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Mina Canaval hatte das perfekte Leben. Sie wächst im schönen Vorarlberg auf, absolviert ein tolles Studium, macht ein Praktikum bei einem internationalen Konzern. Sie ist dabei, sich eine Zukunft aufzubauen. Aber was für eine Zukunft? Mina ließ ihr altes Leben hinter sich. Als führendes Mitglied der »Letzten Generation« kämpfte sie für die Rettung der Zivilisation. Das Leben im Widerstand veränderte ihre Perspektive auf Familie, Freundschaft und Gesellschaft.
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Verlag weist darauf hin, dass die gewählte Genderschreibweisedieses Buches dem ausdrücklichen Wunsch der Autorin entspricht.
Mina Canaval:Widerstand
Alle Rechte vorbehalten© 2025 edition a, Wienwww.edition-a.at
Cover: Bastian WelzerSatz: Bastian Welzer
Gesetzt in der PremieraGedruckt in Deutschland
12345—28272625
ISBN: 978-3-99001-814-9
eISBN: 978-3-99001-815-6
Mina Canaval
Liebeserklärungan die Unbequemen
DIE RUHE IN MIR
KLASSENBUCH
DER BLAUE SCHIFFSCONTAINER
DIE WELT GEHÖRT MENSCHEN WIE UNS
TRÄUME VON SCHORNSTEINEN UND RAUCHSCHWADEN
DOPPELLEBEN
WAS HÄLT DICH DAVON AB
ZWEI WELTEN
DIE KRIMINELLEN SIND NICHT WIR!
DER LETZTE PROTEST
NICHT JEDES ENDE IST FÜR IMMER
»Der Staat bekämpft mit seinen schärfstenWaffen nicht die gefährlichsten Menschen,sondern die Menschen mit dengefährlichsten Ideen«
Er packte mich ohne Vorwarnung. Kein Mitleid in seinen Augen. Er hatte mich am Saum meines Pullovers gegriffen, schliff mich hinter sich her, vorbei an Gitterstäben, quer durch den Gang. Mit jedem Schritt zog sich der Stoff fester um meine Kehle. Mit jedem Schritt weniger Luft. Ich konnte nicht sprechen. Nicht schreien. Ich war hilflos.
Unvermittelt gab ich einen erstickten Laut von mir. Er klang fremdartig. Nicht nach mir, nicht nach einem Menschen. Es war das letzte bisschen Protest, zu dem mein Körper fähig war.
Was nur ein paar Sekunden sein konnten, fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Mein Körper rutschte über die kalten Fliesen. Er riss weiter grob an meinem Pullover. Unerbittlich. Sein Griff lockerte sich kein bisschen, ganz im Gegenteil.
Am Ende des Gangs ließ er von mir ab. Ich griff mir an die Kehle, hustete, versuchte, meine Lunge wieder mit Luft zu füllen. Er blickte mich an.
»Du hast doch nichts«, sagte der Polizist.
Dann ließ er die Tür aus Eisenstäben mit einem Knall ins Schloss fallen und versperrte die Zelle. »Dumme Kuh.«
Ich blieb liegen.
Ich lag dort eine ganze Weile. Mein Atem ging stoßweise. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Da war kein Gefühl in meinen Armen, kein Gefühl in meinen Beinen. Nur ein widerlicher Geschmack in meinem Mund und mein wunder Hals. Übelkeit kroch mir in die Eingeweide.
Ich suchte nach Ablenkung. Nach Ruhe.
Ich fand sie nicht.
Während ich dort lag, studierte ich die dreckigen Fliesen, zählte die Fugen, begutachtete die Unebenheiten. Ich ließ meinen Blick über meine schmutzigen Hände wandern, die meinen Sturz aufgefangen hatten. Ich inspizierte Finger und Knöchel. Ich sah dem Staub zu, der mit dem Licht spielte.
Der Gedanke ans Aufstehen überwältigte mich. Also blieb ich liegen und ließ meinen Körper mit seinem Schock Freundschaft schließen.
Es war kein besonders kalter Tag, aber es zog aus allen Ecken und ich zitterte, ob aus Kälte oder Verzweiflung wusste ich nicht. Ich gab mir Mühe, meinen bebenden Körper zu beruhigen.
Aber da war keine Ruhe, da war nur Angst und die Art von Hilflosigkeit, die Panik verursachte.
Ich hörte laute Schritte und leise Schritte. Ich hörte, wie ein Wärter vor meiner Zelle Halt machte und über mich lachte. Ich ließ alles geschehen, rührte mich nicht, bis ich das Gefühl in meinen Gliedmaßen wiederfand.
Dann setzte ich mich auf und sah mich in meiner Zelle um. Die Fliesen, die ich bereits ausführlich studiert hatte, bedeckten den gesamten Boden. Noch hässlichere Fliesen klebten an den Wänden. An manchen Stellen waren sie bereits heruntergebrochen. In der Zelle gab es nur ein Fenster, zu klein, als dass ein Mensch hindurchpassen würde.
Es war vergittert. Rechts und links von mir waren Pritschen. Ansonsten war die Zelle leer. Kahl. Nackt.
Während ich meinen Blick durch den Raum schweifen ließ, verwandelte sich meine Verzweiflung langsam in Wut. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich fühlte, wie meine Wange feucht wurde.
Das war eine der Eigenschaften, auf die ich nicht gerade stolz war. Vor Zorn zu weinen, wurde Frauen oft als Hysterie ausgelegt. Und wenn nicht das, dann war es allemal entwürdigend. Aber meine Würde war mir bereits irgendwo in diesem Gefängnistrakt abhandengekommen, also weinte ich.
Mein Name war es, der mich aus meinen Gedanken riss.
»Mina.«
Einige Zellen weiter rief man nach mir. Meine Freund:innen. Ihre Stimmen klangen besorgt.
»Geht es dir gut?«
»Was ist passiert?«
Ich stand auf und blickte an mir herab. Der Dreck der Ringstraße und des Zellenfußbodens klebte auf meiner Haut. Meine Kleider waren übel zugerichtet und ich fühlte mich widerlich.
Ich trat näher an die Gitterstäbe heran und blickte zu ihnen hinüber. Sie waren in der ersten, großen Zelle, in der man Neuankömmlinge versammelte. Sie hatte ungefähr die Größe eines ausgewachsenen Elefanten, darum auch ihr Name. »Elefantenzelle«. Ihre Elefantenzelle war am weitesten entfernt von meiner.
Isolation war eine Methode, um Menschen zu brechen. Das hier durchzustehen war allein weitaus schwerer, als zusammen mit Freund:innen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Der Kloß in meinem Hals hinderte mich am Sprechen.
»Er hat mich gewürgt.«, sagte ich schließlich.
Im Polizeianhaltezentrum, kurz PAZ, galt eine Regel. Pass auf dich auf. Was im PAZ geschah, verließ dessen Mauern nicht. Warst du einmal hier, hieß es Vorsicht. Denn die, die eigentlich für deinen Schutz Sorge tragen sollten, die Polizist:innen schützten sich selbst. Deckten sich gegenseitig.
»Wir haben es gesehen«, hallte es durch die Gänge.
Ein kurzer Moment des Zuspruchs, eine gut gemeinte Bekundung der Verbundenheit. Leider würden sie vor Gericht nichts bringen. Die Anschuldigung wäre vom Tisch, ehe einer von uns würde aussagen können.
Die restlichen Stunden verbrachte ich schweigend. Mein Körper sehnte sich nach Ruhe. Aber ich zog Kreise durch meine kleine Zelle. Meine Wut trieb mich voran, Runde um Runde.
Im PAZ musste man alles abgeben, Wertgegenstände oder Dinge, mit denen sich die Zeit vertreiben ließe. Es gab keine Uhren, keine Handys, nichts, woran man festmachen konnte, dass Zeit verging oder gar wie viel. Nur das schwächer werdende Licht, das durch die kleinen Zellenfenster fiel, ließ darauf schließen, dass es Abend wurde.
Bis morgen würden sie mich nicht hierbehalten, aber nichts würde sie davon abhalten, mich zur Strafe bis spät in die Nacht in dieser Zelle sitzen zu lassen, einfach, weil sie es konnten.
Ich ging noch eine Runde. Die Wut brauchte ein Ventil.
Langsam, aber sicher wurden meine Freund:innen entlassen. Zum Schluss war nur noch ich übrig. Wie spät es war, wusste ich nicht.
Als alle gegangen und ich allein war, gelang es mir endlich, mich auf die Pritsche zu setzen. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Das einzige Geräusch weit und breit war der Klang meines Atems.
Ich weinte nicht mehr. Ich ging keine Kreise mehr. Die Panik und die Wut, sie waren einem größeren, tieferen Gefühl gewichen.
Je länger ich in dieser Zelle saß, verdreckt und misshandelt, desto mehr überkam mich ein Gefühl der absoluten Ruhe.
Ich war festgenommen, über Straßen und durch Gänge gezogen worden, ich war gewürgt und erniedrigt worden, und doch fühlte ich nun nichts als Ruhe. Eine Art Frieden.
Ich war mit mir im Reinen. Ich wusste, warum ich hier war. Ich wusste, wofür ich hier war. Und ich wusste, dass es nur richtig war, heute hier zu sein.
»Dieser Scheißjude.«
Ich blickte von meinem Mathebuch auf. Frau Blumenthal stand hinter dem Lehrertisch und hatte die Anwesenheitsliste in der Hand. Sie schüttelte den Kopf.
Ich sah mich im Klassenzimmer um. Meine Klassenkamerad:innen wirkten unbeeindruckt. Thomas neben mir kritzelte Strichmännchen in sein Heft, die mit den Gleichungen spielten, die wir zurzeit durchnahmen. Eine Reihe hinter mir hatte Emilia einen Spiegel in der Hand und trug sich Lippenstift auf. Benni war in der letzten Reihe in den Bau eines Papierfliegers vertieft. Ich sah wieder nach vorne zu Frau Blumenthal, die ungerührt an der Tafel stand.
Sie hatte die Anwesenheitsliste beiseitegelegt und begann, die Gleichung an der Tafel nach x aufzulösen.
Mein Magen zog sich zusammen. Meine Finger kribbelten. Die Zeiger der Uhr bewegten sich weiter und weiter, Sekunden verstrichen und nichts geschah, nichts war zu hören außer Frau Blumenthals monotoner Stimme. Aber etwas war anders. Als hätten sich alle Dinge um ein paar Millimeter verschoben, mich eingeschlossen, und ich wollte wieder zurück.
Ich räusperte mich. »Das ist nicht in Ordnung.«
Die Blicke meiner Mitschüler:innen richteten sich auf mich. Das Blut stieg mir in die Wangen. Mir wurde ganz warm. Einen Rückzieher konnte ich jetzt nicht mehr machen.
Frau Blumenthal sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Mina«, setzte sie an, doch ich unterbrach sie.
»So ein Wort sagt man nicht.« Meine Stimme zitterte leicht.
Samuel hatte in diesem Schuljahr schon einige Fehlstunden gesammelt, Pünktlichkeit war nicht seine Stärke, Anwesenheit erst recht nicht. Darum hatte er sich letztes Jahr eine Zwei in Betragen eingehandelt.
Es sollten noch Jahre vergehen, ehe ich das Wort »Antisemitismus« kennenlernte. Doch schon in diesem Moment, mit elf Jahren, begriff ich, dass hier etwas Unrechtes geschehen war. Die Worte, die Frau Blumenthal benutzt hatte, verletzten eine unsichtbare Grenze, die Böses von Gutem trennte, die verhinderte, dass Menschen weh getan wurde. Dieses Prinzip war so einfach zu begreifen, dass es selbst einem Kind gelang, und trotzdem wurde es, wie ich später verstand, von Erwachsenen so oft vergessen.
Frau Blumenthal legte die Kreide weg, putzte sich die Hände an der Hose ab und trat einen Schritt auf mich zu. Ich fühlte mich mit einem Mal winzig klein.
»Denk mal nach, was ich für einen Nachnamen habe, Mina«, sagte Frau Blumenthal mit einem belehrenden Unterton.
Emilia hinter mich kicherte. Die Wärme kroch mir bis unter die Haarspitzen, meine Wangen mussten mittlerweile die Farbe einer überreifen Tomate haben. Ich sagte nichts mehr. Strammen Schrittes schritt sie zum Lehrertisch und öffnete das Klassenbuch. Murmelnd begann sie zu schreiben.
Das war mein zweiter Klassenbucheintrag in diesem Monat. Noch einer und ich durfte wieder beim Direktor vorsprechen. Frau Blumenthal weiter zu verärgern war also eine schlechte Idee. Darum ballte ich meine Hände zu Fäusten, sodass meine Nägel sich ins Fleisch bohrten und die Knöchel weiß hervortraten.
Als sie all ihren Frust am Klassenbuch ausgelassen hatte, ließ sie es mit einem lauten Knall zufallen. Ich zuckte zusammen.
»Zu vorlaut, Mina«, sagte sie kopfschüttelnd und kehrte zu ihrer Gleichung an der Tafel zurück.
Das war ich. Die vorlaute Mina. Liebling aller Lehrer:innen am Lustenauer Gymnasium.
Durch etliche Klassenbucheinträge und Elterngespräche hatte ich mich bei ihnen nicht sonderlich beliebt gemacht und beim Thema Klassengemeinschaft wurde ich außen vor gelassen. In der Liste der beliebtesten Schüler:innen tauchte ich vermutlich nicht einmal auf. Freund:innen hatte ich kaum.
Die einzige Aufmerksamkeit, die mir zukam, waren die neugierigen Blicke meiner Mitschüler:innen, wenn ich mich zu Wort meldete, oder die kreativen Streiche, die sie genüsslich an mir ausließen. Mein Schulalltag war also nicht von allzu wohligen Gefühlen geprägt.
Daheim war es besser. Ich lebte in Lustenau, der größten Marktgemeinde in Vorarlberg, mit meinen Eltern und meinem Bruder. Wir hatten ein Haus in einer schönen Gegend mit netten Nachbar:innen. Wenn ich von der Schule kam, war ich glücklich. Zuhause konnte ich die Mina sein, die ich sein wollte. Am liebsten verbrachte ich meine Zeit lesend oder draußen in der Natur.
Ich hatte immer schon eine blühende Fantasie. Als ich ein kleines Mädchen war, erfanden die Nachbarskinder und ich die wildesten Geschichten, reisten durch die Zeit und kämpften gegen Geister. Wir wurden älter, aber unsere Fantasie ist uns nicht abhandengekommen.
»Das stinkt«, sagte Iris und wedelte mit der Hand vor ihrer Nase.
»So müssen Zaubertränke riechen«, meinte ich lachend. Ich nahm noch eine Handvoll Matsch und ließ sie in den Eimer plumpsen. Sie hatte recht, die Mixtur stank erbärmlich. Gestern hatte es geregnet und die Erde hatte die perfekte Konsistenz, um daraus einen dickflüssigen Brei zu machen.
Wir spielten Hexen, eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. Wir gaben uns große Mühe beim Mischen unseres Zaubertranks, denn bei unserem gestrigen Abenteuer hatten wir unsere magischen Kräfte verloren und mussten nun einen Weg finden, sie wiederzubekommen.
Iris reichte mir noch ein paar Kräuter aus dem Beet ihrer Mutter, die sie heimlich ausgerupft hatte. Ich verteilte sie gewissenhaft auf dem stinkenden Matsch, goss etwas Wasser darüber und sprach dabei einen Zauberspruch. Nachdem ich die Ärmel meines T-Shirts bis zu den Ellenbögen hochgekrempelt hatte, begann ich, den braunen Brei mit beiden Händen zu kneten.
Iris kicherte amüsiert und zog ihre Ärmel ebenfalls hoch. »Ich will auch einmal durchmischen, wenn du fertig bist!«
Iris war meine beste Freundin aus Kindertagen. Sie wohnte in meiner Straße, nur ein paar Häuser weiter. Wenn ich mit den Hausaufgaben fertig war, lief ich meist ohne Schuhe durch drei Nachbarsgärten und holte sie zum Spielen ab.
Iris kannte meine Geheimnisse, sie wusste, wer mein erster Schwarm war und wovor ich mich am meisten fürchtete. In ihrer Gegenwart musste ich mich nicht verstellen oder mir Sorgen machen. Wir waren wie Schwestern.
Während meine Hände den Matsch mit Kräutern bearbeiteten, präsentierte Iris stolz zwei Papierbecher, die sie von zuhause mitgebracht hatte. Gemeinsam füllten wir den Trank in unsere Hexenkelche.
»Ich hoffe, ihr zwei habt nicht vor, euren Zaubertrank zu kosten!« Meine Mutter war aus dem Haus gekommen und lachte. Sie sah uns eine Zeit lang zu. Dabei gähnte sie immer wieder. Sie hatte wohl einen langen Arbeitstag hinter sich.
Mama war Sozialarbeiterin in Bregenz und Leiterin des ambulanten Familiendienstes beim Vorarlberger Kinderdorf. Ihr Job war sehr herausfordernd, darum war sie am Ende des Tages oft sehr müde. Trotzdem oder gerade deswegen war sie eine gute Mutter. Sie ließ uns Freiraum, war aber immer da, wenn es darauf ankam. Allein ihr ständiges Gähnen verriet, wie erschöpft sie oft sein musste. Die meisten Mütter meiner Freund:innen blieben unter der Woche zuhause und kümmerten sich um den Haushalt. Dass meine Mutter einen Vollzeitjob hatte, noch dazu nicht in Lustenau, sondern in Bregenz, war in unserer Gemeinde und zu dieser Zeit mehr als ungewöhnlich.
In unserer Familie kümmerte sich mein Vater um die Mittagsbetreuung von uns Kindern. Er arbeitete als Heizungstechniker in der Stadt und hatte den kürzeren Weg nach Hause. Es war eine pragmatische Entscheidung. Meine Eltern teilten sich die Hausarbeit und Kindererziehung auf, weil es nicht anders ging.
Mein Bruder war sehr eigenständig und blieb gerne für sich. Er war zwei Jahre älter als ich und verbrachte den Großteil seiner Zeit mit sich selbst oder seinen Freund:innen. Er träumte von einem Studium und einem Leben in Wien, ganz weit weg von hier. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er Lustenau verlassen würde. Er sehnte sich nach anderen jungen Menschen, die mehr auf seiner Wellenlänge waren. In Vorarlberg waren ihm die meisten Leute zu konservativ und zu eingestaubt im Kopf.
Mama warf einen Blick auf die Uhr und machte unseren Zaubertränken und Hexenspielen damit ein Ende. Wir waren bei meiner Tante Vroni eingeladen und schon spät dran.
Ich liebte die Abendessen bei Tante Vroni. Meist gab es als Vorspeise Frittatensuppe und wenn ich in der Küche half, ließ sie mich die Flädle direkt aus der Pfanne zu kleinen Schnecken rollen und mit der Hand essen. Dabei erzählte sie oft Geschichten aus ihrer Kindheit, als sie so jung und unbeschwert war wie ich.
Solche Abende mochte ich besonders gern. Momente, in denen die ganze Familie zusammenkam und sich unterhielt, bis es draußen dunkel wurde. Manchmal erzählte mein Vater Geschichten, bis uns die Bäuche weh taten vor Lachen, oder wir holten die alten Familienalben raus und wenn es spät wurde, machte Tante Vroni hin und wieder einen Wein für die Erwachsenen auf.
An diesen Momenten versuchte ich festzuhalten, wenn ich in der Schule war und die Stunden zählte.
Montag war für mich der schlimmste Tag der Woche.
An Montagen schien die Woche noch unüberwindbar. Bis Freitag durchzuhalten war eine Qual, aber an diesem Montag hob zumindest das schöne Wetter die Stimmung.
Ich saß mit einer Gruppe Mädchen am Schulhof. Die Blätter fielen langsam von den Bäumen und kündigten die herannahende, kalte Jahreszeit an. Es war einer der ersten Herbsttage, aber die Sonne meinte es gut mit uns und spendete uns ein paar letzte, wohlig wärmende Strahlen, die an Sommerferien und Freiheit erinnerten. Also nützte ich, wie so viele andere, die große Pause, um etwas Sonne zu tanken.
Ich trug ein rosafarbenes Kleid mit weißen Punkten, das ich besonders gern mochte. Kalt genug für Pullover und Jeans war es noch nicht und ich wollte die letzten, warmen Tage des Jahres nützen, um noch mal meine liebsten Sommerkleider zu tragen. Außerdem hatte ich eine Packung Kekse dabei, die Tante Vroni mir beim letzten Abendessen mitgegeben hatte.
Die Mädchen, bei denen ich saß, waren Bekannte. Sie Freundinnen zu nennen, wäre übertrieben, denn nach der Schule sahen wir uns kaum. Aber wir teilten dasselbe Schicksal, wir waren allesamt nicht sonderlich beliebt an unserer Schule und wurden von unseren Kolleg:innen oft ausgeschlossen. Wir gehörten zu keiner Gruppe, keiner Clique und so hatten wir übrigen uns zusammengefunden. Ein bunter Haufen an Unbeliebten, die gemeinsam nicht ganz so allein waren.
Ich fegte ein paar Krümel von meinem Kleid und bot Elisabeth neben mir einen Keks an, bevor sie alle weg waren. Elisabeth war eine begabte Mathematikerin. Sie hatte zwei große Brüder und einen riesengroßen Hund, mit dem sie jeden Tag spazieren ging. Außerdem hatte sie eine Zahnspange, für die sie unentwegt gehänselt wurde.
»Hey!«
Elisabeth erstarrte. Ich ließ meinen Blick durch den Schulhof schweifen, versuchte rauszufinden, wer nach uns rief.
»Hey, Pink Panther!« Das war Thomas, mein Sitznachbar. Er kam auf mich zu. »Kauf doch mal Kleidung, die nicht aus der Kinderabteilung kommt!« Er betrachtete mich von oben bis unten, sein Blick war abschätzig. Ich zog schützend die Arme an meine Brust. Er lachte. Ein anderer Junge kam dazu, zeigte mit dem Finger auf mich und flüsterte Thomas etwas zu.
»Lasst mich in Ruhe!«, rief ich in ihre Richtung. Wieder verschoben sich alle Dinge rund um mich um ein paar Millimeter, die Welt geriet aus den Fugen. Ich wünschte mir, jemand würde sich vor mich stellen, Thomas konfrontieren. Doch niemand tat es. Niemand widersprach. Ich selbst fühlte mich, als wäre alle Luft aus mir gewichen, wie aus einer aufgestochenen Luftmatratze. Ich konnte mich nicht stets allein wehren. Denn jedes Mal aufstehen, jedes Widerwort kostete Kraft. Und allein hatte ich schlicht nicht genug davon.
Mein Herz raste, als ich Thomas und die Mädchen hinter mir ließ und zurück in meine Klasse ging. Ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. So gut es ging hielt ich sie zurück.
Schniefend setzte ich mich an meinen Tisch. Die restlichen Plätze im Klassenzimmer waren leer. Niemand kam mir nach, niemand sah nach mir. Ich war allein.
Ich wusste nicht, ob ich dankbar war oder traurig.
Wir erleben Widerstand in vielen Situationen, ohne dass es uns bewusst ist. Oftmals unterlassen wir ihn, weil es uns an Kraft und Energie fehlt. Manchmal sind wir zu bequem dazu. Aber manchmal wachsen wir über uns hinaus und setzen ein Zeichen. Immer kämpft etwas in uns. Es ist der Kampf zwischen Akzeptanz und Widerstand. Erst, wenn wir aufhören zu akzeptieren, können wir aufbegehren.
Rückblickend begann wohl alles mit meiner Familie. Wie konnte es auch anders sein? Frage ich mich, woher mein Mut kommt, der Mut, auf die Straße zu gehen, mich mit der Polizei anzulegen und stark zu sein im Angesicht des Hasses, der uns oft entgegenschlägt, sehe ich meine Eltern vor mir. Ich sehe sie am Küchentisch sitzen, gebückt über Briefe, wild gestikulierend, in unausgesprochenem Einklang kämpfend gegen die großen Ungerechtigkeiten ihrer kleinen Welt.
Mein Gerechtigkeitssinn, mein Vorlautsein, mein Widerstand. All das stammt aus einem kleinen Haushalt in Lustenau. Blicke ich zurück, begann alles mit meinem Vater und einem blauen Schiffscontainer.
Nach dem Tod seiner Eltern erbte mein Vater ein bescheidenes Stück Grund und einen beträchtlichen Anteil Krimskrams. Er bekam allerlei Dinge, die er seit Kindertagen nicht mehr gesehen hatte. Dinge, die früher einmal ihm gehört hatten und Dinge, die seine Eltern für nützlich gehalten und ihm hinterlassen hatten. Vor einigen Jahren, als ich ein Teenager war und wir gemeinsam mit meiner Tante die Garage meiner Großeltern ausräumten, kam mir Papas Erbanteil vor wie ein Griff in die Schatztruhe.
Vor langer Zeit hatte Papa wohl mal zwei Oldtimer besessen. Einen roten und einen weißen Karmann Ghia. Den weißen nutze er als Ersatzteillager und den roten restaurierte er zusammen mit meinem Opa. Vom weißen war nur noch die Tür übriggeblieben. »Die behalten wir, falls der Oldtimer mal einen Unfall hat und wir eine neue Tür brauchen«, erklärte mir mein Papa. Er hatte schon immer einen Hang, unnütze Dinge zu behalten. Aber manchmal brauchte man genau das, was er Jahre zuvor aufgehoben hatte.
Die Oldtimer-Tür lehnte an ein grünes Fahrrad mit einem geflochtenen Korb, der mit Schleifen am Lenker befestigt war. Es hatte Oma gehört. Sie war damit sonntags immer zum Markt gefahren. Papa hatte das Rad einige Zeit lang angeschaut und nichts gesagt. Eines der Räder hatte ein Loch, aber er meinte, das schmeißen wir nicht weg. Das reparieren wir. Wir fanden einen Rasenmäher und eine Heckenschere, die für uns bestimmt waren. Und Opas alte, benzinbetriebene Gartenfräse.