2,49 €
Die Welt sah düster aus für jene Niedersachsen, die sich im August 1841 auf Helgoland einfanden. Vier Jahre zuvor war ihr Königreich Hannover aus dem Kreis der Verfassungsstaaten ausgetreten und ins Lager des Wiener Absolutismus gewechselt, Oppositionelle waren des Landes verwiesen worden. Protest dagegen war schwer möglich - außer hier, mitten in der Nordsee, auf einem auch weiterhin von Großbritannien regierten felsigen Eiland. Hier konnten die Hannoveraner ihre Verfassung feiern und gegen ihre Aufhebung skandieren. Diese Feier wäre zu einer Fußnote der Geschichte geworden, hätte nicht einer der Gäste - der nach Preußen ausgewanderte Germanist und Niederlandist Heinrich Hoffmann aus Fallersleben - wenige Tage später das "Lied der Deutschen" geschrieben, welches schließlich zur deutschen Nationalhymne wurde. Das vorliegende Büchlein interpretiert diesen Text, geht dabei aber von einigen neuen Ansätzen aus. So wird das "Lied der Deutschen" nicht als Schreibtischarbeit eines Nationalisten, sondern als emotionale Verarbeitung der helgoländischen Protestfeier verstanden. Dabei wird nachgewiesen, dass Hoffmann seinen Text weniger auf die Melodie von "Gott erhalte Franz den Kaiser" schrieb, sondern als bewussten Gegenentwurf zum Loblied des Deutschland unterdrückenden Wiener Absolutismus verfasste. In diesem Zusammenhang zeigt sich ferner, dass die berühmte Verse "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt." keine geographische Beschreibung sind, sondern eine Beschwörung des Widerstandes gegen die von Österreich angestrebte Vormachtstellung in Europa. Und schließlich wird auch die Bedeutung der "Deutschen Frauen" hinterfragt. Anders als bislang angenommen gehen diese nämlich nicht auf ein Gedicht Walther von der Vogelweides zurück - sondern ebenfalls auf die Protestfeier der entrechteten Hannoveraner im August 1841 auf Helgoland.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 45
Veröffentlichungsjahr: 2023
Einleitung
Die Schutz-und-Trutz-Strophe
Die Zielstrophe
Die Kulturstrophe
Verwendungsempfehlungen als Nationalhymne
Anhang
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der benutzten Internetseiten
Das Lied der Deutschen, 1841 von Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland gedichtet, ist ein Werk voller Gewissheiten. In unzähligen Publikationen ist zu lesen, dass der Niedersachse sich intensiv von seinen hochmittelalterlichen Vorläufer Walther von der Vogelweide habe inspirieren lassen, was in der geographischen Formel „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ und den Lobpreis auf die „Deutsche[n] Frauen“ seinen Niederschlag gefunden habe. Der Dreiklang von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sei hingegen eine Anlehnung an das französische „Liberté, Égalitè, Fraternité“.1 Gleichwohl habe sich Hoffmann, wie sogar die Bundesregierung ihre Bürger wissen lässt, dafür entschieden, durch die Wahl der Melodie „den Gedanken der bürgerlichen Freiheit mit dem Lob an einen Monarchen“2 zu verbinden. Scheinbar herrscht über alles am Deutschlandlied Gewissheit – einzig über das „über alles“ selbst wird gerne gestritten.
Aber woher nehmen wir diese Gewissheiten eigentlich? Und ergeben sie überhaupt Sinn? Ist Ihnen jemals eine Quelle vorlegt worden, aus der sich ergibt, dass es von der Vogelweides „Von der Elbe unz an den Rin und her wider unz an Ungerlant“ war, welches Hoffmann in den Vierklang von Maas, Memel, Etsch und Belt verwandelte?3 Wieso hätte sein Verleger Julius Johann Wilhelm Campe darauf setzen sollen, dass sich mitten in der Rheinkrise, als sich die Deutschen gegen den Pariser Anspruch auf das Rheinland zur Wehr setzten, ausgerechnet eine Anlehnung an „Liberté, Égalité, Fraternité“ zu einem Hit entwickeln würde? Und wieso hätte der Demokrat Hoffman ein Lied zur Verehrung eines Monarchen zur Grundlage seines „Liedes der Deutschen“ machen sollen? Wäre nicht eher zu erwarten gewesen, dass der Verfasser der Unpolitischen Lieder „Gott erhalte Franz den Kaiser“ auf den Kopf stellt, als dass er ihm die Weihe gibt, in die deutsche Nationalhymne einzufließen?
Dass Hoffmann genau das tat, möchte ich Ihnen in der folgenden Interpretation des Liedes der Deutschen nachweisen. Und auch die beiden anderen Einwände möchte ich dabei berücksichtigen. Wir werden Hoffmanns bekanntestes Stück verstehen müssen, ohne auch nur eine Silbe aus dem OEuvre von der Vogelweides abzuleiten. Und auch einen positiven Bezug auf Frankreich werden wir nirgendwo annehmen.
Doch beginnen wir am Anfang. Der ist in unserem Fall nämlich gar nicht so einfach zu bestimmen. Freilich, „Gott erhalte Franz den Kaiser“ beginnt mit „Gott erhalte Franz den Kaiser“, und tatsächlich gibt es Interpreten, die Hoffmanns „Deutschland, Deutschland über alles“ vor diesem Hintergrund verstehen.4 Aber gilt diese Feststellung auch dann noch, wenn man annimmt, der Niedersachse habe das 1797 von Lorenz Leopold Haschka verfasste Lied eben auf den Kopf gestellt? Müsste es dann nicht mit der letzten Strophe beginnen?
1 Vgl. stellvertretend: LERMEN, Birgit: „... des Glückes Unterpfand“ – Versuch einer Deutung des Deutschlandliedes, in: JENNINGER, Philipp (Hrsg.) (u.a.): „Unverdrossen für Europa“ – Festschrift für Kai-Uwe von Hassel zum 75. Geburtstag, Baden-Baden 1988, S. 13-36, hier: S. 29 f.
2https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/archiv/alt-inhalte/-einigkeit-und-recht-und-freiheit--481502, abgerufen am 14.11.2022.
3 Eberhard Rohse gibt an, dass sich von der Vogelweides Preislied im Anhang des zweiten Bandes der Unpolitischen Lieder befindet. Der Anhang selbst trägt den Titel „Stimmen aus der Vergangenheit“. Das erinnert zwar an den „alten schönen Klang“, den unter anderem der „deutsche[...] Sang“ behalten soll; allerdings umfasst dieser Anhang 14 Gedichte. Es gibt also keinen Hinweis darauf, dass sich das Lied der Deutschen konkret auf eines von ihnen bezieht. Vgl. ROHSE, Eberhard: „Das Lied der Deutschen“ in seiner politischen, literarischen und literaturwissenschaftlichen Rezeption, in: BEHR, Hans-Joachim; BLUME, Herbert; ROHSE, Eberhard (Hrsg.): August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798-1998 – Festschrift zum 200. Geburtstag (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 1), Bielefeld 1999, S. 51-100, hier: S. 60; HOFFMANN VON FALLERSLEBEN, Heinrich: Unpolitische Lieder, Zweiter Theil, Hamburg 1842.
Die von Haschka verfasste Kaiserhymne ist vier Strophen lang, also um eine kürzer als Hoffmanns Lied der Deutschen. Die letzte von ihnen lautet:
„Froh erleb' Er Seiner Lande,
Seiner Völker höchsten Flor!
Seh' sie, eins durch Bruder-Bande,
Ragen allen Andern vor!
Und vernehme noch am Rande
Später Gruft der Enkel Chor:
Gott! erhalte Franz den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Gott! erhalte Franz den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!“5
Bei Hoffmann wird daraus:
„Deutschland, Deutschland über Alles,
über Alles in der Welt,
wenn es stets zum Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhält!
Von der Maas bis an die Memel,
von der Etsch bis an den Belt!
Deutschland, Deutschland über Alles,
über Alles in der Welt!
Deutschland, Deutschland über Alles,
über Alles in der Welt!“
Vergleicht man den Beginn beider Strophen, werden die Parallelen deutlich, aber auch, welche Änderungen Hoffmann vornahm. Aus Haschkas „Bruder-Bande“ wird Hoffmanns „brüderlich[es]“ Zusammenhalten, aus dem „Ragen allen Andern vor“ ein „über Alles in der Welt“, aus dem Vorherrschaft beanspruchenden Hervorragen ein auf Verteidigung reduziertes „zum Schutz und Trutze“:
GFK („Gott erhalte Franz den Kaiser“):
„Froh erleb' Er [= der Kaiser] Seiner Lande,
Seiner Völker höchsten Flor!
Seh' sie, eins durch Bruder-Bande,
Ragen allen Andern vor!“
LdD („Lied der Deutschen“):
„Deutschland, Deutschland über Alles,
über Alles in der Welt,
wenn es stets zum Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhält!“
So weit, so einfach. Was ist aber mit „Deutschland, Deutschland“? Bildet es denn Hoffmanns Gegenstück zu „Seiner Lande, Seiner Völker höchsten Flor!“?