Harro Hampel

Diakon Karlheinz Franke – Herkunft – Kindheit – Jugend

Karlheinz Franke als Diakon

Diakon Gottfried Wendt

Diakon Kai Antholz

Namensregister erwähnter Diakone(innen)

Namensregister erwähnter Theologen

Weitere Informationen

Die maritime gelbe Buchreihe

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Johann Hinrich Wichern, geboren am 21. April 1808, hatte als junger Mann im Hamburger St. Georg seiner Tage das Elend der verarmten Massen in einer wachsenden Großstadt kennen gelernt, insbesondere das Kinderelend.

Laut Theodor Heus hatte er als junger Kandidat der Theologie „keine Zeit“, sein zweites theologisches Examen zu machen, sondern startete 1833 mit Hilfe einflussreicher Hamburger Bürger in dem Dorf Horn vor den Toren Hamburgs aus kleinsten Anfängen das Rauhe Haus, die „Brunnenstube der Inneren Mission“ als „Rettungshaus“ für gefährdete Kinder und Jugendliche. Als Wichern auf dem Kirchentag 1848 in Wittenberg in der Schlosskirche seine Stegreifrede hielt und zur inneren Mission in Deutschland aufrief, wurde etwa zur gleichen Zeit von Karl Marx und Friedrich Engels das „Manifest der Kommunistischen Partei“ veröffentlicht. Wichern rief zur Barmherzigkeit auf, Marx und Engels forderten statt Barmherzigkeit Gerechtigkeit und zu ihrer Verwirklichung den „gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“ (siehe auch Band 65 in dieser gelben Buchreihe über Wichern und die Geschichte des Rauhen Hauses). Die Geschichte hat gezeigt, dass das kommunistische Programm am menschlichen Unvermögen scheiterte, weil es unter den Gleichen immer Gleichere gab, die in der Diktatur des Proletariats ihre Position für sich persönlich zu nutzen wussten. Auch Wichern verzweifelte letztlich, dass sein Entwurf eines Programms zur Überwindung der sozialen Probleme nicht nach seinen Wünschen durchzusetzen war. Aber die vielen Menschen, die er zur Mithilfe in dem von ihm angestoßenen Werk der Barmherzigkeit rief, hinterließen Spuren, die trotz aller Schwächen menschlicher Unzulänglichkeit bis heute wirken. Wie aus Wicherns „Gehilfen“ und „Berufsarbeitern“ diakonisch-missionarische Mitarbeiter der Kirche wurden, wie sich daraus die Berufe Sozialpädagogin/Sozialpädagoge und Diakon/Diakonin entwickelten, ist in dem nachfolgend abgedruckten Beitrag von Dietrich Sattler ausführlich beschrieben.

1839 ermächtigte der Verwaltungsrat des Rauhen Hauses Wichern, der Ausbildung von Gehilfen im Rauhen Haus „die größtmögliche Veröffentlichung zu geben“. Wichern ließ deshalb von 1843 an über die Gehilfen, schon damals „Brüder“ genannt, eigene Jahresberichte erscheinen. Auf ihre theologische Ausbildung in seinem „Gehilfeninstitut“ verwandte er große Sorgfalt.  Aus seinen „Gehilfen“, die Wichern aus ganz Deutschland rief und die ihn bei seiner Erziehungsarbeit im Rauhen Haus unterstützten und von den Jungen der Erziehungsfamilien „Brüder“ genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab der Inneren Mission auf, die „Berufsarbeiter“, die als „Hausväter“ in „Rettungshäusern“ und ähnlichen Einrichtungen, als Strafvollzugsbetreuer oder als „Stadtmissionare“ in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden.

Erst Jahrzehnte später nannte man diese Gehilfen entgegen Wicherns ursprünglichen Vorstellungen Diakone (siehe D. Sattler).

Bis in die 1970er Jahre sprach man von der männlichen Diakonie.  Daneben gab es den Beruf der Diakonisse.  Danach wurden Ausbildung und Beruf im Rahmen der allgemein sich durchsetzenden Emanzipation auch für Frauen geöffnet.  Aus der Brüderschaft wurde die Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses.  Heute bildet die Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg Frauen und Männer zu Diplom-Sozialpädagog(inn)en und Diakon(inn)en aus.

Einige dieser Brüder des Rauhen Hauses aus Wicherns Zeit bis in unsere Tage sollen in diesem Buch in kurzen Lebensportraits oder längeren Selbstzeugnissen vorgestellt werden. Diese ‚Genossen der Barmherzigkeit’ und christlichen Botschafter unter dem einfachen Volk geben mit ihrem teilweise aufopferungsvollen Leben Zeugnis von der Liebe, die sie durch Jesus Christus erfahren haben. Als Zeugen des Alltags ihrer Zeit gestatten sie uns einen guten Einblick in die Geschichte des Rauhen Hauses, der Inneren Mission, der Diakonie der Evangelischen Kirche, der Wohlfahrtspflege und Sozialarbeit in deutschen Landen, aber auch ganz allgemein in das Alltagsleben früherer Generationen.

Es können in diesem Band nur einige wenige zufällig ausgewählte Brüder des Rauhen Hauses vorgestellt werden, von denen mir Lebensdaten oder Selbstzeugnisse in die Hände fielen. Viele andere Schwestern und Brüder des Rauhen Hauses oder auch anderer Diakoniegemeinschaften hätten es verdient, dass aus ihrem Leben und von ihrem Dienst berichtet würde.

Ein Nachfahre des Christoph Friedrich Götzky, nämlich sein Urenkel Christoph Bretschneider, stellte mir die von ihm aus einem Briefwechsel Götzkys mit Wichern recherchierten Fakten über diesen Zeitgenossen Wicherns zur Verfügung. Auch von Christoph Bretschneiders Vater Otto, der eine Enkelin Christoph Friedrich Götzkys geheiratet hatte, liegt ein von ihm selber verfasster aufschlussreicher Lebensbericht vor. Die Aufzeichnungen des Philipp Schmidt und Otto Bretschneider stellte Karlheinz Franke vor einigen Jahren sicher, als er beim Aufräumen im Keller des Diakonischen Werkes in Bremen auf diese interessanten Texte stieß. Die kurzen Portraits der Brüder August Füßinger, Paul Hatje und Gerhard Niemer, die ich noch persönlich erlebt habe, konnte ich zum Teil der 1981/88 erschienenen Studie ‚Brüderschaft und 3. Reich’ entnehmen. Der umfangreichste dieser Beiträge stammt aus der Feder des mit einem großen Charisma für Jugendarbeit gesegneten und für seinen Herrn Jesus Christus sehr engagierten Hugo Wietholz. Seine Witwe Lisa, die mir die Überarbeitung und Auswertung seiner für die eigene Familie konzipierten Lebenserinnerungen gestattete, war an der Erarbeitung dieses Textes maßgeblich beteiligt. Es können in diesem Sammelband nur Auszüge daraus veröffentlicht werden. Da Hugo Wietholz’ Aufzeichnungen jedoch zeitgeschichtlich sehr aufschlussreich sind, ist ein umfangreicherer Text in einem Extraband – 13 in dieser gelben Buchreihe erschienen.

Der einzige hier vorgestellte, bei Veröffentlichung dieses Buches noch lebende Bruder Karlheinz Franke schrieb seine bewegte Lebensgeschichte auf meine Anregung für dieses Buchprojekt. Die Vorgeschichte der Brüder in Kindheit und Jugend und die familiären Details wurden nur unwesentlich gekürzt, weil sie einen sehr guten Einblick in die Zeitgeschichte geben und unbedingt mit zum jeweiligen Persönlichkeitsbild beitragen. Diese Abschnitte wurden größtenteils in kleinere Schrift gesetzt.

Es gab und gibt im Raum christlicher Caritas und Diakonie sicher Persönlichkeiten, die in ihrem Leben die Barmherzigkeit noch stärker zum Ausdruck brachten, als sie Brüdern und heute auch Schwestern des Rauhen Hauses eigen ist, etwa die in der Pflege an Schwerstbehinderten tätigen Schwestern und Brüder in Bethel. Hier stand ein von Wichern geprägter Terminus Pate für diesen Buchtitel (siehe nachfolgender Beitrag von Dietrich Sattler).

Ein besonderer Dank gilt Frau Lisa Wietholz und Herrn Egbert Kaschner (†) für die Unterstützung und das Korrekturlesen.

Hamburg, 2002 / 2014 Jürgen Ruszkowski

Dietrich Sattler: Genossen der Barmherzigkeit

Die Brüder des Rauhen Hauses und der Diakonat

Die Frage nach Herkunft und Identität des Diakonenamtes, auch nach dem Selbstverständnis der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses führt weit in das 19.Jahrhundert und in die Anfänge des Rauhen Hauses zurück. Dabei stoßen wir auf den begabtesten Kirchenvater der neuzeitlichen Diakonie, auf Johann Hinrich Wichern, den Gründer des Rauhen Hauses und Initiator einer Brüderschaft, die in der Diakonenbewegung Schule gemacht hat. 1833 gründete er mit befreundeten Hamburger Bürgern in einer "Ruges Hus" genannten Bauernkate in Horn bei Hamburg eine Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder.

Die ersten Gehilfen

Anfangs betreute Wichern die Kinder allein. Im ersten Jahr ging ihm noch seine Mutter zur Hand. Aber es kamen immer mehr Jugendliche ins Rauhe Haus. Wichern hielt nach Gehilfen Ausschau und fand sie in christlichen Handwerkerkreisen. Der erste Gehilfe hieß Josef Baumgärtner und kam aus der Schweiz. Vier Jahre später waren es schon neun. Da die Gehilfen pädagogisch nicht vorgebildet waren, richtet Wichern bereits 1835 einen Lehrkurs ein. Aus ihm wurde in Laufe der Zeit die Brüderanstalt, zeitweise auch Gehilfen-Institut und später Brüderhaus genannt.

Die Grundidee war einfach und effektiv zugleich: Die Gehilfen arbeiteten in den Kindergruppen gegen ein Taschengeld, dafür erhielten sie freie Kost und Logis sowie kostenlos Unterricht, der sie befähigte, künftig für einen menschenfreundlichen Zweck zu wirken ("Die Begründung der Brüderanstalt im Rauhen Haus" (1839): Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke, Hg. Peter Meinhold, Hamburg 1958 ff., SW 4/I S. 198). Nach ihrer Ausbildung blieben sie entweder im Rauhen Haus oder wurden in anderen Einrichtungen der Inneren Mission oder der Armenpflege tätig.

1843 beschrieb Wichern den Zweck des Gehilfen-Instituts so: „Arbeiter zu gewinnen und zu bilden für solche Gebiete des christlichen Lebens, die bis jetzt verhältnismäßig wenig angebaut sind, namentlich zunächst denjenigen christlichen Vereinen unserer Zeit, denen es bei ihren Bemühungen für die kirchliche Versorgung der jährlich sich mehrenden Auswanderer, für die Rettung der verwildernden und verwilderten Jugend, bei der Fürsorge für Gefangene so vielfach an Arbeitern gebricht, eine gewünschte Hilfe zu verschaffen ("Nachricht über das Gehilfen-Institut", 1843; SW 4/I S. 202).“

Ausbildung für einen menschenfreundlichen Zweck

Zwei Kurse richtete Wichern ein: einen vierjährigen für Hausväter und Vorsteher von Rettungsanstalten sowie für Kolonistenprediger, einen eineinhalb- bis zweijährigen Kurs für Arbeitsgehilfen in Rettungsanstalten und für Gefängnisaufseher (Vgl. zum folgenden "Nachricht über das Gehilfen-Institut" (1843); SW 4/I S.210 ff.). Der Unterricht umfasste u.a: Deutsch, Geographie und Geschichte, Einleitung in das Alte und Neue Testament, Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik, Erziehungslehre. Die Fächer im kleinen Kurs beschränkten sich auf das „Elementarische und das nötige Verständnis über die heilige Schrift und spezielle Anleitung für den seelsorgerischen Umgang mit Kindern und Gefangenen (SW 4/I S. 214).“

Allergrößten Wert legte Wichern auf die Praxis. Parallel zum Unterricht arbeiteten die Gehilfen als Erzieher und erprobten sich in der Seelsorge, in handwerklichen Tätigkeiten, in der Arbeitsanleitung, in der Krankenpflege, auch in der Aufsicht über die ökonomischen Zweige des Rauhen Hauses sowie in Besorgungen und Besprechungen im Dienste der Anstalt.

Voraussetzung für Mitarbeit und Ausbildung im Rauhen Haus waren u.a. (SW 4/I S. 220)

- eine wahrhaft christliche Gesinnung,

- der Besitz einiger Schulkenntnisse oder doch die Fähigkeit, dieselben leicht nachzuholen,

- die Fertigkeit in irgend einem Handwerk oder im Landbau oder doch die Bereitwilligkeit, solche Fertigkeiten sich hier anzueignen,

- eine kräftige Gesundheit.

Die Ausbildung wurde aus Spenden oder aus Pensionen finanziert, die verschiedene Vereine oder Institutionen für einzelne Gehilfen bezahlten.

Eine Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft

Kinderanstalt und Gehilfen-Institut sah Wichern als eine Einheit an. Das Rauhe Haus war keine diakonische Institution mit angeschlossener Ausbildungsstätte, sondern eine Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft. Nicht nur die Kinder zählte Wichern zur Hausgemeinde des Rauhen Hauses sondern auch die Gehilfen samt denen, die nach ihrer Ausbildung außerhalb des Rauhen Hauses tätig waren.

Alle im Rauhen Haus Tätigen und hier Ausgebildeten verstand Wichern als eine Genossenschaft – als eine „Verbrüderung gläubiger Männer zu einem gemeinsamen Wirken für das Reich Gottes unter Kindern oder Erwachsenen, unter Armen, Elenden, Verlassenen, Verirrten oder Verlorenen. Er nannte sie eine Familie, die aus dem Geiste der evangelischen Kirche geboren, in ihr und in ihrem Geiste und für sie in Werken der Barmherzigkeit ihren Beruf und ihre Arbeit in Gottes Namen zu erfüllen trachtet ("Die Brüder des Rauhen Hauses" (1856); SW 4/II S. 200).“

Die Brüder des Rauhen Hauses waren die erste, aber nicht die einzige Diakonengemeinschaft des frühen 19.Jahrhunderts. Brüderhäuser gab es u. a. in Beugen (Baden), Lichtenstern (Württemberg), Duisburg, Düsselthal, Neinstedt (Sachsen-Anhalt) und Zülchow bei Stettin. Einige nannten sich "Diakonenanstalten" - wie z. B. Düsselthal. Wichern lehnte diese wie auch die Bezeichnung "Diakonissenanstalt" für die sich damals parallel bildenden Schwesterngemeinschaften ab. Er sprach lieber von Brüder- und Schwesternhäusern. Denn die Gemeinschaften sind nicht, wie vielfach angenommen wird, auf die schon der apostolischen Kirche angehörige Institution der Diakonen und Diakonissen zurück zu führen. „Vielmehr hat in ihnen die evangelische Kirche in ganz neuer, rein evangelischer Art den zur Zeit der Reformation abgerissenen Faden der kirchlichen Korporationen, Orden und Stifte für praktische Liebeszwecke zum Besten von Kinder, Armen, Kranken, Verlassenen, Gefangenen usw. wieder aufgenommen ("Diakonen- und Diakonissenhäuser" (1855) SW 3/I S. 76).“

Diakonie: Freiwilliger Liebesdienst

Wichern sprach damit einen aus der Sicht eines erwecklichen Theologen wunden Punkt der Reformation an. Sie hat Orden und Klöster aufgelöst, aber den freiwillig ausgeübten Liebesdienst der Mönche und Nonnen nicht fortgesetzt. An die Stelle frommer Stifte und Einrichtungen traten städtische, weithin bürgerliche Kollegien. Die meisten im Zuge der Reformation entstandenen Kirchenordnungen machten das Armenwesen zu einer öffentlichen Aufgabe. Wichern nennt das einen geschichtlichen Zufall und kritisiert: „Die bloß bürgerliche Berufung und bloß bürgerlich festgestellte Befähigung aber zu Diensten, die wesentlich der freiwilligen Aufopferung angehören, enthält keine Garantie für die Geltendmachung oder Wahrheit der religiösen Gesinnung ("Diakonen- und Diakonissenhäuser"; SW 3/I S. 77).“

Dieses Zitat enthält zwei Schlüsselgedankens Wicherns: Die Armenpflege ist nicht allein eine öffentliche Aufgabe, sondern auch ein, im Glauben freiwillig erbrachter Liebesdienst. Dieser wiederum gibt Zeugnis vom Glauben. Entsprechend sind Freiwilligkeit und Glaubenszeugnis konstitutiv für alle, den abgeschnittenen Faden der Reformation wieder aufnehmenden kirchliche Verbrüderungen zu praktischen Zwecken. Brüderhäuser, definiert Wichern, „sind keine christlichen Bildungsanstalten in dem Sinne, als ob darin junge Leute erst zum Christentum erzogen werden sollen, sondern der Eintritt setzt diese lebendige Glaubensgesinnung voraus und baut auf diesem Grunde weiter durch Vertiefung des Glaubenslebens und Erweiterung der theoretischen und praktischen Tüchtigkeit.“ Die „zur Arbeit, Vorbereitung und Entsendung rezipierten Jünglinge“ nennen sich Brüder, weil ihre Gemeinschaft „in der Gemeinschaft des lebendigen Glaubens an Christum“ beruht und in der „Gleichheit und Einheit brüderlicher Liebe“ wurzelt ("Diakonen- und Diakonissenhäuser"; SW 3/I S. 85).

Genossenschaft der Liebe

Wicherns Konzeption eines Diakonenhauses als einer dezidiert christlichen, dem Liebesdienst verpflichteten Genossenschaft reanimiert also die in der Reformation abgebrochene korporative Übung christlicher Liebeswerke ("Diakonen- und Diakonissenhäuser"; SW 3/I S. 91). In der Brüderanstalt sah er den eigentlichen Nerv des Rauhen Hauses ("Die Begründung der Brüderanstalt im Rauhen Hause", 1839; SW 4/I S.197. Zu Wicherns Zeiten waren im Rauhen Haus auch Frauen tätig, die die Mädchen betreuten. Diese Gehilfinnen wurden selbstverständlich Schwestern, SW 4/II S.186, genannt, kamen freilich nie zu derselben Bedeutung wie die Brüder. 1886 wurde die Mädchenarbeit nach Eppendorf auf die Anscharhöhe verlagert.). In ihr fallen die Rettungsarbeit der Stiftung und der freiwillige Liebesdienst von Christen in der Form des Lebensberufs zusammen: „Der Bruder kommt ins Brüderhaus, um sein Leben und sein Lieben im Bunde mit Brüdern für das Reich Gottes einzusetzen, hier zunächst unter Kindern, deren das Reich Gottes ist, und später an denjenigen Arbeitsstellen, in die er gerufen und entsandt werden wird. In diesem Geiste tritt der Aufgenommene nach bestandener Prüfungszeit in die Gemeinschaft der Brüder als deren Genosse ein ("Die Brüder des Rauhen Hauses (1856)"; SW 4/II 201).“

Der Genossenschaft konnten nicht nur ausgebildete Gehilfen sondern auch Privatleute angehören, die persönlich und lebenslang den Armen in kirchlichem Geist mit der Liebe Christi dienen wollten. Man nannte sie Freibrüder, weil sie dem Sendungsprinzip des Brüderhauses nicht unterworfen waren. Unter den Freibrüdern der Wichernzeit finden wir z.B. ehemalige Zöglinge, im Rauhen Haus zeitweise als Oberhelfer beschäftigte Theologen, sonstige Mitarbeiter oder Freunde des Rauhen Hauses. Insofern kann man bei der Bruderschaft des Rauhen Haus der Wichernzeit (noch) nicht von einer "Diakonengemeinschaft", geschweige von einem berufsverbandsähnlichen Zusammenschluß sprechen. Wichern spricht lieber von einer Genossenschaft, häufiger noch von einer um das Rauhe Haus als ihren Mittelpunkt, in brüderlicher Gemeinschaft gesammelten Familie. In der Ordnung der Brüderschaft von 1858 heißt es: Sinn und Zweck dieser Familie ist es, „dem Herrn in seiner evangelischen Kirche...zu dienen, damit auch durch ihren Dienst innerer Mission das Reich Gottes in unserem Volke gebaut werde in Kraft seines heiligen Wortes und in Erweisung der barmherzigen Liebe, die aus dem Glauben stammt, und an welcher der Herr einst (Matth. 25,40) die Seinen erkennen wird ("Die Ordnungen der Brüderschaft des Rauhen Hauses von 1858"; SW 4/II S. 225).“

Wicherns Konzeption weist auf die Klöster- und Ordensgemeinschaften sowie geistlichen Kooperationen des Mittelalters zurück, die sich oft einer bestimmten kirchlichen Aufgabe gewidmet haben und daraus u.a. auch ihr spirituelles Profil bezogen. So gab es Krankenpflegekommunitäten, Schul- oder Predigerorden. In diesem Kontext ist auch das Selbstverständnis der Rauhäusler Brüder als Dienstleute der inneren Mission und als Anwälte der Armen zu verstehen.

Vom Brüderhaus zur Diakonenanstalt: Die Diakonatsdiskussion

Um 1850 gab es in Deutschland bereits sieben Brüderhäuser Wichern’scher Prägung. Weitere kamen im Laufe der Zeit hinzu. Parallel zu den Brüderhäusern entstanden Diakonissenanstalten mit einer ähnlichen Ausrichtung. Alle entstammten der privaten Initiative evangelischer Vereine oder Anstalten der inneren Mission. Auf ihre missionarischen und sozialen Aktivitäten geht zurück, dass man sich in den damaligen Landeskirchen nach und nach über die Erneuerung des altkirchlichen Diakonenamtes Gedanken machte. An vorderster Stelle stand dabei die preußische Kirchenregierung, die eine Denkschrift zu dem Thema veröffentlichte und Johann Hinrich Wichern um ein Gutachten dazu bat. In seinem Gutachten über die Diakonie und den Diakonat aus dem Jahre 1856 (SW 3/I S. 131-184) plädiert Wichern dafür, in der evangelischen Kirche das Diakonenamt über die reformierte Praxis ehrenamtlicher, Diakone genannte Kirchenpfleger hinaus, als einen hauptamtlichen Dienst einzuführen (Vgl. zum folgenden: Wilfried Brandt, Das Amt der Diakonin und des Diakons in der evangelischen Kirche; Referat vor der Synode des evangelischen Kirchenbezirks Waiblingen am 16.März 2001). Die Gemeinden sollten eine Doppelspitze haben: Das Predigtamt, das den Glauben weckt und stärkt, und das Diakonenamt, das der Liebestätigkeit der Gläubigen Gestalt gibt. Die Diakone sollten eine professionelle biblische und fachliche Ausbildung erhalten. Sie sollten den Gemeindegliedern nicht die Arbeit der Nächstenliebe abnehmen, sondern diese vielmehr anregen und die kirchliche Diakonie organisieren.

Die Brüder und das Diakonenamt

Wer sollte zum Diakon berufen (ordiniert) werden? Nach Wichern jeder, der charakterlich und fachlich geeignet sowie entsprechend ausgebildet ist. Das können Theologen, auch Handwerker, Juristen oder Ärzte, gegebenenfalls auch im Rauhen Haus ausgebildete Brüder sein. Diese gleichsam automatisch als Diakone anzusehen, weigerte sich Wichern jedoch beharrlich. Für ihn lag der springende Punkt beim Diakonenamt darin, dass es keine Privatangelegenheit eines diakonischen Vereins sondern eine Einrichtung der Kirche ist. Wen sie in das Diakonenamt beruft, ist genuin ihre Entscheidung und fällt nicht in die Kompetenz freier christlicher Assoziationen. Im übrigen sah Wichern den Aktionsradius des Diakonenamtes wesentlich auf die Kirche beschränkt. Die Brüder als karitative Genossenschaft dagegen sollten in der bürgerlichen (staatlichen), in der kirchlichen und in der "freien" Diakonie tätig sein. Und so war es auch (Vgl. "Die Brüder des Rauhen Hauses" (1856); SW 4/II S. 199): Von den 170 Brüdern waren im Jahre 1856 im Rauhen Haus 38 tätig, 57 in vergleichbaren Rettungshäusern, 27 als Aufseher in staatlichen Gefängnissen, 13 in öffentlichen Armenhäusern, 14 als Schullehrer, 9 in der Auswandererseelsorge sowie 8 in der Krankenpflege oder in Fabriken (als Sozialarbeiter).

Wicherns Unterscheidung zwischen Brüdern und Diakonen hat sich nicht durchgesetzt. Zwar nahm das Diakonenamt in der evangelischen Kirche erst im 20.Jahrhundert, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, reale Formen an, doch nannte man schon zu Wicherns Zeiten hie und da die Absolventen der Brüderausbildung "Diakone". Mehr und mehr setzten die Landeskirchen ausgebildete Brüder im kirchlichen Dienst ein, so dass eher schleichend als konzeptionell geplant aus Mitgliedern freier Diakonenanstalten Beauftragte der Kirche wurden. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben nahezu alle Landeskirchen den Dienst von Diakonen und Diakoninnen gesetzlich geregelt. Entsprechend wurde aus der Brüdergenossenschaft des Rauhen Hauses eine Diakonen- und Diakoninnengemeinschaft.

Ihre Mitglieder sind in das kirchliche Diakonenamt eingesegnet (ordiniert). Gleichwohl lebt der Genossenschaftsgedanke fort. In der Alltagssprache nennt man sie Diakone/Diakoninnen "des Rauhen Hauses". Strenggenommen sind sie das nicht, sondern Diakone der Kirche. Aber nach wie vor verstehen sie sich als eine freie, mit dem Rauhen Haus verbundene und dem diakonischen Auftrag der Kirche verpflichtete Gemeinschaft.

Schlussbetrachtung

Als Wichern mit Josef Baumgärtner den ersten Bruder ins Rauhe Haus rief, dachten weder er noch die vielen anderen, die Baumgärtner folgten, an ein "Diakonenamt", wohl aber an einen gemeinschaftlichen Dienst der Liebe. Die Diakonie der Gründergeneration bestand wesentlich aus ihrer zum Glauben und Handeln erwachten Personalität. Wie von selbst führte sie zu einer geistlichen Genossenschaft. Nicht um ein Amt ging es ihnen, noch nicht einmal um einen neuen Beruf, sondern um das im Glauben wurzelnde Lebensexperiment in der Nachfolge Jesu. Ihr Beispiel macht bis heute Schule. Aus den diakonischen Gemeinschaften wurden geistliche Lebens-, Lern- und Arbeitsgemeinschaften. Im Meer volkskirchlicher Unverbindlichkeit bilden sie Inseln des Engagements und eines der Diakonie verpflichteten Lebens.

Gottesfürchtige Männer wünschte sich Wichern als Brüder des Rauhen Hauses, so ernst als wahr, so klug als weise, in der Schrift bewandert, im Glauben begründet, voll Liebe zum armen Volke, geschickt zu solch einem Umgang, der Menschen fürs Himmelreich gewinnt. Wichern dachte an Menschen, die aus dem Wort Gottes leben, in verbindlicher Gemeinschaft ihren Glauben vertiefen und den diakonischen Auftrag der Kirche erfüllen wollen. Sich auf sein Erbe zu berufen, heißt für die Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses, sich auf ihr glaubensstiftendes Charisma zu besinnen und es in Alltag und Beruf diakonisch zu leben.

Diakoninnen und Diakone der Brüder- und Schwesterschaft des Rauhen Hauses heute

Christoph Friedrich Götzky, ein Zeitgenosse Johann Hinrich Wicherns

Christoph Friedrich Götzky – geboren am 6.1104.1822 – Einritt am 24.11.1845 – Einsegnung am 13.10.1847 – verstorben am28.03.1894

Im Internet: http://rauhes-haus-diakon.npage.de/goetzky-christoph-friedrich.html

https://sites.google.com/site/rauheshausdiakone/goetzky-christoph-friedrich

http://rauheshausbruder.klack.org/seite8.html

Diakon Christoph Bretschneider recherchierte aus dem Briefwechsel zwischen seinem Urgroßvater Christoph Friedrich Götzky und Johann Hinrich Wichern dieses Lebensportrait:

Christoph Friedrich Götzky wurde am 6. November 1822 in Braunschweig geboren und römisch-katholisch getauft. Er hatte den Beruf des Buchbinders erlernt. Seine Mutter hatte ihn vom Militärdienst freigekauft. Im Spätsommer 1844 begab er sich von Braunschweig aus auf eine Wanderschaft gen Norden. Sein Ziel war Schweden. Wohl, um seine Reisekasse aufzubessern, nahm er in Horn bei Hamburg eine Arbeit an. Der Buchbindermeister August Sandelmann im Rauhen Hause suchte gerade eine Hilfskraft. Druckerei und Buchbinderei des Rauhen Hauses verzeichneten seit der Herausgabe der „Fliegenden Blätter“, dem Mitteilungsblatt des Rauhen Hauses, einen derartigen Aufschwung, dass im Sommer 1844 mit einem Neubau für die Erweiterung der Buchbinderei begonnen wurde. Das Richtfest am 22. August wird Christoph Friedrich Götzky nicht mitgefeiert haben, wohl aber die Fertigstellung des Neubaus.

Von Wicherns Arbeit mit den Kindern war Götzky bald so angetan, dass er beschloss, Gehilfe in der eigentlichen Arbeit des Rauhen Hauses bei Wichern zu werden. Nach gut einjähriger Tätigkeit in der Buchbinderei wurde er, inzwischen zum evangelischen Glauben konvertiert, am 24. November 1845 als Bruder in das Gehilfeninstitut aufgenommen.

Johann Conrad Drojewsky – Stadtmissionar in Bremen

Ein interessantes von Johannes Wichern unterzeichnetes Zeugnis

aus dem Jahre 1882 über Johann Conrad Drojewsky – geboren am 6.06.1857 – Eintritt am 11.10.1879 – Einsegnung am 1.08.1882 – verstorben am 18.02.1935

auf den folgenden Seiten

in lesbare Schrift übersetzt:

Diakon Karl Titze – Hafenmissionar in Valparaiso/Chile

Karl Titze – geboren am 24.11.1878 – Eintritt am 27.09.1906 – Einsegnung am 20.04.1912 – verstorben am 9.08.1929

Gugo Freese, Valparaiso, berichtet:

Wer hat ihn nicht gebannt, den Hafenmissionar von Valpsraiso. Alle, aber auch alle Deutschen in Valparaiso, wenn nicht in ganz Chile, kannten diesen edlen Menschen, der am 9. August 1929 morgens 7 Uhr nach langem, schwerem Herzleiden in seinem Hause im Deutschen Seemannsheim sanft entschlafen ist.

Herr Titze stammte aus Damsdorf in Schlesien, geboren am 24. November 1878, hatte er also eben "Fünfzig" überschritten, als er viel zu jung noch aus dem Leben gerissen wurde. Ihm war zueigen der echte biedere, schlesische Volkscharakter, verbunden mit einem ganz besonders offenherzigen Wesen und mit einer gewissen Frömmigkeit, welche Eigenschaften ihn allgemein sehr beliebt machten.

Der Verstorbene erhielt seine vorzügliche Ausbildung im „Rauhen Hause“ zu Hamburg, woselbst er sechs Jahre tätig war und kam dann in Jahre 1912 als Leiter des Deutschen Seemannsheims nach Valparaiso. Dank seiner Überaus tatkräftigen Leitung gelang es ihm nach und nach, zusammen mit seiner braven Frau, die allen Seeleuten durch ihre gute Küche rühmlichst bekannt tat, das Seemannsheim welches bei seiner Übernahme nicht sehr groß war, zu einem erstklassigen Hause umzugestalten.

Gedeihen welches erst vor er erst vor ungefähr1 ½ Jahren durch Verlegung in die Nähe des Hafens neben der Bella-Vista-Station vergrößert und verbessert wurde, ist zum großen Teil sein Werk. Es bot nicht allein den Seeleuten, sondern auch vielen anderen neu zugereisten Deutschen eine billige und dem guten Zweck dienende Unterkunft, der Deutschen Kolonie dadurch helfend zur Seite stehend.

Aus ganz Chile und sozusagen aus allen Weltteilen liegen zu Hunderten die Briefe von Leuten vor, die im Seemannsheim Zuflucht gefunden hatten, und welche nicht genug Worte des tiefen Dankes finden können, wie das Ehepaar Titze ihnen seinerzeit einmal geholfen hat. Die Deutsche Kolonie verliert an dem Verschiedenen einen ganz vortrefflichen Mann, der so nicht nieder zu ersetzen sein wird, denn Herr Titze hat mit nimmermüdem und freudigem Herzen das Deutsche Seemannsheim volle 17 Jahre lang geleitet.

Unter sehr großer Beteiligung wurde der Seemannsvater am 10. August nachmittags 4 Uhr zur letzten Ruhe bestattet. Der Deutsche Sängerbund zu Valparaiso gab der Feier noch durch ein passendes Lied im Hause ein würdiges Gepräge. Bei strömendem Regen- wurde der Leichnam dann hinausgetragen – „ein echtes Seemannsgrab“. –

Auf den Deutschen Friedhof zu Playa, Ancha sprachen Pastor Schmidt und der Generalkonsul Dr. Soehring ergreifende Worte. Letzterer hob besonders hervor, dass Herr Titze Tausenden von Landsleuten an der ganzen Westküste, so auch drüben in der Heimat unvergesslich bleiben wird, und schilderte in schlichten Worten das Leben und Wirken des so früh Dahingeschiedenen.

Mögen viele seiner, treuen Freunde bei ihrer Durchreise hinaufgehen nach Beinar Ruhestätte und ihn nicht vergessen!

Valparaiso, im August 1929

Erinnerungen des Stadtmissionars Philipp Schmidt

Philipp Schmidt – geboren am 17.06.1869 – Eintritt am 11.09.1893 – Einsegnung am 1.05.1899 – verstorben am 24.07.1957

Im Internet: https://sites.google.com/site/rauheshausdiakone/schmidt-philipp

http://rauheshausbruder.klack.org/seite1.html

http://rauhes-haus-diakon.npage.de/schmidt-philipp.html

Jugendjahre

Als ich 6 Jahre alt war, besuchte ich die Volksschule in unserem Nachbarort Grebenroth. Alle Klassen wurden gleichzeitig in einem Raum von einem Lehrer unterrichtet. Mein erster Lehrer hieß Datz und soll recht tüchtig gewesen sein, war aber sehr jähzornig. Wenn er in Fahrt kam, konnte er an einem Ende anfangen und einen nach dem anderen über die Bank ziehen und verprügeln. Zum Glück hatten wir ihn nur zwei Jahre lang. Dann wurde er versetzt. Der neue Lehrer war vorher an einer städtischen Fortbildungsschule gewesen, so dass wir gut mit den Stadtschülern mithalten konnten.

In unserer Freizeit führten wir die üblichen Jugendstreiche durch: Selbst gefangene Forellen und Krebse schätzten wir als besondere Leckerbissen. Wir ärgerten den Müller, indem wir das Wehr des Wasserwerkes abstellten, und wir mussten dann schnell sein, wenn er mit seinen Hunden kam. Außerdem mussten wir uns mit dem Feldhüter herumärgern, denn der hatte auf das Obst aufzupassen.

Jeden Herbst, wenn es kalt wurde, kehrte ein alter Rheinflößer in unser Dorf ein. Er hatte sein Leben auf dem Rhein zugebracht und konnte jetzt nicht mehr arbeiten. So schlug er sich den Winter über bei den Bauern durch. Für uns Kinder waren seine Erzählungen an den Winterabenden sehr spannend. Im Frühjahr verschwand er dann wieder stillschweigend.

Ich erinnere mich auch an einen Handwerksburschen, der bei uns betteln kam und den mein Vater zur Drainierung der Wiesen einsetzte. Er war uns Kindern ein guter Kamerad, da er uns nicht nur Geschichten erzählte, sondern aus Weidensträuchern auch Flöten und Schalmeien bastelte.

Zum Konfirmationsunterricht mussten wir ins Nachbardorf. Er dauerte nur 4 Monate, von Februar bis Pfingsten. Dieser Unterricht hat mir nicht viel gegeben, da er gerade in die Zeit eines Pfarrerwechsels fiel. Zur Konfirmation ging der Förster mit uns in den Wald, und wir mussten Birkenstämme abhauen, mit denen die Kirche geschmückt wurde, so dass sie einem Birkenwald glich. Meine Konfirmation war keine große Festlichkeit. Lediglich von den Patenonkeln und -tanten erhielt ich ein Geschenk von 5 Mark.

Nun kam die Berufsfrage an mich heran. Ich wäre gerne Lehrer geworden, aber für einen Landjungen war es schwierig, auf das zuständige Seminar in Usingen zu kommen. Unterbringung und Schulgeld für das Seminar konnten meine Eltern nicht bezahlen. So musste ich bei meinen Eltern in der Landwirtschaft helfen. Von unserem Lehrer erhielten wir mit mehreren jungen Leuten abends etwas Fortbildungsunterricht. Von einem alten Kellner, der in Frankreich tätig gewesen war, lernten wir etwas Französisch. In dieser Zeit starb meine Mutter, was mir sehr nahe ging. Da mein Vater Kirchenvorsteher war, half ich dem Pastor sonntags bei der Kinderlehre. An den langen Winterabenden kamen wir auch mit den Mädchen in den üblichen Spinnstuben zusammen. Es wurden Geschichten erzählt und Volkslieder gesungen. Dazu gab es Kartoffelpuffer. Inzwischen war ich 17 Jahre alt geworden und musste daran denken, einen Beruf zu ergreifen. Vom Freundeskreis der Anstalt Scheuren bei Nassau ging eine pietistische Bewegung aus, die auch durch die sogenannten Stundenhalter in unser Dorf kam. Unter dem Einfluss unseres Pastors fasste ich den Entschluss, Missionar zu werden. Ich bewarb mich als Missionsschüler bei der Baseler Mission. Es wurde mir jedoch mitgeteilt, dass ich noch zu jung sei. Man riet mir, mit dem Eintritt bis zu meinem 20. Lebensjahr zu warten. Die Missionsgesellschaft legte Wert auf Männer, die sich bereits in einem praktischen Beruf bewährt hatten.

So ging ich dann mit meinem Vater die sieben Stunden Fußweg nach Wiesbaden, um eine Lehrstelle als Stellmacher zu suchen. Wir ließen uns in Wiesbaden von einem Diakon Kaiser beraten, der ein Freund meines Vaters war. Ich war kaum ein Vierteljahr in der Lehre, da bekam ich Anfang März die Nachricht, dass mein Vater schwer erkrankt sei und nach mir verlange. Trotz Schnee und Glatteis im März machte ich mich auf den Weg. Nach Mitternacht traf ich im elterlichen Haus ein. Als mein Vater mich sah, sagte er „endlich“, streckte sich aus - und war tot. Nun war ich 17 Jahre alt und hatte weder Vater noch Mutter.

In meiner Lehrstelle hatte ich es verhältnismäßig gut. Mit den Gesellen kam ich auch gut zurecht. Morgens um 5 Uhr stand ich auf und ging in die Werkstatt. Um 6 Uhr gab es Morgenkaffee, um 10 Uhr Frühstück, und um ½ 1 Uhr wurde zu Mittag gegessen. Nachmittags um 4 Uhr gab es noch eine Tasse Kaffe und eine Schnitte Brot. Dann wurde bis abends um 8 Uhr durchgearbeitet. Abends ging ich meistens noch etwas in die Stadt. Samstags war von 8 bis 10 Uhr Fortbildungsunterricht in Zeichnen, Rechnen und Deutsch.

Öfter ging ich in den Jünglingsverein, den ein Diakon Zimmermann aus Krischona leitete. Die Form des Umganges dort gefiel mir jedoch nicht so sehr. Wir wurden nicht gefragt: „Wie geht es dir?“, sondern „Wie geht es deiner Seele?“ Hier habe ich für meinen späteren Beruf gelernt, wie man es nicht machen soll. Meine Lehrzeit von 2 ½ Jahren ging zu Ende, und ich musste als Gesellenstück vier Kutschenräder anfertigen. Sie wurden für gut befunden, und ich wurde frei gesprochen.

Inzwischen war ich auch in dem Alter, dass ich meiner Militärpflicht genügen musste. Bei der Musterung wurde ich für tauglich befunden und sollte zur Feldartillerie. Aber ich war bereits überzählig und wurde in diesem Jahr nicht mehr eingezogen. So fuhr ich zu einer befreundeten Familie nach Wuppertal. Im Frühjahr wollte ich mit meinem Freund Wilhelm auf Wanderschaft gehen.

In dieser Zeit lernte ich meine spätere Frau Lina kennen. Wir ahnten damals noch nicht, dass wir 10 Jahre warten müssten, bevor wir heiraten könnten. Im Frühjahr marschierte ich mit meinem Freund Wilhelm über Nassau, Ems, Koblenz bis nach Köln. Wir haben uns nirgends lange aufgehalten. In Bonn schliefen wir in einer sehr schönen, sauberen und nett gehaltenen Herberge. In Köln bekamen wir beide Arbeit, ich in einer Wagenfabrik, Wilhelm in einer größeren Tischlerei. Wir bewohnten gemeinsam ein Zimmer. Später wanderten wir nach Düsseldorf. Ich nahm dort Arbeit in einer Wagenfabrik an. Hier machte ich auch die erste Bekanntschaft mit den Gewerkschaften, da die älteren Gesellen mich in die Versammlungen mitnahmen.

Im Januar 1891 erreichte mich plötzlich der Befehl, mich beim Infanterieregiment in Diedenhofen in Lothringen zu melden. Ich verließ Düsseldorf und nahm meinen Weg über die Heimat. In Koblenz besichtigte ich eine Filiale der Scheurener Anstalten in Langau, wo Lina inzwischen als Gehilfin eingetreten war. Nach einem Fußmarsch von 10 Stunden erreichte ich Wiesbaden, wo ich mich bei der Bezirkkommandantur meldete. Ich wurde einem Gefreiten übergeben, der mich nach Mainz brachte. Am nächsten Morgen fuhr ich durch die Pfalz nach Diedenhofen. Die Kompanie war bereits seit drei Monaten in der Ausbildung, und ich war als Ersatz für einen Mann eingezogen worden, der dienstuntauglich geworden war. So wurde ich nachträglich alleine ausgebildet. Das Regiment war vor einigen Jahren aus ostpreußischen Offizieren und Unteroffizieren zusammengestellt worden. Die Namen waren für mich unaussprechlich. Die Ausbildung war wirkliche Soldatenschinderei. Ich musste dann auch für einige Wochen wegen einer Fußwunde ins Lazarett. Im zweiten Dienstjahr wurde ich zur Schießschule nach Spandau versetzt. Hier hatte ich auch Gelegenheit, Berlin kennen zu lernen. Die Dienstzeit dauerte damals drei Jahre. Ich wurde später jedoch noch einmal zu einem Kaisermanöver eingezogen.

Nach der Wehrpflicht nahm ich in Koblenz wieder Arbeit in meinem Beruf als Stellmacher auf. Meinen Beruf hatte ich gern und stand nun vor der Wahl, diesen weiterzuführen oder zur Mission zu gehen. In Koblenz kam ich in einen Kreis junger Männer, die mich dazu drängten, in die Diakonenanstalt Duisburg einzutreten. Ich ließ mir von dort Unterlagen schicken. Doch die Ausbildung für die Krankenpflege behagte mir nicht. Anlässlich meiner Besuche bei Lina kam ich auch mit Diakonen des Rauhen Hauses zusammen, die mir rieten, mich beim Rauhen Haus zu bewerben. Auf meine Anfrage erhielt ich die Antwort, ich solle sofort nach Hamburg zur Vorstellung kommen. Doch dazwischen kam die Aufforderung, beim Kaisermanöver mitzumachen, so dass ich erst danach zur Vorstellung nach Hamburg kam.

Direktor Johannes Wichern (Johann Hinrichs Sohn war seit 1873 Vorsteher) wünschte, dass ich noch zur Feier des 60. Jahrestages am 12. September 1893 in Hamburg sein sollte, da dies eine bleibende Erinnerung für mich sein würde. So traf ich am 11. September 1893 in Hamburg ein. Damit hatte ein neuer bedeutender Abschnitt meines Lebens begonnen.

Die Zeit im Rauhen Haus

Bei mir stellte man fest, dass ich vom Lande sei und deshalb gut mit einem Fuhrwerk umgehen konnte. So bekam ich einen wunderschönen Esel und einen Eselwagen anvertraut und durfte ein halbes Jahr lang das gute Trinkwasser aus einem Brunnen der Koppel in die Anstalt fahren, da das Leitungswasser nicht zu trinken war. Meine Eselin Flora habe ich in guter Erinnerung behalten.

Zu unserer Ausbildung gehörte auch eine Gehilfenzeit in einer auswärtigen Anstalt, die in der Regel zwei Jahre dauern sollte. Ich wurde zu diesem Zweck in die Arbeiterkolonie Kästorf bei Gifhorn geschickt. Dort waren 250 Plätze für Leute, die im Leben gestrauchelt waren und hier einen neuen Anfang wagen wollten. Die Männer fanden Beschäftigung in den Werkstätten, aber auch bei der Urbarmachung weiter Heideflächen. Als ich hinkam, bestand die Kolonie bereits 12 Jahre, und wir hatten zu dieser Zeit 1.500 Morgen Land urbar gemacht. Drei Pferde- und drei Ochsengespanne waren für die Bearbeitung dieser Flächen nötig. Ich hatte den Innendienst zu versehen mit Aufnahme, Entlassung und persönlicher Betreuung der Kolonisten, während die anderen drei Gehilfen Außendienst hatten und mit den Kolonisten draußen arbeiten mussten. Der Leiter der Anstalt war Diakon Kuhlmann vom Rauhen Haus. Von ihm habe ich viel gelernt. Ich musste die Werkstätten beaufsichtigen, das Material herausgeben, die Fleischportionen abwiegen und anderes mehr. Um 5 Uhr morgens begann mein Dienst, der bis in den späten Abend hinein dauerte, bis die Leute im Bett waren. Viele der Kolonisten hatten schwere Zuchthausstrafen hinter sich. Trotzdem bin ich gut mit ihnen zurecht gekommen. Wenn es Schwierigkeiten gab, haben mir meistens die anderen Kolonisten geholfen. Nach 1 ½ Jahren wurde ich vom Rauhen Haus wieder angefordert. Der Hausvater in Kästorf war nicht sehr erfreut darüber und sagte: „Wenn ich einen guten Gehilfen habe, so kommt er nach 1 ½ Jahren wieder weg, habe ich aber einen schlechten, so muss er 3 Jahre bleiben.“

In diese Zeit fiel auch der Tod meines Bruders Christian im Frühjahr 1895. Meine damalige Freundin Lina hatte ihn öfter im Krankenhaus besucht und mir geschrieben, ich möchte ihn doch noch einmal besuchen kommen. So bin ich dann nach Wiesbaden gefahren und fand ihn sehr krank.

Ich kehrte ins Rauhe Haus zurück und sollte meine theoretische Ausbildung beginnen. Aber es dauerte nicht lange, da fehlte eine Kraft, die landwirtschaftliche Kenntnisse hatte und mit den Landwirtschaftslehrlingen umgehen konnte. Diese Kraft sollte ich sein. In Jenfeld neben dem Exerzierfeld der Wandsbeker Husaren hatte das Rauhe Haus 150 Morgen Land. Außer zwei Knechten, welche die Pferdegespanne führten, wurden auch die Ökonomielehrlinge eingesetzt. Es waren 20 junge Leute im Alter von 16 bis 20 Jahren. Sie kamen meistens aus den sogenannten höheren Ständen; viele Adlige und Söhne von Offizieren, Kaufleuten und Gutsbesitzern waren darunter. Die Landwirtschaft des Rauhen Hauses war damals in Deutschland ein Begriff, da wir Versuchsfelder für künstliche Düngung hatten. Die theoretische Ausbildung wurde von Dr. Ullmann durchgeführt. Der Kunstdünger wurde von den Fabriken kostenlos zur Verfügung gestellt, aber wir mussten die Verarbeitung des Düngers und die Ernteergebnisse schriftlich genau festhalten. Das war eine sehr schwierige Arbeit, jedoch für die Jungen sehr lehrreich. Ich kam sehr gut mit ihnen zurecht und stand später noch lange mit einigen von ihnen im Briefwechsel. Für mich war die Zeit sehr anstrengend. Im Sommer mussten wir um 5 Uhr raus, im Winter um 6 Uhr. Bald nach dem Frühstück ging es aufs Feld, eine halbe Stunde Weg. Dort arbeiteten wir bis Mittag. Nach dem Mittagessen fuhren wir wieder hinaus und arbeiteten bis zum Abend. Zur Arbeit kamen also jeden Tag zwei Wegstunden hinzu, dazu dann noch abends die Arbeit in der Familie, das Ganze beinahe 4 Jahre lang. Ich wurde nicht abgelöst, so dass ich den Unterricht, den Johannes Wichern persönlich erteilte, nicht, wie meine Kameraden, ordentlich besuchen konnte. So halfen sie mir abends, das am Tage Durchgenommene nachzuarbeiten.

Das ganze Leben im Rauhen Haus war mir lieb geworden und hat mich tief geprägt. Die religiöse Wärme war unaufdringlich, aber immer gegenwärtig. Die Morgen- und Abendandachten im Betsaal, die Wichern sehr oft selbst hielt, haben meinem Leben die Richtung gegeben. Besonders eindringlich wusste Wichern die Festzeiten, besonders die Weihnachtszeit zu gestalten. Sehr schön war es, wenn in der Adventszeit jeden Sonntag auf dem Kronleuchter ein Licht angesteckt wurde. Wir hatten einen kleinen und einen großen Knabenchor, die sehr schön sangen. Etwa 10 Tage vor dem Fest zogen die Jungen in den Wald, um Moos und anderes Material für den Bau einer Krippe zu holen, die der Sattler Colditz mit Pappe ausgekleidet hatte. In der Adventszeit zog der kleine Chor mit seinen Liedern auf Betteltour zu den Kaufmannsfamilien, die dem Rauhen Haus nahe standen und führte eine Sammelbüchse mit sich. Sie brachten oft reiche Geldbeträge heim. Außerdem hatten die Familien des Rauhen Hauses auch Patenschaften bei bedürftigen Leuten in der Stadt übernommen, die sie zu Weihnachten beschenkten. Diese Bescherten hatten dabei nicht den Eindruck, dass sie Nehmende waren, sondern dass sie geehrt wurden. Am Heiligen Abend gingen alle Jungen zur Christmette in die Hammer Kirche. Während dieser Zeit baute der Familienbruder den Gabentisch auf. Die Gaben stammten meistens von den Eltern. Wo Eltern nichts schicken konnten, stiftete das Rauhe Haus Geschenke aus Spenden, so dass sich kein Junge zurückgesetzt zu fühlen brauchte. Frau Wichern sorgte als gute Hausmutter dafür, dass für jeden Jungen das Fest zu einem Freudentag wurde. Nach dem Festessen kam die Bescherung der Brüder. Die Knaben, etwa 300 an der Zahl, wurden derweil für eine Stunde in der Turnhalle versammelt. Ein Bruder las ihnen eine weihnachtliche Geschichte vor und sang mit ihnen. Das war keine ganz leichte Aufgabe, die ich auch einmal zu erfüllen hatte. Die Bescherung der Brüder nahm Frau Wichern selber vor. Wir bekamen praktische Dinge, wie Bücher, Wäsche und dergleichen. Wer bei dieser Gelegenheit einen Reisekoffer bekam, konnte annehmen, dass seine Entsendung in naher Zeit bevorstand. Der erste Feiertag verlief still. Am zweiten Feiertag wurde ein Rundgang durch die Anstalt gemacht und die Krippen in den Familien besichtigt. Die Familie mit der schönsten Krippe bekam ein Geschenk als Prämie.

Ich war nun 29 Jahre alt und seit 5 ½ Jahren im Rauhen Haus. Es bestand die Vorschrift, dass sich kein Bruder verloben durfte, bis seine Entsendung in Aussicht stand. Als ich eintrat und von Wichern gefragt wurde, wie es damit bei mir stünde, sagte ich ganz offen: „Verlobt bin ich nicht, aber ich weiß bereits, mit wem ich mich einmal verloben werde, wenn es soweit ist.“ 1893 war ich ins Rauhe Haus eingetreten. Nach vier Jahren, 1897, erhielt ich die Genehmigung, mich zu verloben. Ich fuhr dafür nach Wiesbaden zu meiner Braut. Wir kannten uns nun schon über 7 Jahre. Jetzt, nach 5 ½ Jahren, sollte ich ins Syrische Waisenhaus nach Jerusalem berufen werden. Dazu war jedoch Bedingung, dass ich noch einige Jahre unverheiratet bleiben sollte. Mit Rücksicht darauf, dass wir nun schon so lange aufeinander gewartet hatten, musste ich dieses Angebot jedoch ablehnen, und Wichern verstand es und sandte einen anderen Bruder in diese Stelle. Nach einiger Zeit wurde aus Bremen ein Stadtmissionar verlangt.

Stadtmissionar in Bremen – ab 1.05.1899

Ich hatte an alles andere eher gedacht, als Stadtmissionar in einer Großstadt zu werden. Wegen meiner praktischen Begabung hatte ich mit einer Heimleitung gerechnet, auch schon im Hinblick auf meine Verlobte, die ja in diakonischen Anstalten gearbeitet hatte. Aber es half alles nichts. Wichern sagte: „Sie fahren nach Bremen und stellen sich vor, und es wird schon gehen.“ So fuhr ich im Februar 1899 nach Bremen und suchte den dortigen Vorstand auf. Einen Inspektor der Inneren Mission gab es damals noch nicht. Pastor Cuntz von St. Pauli (Neustadt) vertrat die Sektion Stadtmission. Ihn besuchte ich zuerst. Als er hörte, dass ich aus Nassau sei, sagte er: „Da komme ich auch her.“ Und damit war die Sache eigentlich in Ordnung. Weiter sagte er zu mir: „Setzen Sie sich auf Ihr Sofa.“ Als ich ihn fragend ansah, erwiderte er: „Dieses Sofa schenke ich Ihnen für Ihren künftigen Haushalt.“ Damit hatte ich nicht nur eine Anstellung gefunden, sondern auch ein Sofa. Es war ein altes Stück mit einem defekten Überzug, aber mit einem wundervollen Gestell, um welches ich später oft beneidet wurde.