Wider die Angst - Peter A. Henning - E-Book

Wider die Angst E-Book

Peter A. Henning

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Beschreibung

Noch nie wurden wir täglich mit so vielen Informationen überflutet wie heute. In der modernen Mediengesellschaft ist gefühlt jede gewünschte Information nur einen Klick entfernt. Eigentlich müsste es uns also leichter fallen als früher, die "richtigen" Entscheidungen zu treffen … Das Gegenteil ist der Fall, denn heutzutage kommt ein weiteres Problem bei der Entscheidungsfindung hinzu: Was ist wahr und was nicht, welchen Informationen kann und will ich vertrauen und welchen nicht? Ist nur die "harte" Wissenschaft im Besitz der einzigen Wahrheit – oder ist sie nur eine Art von vielen, die Welt zu sehen? Peter A. Henning untersucht in seinem Buch die wesentlichen Meme, die unser Handeln bestimmen, sei es in Bezug auf die Klimakrise, die Corona-Pandemie oder andere wichtige Zukunftsfragen der Menschheit. Sein Ziel ist, zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen, indem er genau beleuchtet, welchen Stellenwert die Wissenschaft in unserer Entscheidungsfindung haben sollte. Dazu muss einerseits verdeutlicht werden, dass es so etwas wie "die Wissenschaft" nicht gibt, sondern dass es sich dabei um einen Prozess handelt, der mit vielen Irrwegen und durch äußerst fehlbare Menschen ausgeführt wird. Andererseits aber muss auch mit vielen übertrieben alarmistischen Berichten aufgeräumt werden, weil diese uns den rationalen Umgang mit wichtigen Zukunftsfragen erschweren. Probleme und Gefahren werden dabei keineswegs geleugnet, aber sorgfältig auf die damit verbundenen Risiken analysiert.

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PETER A. HENNING

WIDER DIE ANGST

Medien, Meme, Manipulationen

1. eBook-Ausgabe 2022

© 2022 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürichunter Verwendung eines Fotos von © Jürgen Rösner

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: Robert Gigler, München

Gesetzt aus der Sabon und der Futura Std

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-473-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit,

und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.

Perikles

Angst ist der Weg zur Dunklen Seite.

Angst führt zu Wut. Wut führt zu Hass.

Hass führt zu Leid.

Yoda

INHALT

INFORMATION OVERLOAD

KRIEG UND TERROR

Nine Eleven

Die Reiter der Apokalypse

Milzbrand per Post

Krieg im Fulda Gap

Giftgas in Krieg und Terror

Psychische Folgen der Kriege

Krieg durch Zufall

Terrorangst als Krankheit der Gesellschaft

DIE ANGST VOR DEM ATOM

Der Weg zur Bombe

Die irre Strategie der gegenseitigen Vernichtung

Atombomben in Deutschland

Die Zukunft und die Folgen der Bombe

Radioaktivität in der Natur

ENERGIE AUS ATOMKERNEN

Die Störfälle von Three Mile Island und Tschernobyl

Fukushima-Framing

Die Sonne auf die Erde holen

Energiewende – oder die Zukunft der Kernenergie

VORSICHT, GIFT IN LUFT UND ESSEN!

Die Luft wird knapp – oder doch nicht?

Der Tod vom Grill

Medikamente und Kosmetik aus der Natur

Keimfreie Lebensmittel?

Süße und fette Lügen

Bier mit Glyphosat

Die Zukunft der Nahrungsmittelversorgung

DIE ANGST VOR DEN GENEN

Viren und Impfungen

Mutanten und Zombies

Angst durch die Gene?

Genetisch veränderte Organismen

Genetische Manipulation höherer Lebewesen

Die Zukunft der Gentechnik

DIE ANGST VOR DER PANDEMIE

Aids, die fast vergessene Pandemie

Die Grippe im 20. und 21. Jahrhundert

Die Corona-Pandemie 2020–2021 – oder auch nicht?

Die Pandemie von 2030

DIE ANGST VOR DEM KLIMAWANDEL

Klimawandel in historischer Zeit

Kosmische und geologische Einflüsse

Klimakatastrophen in der Erdgeschichte

Meme für das ferne Klima

Das Wetter ist nicht das Klima

Der Zusammenbruch der Zivilisation – oder nicht?

RISIKOMANAGEMENT FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT

Risiken für die Zivilisation

Hört auf die Wissenschaft?

Fortschrittsglaube – aber nicht naiv

Wege aus der Angst

PERSONENREGISTER

LITERATURVERZEICHNIS UND KOMMENTARE

INFORMATION OVERLOAD

Die Anfänge des Internets habe ich als junger Wissenschaftler an vorderster Front miterleben können. Allerdings interessierten mich dabei weniger die technischen Aspekte als die Frage, wie es sich auf das Denken und Arbeiten der Menschen auswirken würde. Gestehen muss ich dazu, dass ich diese Frage schon immer für das spannendste Forschungsthema gehalten habe – unabhängig von meinem aktuellen Fachgebiet in den »harten« Wissenschaften Physik oder Informatik. Bei meinen Fachkollegen konnte ich diese Veränderungen in der Arbeits- und Denkweise unmittelbar beobachten. Sie waren geradezu revolutionär und betrafen schon in den 1990er-Jahren die Art, wie sie Informationen suchten, beurteilten und miteinander teilten – und die Prozesse, nach denen sie, nicht nur im Bereich der Wissenschaften, ihre Entscheidungen trafen.

Solche menschlichen Entscheidungsprozesse werden seit ungefähr 70 Jahren erforscht.1 Fast ebenso lange ist bekannt, dass dabei eine genaue Überlegung und ein rationales Abwägen der Vor- und Nachteile verschiedener Wahlmöglichkeiten nur stattfinden, wenn die Anzahl dieser Wahlmöglichkeiten klein ist.2 Sobald sie nämlich unsere Fähigkeit zur Informationsaufnahme überschreitet, werden wir als Erstes immer versuchen, diese Anzahl zu verringern.

Ein aufschlussreiches Experiment dazu haben die beiden US-amerikanischen Wissenschaftler Sheena Sethi Iyengar von der Columbia University und Mark Lepper von der Stanford University im Jahr 2000 durchgeführt.3 In einem Supermarkt präsentierten sie an einem Probierstand ein Sortiment von Marmeladen eines bestimmten Herstellers, verbunden mit der Ausgabe eines Einkaufsgutscheins. An zwei aufeinanderfolgenden Samstagen wechselten sie nun stündlich zwischen einem Sortiment aus 24 und einem aus nur sechs Marmeladen. Wie man auch naiverweise erwarten würde, zeigten deutlich mehr Kunden des Supermarktes Interesse an dem Stand mit 24 Marmeladen (nämlich 60 Prozent der Anwesenden) als an dem Stand mit nur sechs Marmeladen (nur 40 Prozent der Anwesenden). Beim Probieren der Auswahl war dann kein signifikanter Unterschied festzustellen.

Der eigentlich interessante Aspekt dieses Experiments, auf das ich bei den Recherchen zu einem Buch über Internetkultur gestoßen war,4 ergab sich aber beim Umsetzen der Wahlmöglichkeit in konkretes Handeln. Denn am Probierstand mit der beschränkten Auswahl aus nur sechs Marmeladen war der Anteil derjenigen, die hinterher ein Glas davon kauften, mit 31 Prozent mehr als zehnmal so hoch wie bei der Auswahl aus 24 Marmeladen. Nur drei Prozent derjenigen, die etwas aus der großen Auswahl probiert hatten, kauften hinterher ein Glas davon.

Auch im Bereich des Marketings sind diese Effekte gut bekannt. 1997 beispielsweise steigerte ein US-Konzern den Umsatz seiner Haarshampoos um zehn Prozent, indem die Anzahl der Wahlmöglichkeiten, also die Angebotsvielfalt, reduziert wurde.5 Offenbar begrüßen wir es, viele Wahlmöglichkeiten zu haben – sind damit aber eigentlich überfordert.6, 7 Dieser Effekt kommt keineswegs nur beim Einkauf zum Tragen, sondern steuert in vielen Bereichen unser Verhalten. Dabei gehen wir ganz radikal vor:

Information Overload führt dazu, dass die Verringerung der einlaufenden Informationsmenge wichtiger wird als Genauigkeit, Wahrheit und Faktentreue. Um den Informationsfluss zu verringern, sind wir nur allzu schnell bereit, Vorurteile, faule Kompromisse und zweifelhafte Entscheidungen zu akzeptieren.

Herbert Simon hat 1955 für dieses Verhalten die Bezeichnung Satisficing geprägt.8 In vielen Publikationen wurde seitdem gezeigt, wie schnell sich die »Pi-mal-Daumen«-Regeln, die sogenannten Heuristiken, wandeln können, nach denen die Entscheidungen dann getroffen werden: Wir werden zu adaptiven Entscheidern.9, 10

Weniger offensichtlich ist, dass der Information Overload in einer Gesellschaft, deren wichtigstes Gut die Information geworden ist, auch missbraucht werden kann.11 Dazu muss man lediglich wissenschaftlich etablierte Fakten – mindestens aber von Wissenschaftlern verkündete Erkenntnisse – aufgreifen und so darstellen, dass Menschen mit der Informationsmenge überfordert werden. Wird eine dadurch begründete Gefahrensituation wieder und wieder analysiert, über sie »berichtet« und vor ihr gewarnt, werden breite Bevölkerungsschichten Angst und Verunsicherung entwickeln. Sie werden dadurch in einen Zustand versetzt, für den der Futurologe Alvin Toffler 1970 den Begriff Zukunftsschock12 geprägt hat. Der mediale Information Overload sorgt dafür, dass die Betroffenen nahezu beliebig steuerbar sind. Diese Angst ist eine große Gefahr für unsere liberale Gesellschaftsordnung, denn wie schon so unterschiedliche Denker wie Charles-Louis de Montesquieu13 und Hannah Arendt14 feststellten:

Angst ist die Grundlage der Tyrannei.

Auch dass Information schädlich sein kann, ist keineswegs offensichtlich. Viele ökonomische Theorien und Modelle gehen auch heute noch davon aus, dass sogar eine geringe Informationsmenge einen positiven Wert hat. Dass dies gar nicht richtig ist, konnte erst 2001 durch Klaus Schredelseker von der Universität Innsbruck bewiesen werden.15, 16 Ganz im Gegenteil kann man nämlich durch ein klein wenig mehr an Informationen erreichen, dass sogar die bestmögliche Strategie zu einem schlechteren Ergebnis führt, als wenn man diese Informationen nicht gehabt hätte. Anders ausgedrückt: Wenn man nur einseitig mit beängstigenden Informationen aus einem großen Wissenspool gefüttert wird, kann das dazu führen, dass der scheinbar beste Weg in die Irre führt und keineswegs zur Problemlösung beiträgt. Das ist, wie wir sehen werden, in vielen Bereichen unserer modernen Gesellschaft der Fall.

Die erste Idee zu diesem Buch hatte ich im Frühjahr 2005, als ich von der Eastern Michigan University als Sprecher eines öffentlichen Abendvortrages in der sogenannten Spring Lecture Series eingeladen wurde. Der Titel des Vortrags lautete Information Overload. The Effect of Media Hype on the Adult Mind, und er befasste sich mit den Folgen des Anschlages auf das World Trade Center am 11. September 2001.

Im Vortrag hielt ich meinem amerikanischen Publikum einen Spiegel vor – nicht zu krass natürlich, schließlich war ich Gast. Aber ich versuchte, mein Unbehagen darüber in Worte zu kleiden, wie sich die Gesellschaft der USA seit dem 11. September 2001 verändert hatte. Von 1989 an hatten wir ein Jahr lang auf Long Island gelebt und waren ziemlich viel im Land umhergekommen; wir hatten die offene Gesellschaft schätzen und viele Freunde kennengelernt. Jetzt, 16 Jahre später, erschien mir das Land irgendwie krank. Anstelle der Offenheit war, auch und gerade seitens der Behörden, ein tief sitzendes Misstrauen getreten – wie bei einem Kind, das ein Trauma erlitten hatte. Bei vielen Menschen in den USA war etwas Neues vorhanden: Angst und die Suche nach Sicherheit. Verloren war die möglicherweise schon früher zu naive Vorstellung, dass es irgendwie immer weiter bergauf gehen müsse, dass jedes Jahr ein klein wenig besser als das vorangehende sein würde, auf keinen Fall aber schlechter.

In den Gesprächen nach dem Vortrag stellte sich heraus, dass auch die wissenschaftlichen Kollegen in den USA aufgrund der Nähe zum Geschehen und der Spezialisierung auf ihr eigenes Fachgebiet von diesem Information Overload betroffen waren. Die Thesen des Vortrags füllten eine Lücke, und das Thema ließ mich auch in den folgenden Jahren nicht los.

Als wir dann im Ersten Corona-Lockdown des Frühjahrs 2020 unter Berufung auf wissenschaftliche Erkenntnisse mehr oder weniger eingesperrt wurden, machte ich aus den vagen Ideen des Jahres 2005 die feste Absicht zu diesem Buch. Die Texte wuchsen so langsam vor sich hin, richtig entstanden ist das Werk allerdings erst im Frühjahr 2021 während des Zweiten Corona-Lockdowns. Denn was im Frühjahr 2020 noch ein vages Unbehagen war, erfüllte mich ein Jahr später mit Entsetzen: 400 Jahre der Aufklärung, der Entwicklung einer vernünftigen Weltsicht und des inneren Fortschritts erwiesen sich bei rund der Hälfte der Bevölkerung als dünner Lack, der mithilfe des Information Overload ausgehebelt werden konnte.

Angst war das dominante Thema der Corona-Pandemie für diesen Teil der Bevölkerung, und willig folgten die Betroffenen denjenigen, die ihnen Schutz und Sicherheit versprachen. Dass dabei die als sicher geltenden Grundrechte außer Kraft gesetzt und durch stumpfe Regeln statt Eigenverantwortung ersetzt wurden, war für viele Menschen zweitrangig. Dass junge Menschen nicht nur diejenigen sein würden, die am stärksten zu leiden haben, sondern dass ihnen auch Hypotheken aufgebürdet wurden, an denen sie noch viele Jahre tragen müssen, wurde von der älteren Generation mit schockierender Bereitwilligkeit in Kauf genommen.

In diesem Buch soll nun keineswegs die Geschichte, sollen auch nicht die Fehler und Erfolge der Pandemiebekämpfung aufgearbeitet werden. Darüber werden sicher Tausende von Büchern erscheinen. Es sollen auch nicht alle Details der Halb- und Unwahrheiten untersucht werden, die benutzt worden sind, um die Menschen zu steuern. Vielmehr möchte ich die Meme untersuchen, mit denen diese Steuerung in vielen Fällen erfolgt und die wir, ach so häufig und so bereitwillig, übernehmen. Dieser Begriff wurde 1976 von dem Genetiker Richard Dawkins in seinem Buch The Selfish Gene geprägt17 und steht für eine ideenhafte Grundeinheit, die durch Kommunikation verbreitet werden kann.

Ebenso wenig soll dies eine allgemeine Diskussion der inneren Befindlichkeiten der Deutschen sein, wie sie der Historiker Frank Biess in seinem Buch Republik der Angst18 versucht hat, sondern ich will mich auf die vielen falschen Ängste konzentrieren, die uns an der Bewältigung der unbekannten Zukunft hindern können.

Vielfach wurden diese Ängste durch staatliches Handeln erzeugt oder gefördert; ich werde also nicht umhinkönnen, dieses auch zu kritisieren. Damit soll aber nicht einer generellen Ablehnung des staatlichen Handelns das Wort geredet werden, sondern diese Kritik muss konstruktiv verstanden werden. Politische Extremisten von Links und Rechts sind mir ein Gräuel, ich glaube an die liberale Demokratie und ihre Verbesserung durch vernünftiges und aufgeklärtes Handeln und Denken, so wie das Stephen Pinker in seinem großartigen Buch Enlightenment Now19 formuliert hat:

We will never have a perfect world, and it would be dangerous to seek one. But there is no limit to the betterments we can attain if we continue to apply knowledge to enhance human flourishing.

Wir werden niemals eine perfekte Welt haben, und es wäre gefährlich, eine solche zu suchen. Aber es gibt keine Grenze für die Verbesserungen, die wir erzielen können, wenn wir weiterhin Wissen einsetzen, um das Gedeihen der Menschen zu fördern.

Ebenso wenig will ich Verschwörungstheorien verbreiten, die eine sinistre Macht im Hintergrund für allerhand verantwortlich machen. Die Welt wird weder durch amerikanische Milliardäre noch durch verkleidete Echsenmenschen, noch durch einen verborgenen »Deep State« gelenkt. Sondern wir sind für alles, was wir an Rückschlägen auf dem Weg zu einem für alle gleichermaßen lebenswerten, liebenswerten und freien Planeten erleben und erfahren, in großem Umfang selbst verantwortlich.

Ich will aber die Frage stellen und diskutieren, ob es wirklich notwendig und sinnvoll war, dass wir weltweit in den vergangenen 20 Jahren viele unserer in Jahrhunderten errungenen Freiheiten gegen eine zweifelhafte Sicherheit eingetauscht haben. Oder ob es nicht auch anders sein könnte. Ob man nicht vielmehr durch Kenntnis und Aufdeckung der Meme und Mechanismen, mit denen uns faktenwidrig Angst gemacht wird, eine bessere und freiere Welt schaffen könnte.

Dabei spielt Wissenschaft eine wichtige Rolle, denn sie wird – gerade in letzter Zeit unter dem Slogan »Hört auf die Wissenschaft« – häufig herangezogen, um die angeblich notwendige Angst zu begründen. Natürlich hat das auch etwas mit dem Information Overload zu tun, denn die schiere Menge unseres Weltwissens ist im 21. Jahrhundert so sehr angewachsen, dass kaum ein Mensch noch einen Überblick darüber behalten kann, ob die aus »der Wissenschaft« erhaltenen Informationen denn überhaupt wahr sind. Oder, wenn wir dem hehren Anspruch der Wahrheit misstrauen, ob sie wenigstens hilfreich sind, um uns einen Weg in die noch unbekannte Zukunft finden zu lassen und den Zukunftsschock zu überwinden.

Eine weitere wichtige Rolle für dieses Buch spielen deshalb Medien, in denen diese unbekannte Zukunft vorhergedacht und extrapoliert worden ist. Ob wir das nun als Science Fiction bezeichnen oder als fantastische Literatur: Kluge Köpfe haben sich schon seit vielen Hundert Jahren mit dem befasst, was sein könnte. Sie haben die Auswirkungen von technischen, natürlichen und gesellschaftlichen Veränderungen analysiert, bevor diese stattgefunden haben. Das hat natürlich neben der frühzeitigen Warnung vor Risiken, neben sinnvollen und tatsächlich inzwischen umgesetzten Lösungsvorschlägen auch absurde Meme hervorgebracht, die unser Denken nach wie vor hemmen. Atome und ihre Veränderungen gelten beispielsweise immer noch als eine Art der »schwarzen Magie«, und unser Blick auf Gene wird durch »Zombies« und »Mutanten« verstellt.

Ich will deshalb mit diesem Buch dazu beitragen, dass wir Wissenschaft wieder aufgeklärt und ohne Angst vor ihren Ergebnissen betrachten. Als Methode und Chance zur Überwindung von Risiken eben, und nicht nur als Warner vor Gefahren, wie das gerne getan wird. Die beiden Begriffe Gefahr und Risiko müssen wir dabei sehr sorgfältig unterscheiden:

Eine Gefahr ist die Ursache für einen möglichen Schaden, ein Risiko ist die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Schadens.

Wir werden sehen, dass uns oft mit Gefahren Angst gemacht wird, bei denen das damit verbundene Risiko sehr gering ist. An vielen Stellen, etwa bei Atomen und Genen, muss ich dabei etwas ins historische Detail einsteigen. Soll also der Information Overload durch noch mehr Informationen bekämpft werden? Nicht ganz, denn wir wollen die Wissenschaft nicht vertiefen, sondern viele der Angst-Meme in einen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang stellen, also eher über die Wissenschaft als aus der Wissenschaft berichten. Dabei erhebe ich nicht den Anspruch, eine tiefere oder bessere Wahrheit zu vertreten – diese Einordnung der Dinge ist den Leserinnen und Lesern überlassen. Ich will deshalb gerade so viel Kontext hinzufügen, dass Menschen imstande sind, selbst den Wert derjenigen Informationen zu verstehen und einzuordnen, mit denen die Angst begründet worden ist.

Denn wenn man wenigstens ein Grundwissen über die Angst-Themen hat, wenn man auch versteht, welchen Irrungen und Wirrungen die Wissenschaft auf ihrem Weg unterliegt und wie menschlich Wissenschaftler sind, wird man die Forderung Hört auf die Wissenschaft! mit anderen Augen sehen.

Und vielleicht wird man aus der falschen Angst heraus wieder den Mut fassen, sich dieser Wissenschaft auch zu bedienen, um die Zukunft lebenswerter zu machen. Nur wenn wir alle gemeinsam diesen Mut aufbringen, um uns aus der Angst zu befreien, werden wir unsere Freiheiten wiedergewinnen und erneut verteidigen können. Das ist ein Projekt, dessen Ziel der Staatenlenker Perikles vor mehr als zwei Jahrtausenden in die Worte gekleidet hat:20

Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit,und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.

KRIEG UND TERROR

Vor 60 Jahren hat eine Flugreise damit begonnen, dass man von einer netten Flugbegleiterin zu Fuß auf das Flugfeld geleitet wurde. Heute muss man sich stattdessen von wildfremden Menschen in den Hosenbund greifen lassen oder die Schuhe mit dem etwas höheren Absatz ausziehen, weil sie ja Mordwaffen enthalten könnten. Dass man damit diejenigen, die in den letzten 30 Jahren Anschläge begangen haben, nicht hätte aufhalten können, ist irrelevant. Dass unter den sogenannten Sicherheitsmaßnahmen die möglichen Opfer leiden und nicht die Täter, wird kaum noch hinterfragt. Deshalb will ich mit der Frage nach Krieg und Terror beginnen, denn ich habe den Eindruck, dass wir irgendwann in den letzten 60 Jahren falsch abgebogen sind und uns vielleicht vor den falschen Sachen ängstigen.

Kriege und Terror gegen Unbeteiligte begleiten die Menschheit vermutlich schon seit ihren frühesten Anfängen. Keineswegs aber sind sie menschliche Erfindungen, die uns gegenüber einer idealisierten Natur irgendwie minderwertiger sein ließen, denn auch bei unseren engsten Verwandten in der Natur, den Schimpansen, sind Krieg und Terror bekannt. Das sicher berühmteste Beispiel für den Stammeskrieg im Tierreich ist der Schimpansenkrieg von Gombe, den die Wissenschaftlerin Jane Goodall von 1974 bis 1978 akribisch dokumentiert hat.21 Ein Schimpansenvolk, die sogenannte Kasakela-Gruppe, griff die konkurrierende Kahama-Gruppe über Jahre hinweg immer wieder an. Im weiteren Verlauf töteten sie alle Kahama-Männchen (oder sollten wir nicht besser sagen: Männer?), mehrere Weibchen und eigneten sich das Territorium der anderen Gruppe an. Goodall hatte auch aggressiven Kannibalismus beobachtet und war darüber zutiefst entsetzt. In ihren Memoiren schrieb sie:22

Often when I woke in the night, horrific pictures sprang unbidden to my mind – Satan [one of the apes], cupping his hand below Sniff’s chin to drink the blood that welled from a great wound on his face; old Rodolf, usually so benign, standing upright to hurl a four-pound rock at Godi’s prostrate body; Jomeo tearing a strip of skin from Dé’s thigh; Figan, charging and hitting, again and again, the stricken, quivering body of Goliath, one of his childhood heroes.

Oftmals kamen mir, wenn ich in der Nacht aufwachte, entsetzliche Bilder unaufgefordert in den Kopf – Satan [einer der Affen], wie er seine Hand unter Sniffs Kinn hält, um das Blut zu trinken, das aus einer großen Wunde in seinem Gesicht fließt; der alte Rodolf, normalerweise so nett, aufrecht stehend, um einen Vier-Pfund-Stein auf den ausgestreckten Körper von Godi zu schleudern; Jomeo, einen Streifen Haut von Dés Oberschenkel reißend; Figan, immer wieder losgehend und einschlagend auf den angeschlagenen, zitternden Körper von Goliath, einem Helden seiner Kindheit.

Der Krieg ist also keine Erfindung des bösen Menschen, und die Natur ist nicht sanft, harmlos und konfliktfrei. Vielmehr ist es bei uns Menschen und anderen Primaten ein ganz tief verankertes Erbe, sich in der eigenen sozialen Gruppe zu solidarisieren, mit den »Anderen« aber durchaus aggressiv um Ressourcen zu konkurrieren. Neben dem Vorteil kurzfristiger Gewinne – auch territorialer Art – hat sich dieses Verhalten auch deshalb durchgesetzt, weil es die Wehrhaftigkeit der sozialen Gruppe stärkt und dadurch ihre Überlebenswahrscheinlichkeit erhöht. Und machen wir uns an dieser Stelle nichts vor: Dieses Erbe werden wir so schnell nicht los, auf keinen Fall zu unseren Lebzeiten.

Doch warum werfe ich hier Krieg und Terror in einen Topf? Ist nicht auch das Narrativ vom Krieg für die gerechte Sache zu bedenken, etwa zur Befreiung Kuwaits von den irakischen Truppen, die es am 2. August 1990 besetzt hatten? Ist nicht Terror nur das unmittelbar Böse, das uns aus heiterem Himmel trifft und uns – wie am 11. September 2001 – in tiefes Grauen stürzt?

Das ist, sagen wir auch dies ganz klar, eine Frage des Standpunkts. Der syrische Diktator Baschar al-Assad wird sicher den Abwurf von Fassbomben in Wohngebieten anders beurteilen als die inzwischen nahezu ausgelöschten Rebellen. Den zivilen Opfern hingegen wird der Unterschied kaum erklärbar sein – sie leiden einfach nur darunter.

Wenn wir also schon so lange Angst vor Krieg und Terror haben, sollte dieses Angstphänomen eigentlich gut erforscht und dokumentiert sein. Diese Annahme geht aber meilenweit an der Realität vorbei, denn erst in der jüngeren Vergangenheit wendet sich die Forschung diesen Fragestellungen zu. Erst seit 2011 veröffentlicht das Meinungsforschungsinstitut Allensbach im Auftrag des Centrums für Strategie und Höhere Führung jährlich die Ergebnisse einer Umfrage zum Thema Sicherheit, den Sicherheitsreport23.

Die Ausgabe des Jahres 2020 erschien im Februar 2020, also kurz vor den massiven Veränderungen unseres Lebens durch die Corona-Krise. Dieser Sicherheitsreport 2020 erscheint heute wie ein Bild aus goldenen Zeiten: Wirtschaftliche Zukunftsängste waren seit Jahren kontinuierlich zurückgegangen, es dominierte die Angst, zum Pflegefall zu werden oder an Krebs zu erkranken. Bemerkenswert war den Autoren der Analyse aber der deutliche Anstieg der Angst vor Krieg und militärischer Auseinandersetzung durch eine immer instabilere Weltlage, vor allem verursacht durch einzelne Machthaber. Dem steht 2020 ein deutlicher Rückgang der Angst vor Terroranschlägen gegenüber. Darum und weil sich die Situation wegen das Abzuges des Westens aus Afghanistan im Sommer 2021 erneut drehen könnte, werden wir als Nächstes einen Blick auf den Terrorismus werfen.

Nine Eleven

Fast jeder Mensch über 40 weiß noch, in welcher Situation er am 11. September 2001 die Nachricht vom Anschlag auf das World Trade Center (WTC) erhalten hat. Wir hatten gerade die Einschulung unserer Tochter auf das Gymnasium im Nachbarort hinter uns gebracht. Da ihr noch ein ganz bestimmter Ordner fehlte, parkten wir für ein paar Minuten vor der Papierhandlung. Meine Frau stieg zusammen mit der Tochter aus, um das Fehlende zu besorgen. Sie reagierte ziemlich konsterniert, als ich sie wenige Minuten später beim Einsteigen anherrschte: »Ruhe!« Gerade war – kurz vor den Nachrichten – die Sondermeldung über den ersten Flugzeugeinschlag im WTC zu hören. Wir fuhren, zugegeben etwas schneller als normal, die drei Kilometer nach Hause, ich sauste in das Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. CNN zeigte das Geschehen live, wir waren zu fasziniert und zu schockiert, um irgendwelche Kommentare abzugeben.

Wer sich die Aufzeichnung der CNN-Berichterstattung heute ansieht,24 wundert sich über die Gelassenheit, mit der diverse Zeugen und Kommentatoren das Geschehen begleiteten. Diese Gelassenheit endete genau um 9:03 New Yorker Zeit, als wir live am Bildschirm miterlebten, wie ein zweiter großer Jet in den anderen Turm des WTC raste und explodierte. In diesem Moment wurde klar, dass es sich nicht um ein schreckliches Unglück handeln konnte, sondern um einen Angriff. Dem US-Präsidenten George W. Bush wurde drei Minuten später während einer Vorlesestunde in einer Grundschule die Nachricht überbracht, dass »Amerika angegriffen« würde. Er blieb weitere sieben Minuten ruhig sitzen, bis ihm die Bedeutung der Mitteilung klar wurde.

Wir hatten die Twin Towers des WTC kennengelernt, als wir ab August 1989 in den USA lebten. Alleine mit unserem ältesten Sohn, zusammen mit Freunden oder mit Besuchern waren wir fast jedes Wochenende in New York City unterwegs. Die Aussichtsterrasse des WTC bot einen spektakulären Blick über die Stadt und stellte einen feststehenden Programmpunkt für jeden neuen Besucher dar; den unteren Bereich haben wir bei der Suche nach einer Toilette ebenfalls erkundet. Unauslöschlich verankert war in unserem Gedächtnis deshalb schon der Bombenanschlag auf das WTC im Jahr 1993, der diese Twin Towers auch bei allen Angehörigen der westlichen Nationen als ein Symbol unserer freiheitlichen Lebensweise etablierte. Damit war 2001 schon direkt nach dem zweiten Einschlag deutlich, dass der Angriff ebendiese Lebensweise zum Ziel hatte.

Innerhalb von 50 Minuten wurde durch die US-Flugsicherheitsbehörde FAA der erste Lockdown des 21. Jahrhunderts verfügt, indem sie den kompletten Flugbetrieb in den USA einstellen ließ. Zeitgleich entfaltete sich ein schreckliches Panorama: der dritte Angriff auf das Pentagon, die Todessprünge verzweifelter Menschen aus den oberen Stockwerken und schließlich der Einsturz des Südturms. Um 10:28 Uhr Ortszeit stürzte der Nordturm des WTC ebenfalls in sich zusammen. Die Nachricht vom vierten Flugzeugabsturz, mit dem mutmaßlich ein weiterer Anschlag auf das Weiße Haus verhindert worden ist, kam erst später hinzu.

Wer in Echtzeit die in immer größerer Anzahl und Detailtiefe hereinkommenden Bilder verfolgt hat, wird sie nie mehr vergessen: sterbende, entsetzte, flüchtende und vollkommen von Staub bedeckte Menschen – doch ebenso die disziplinierte Art, mit der viele über die Brücken und Ausfallstraßen die Insel Manhattan verließen. Bedeuten würde dies also, das wussten wir schon am Abend des 11. September, eine schwere Prüfung für die westliche Zivilisation – doch wir würden sie bestehen, mit Disziplin und unseren eigenen Fähigkeiten. Die Welt würde sich also irgendwie verändern, doch wir würden uns anpassen können und, ganz sicher, irgendwie weitermachen.

Halt, wird nun mancher sagen: Das war doch an diesem Abend gar nicht klar. Es hätte ja sein können, dass noch weitere Angriffe erfolgen. Dass auch Staaten daran beteiligt sind, denn immerhin hat ja auch 1941 ein unvermittelter Angriff auf die USA deren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Hier aber sehen wir zwei mögliche Reaktionen auf den Terror, der von außen an uns herangetragen wird: Wir können natürlich Angst bekommen, uns zusammenkauern und – unfähig zu einer rationalen Reaktion – in Schockstarre wie das Kaninchen auf die Schlange warten. Oder wir können, im Angesicht einer drohenden Gefahr, Stärke finden und uns auf einen inneren Punkt konzentrieren. Dass solche ganz unterschiedlichen Angstreaktionen durchaus etwas mit unserem genetischen Erbe zu tun haben, ist noch gar nicht so lange bekannt und wird uns im Abschnitt »Angst durch die Gene?« beschäftigen.

Die Fähigkeit, Kraft aus einem Desaster zu schöpfen, scheint insbesondere in der US-amerikanischen Gesellschaft weiter verbreitet zu sein als bei uns. Schon wenige Minuten nach dem erfolgreichen Angriff trat der US-Präsident vor die Kameras und verkündete, man werde die Schuldigen finden und bestrafen. Für eine trotzige Angriffsreaktion gibt es ebenfalls Beispiele aus dem Tierreich. So gibt sich eine Spitzmaus keineswegs geschlagen oder flüchtet, wenn sie mit einer vielfach größeren und schwereren Katze konfrontiert ist. Die Spitzmaus pfeift der Katze vielmehr eine wütende Herausforderung entgegen und macht ihr auf diese Weise klar, dass sie nicht aufgeben, sondern sich stattdessen verteidigen und mit fliegenden Fahnen untergehen wird.

Es gibt aber auch noch eine dritte Reaktion auf Terror: das Weglaufen in eine von anderen Menschen beabsichtigte Richtung. Das Erstaunliche ist nun, dass diese Richtung keineswegs von den Terroristen vorgegeben sein muss, sondern es können durchaus Trittbrettfahrer auftreten, die sich die Angst der Menschen zunutze machen, um davon zu profitieren. Der US-amerikanische Filmemacher Michael Moore hat dies im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 schon früh erkannt und 2004 darüber den Dokumentarfilm Fahrenheit 9/11 gedreht. Der Name leitet sich ab von einer Science-Fiction-Geschichte von Ray Bradbury aus dem Jahr 1953 mit dem Titel Fahrenheit 451. Darin geht es um eine pervertierte, unfreie Gesellschaft, die ihre Bürger in Unwissenheit hält. Feuerwehrmänner dienen nicht dazu, Brände zu löschen, sondern um Bücher aufzuspüren und zu verbrennen. 451 Grad Fahrenheit (das entspricht etwa 233 Grad Celsius) ist die Entzündungstemperatur von Papier. Moore wählte den Titel für seinen Film mit dem Hinweis darauf, dass bei der »Temperatur« 9/11 die Freiheit anfange zu brennen.

Dass dies nicht sofort von der Hand zu weisen ist, erkennt man im Jahr 2022 an einer simplen Tatsache: Der Ausnahmezustand, der in den USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 verhängt wurde, gilt auch heute noch.25 Er wurde am 9. September 2021 von Präsident Joe Biden erneut um ein Jahr verlängert und schreibt die weitgehenden Sondervollmachten des Präsidenten und bestimmter Exekutivorgane weiterhin fest. Als Moore seinen Film drehte, war das natürlich noch nicht absehbar. Mindestens von einem zwischenzeitlichen demokratischen Präsidenten Barack Obama hätte man sicher gehofft, dass er den Ausnahmezustand beendet. Dass er das nicht getan hat, dass auch eine unmenschliche Einrichtung wie das Gefangenenlager in der Militärbasis Guantanamo Bay nach wie vor existiert, ist allerdings weniger alarmierend. US-Präsidenten sind nun einmal nicht frei, sondern in ein komplexes Geflecht von Vorschriften, Beziehungen und Behinderungen eingebunden.

Alarmierend ist vielmehr die Tatsache, dass sich nahezu die gesamte US-amerikanische Gesellschaft mit diesem Ausnahmezustand abgefunden hat und seine Konsequenzen eigentlich gar nicht mehr diskutiert werden. John Bolton, der ehemalige Sicherheitsberater des vorigen US-Präsidenten Donald Trump, erklärt dies in seinem Buch The Room where it happened damit, dass für die USA mit dem 11. September 2001 eben die »Illusion der Friedensdividende« geendet hätte,26 die nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in Europa verbreitet gewesen sei. Und dass eben der Rest der Welt noch in dieser Illusion lebe. Mir ging beim Lesen dieser Passage die Geschichte des Autofahrers durch den Kopf, der auf der deutschen Autobahn unterwegs ist. Er hört im Radio die Warnung vor einem Geisterfahrer in seiner Region und denkt prompt: »Einer? Das sind doch Hunderte!«

In seinem Film machte Moore bereits 2004 deutlich, dass nach den Anschlägen Vorgänge abgelaufen sind, die keineswegs in das Bild der entschlossenen, trotzigen und kampfbereiten Gegenreaktion einer aufgeklärten Gesellschaft passen. Dabei ist beispielsweise zu nennen, dass die saudische Familie Bin Laden finanziell eng mit der Familie des Präsidenten George W. Bush verbandelt war (und vermutlich auch heute noch ist). »Normale« Bürger in den USA mussten unter dem Lockdown des Flugverkehrs massive Einschränkungen hinnehmen, und »normale« Muslime wurden unter Generalverdacht gestellt. Gleichzeitig gestatteten die Behörden mehreren Mitgliedern der Familie Bin Laden die schnelle Ausreise aus den USA, obwohl die Urheberschaft Osama Bin Ladens zu diesem Zeitpunkt bereits offen diskutiert wurde. In den zwei Dekaden, die seitdem vergangen sind, wurden diese Vorgänge durch keinen Untersuchungsausschuss behandelt. Ich bin, um dies vorwegzunehmen, der festen Überzeugung, dass die heutige Zerrissenheit der USA ihre Ursache im Trauma des 11. September 2001 hat.

Während Fahrenheit 9/11 der erfolgreichste jemals gedrehte Dokumentarfilm war, ist die 2018 erschienene Fortsetzung Fahrenheit 11/9, die ziemlich entsetzt darüber erzählt, wie sehr Freiheit und Wahrheit in den USA seitdem gelitten haben, beim Publikum eher durchgefallen. Der Titel dieses Films bezieht sich auf das Datum 9. November 2016, an dem der Wahlsieg von Donald Trump verkündet worden ist. Der Inhalt rechnet aber mit dem Versagen der Politik aller US-Präsidenten ab, die das Land in seine heute so zerrissene Situation geführt haben. Generalkritik unabhängig von der Parteizugehörigkeit kommt beim US-amerikanischen Publikum jedoch nicht gut an.

2022 sind immer noch etwa 40 Personen im Lager Guantanamo inhaftiert,27 immer noch befinden sich die USA im Ausnahmezustand. Schon im Oktober 2001 begannen die USA mit massiven Luftschlägen in Afghanistan, um die dort mit einem nach allen Maßstäben üblen Regime herrschenden Taliban zur Auslieferung von Osama Bin Laden zu zwingen – erfolglos. In den folgenden Jahren wurde die Terrorgefahr immer wieder betont, um schließlich die USA und mehrere andere Länder durch gezielte Unwahrheiten in den zweiten Krieg gegen den Irak zu zwingen. Bekannt ist auch, dass der verabscheuungswürdige sogenannte Islamische Staat aus diesem Konflikt hervorging. Darüber hinaus hat sich die gesamte westliche Zivilisation durch die Reaktion auf den 11. September 2001 in eine Falle locken lassen, die neben dem Verlust vieler eigener Freiheiten auch zum Verrat der eigenen zivilisatorischen Werte führte.28

2021 zogen sich die USA und mit ihnen auch alle NATO-Truppen einschließlich der deutschen Soldaten aus Afghanistan zurück und überließen das Land wieder den islamistischen Taliban. Der folgende komplette Zusammenbruch der zivilisatorischen Ordnung, die über 20 Jahre lang künstlich am Leben gehalten wurde; das vorhersehbare Leid der Frauen und der jüngeren Generation leidlich gebildeter Menschen bietet Stoff für viele Bücher. Darum sollte man vielleicht die Frage stellen, wie denn eigentlich das Gesamtergebnis dieses Krieges gegen den Terror lautet. Und wie hoch eigentlich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten für einen Krieg sein dürfen, den man nicht gewonnen hat und der auch nie zu gewinnen war.

Die Reiter der Apokalypse

Auch wenn ich die Bibel nicht als seriöse wissenschaftliche Quelle ansehe, ist sie dennoch eine Fundgrube für menschliche Erfahrungen. Dabei wird sie heute als Folge der schwindenden christlichen Religiosität oft falsch zitiert. Ein gutes Beispiel dafür sind die vier apokalyptischen Reiter. In der dunklen, oft mit Zukunftsängsten in Verbindung gebrachten Offenbarung des Johannes, die nach heutigem Wissen etwa zur Regierungszeit Kaiser Domitians (81 bis 96 n. Chr.) entstanden ist, treten diese vier Reiter auf. Vielen Menschen gelten sie als Feinde von außen, die zur Maßregelung der bösen Menschheit gesandt worden sind. Kaum eine mediale Umsetzung kann diese Angreiferrolle der vier Reiter besser illustrieren als der Holzschnitt des jungen Albrecht Dürer in dem Werk Die heimlich offenbarung iohannis aus dem Jahr 1498.29 Tatsächlich zeichnet der Text in der Offenbarung aber ein ganz anderes Bild:

Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donnerstimme rufen: Komm! Da sah ich und siehe, ein weißes Pferd; und der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben, und als Sieger zog er aus, um zu siegen. Als das Lamm das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite Lebewesen rufen: Komm! Da erschien ein anderes Pferd; das war feuerrot. Und der auf ihm saß, wurde ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten. Und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben. Als das Lamm das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte Lebewesen rufen: Komm! Da sah ich und siehe, ein schwarzes Pferd; und der auf ihm saß, hielt in der Hand eine Waage. Inmitten der vier Lebewesen hörte ich etwas wie eine Stimme sagen: ein Maß Weizen für einen Denar und drei Maß Gerste für einen Denar. Aber dem Öl und dem Wein füge keinen Schaden zu! Als das Lamm das vierte Siegel öffnete, hörte ich die Stimme des vierten Lebewesens rufen: Komm! Da sah ich und siehe, ein fahles Pferd; und der auf ihm saß, heißt »der Tod«; und die Unterwelt zog hinter ihm her. Und ihnen wurde die Macht gegeben über ein Viertel der Erde, Macht, zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde.

Der erste Reiter ist also ein Triumphator, der siegen will, der zweite Reiter ist dagegen die bittere Realität des Krieges. Der dritte Reiter symbolisiert die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des Krieges, und der vierte Reiter schließlich trägt Krankheit und Tod mit sich. Genau entgegen der populären Interpretation sind die vier Reiter der Apokalypse also nicht fremde, äußere Angreifer der Menschheit, sondern sie tragen die Warnung an die Menschen vor dem eigenen Verhalten mit sich: Wenn sie sich mit dem Ziel des Sieges in eine kriegerische Auseinandersetzung stürzen, werden sie den Tod auf dem Schlachtfeld, bittere wirtschaftliche Not und tödliche Seuchen erleiden. Die Offenbarung hält den Menschen also einen Spiegel vor.

Eine der ersten medialen Umsetzungen dieser alternativen (und eigentlich richtigen) Sichtweise ist der Stummfilm The Four Horsemen of the Apocalypse von Rex Ingram aus dem Jahr 1921, der sich mit den Folgen des Ersten Weltkriegs befasst. Das Werk gilt heute als einer der ersten Antikriegsfilme; es zeigt, wie der Krieg auf beiden Seiten Leid verbreitet und Familien zerstört. Überhaupt läutete der Erste Weltkrieg in der künstlerischen Sichtweise auf das Thema Krieg eine Zeitenwende ein.

Auch die literarische Aufarbeitung, beispielsweise in Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, wandte sich zunehmend vom weißen Reiter, dem Triumphator, ab und befasste sich mit den Folgen. Die Seuche als Folge des Krieges ist der menschlichen Erfahrung entnommen, schon in der Antike gab es diese sehr häufig. Historisch gut belegt ist beispielsweise die Attische Seuche oder Pest des Thukydides, an der 430–426 v. Chr. in Athen während der Belagerung durch die Spartaner rund ein Viertel der Bevölkerung starb.30 Der athenische Stratege Perikles erlitt durch seine, wie wir heute sagen würden, Managementfehler in dieser Krise einen dramatischen Ansehensverlust und wurde im September 429 selbst Opfer der Seuche.

Den meisten kriegführenden Befehlshabern war auch immer schon klar: Was bei ihnen entsetzliche Opferzahlen hervorruft, kann für den Gegner auch nur schlecht sein. Immer wieder zitiert wird, obwohl historisch nicht sicher belegt, dass bei der Belagerung der genuesischen Pelzhandelsniederlassung Kaffa auf der Halbinsel Krim, dem heutigen Feodossija, durch mongolische Truppen im Jahr 1347 Pestleichen mit Katapulten in die Stadt geschleudert worden sind. Die Pest hatte in den Heerlagern der Mongolen gewütet, und nach diesem improvisierten Einsatz eines innovativen Waffensystems flohen viele genuesische Schiffe nach Italien. Sie trugen die erste große Pest-Pandemie nach Westeuropa, die dramatische Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft hatte. Als Indiz für die Wahrheit dieser schauerlichen Geschichte mag gelten, dass heute tatsächlich aufgrund von genetischen Analysen bei Pestopfern die Gegend von Bolgar in der russischen autonomen Region Tatarstan als Ursprung des Schwarzen Todes gilt.31 Allerdings hat es schon sehr viel früher die Pest als Seuche gegeben, mehr dazu im Kapitel »Die Angst vor der Pandemie«.

Auch in den meisten kriegerischen Auseinandersetzungen der Neuzeit starben mehr Menschen (auch unter den Soldaten) an Krankheiten als an den eigentlichen Waffengängen. Als Beispiel hierfür kann der US-amerikanische Bürgerkrieg dienen, der von 1861 bis 1865 die USA erschütterte. Bis vor wenigen Jahren galt für ihn, dass darin etwa 618 000 Menschen gestorben seien. Erst 2011 wurde diese Zahl durch sorgfältige Analysen der Volkszählungsdaten des 19. Jahrhunderts nach oben korrigiert.32 Danach starben wahrscheinlich etwa 750 000 und möglicherweise bis zu 850 000 Menschen in diesem Konflikt – und zwei Drittel von ihnen durch Seuchen.33 Der vermutlich erste Krieg, in dem insgesamt mehr Menschen durch die Kampfhandlungen starben als durch Krankheiten, war der Deutsch-Französische Krieg der Jahre 1870/71. Allerdings kamen auf dem pazifischen Kriegsschauplatz auch im Zweiten Weltkrieg noch mehr US-amerikanische Soldaten durch Malaria um als durch Feindeshandlungen.

Den dritten Reiter der Apokalypse haben wir bisher übersprungen, denn die ökonomischen Folgen des Krieges werden gerne verschwiegen. Schauen wir deshalb einmal auf die wirtschaftlichen Folgen des 11. September 2001. Kurzfristig waren diese – gemessen an den Maßstäben des Jahres 2021 – gering. Ökonomen haben die direkten Schäden der Terroranschläge auf etwa 60 Milliarden Dollar, indirekte Schäden auf etwa 109 Milliarden Dollar geschätzt.34 Noch am Abend des 11. September erklärte Präsident George W. Bush den Krieg gegen den Terror35 und überzog, ganz weißer Reiter und Triumphator, an der Spitze einer weltweiten Koalition den Nahen Osten mit militärischen Maßnahmen. Eine konservative Schätzung des renommierten Watson Institute der Brown University kam 2018 zum Schluss, dass als Folge dieser Kriegshandlungen mindestens 480 000 Menschen ums Leben gekommen seien – ohne die Opfer in Syrien mitzurechnen.36 Die Vereinigung International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) stellte 2016 im Ausschuss für Menschenrechte des Deutschen Bundestages eine Studie vor, die auf einen Body Count von einer Million Menschen kommt.37 Die finanziellen Kosten des War on Terror betragen nach einer weiteren Studie des Watson Institute etwa 6,4 Billionen Dollar38 – nur für die USA wohlgemerkt. Seriöse Zahlen darüber, welche wirtschaftlichen Schäden diese Kriege in Afghanistan und im Irak angerichtet haben, gibt es nicht. Eine der Spekulationen im Zusammenhang mit dem 11. September ist außerdem, dass die von der US-amerikanischen Federal Exchange Commission danach zur Stützung der Banken betriebene Politik des lockeren Geldes ursächlich für den Aufbau der Immobilienblase war, deren Zusammenbruch dann die weltweite Bankenkrise von 2008 ausgelöst hat.

Drei der Apokalyptischen Reiter sind also als Folge des 11. September, vor allem aber der danach getroffenen Entscheidungen, schon über die Welt gezogen. Man kann auch leicht ausrechnen, dass man in den USA mit den genannten 6,4 Billionen Dollar problemlos ein zeitgemäßes Gesundheitssystem hätte aufbauen können, das mit der Corona-Pandemie sehr viel besser zurechtgekommen wäre. Die Kosten für eine nachhaltige Finanzierung von Obamacare betragen jedenfalls nur einen Bruchteil dieser Summe.

Das gilt natürlich in gleicher Weise für die Gegner der USA in diesem War on Terror: Die Regierung des Iran wäre vermutlich sehr viel besser beraten gewesen, mit ihren Öleinnahmen nicht den internationalen Terrorismus und die Entwicklung nuklearer Waffen zu fördern, sondern stattdessen auch in diesem einst reichen und fortschrittlichen Land ein solches Gesundheitssystem aufzubauen.

Milzbrand per Post

Eine Woche nach den Anschlägen des 11. September wurden in den USA fünf Briefe verschickt, die ein grobes bräunliches Pulver enthielten. Adressaten waren drei Nachrichtensender und zwei Zeitungen. Drei Wochen später wurden zwei weitere mit einem feineren Pulver gefüllte Briefe an zwei demokratische US-Senatoren verschickt. Neben dem Pulver enthielten diese Briefe dilettantische Drohungen und den Hinweis auf Anthrax, also Milzbrand. Dabei handelt es sich um eine gefährliche bakterielle Tierseuche, die vorwiegend Pflanzenfresser wie Rinder und Schafe, aber auch Wildtiere befällt. Das verursachende Bakterium Bacillus anthracis kann Sporen bilden, die jahrzehntelang, möglicherweise sogar jahrhundertelang infektiös sind.

Menschen können ebenfalls an Milzbrand erkranken, wenn sie mit infizierten Tieren oder den Sporen in Kontakt kommen. Die Gefährlichkeit ist dabei weniger in der unkontrollierbaren Vermehrung der Bakterien zu suchen als in der hohen Giftigkeit des von ihnen abgesonderten Milzbrandtoxins. Daher kann auch eine Erkrankung mit Hautmilzbrand tödlich enden, wenn dieses Toxin in die Blutbahn gelangt. Das Essen von sporenverseuchtem Fleisch führt zu Darmmilzbrand; so erkrankten beispielsweise 2001 in Südkorea fünf Menschen, nachdem sie Fleisch von einem aufgefundenen Rinderkadaver gegessen hatten. Die gefährlichste Form ist der Lungenmilzbrand, für den man lediglich etwa 3000 der mikroskopisch kleinen Sporen einatmen muss. Die Milzbrandsporen haften an Fellen und Häuten erkrankter Tiere, daher ist Lungenmilzbrand früher häufig in Gerbereien aufgetreten. Auch beim Sortieren und Zerschneiden von Altkleidern und Lumpen (Hadern) kann es zur Übertragung kommen – weshalb der Lungenmilzbrand in vergangenen Zeiten auch als Hadernkrankheit bekannt war. Heute noch gilt der Abriss alter Gerbereien als hoch riskante Tätigkeit und wird besonders überwacht.

An den in den USA verschickten Milzbrandsporen erkrankten 22 Personen, davon die eine Hälfte an Hautmilzbrand durch das grobe Pulver aus den ersten Briefen. Die zweite Hälfte erkrankte durch das Einatmen von Sporen aus den beiden letzten Briefen an Lungenmilzbrand. Fünf Menschen starben bei diesem Anschlag – davon zwei Postmitarbeiter und zwei vollkommen Unbeteiligte, an die keiner der ursprünglichen Briefe gerichtet war. Vermutet wird, dass ihre eigenen Briefe in einem Postverteilzentrum kontaminiert worden sind.

Natürlich stand die Welt erneut kopf, ein Zusammenhang mit dem Anschlag auf das World Trade Center lag nahe; wir waren plötzlich der Gefahr des Bioterrorismus mit »Todes-Bakterien« (so die Bild-Zeitung) ausgesetzt. Das war nicht einmal aus der Luft gegriffen, denn die lange Haltbarkeit der Milzbrandsporen und der Wegfall einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung von Anthrax haben entsprechend veranlagte Personen schon sehr früh dazu verleitet, von einem Einsatz als Waffe zu träumen.

Nach der Isolation des Milzbranderregers durch Robert Koch war das eine echte Option. Im 20. Jahrhundert haben deutsche39, japanische40, englische41, französische und US-amerikanische42 Militäreinrichtungen nachweisbar mit Milzbranderregern als biologischer Waffe experimentiert.

Sehr schnell war 2001 klar, dass hinter den Milzbrandbriefen keineswegs irgendwelche fanatischen Gotteskrieger steckten. Nach den sieben versandten Briefen gab es keine weiteren Fälle, auch Bekennerschreiben lagen nicht vor. Eine im Dezember 2001 durchgeführte Gensequenzierung ergab, dass die Sporen aus einem Erregerstamm gezüchtet worden waren, der in der US-amerikanischen Biowaffen-Einrichtung United States Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID) in Fort Detrick, Maryland, verwendet worden war.43 Mitte 2002 wurde der ehemalige USAMRIID-Wissenschaftler Steven Hatfill öffentlich verdächtigt, in den Anschlag verwickelt zu sein. Er verlor deswegen unter anderem seine damalige Anstellung und wurde Opfer einer medialen Vorverurteilung – bis er vollkommen entlastet wurde. Als Entschädigung für diese unberechtigte Verfolgung erhielt er 5,8 Millionen Dollar.

Das FBI begab sich unmittelbar nach den Anschlägen auf eine akribische Spurensuche. Im August 2002 wurden Milzbrandsporen an einem öffentlichen Briefkasten in Princeton, New Jersey, nachgewiesen. Der hohe politische Druck auf die Ermittler führte zu der ungerechtfertigten Verdächtigung von Hatfill. Erst einige Jahre später wurden – zeitgleich mit der Rehabilitierung von Hatfill – Indizien gefunden, die auf einen anderen USAMRIID-Mitarbeiter deuteten. Offenbar war schon 2001 das Büro von Bruce Edward Ivins in der Biowaffeneinrichtung USAMRIID mit Milzbrandsporen kontaminiert worden, er selbst galt als depressiv mit angeblichen Allmachtsfantasien.

Ivins, Inhaber zweier Patente zu Milzbranderregern,44 hatte darüber hinaus in den Tagen vor dem Versand der Briefe Überstunden im Labor eingelegt. Am 7. August 2008 veröffentlichte das FBI die Ermittlungsdaten und benannte Ivins als einzigen Verdächtigen. Leider hatte der »einzige Verdächtige« schon am 29. Juli 2008 mit einer Überdosis Schlafmittel Selbstmord begangen, nachdem er mit entsprechenden Andeutungen konfrontiert worden war.

Nach Ivins’ Tod äußerten sowohl sein ehemaliger Vorgesetzter als auch andere Wissenschaftler erhebliche Zweifel an den Indizien des FBI. Unter anderen argumentierten sie damit, dass ihm die entsprechende Ausrüstung nicht zur Verfügung gestanden habe. 2011 schließlich kam ein Konsortium der National Academy of Sciences der USA zum Schluss, dass kein Zusammenhang zwischen den versandten Milzbrandsporen und der Arbeit von Ivins bestände. Die Milzbrandaffäre bleibt also ungeklärt, wird aber wegen der abgeschlossenen FBI-Ermittlungen nicht weiterverfolgt – von einen »Hört auf die Wissenschaft« kann also hier keine Rede sein.

Nun bin ich kein Anhänger von Verschwörungstheorien. Dennoch fällt auf, dass in den USA immer wieder Hauptverdächtige in großen Ermittlungen plötzlich zu Tode kommen, bevor man sie über ihre Vernetzungen und eventuelle Hintermänner befragen kann. Im konkreten Fall gab es, Ivins eingeschlossen, sechs Todesopfer und weltweite Alarmmeldungen vor Bioterrorismus.

Das Mem vom Bioterrorismus durch Einzelpersonen ist eine relativ neue Erfindung. Eine frühe Vorstellung, dass eine Einzelperson durch ihre Forschungen absichtlich eine weltweite Seuche auslösen könne, finden wir bei dem französischen Schriftsteller Robert Charroux. In seinem 1965 erschienenen Werk Histoire inconnue des hommes depuis cent mille ans45 (deutsch als Phantastische Vergangenheit. Die unbekannte Geschichte der Menschen seit hunderttausend Jahren) beschreibt er, wie man seiner Auffassung nach mithilfe von Krötenblut aus dem furchtbaren Kaninchen-Myxomatosevirus eine für Menschen gefährliche Variante erzeugen kann. Das Überspringen tierischer Viren auf den Menschen ist eine Realität, die uns im Kapitel »Die Angst vor den Genen« noch beschäftigen wird. 1995 hatte der Film Twelve Monkeys von Terry Gilliam einen bioterroristischen Anschlag zum Inhalt, an dessen Folgen 99 Prozent aller Menschen gestorben seien. Die Vergangenheitsform ist dabei bewusst gewählt, denn dieses Narrativ ist in eine eher wirre Zeitreisestory eingebettet. Auch als großer Fan der Science-Fiction wollte mir beim Ansehen dieses Films nicht in den Kopf, dass die Rettung vor einer solchen Katastrophe durch einen geistesgestörten Verbrecher erfolgen solle.

Die Realität sieht allerdings anders aus: Außer der Milzbrandattacke ist nur ein weiterer bioterroristischer Anschlag bekannt geworden. 1984 verunreinigte die Bhagwan-Sekte in den USA unter Führung von Ma Anand Sheela die Salatbars von zehn Restaurants in der Kleinstadt The Dalles in Oregon mit Salmonellen. 751 Menschen erkrankten, 47 mussten stationär behandelt werden. Die bisher einzigen Todesopfer des Bioterrorismus sind also die Milzbrandtoten des Jahres 2001 – und das geschah mit Mitteln aus der Waffenforschung des eigenen betroffenen Staates.

Jährlich gibt es weltweit ca. 2000 Infektionen von Menschen mit Milzbrand. Ein lokaler Ausbruch, der Schlagzeilen machte, fand 2016 in Sibirien statt. Die Siberian Times berichtete, dass mehr als 40 Menschen erkrankt waren, davon die Hälfte Kinder.46 Unter den dort lebenden Viehzüchtern ist Milzbrand seit langer Zeit bekannt, wegen der Langlebigkeit der Sporen werden die daran verendeten Tierkadaver oft nur mangelhaft im Permafrostboden verscharrt und dann jahrzehntelang gemieden. Allerdings waren 75 Jahre in diesem Fall nicht ausreichend. Interessanterweise war dem Ausbruch von 2016 eine Hitzewelle vorausgegangen – was prompt zu Spekulationen führte, dass im Zuge des Klimawandels weitere alte Erregerreservoirs auftauen und die Menschen bedrohen würden.

Neben den »klassischen« Erkrankungen hat sich dabei in den letzten Jahren noch eine weitere Möglichkeit herausgestellt, an Milzbrand zu Tode zu kommen. 2010 gab es in Schottland und Deutschland mehrere Todesfälle, bei denen offenbar Heroin durch solche Sporen verunreinigt war.47 Nun wird der besorgte Bürger sicher argumentieren, dass Heroinsüchtige noch ganz andere Risiken haben und man das nicht mit dem harmlosen Empfang von Briefen vergleichen darf. Doch sollte man die Opferzahlen in Relation zueinander setzen und einen klaren Schluss ziehen:

Zu kompliziert und zu aufwendig sind die Methoden und zu unsicher der Erfolg, als dass Einzelpersonen oder nicht-professionelle Gruppen einen realistischen Ansatz zur Entwicklung biologischer Waffen fänden. Die Gefährlichkeit sei nicht bestritten – aber das Risiko des Bioterrorismus existiert faktisch nicht.

Bevor die Spuren der Milzbrandaffäre im Sande verliefen, hatte sie aber noch eine weitere Folge. Denn im Gegensatz zu Einzelpersonen oder Sekten sind Staaten sehr wohl imstande, Abermillionen in die Entwicklung biologischer Waffen zu investieren. Politische Kräfte in den USA benutzten diese Tatsache nach der Milzbrandaffäre, um die möglichen Verbündeten zur Mitwirkung beim endgültigen Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein zu bewegen.

Im Zweiten Golfkrieg der Jahre 1990–1991 (als Erster Golfkrieg gilt derjenige zwischen dem Irak und Iran 1980–1988) war lediglich die irakische Armee aus Kuwait vertrieben worden. Mitverantwortlich für diese »halbe Sache« war Colin Powell als damaliger Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff. Später wechselte er in die Politik und war ab 2001 Außenminister der USA. Am 3. Februar 2003 hielt Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine denkwürdige Rede. Dabei präsentierte er eine Ampulle, die angeblich Milzbrandsporen enthielt – mit Sicherheit ein gravierender Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften im UN-Gebäude.

Er behauptete, der Irak verfüge neben anderen Massenvernichtungsmitteln wie Giftgas (zutreffend) und Nuklearwaffen (gelogen) auch über Biowaffen.48 Die mögliche Menge der Milzbrandsporen gab er mit 25 000 Litern an und behauptete, dass der Irak schon 1991 den Besitz von 7500 Litern Milzbrandsporen zugegeben habe. Außenminister Powell galt im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der US-Regierung als intelligent und integer und überzeugte mit seiner 80 Minuten dauernden Präsentation, die auch angebliche Tonbandaufnahmen irakischer Offiziere beinhaltete, viele Menschen in aller Welt vom gerechten Krieg gegen den irakischen Diktator.

Tatsächlich hatte der Irak früher ein solches Waffenprogramm, das bereits 1990 einsatzbereit war. Das war auch bekannt und führte dazu, dass 1991 mehr als 150 000 Soldaten des Zweiten Golfkrieges vorbeugend gegen Milzbrand geimpft wurden. Mit der Kapitulation hatte sich der Irak weitgehenden Inspektionen seiner militärischen Einrichtungen zu unterwerfen. Diese endeten nach etwa zehn Jahren unter anderem, weil die CIA sie gezielt zu Spionageaktivitäten ausgenutzt hatte. Das irakische Militär verfügte 1991 nach dem Bericht der Inspektoren »nur« über 3400 Liter Bacillus anthracis. Diese wurden zusammen mit anderen biologischen Waffen, darunter 7500 Liter Clostridium botulinum und 340 Liter Aflatoxin, im Juli 1991 vernichtet. Am 19. Juni 1991 ratifizierte der Irak die Internationale Bio- und Chemiewaffenkonvention Convention on the Prohibition of the Development, Production and Stockpiling of Bacteriological (Biological) and Toxin Weapons and on their Destruction,49 die das Genfer Protokoll aus dem Jahr 1925 ergänzt. Dieses hatte bereits den Einsatz dieser Mittel im Krieg verboten.

Nach der endgültigen Eroberung des Irak und dem Sturz von Saddam Hussein wurden denn auch weder nukleare noch biologische Waffen gefunden. Die Behauptungen von Colin Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen waren also vollkommen unbegründet. Es erübrigt sich beinahe schon zu schreiben, dass eine offizielle Untersuchung dieser Unwahrheiten niemals stattgefunden hat. Allerdings entschuldigte sich Powell später dafür, Falschinformationen durch die US-Geheimdienste aufgesessen zu sein, und äußerte glaubwürdige Reue für seine Kriegstreiberei.

Natürlich wird niemand annehmen können, dass die Ratifizierung internationaler Abkommen schurkische Wissenschaftler oder Schurkenstaaten davon abhalten könne, Massenvernichtungswaffen zu produzieren. Die Gefährdung der Welt durch staatlich hergestellte chemische, nukleare und biologische Waffen ist real. Der Milzbrand-Fall ist allerdings ein frappantes Beispiel dafür, wie die von interessierten Kräften gestartete und medial geschürte Angst ganzer Bevölkerungsgruppen ausgenutzt werden kann, um eine kollektive Reaktion hervorzurufen.

Das Thema der militärischen Nutzung von Milzbranderregern hat noch eine besondere Pointe. Natürlich muss man sich vor der Erpressung durch Schurkenstaaten schützen. Neben der Impfung von Soldaten gegen mögliche Biowaffen gehört auch, dass man in der Lage sein sollte, solche Erreger (oder ihre Sporen) nachzuweisen. Zu den regelmäßigen Manövern, die von der NATO auf deutschem Boden veranstaltet werden, gehört deshalb auch der Einsatz der sogenannten ABC-Abwehrtruppen. Zum Zweck des Nachweises von Milzbranderregern werden regelmäßig Sporenproben von der amerikanischen Einrichtung Dugway Proving Ground an das Biowaffenlabor der US-Armee in Landstuhl (Rheinland-Pfalz) geliefert. Diese Sporen sollten eigentlich durch Bestrahlung inaktiv gemacht worden sein, also nur noch in Form von Proteinbruchstücken vorliegen. Am 24. Juni 2015 teilte man der deutschen Botschaft in Washington per E-Mail mit, dass es in den Jahren 2007, 2009 und 2010 »Unregelmäßigkeiten« bei der Inaktivierung gegeben habe und man nicht ausschließen könne, dass die Proben keimfähige Sporen enthalten hätten. Die einzig reale Gefahr einer absichtlichen Freisetzung von Milzbrandsporen in Deutschland ging also von Fehlern einer freundlich gesinnten und verbündeten Staatsmacht aus. Das hat, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, schon eine gewisse Tradition.

Krieg im Fulda Gap

Während des Kalten Krieges waren beide Seiten sicher, dass bei einem echten Konflikt die Frontlinie mitten durch Deutschland verlaufen würde. Ab Beginn der 1970er-Jahre hatte sich die Strategie des Warschauer Paktes von einer eher defensiven Ausrichtung in eine offensive Form gewandelt. Man betrachtete den konventionellen Krieg in Europa als führbar, entsprechend wurden die konventionellen Streitkräfte und insbesondere die motorisierten Einheiten in der damaligen DDR stark aufgerüstet. In der Vision des Ostens diente dies der vorbeugenden Abwehr der aggressiven NATO-Strategie, es handelte sich also um eine »friedenssichernde Maßnahme«.

In der Vision des Westens, die selbstverständlich auch noch bis zum Ende der 1970er-Jahre allen jungen deutschen Soldaten vermittelt wurde, standen hinter der innerdeutschen Grenze Zehntausende von kommunistischen Panzern, bemannt mit aggressiven Rotarmisten und bereit zur Invasion. Einig waren sich beide Seiten darin, dass der erste Vorstoß durch den Warschauer Pakt erfolgen würde.

Ich erinnere mich sehr genau an die entsprechenden Unterweisungen während meiner Zeit als Wehrpflichtiger: Als einziger sicherer Garant gegen diese Invasion galt, dass man diese Ansammlungen von Panzern durch nukleare Explosionen vernichten könne – denn die eigenen westlichen Panzerarmeen waren angeblich zu schwach und die Ausrüstung zu schlecht gewartet. In einer realen nuklearen Auseinandersetzung bestehen allerdings keine Grenzen für die Zerstörung auf beiden Seiten. Dass sich dabei die Gegner in der Doktrin der Mutually Assured Destruction (Gesicherte gegenseitige Zerstörung) – sinnigerweise als MAD abzukürzen – belauern und so etwas wie einen »Sieg« gar nicht mehr ins Auge fassen, macht nukleare Kriege unführbar. In Kapitel »Die Angst vor dem Atom« werden wir uns mit den nuklearen Waffen genauer befassen, für den Moment wollen wir diese von Strategen so genannte »nukleare Option« einmal außen vor lassen.

Das Szenario eines konventionellen Krieges in der Mitte Europas ist schon schlimm genug. Die beiden potenziellen Gegner waren sich auch darin einig, wo der erste Vorstoß des Warschauer Paktes erfolgen würde – nämlich im sogenannten Fulda Gap (Fulda-Lücke) im mittelhessischen Bergland.50 Sowjetische Panzer würden sehr schnell in Richtung Frankfurt vorstoßen, von dort aus innerhalb kürzester Zeit den Rhein und damit schon fast die französische Grenze erreichen. Da Frankreich seit 1966 kein Mitglied der NATO mehr war, konnte der Warschauer Pakt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hoffen, dass mit der Besetzung Westdeutschlands ein Ende des Konfliktes und damit das operative Ziel, die sozialistische Einflusssphäre nach Westen auszudehnen, erreichbar sei. Die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 zeigt, dass diese Hoffnung eines begrenzbaren Konfliktes auch heute noch die Politik des Kremls durchdringt – und dass sie nicht unbegründet ist.

Eine auf genau recherchierten Informationen beruhende und damit sehr realistische Schilderung des konventionellen Dritten Weltkriegs auf deutschem Boden findet man 1986 in dem Buch Red Storm Rising (deutsch 1994 als Im Sturm) von Tom Clancy.51Clancy versuchte in dem Buch, die Eskalation in eine chemische oder nukleare Kriegsführung zu umgehen. In einem Interview sagte er 1988:52

Nobody wants to fight a nuclear war, least of all the people in the military. The whole point of having conventional forces is to be able to fight and win a war without having to blow the world up.

Niemand möchte einen Atomkrieg führen, am allerwenigsten die Leute im Militär. Der ganze Sinn von konventionellen Streitkräften besteht darin, einen Krieg zu führen und gewinnen zu können, ohne gleich die gesamte Welt in die Luft zu sprengen.

Wie nahe er mit seiner Schilderung den tatsächlich geplanten und damals noch geheim gehaltenen Abläufen kam, stellte sich erst im Nachhinein heraus. Jedenfalls wurde sein Roman auch als Lehrbuch in militärischen Schulen verwendet.53 Allerdings sind erhebliche Zweifel anzumelden, ob die von ihm künstlich eingeführten Begrenzungen des Konflikts in der Realität gehalten hätten. Zum einen wird in seiner Fiktion die NATO geschwächt, indem man Westdeutschland die Verantwortung für einen feigen Bombenanschlag im Kreml in die Schuhe schiebt – mit der Folge, dass NATO-Partner abspringen und ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllen wollen. Zum anderen wird bei ihm die chemische Kriegsführung aufseiten des Warschauer Paktes durch eine Demarche der DDR-Regierung ausgeschlossen, in der die sowjetische Führung nachdrücklich aufgefordert wird, auf den Einsatz von Chemiewaffen zu verzichten. Diese Frage der Chemiewaffen werden wir im nächsten Abschnitt noch einmal ansprechen. Das Fulda Gap wurde später auch zum fiktiven Schauplatz eines apokalyptischen Romans über den Nuklearkrieg von Gudrun Pausewang (siehe Seite 88).

Ab 1968 wuchs das Interesse der deutschen Bevölkerung an dem, was ihr in einem neuen Krieg drohen würde. Eine ganze Generation war bereits mit der festen Überzeugung aufgewachsen, dass der Dritte Weltkrieg im Fulda Gap stattfinden würde. Die schrecklichen Bilder des Vietnamkrieges rüttelten zusammen mit den Studentenprotesten und der Notstandsgesetzgebung auch vorher unpolitische Menschen auf. Hatten 1967 nur etwa 6000 junge Männer den Wehrdienst verweigert, wuchs diese Zahl bis 1972 auf 36 000 an. Immer neue absurde Pläne traten in das öffentliche Bewusstsein – etwa eine vergrabene Sprengstoffpipeline entlang der gesamten innerdeutschen Grenze.

Der konventionelle Krieg wurde immer »führbarer«, gleichzeitig wurde in den deutschen Medien und der Politik weiter die Angst vor diesem Krieg geschürt – und sei es, indem Deutschland in eine erneute globale Auseinandersetzung hineingezogen würde.54 Mit dem Abschluss des innerdeutschen Grundlagenvertrages 1972 und der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 trat zwar diplomatisch eine gewisse Entspannung ein, doch militärische Doktrin war weiterhin ein Gleichgewicht des Schreckens: Jedem Waffensystem auf einer Seite musste ein äquivalentes Waffensystem auf der anderen Seite entgegengesetzt werden. Dabei setzte die NATO weiterhin darauf – gerne auch unter Einsatz von strahlungsverstärkten taktischen Nuklearwaffen, den sogenannten Neutronenbomben (1977) –, die Panzerarmeen des Warschauer Paktes zu stoppen. Mit deren Einsatz würden nur die bösen kommunistischen Panzerbesatzungen sterben, die schöne mitteldeutsche Landschaft würde dabei weniger in Mitleidenschaft gezogen.

Allerdings hatte sich inzwischen etwas Neues ergeben, denn die UdSSR hatte seit Anfang der 1970er-Jahre begonnen, die veralteten Mittelstreckenraketen auf »ihrer« Seite zu modernisieren. Dazu gehörte auch die RSD-10 Pioner, die im NATO-Jargon die Bezeichnung SS-20 Saber erhalten hatte. Bei einer Reichweite von 5000 Kilometern, einer aufgrund der fortschrittlichen Elektronik hohen Treffsicherheit und der Bestückung mit einem Mehrfachsprengkopf mit drei nuklearen Bomben wurde sie von der NATO als extrem bedrohlich eingestuft. Diese Mittelstreckensysteme waren nicht Bestandteil der immer wieder stattfindenden Rüstungskontrollverhandlungen. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt mahnte dies im Herbst 1977 auf einer Konferenz im Londoner International Institute for Strategic Studies IISS an und forderte seine NATO-Partner zu Gegenmaßnahmen auf. Ganz im Geiste des Gleichgewichts des Schreckens war diese Gegenmaßnahme der 1979 gefasste NATO-Doppelbeschluss, mit dem in Deutschland ebenfalls neue nukleare Mittelstreckenraketen des Typs Pershing II sowie nuklear bestückte Marschflugkörper stationiert werden sollten.