Wie das Papierfresserchen zu seinem Namen kam - Martina Meier (Hrsg.) - E-Book

Wie das Papierfresserchen zu seinem Namen kam E-Book

Martina Meier (Hrsg.)

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Beschreibung

"Erinnerung verzweifelt gesucht!“, lautete die alarmierende Nachricht unseres Geburtstagskindes. Im hohen Alter von fünf Drachenjahren stellt sich das Papierfresserchen die wichtigen Fragen des Lebens: Woher stamme ich? Wie bin ich zu meinem Namen gekommen? Mehr als 60 Autorinnen und Autoren sind in Märchen, Kurzgeschichten und Gedichten dem Ursprung des grünen Kerlchens und seines Namens auf den Grund gegangen. Dabei vermitteln sie viel mehr als die Geschichte des Drachens und seiner Benennung, da geht es um Abenteuer, Freundschaft, Mut und Neugier und darum, dass jeder genauso richtig ist, wie er ist. Womit könnte man den knuddeligen Kerl und seinen Verlag besser feiern als mit einem Buch voll herziger und geradezu köstlicher Geschichten? Mit einem Vorwort der Herausgeberin und langjährigen Freundin des Papierfresserchens Martina Meier.

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Wie das Papierfresserchen zu seinem Namen kam

Martina Meier (Hrsg.)

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.papierfresserchen.de

© 2023 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2012.

Titelbild: Dörte Müller

ISBN: 978-3-86196-186-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-99051-191-6 - E-Book

*

Inhalt

So etwas wie ein Vorwort

Tintenfeuer

Verschlungene Bücher

Der kleine Drache Namenlos

Abenteuer auf der Drachenburg

Oskars drachenstarker Freund

Wie das Papierfresserchen zu uns kam

Ein Knistern in der Nacht

Der kleine Zeichenkünstler

Das ganz besondere Fresserchen

Ein grüner Besucher

Ein ganz besonderer Schriftsteller

Der Drache in meinem Zimmer

Samson

Der Drache aus dem Märchenland

Die Magie der Bücher

Der kleine Mitbewohner

Papierfressende Drachen

Vom Sohn des Himmels

Meine Reise ins Glück

Der Duft der Bücher

Die Prinzessin der Buchstaben und Worte

Pias Abenteuer im Zauberwald

Ein Drache auf Namenssuche

Schnitzeljagd

Das mutige Mädchen

Aufsatzfresserchen

Lesesucht

Ein besonderes Versteckspiel

Der Bücherdieb

Erst ein Freund ... und dann ein Name

Der Außenseiterdrache

Frechdachs vom Dachboden

Papierfresserchen

Der kleine Feinschmecker

Der königliche Gedichtevernichter

Farbe wechsel dich

Ein grünes Kerlchen

Sicher versteckt

Timmi

Das richtige Zuhause für ein Papierfresserchen

Die Geschichte des Papierfresserchens

Ein kleiner Drache

Drachenliebe

Ein Name für den Drachen

Wandererlebnis

Ein außergewöhnlicher Freund

Der kleine Drache Papierfresserchen

Karteikarten des Schicksals

Der kleine Bücherprinz

Papierfresserchen schlüpft

Das lebendige Kuscheltier

Geschichte eines Jungen, der fliegen lernt

Mein neuer Freund

Der Autor und das Papierfresserchen

Hilfe vom Talenttester

Papierfresserchens Ritterabenteuer

In der Drachenschule

Kindheit in Futschland

Abenteuerliche Bücherrettung

Ratten im Buchladen

Die Geschichte des kleinen grünen Drachen

Zibo und der Drache

Der Unruhestifter

Das Buch des Herrn Russow

*

So etwas wie ein Vorwort

*

Tintenfeuer

Leichte Worte auf Papier,

festgehaltene Gedanken.

Die Zeit, ein schillernd grünes Tier,

um das sich Buchstaben ranken.

Geliebte Texte schnell verschlungen,

bevor ein andʼrer sie entdeckt.

Ein Meisterwerk der Zeit gelungen,

das dunkle Tiefe still versteckt.

Liebe, Hass, Schwermut, Trauer,

fröhlich-verzweifelte Geschichten.

Bunte Vielfalt, schwarze Schauer,

ein Feuerstoß, sie zu vernichten.

Kaya Herkersdorf wurde 1996 geboren und liest gerne, schreibt, reitet, läuft Schlittschuh, fährt Ski und mag Musik.

*

Verschlungene Bücher

Der kleine Drache machte seine übliche Runde und langweilte sich dabei. Seit er im Schloss war, hatte er nichts anderes getan, als Mäuse zu jagen. Zugegeben, er war ein Mäusefresser, aber selbst für ihn wurde es auf die Dauer zu viel. Und dabei war er ein genialer Mäusefresser. Bis jetzt hatte er jede Maus, die er finden konnte, geschnappt und verschlungen. Da konnten sie noch so flink sein. Der kleine Drache fing sie alle.

Er trottete den Gang entlang bis zu einer großen Tür, die einen Spalt offen stand. Neugierig streckte der Drache seinen Kopf hindurch und sah hinein. Noch nie war er in der Bibliothek gewesen. Die königliche Bibliothek war sehr groß und ziemlich durcheinander. Alles war voller Bücher, Karten und Papierrollen. Es raschelte. Eine kleine Maus saß auf einem Buch und nagte daran. „Auch das noch“, dachte er entnervt. Jetzt musste er schon wieder eine jagen.

Er seufzte laut. Die Maus erschrak, sah den Drachen und flüchtete am Regal empor. Da musste er natürlich hinterher. Er sprang auf das Regal, bohrte seine Krallen in ein Buch und zog sich hinauf. Die Maus sah ihn und sprang noch weiter hoch.

Aber der Drache war schneller. Er wollte gerade nach ihr schnappen, als die Maus einen Stapel Bücher lostrat. Eine Lawine von Papier, Staub und Büchern ergoss sich direkt in sein weit aufgerissenes Maul. Vor Schreck verlor er den Halt, stürzte und riss dabei noch mehr Bücher und Papier mit sich.

Mit einem großen Rums landete er mitsamt den Büchern und dem ganzen Papier in einem großen Haufen auf dem Boden. Ein Buch hatte sich auf einem seiner Zähne aufgespießt. Er zerrte und riss daran, aber er bekam es einfach nicht mehr los. Er kaute probeweise etwas darauf herum. So schlecht schmeckte es gar nicht. Schließlich löste sich das Buch von seinem Zahn und er schluckte es herunter. Seine Zunge kitzelte seltsam. Aber das war noch nicht alles. Etwas war passiert. Bilder, Wörter und Wissen flossen in sein Bewusstsein. Plötzlich wusste er, was Kochen war. Bilder von Eiscreme und anderen Desserts tanzten wild durch seinen Kopf.

Sein Blick fiel auf ein aufgeschlagenes Buch und er entdeckte erstaunt, dass er verstand, was da geschrieben war. Er war schlau geworden. Außerdem verspürte er den großen Wunsch, das zweite Buch auch noch zu fressen. Das tat er dann auch. Das Buch selbst schmeckte nur nach Papier, aber die Wörter prickelten fabelhaft auf der Zunge. Während er genüsslich auf dem Papier kaute, rauschten Hunderte von Wörtern durch seinen Kopf. Er wusste plötzlich alles über Ägypten und Pharaonen. Er wusste zwar nicht, was Pharaonen waren, aber es klang spannend. Vielleicht sollte er als Nächstes ein Wörterbuch fressen. Voller Freude biss er ins nächste Buch. Solange es Bücher gab, würde er sich nie wieder langweilen müssen. Die Maus hatte er völlig vergessen.

Bald wussten alle im Schloss von dem bücherfressenden Drachen. Anfangs war der König ziemlich verärgert gewesen, als er hören musste, dass der Drache seine ganzen Bücher aufgefressen hatte. Aber bald stellte sich heraus, wie nützlich der schlaue Drache war. Er half dem König nicht nur beim Lösen seiner Kreuzworträtsel, sondern auch beim Regieren seines Landes. Natürlich immer so, dass niemand davon wusste.

Aber bald reichte selbst das dem Drachen nicht mehr und er fing wieder an, sich zu langweilen. Er wollte neues Wissen. Also verabschiedete er sich vom König und zog los, um neue Bücher zu finden. Seine Reise führte ihn bald in einen neuen Ort. Hier roch es köstlich nach druckfrischen Büchern. Kurzgeschichten und Romane konnte er deutlich herausriechen. Er folgte der herrlichen Spur bis zu einem kleinen Verlag.

Er schnupperte. Der Duft kam offensichtlich aus einem offenen Fenster im ersten Stock. Unbedingt wollte er da hinein. Er sehnte sich so sehr nach einem richtig dicken Buch mit Buchzeiger, Verzeichnis und mindestens vierhundert Seiten. Ohne zu zögern, flog er mit seinen kleinen Flügeln hinein. Er landete in einem Büro.

Es war niemand da, also hatte der Drache Zeit, sich etwas umzuschauen. Sofort fand er auch eine ganze Schachtel voller Manuskripte und nahm eines heraus. Er hatte solchen Hunger, dass er es am liebsten sofort verschlungen hätte, aber er hatte ein schlechtes Gewissen. Er konnte doch nicht einfach bei jemandem einbrechen und dessen Bücher fressen.

Da entdeckte er den Fotokopierer. Zum Glück hatte er mal eine Bedienungsanleitung gefressen. Bald hatte er das ganze Manuskript kopiert und fing an die ersten Seiten zu fressen. Dabei blieben ihm andauernd Papierfetzen zwischen den Zähnen hängen. Als er sie sich genauer ansah, erkannte er, dass alle Rechtschreibfehler enthielten. Er spuckte sie auf einen Haufen. Später würde er sie sich noch mal anschauen. Dann rollte er sich zusammen und schlief erschöpft ein.

Als er wieder erwachte, stellte er erstaunt fest, dass er nicht mehr alleine war. Eine Frau saß am Schreibtisch und verglich das Manuskript, das er kopiert hatte, mit den ausgespuckten Schnipseln.

„Tut mir leid“, sagte der Drache. „Ich wollte nicht einbrechen, aber Ihr Verlag riecht so gut nach frischen Büchern.“ Die Frau sah auf und lächelte ihn an. „Halb so schlimm“, sagte sie. „Hast du das Manuskript fotokopiert? Und die Fehler rausgesucht?“ Der Drache nickte.

„Wo ist der Rest?“, wollte sie wissen.

„Hab ich gegessen“, antwortete der Drache etwas verlegen. Dann erzählte er ihr seine ganze Geschichte. Als er fertig war, machte sie ihm einen Vorschlag: „Du könntest für uns arbeiten. Du kriegst so viele Bücher, wie du willst, und dafür prüfst du unsere Manuskripte auf Fehler. Was meinst du?“ Da musste der Drache nicht lange überlegen. „Abgemacht.“

„Wie ist dein Name?“, fragte die Frau. Der Drache überlegte kurz. Er hatte noch nie einen Namen gehabt. Die meisten nannten ihn einfach nur „Drache“. Früher hatte er „Mäusefresser“ geheißen, aber der Name passte jetzt überhaupt nicht mehr zu ihm. Da fiel ihm der perfekte Namen ein, und er sagte zufrieden: „Ich bin das Papierfresserchen. Und wer bist du?“

Nicole Janes, geboren 1988, lebt zurzeit in Frankreich, wo sie ihre Zeit am liebsten mit Schreiben, Lesen und Malen verbringt. Ihr erstes Werk, das Kinderbuch „Die kleine Krähe Viola“ ist in Papierfresserchens MTM-Verlag erschienen.

*

Der kleine Drache Namenlos

Kevin lag auf dem Bett und hatte sein Lieblingsbuch hervorgeholt. Es enthielt zahlreiche Geschichten über das Leben der Drachen, die mit bunten Bildern verziert waren. Eine Seite hatte es ihm besonders angetan. Sie zeigte den großen, furchterregenden Drachen Gregor und daneben einen kleinen Drachen Namenlos, der etwas traurig aussah. „Warum hat der Autor dem kleinen Drachen keinen Namen gegeben?“, dachte Kevin bei sich und betrachtete das Bild.

„Weil er sich noch keinen Namen verdient hat“, antwortete der kleine Drache.

„Wie bitte?“, fragte Kevin erstaunt.

„Du hast richtig gehört“, fuhr der kleine Drache fort. „Nur Drachen, die ein Abenteuer bestanden haben, erhalten einen Namen. Und ich habe noch keins erlebt.“

„Ich würde dir gern helfen“, sagte Kevin. „Aber ich liege hier auf dem Bett und du bist im Buch.“

„Das geht leichter, als du denkst“, erwiderte der kleine Drache. „Gib mir deine Hand und halte mit der anderen das Buch gut fest. Du brauchst es, um wieder in deine Welt zurückzukehren.“

Kevin zögerte nicht lange und ergriff vorsichtig seine Klaue. Dann hatte er das Gefühl zu schweben. Im nächsten Moment befand er sich neben dem kleinen Drachen. Der lachte ihn an. „Was würdest du an meiner Stelle machen?“, fragte er den Jungen.

„Wenn du ein Abenteuer erleben willst, musst du ein Dorf in Angst und Schrecken versetzen“, schlug Kevin vor. „Oder du entführst eine Jungfrau. Dann kommt früher oder später ein Ritter auf seinem Pferd angeritten und will gegen dich kämpfen. So einfach ist das.“ Der kleine Drache seufzte. „Jetzt fängst du auch damit an. Warum müssen Drachen eigentlich immer gegen Ritter kämpfen? Ich finde das schrecklich!“ Kevin überlegte. „Ich denke, dass der Ritter auch ein Abenteuer bestehen muss, um sich einen Namen zu machen“, antwortete er schließlich. „Für den Ritter ist es eine besondere Auszeichnung, einen Drachen zu besiegen.“ Der kleine Drache stampfte zornig mit dem Fuß auf den Boden. „Ich hasse es, gegen Ritter oder andere Menschen zu kämpfen. Ich möchte friedlich mit ihnen zusammenleben. Oder kämpfst du auch gegen Drachen?“

Kevin schüttelte den Kopf und lachte. „In der Zeit, in der ich lebe, gibt es keine Ritter und keine Drachen. Wer sich heute einen Namen machen möchte, der muss besondere Dinge tun.“ Der kleine Drache schaute den Jungen verwundert an. „Was meinst du mit besonderen Dingen?“

„Nun“, sagte Kevin und dachte angestrengt nach, „man kann zum Beispiel eine Maschine erfinden, die den Menschen das Leben erleichtert. Oder man schreibt Geschichten, die die großen Menschen den kleinen Menschen vorlesen. Da gibt es viele Möglichkeiten.“ Der kleine Drache schwieg. Dann hatte er eine Idee. „Gibt es in eurer Welt auch Kinder, die gern einen Drachen kennenlernen möchten?“

„Oh ja“, rief Kevin. „Das wäre etwas Besonderes. Die Kinder kämen von weit her, um einen Drachen zu sehen.“

In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Brüllen. Der Drache Gregor kam hinter einem gewaltigen Felsen hervor. Die Erde bebte, als er sich den beiden näherte und in den Weg stellte. Aus seinem Maul spuckte er Feuer in einen nahegelegenen Busch, der sofort niederbrannte. Dann blickte er die zwei an und rief mit lauter Stimme: „Wenn es in deiner Welt keine Ritter mehr gibt, dann will ich dort leben und mir einen noch größeren Namen machen. Gib mir das Buch!“

„Auf keinen Fall“, schrie der kleine Drache mutig, nahm das Buch an sich und hielt es fest. „Auf dich können die Menschen ganz sicher verzichten. Du würdest mit deinem Feuer alles verbrennen.“ Der Drache Gregor lachte dröhnend. „Wie recht du doch hast. Alle Menschen würden mich fürchten, wenn sie nur meinen Namen hören. Ich wäre der berühmteste Drache auf der ganzen Erde.“

„Schnell, Kevin“, flüsterte der kleine Drache, „kehr zurück in deine Welt.“ Kevin blickte in das aufgeschlagene Buch und sah seinen Schreibtisch. Er ergriff die Tischkante und fühlte, wie er in sein Zimmer gezogen wurde. Im nächsten Augenblick lag er wieder auf seinem Bett. Der Drache Gregor stürzte sich auf den kleinen Drachen, um ihm das Buch zu entreißen. Aber es war zu spät. Der Namenlose hatte blitzschnell reagiert und das Buch bereits verspeist. Da war nichts mehr zu machen. „Ein Drache, der Papier frisst, unglaublich“, schimpfte Gregor und stampfte wütend davon.

Kevin ging in den nächsten Buchladen und kaufte sich das Drachenbuch ein zweites Mal. Dann schlug er seine Lieblingsseite auf und betrachtete sie. Die beiden Drachen standen unverändert an ihrem Platz. Kevin nahm einen Stift und strich die Bezeichnung Der namenlose Drache durch. Stattdessen schrieb er an die gleiche Stelle in sauberen Buchstaben: Das Papierfresserchen. Der kleine Drache sah jetzt überhaupt nicht mehr traurig aus, sondern lächelte. Einen Moment lang dachte Kevin, er würde ihm zublinzeln. Aber ganz sicher war er sich nicht.

Matthias Liebelt ist zwölf Jahre alt und lebt in Öhringen.

*

Abenteuer auf der Drachenburg

Die Drachenfamilie machte sich große Sorgen, sie wollten die gesamte Burg absuchen, weil Papierfresserchen verschwunden war. Viele Verstecke gab es nicht. Die Burg war an die Bedürfnisse der grünen Bewohner angepasst worden. Sie hatten die Burg menschenleer vorgefunden, weit oben auf dem Berg im großen tiefen Wald. Die Menschen waren alle in die Stadt gezogen und hatten den unbrauchbaren Hausrat dagelassen.

Am Anfang wollten sich die Bewohner mit dem Unrat arrangieren, sie mochten die roten Vorhänge, aber Drachen sind launische Wesen und tragen ihre Kämpfe gerne mit Feuer aus. Sie spucken Feuer in alle möglichen Richtungen, ganz unkontrolliert. Nach einem großen Brand, bei dem der Ostflügel der Burg zerstört wurde, wurde eine Krisensitzung einberufen und alle grünen Bewohner mussten enger zusammenrücken: Alle Möbel, Bücher, Gardinen und alle anderen brennbaren Gegenstände wurden verbannt. Der gesamte Krempel wurde in den Korridor der Gefahr gestopft, dem Keller der Drachenburg. Aber das hatten die Drachen natürlich schon längst wieder vergessen, als sie sich nun auf die Suche begaben.

Papierfresserchen war wie immer in seiner eigenen Welt. Nie bekam er etwas mit, er war gerne alleine, still saß er da und ließ sich die Worte schmecken. Unglaublich, aber wahr: Er ließ sich die Worte wahrlich auf seiner Zunge zergehen. Er war sehr diszipliniert und sein Temperament ging niemals mit ihm durch. Der Drache fühlte sich wohl dort, wohin es ihn heute verschlagen hatte, im dunklen, feuchten und modrigen Kellergewölbe. Er genoss die Stille und Einsamkeit.

Leider konnte er nicht lesen und alle diese Buchstaben sahen für ihn fremd aus. Langsam wurde er hungrig, aber er wusste den Weg in die Burg nicht mehr zurück. Dabei war heute Sonntag und seine Mutter machte den besten Braten in der gesamten Drachenburg. Was sollte er tun? Laut brüllen? Nein, das ist nicht möglich, es würde ihn sowieso keiner hören. Außerdem würde er vielleicht ausversehen die wunderbaren Gegenstände anzünden und die gesamte Burg in Gefahr bringen.

In der Not biss er in ein Buch, welches durch einen schönen roten Einband geschmückt wurde. Er war überrascht: Es stillte nicht nur seinen Hunger, sondern das Buch begann zu sprechen. Die Geräusche kamen aus seinem Bauch, sein Magen war wie ein Vorleser. Er konnte die Buchstaben zum Leben erwecken und mit den lustigen Stimmen und Geräuschen die Texte untermalen. „Meine arme Mutter ist krank vor Sorge“, dachte der Drache und machte sich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen schimpften seine Eltern und verhängten ihm Hausarrest.

Nachdem er sich mit dem Essen gestärkt hatte, bekam er Lust auf etwas geistige Nahrung: „Die Bücher, ich vermisse meine Bücher“, sagte er still und ihm fiel ein, dass in dem Märchen Hänsel und Gretel die Kinder den Weg mit Krümeln markierten. Das würde er auch machen. Dann würden seine Eltern nicht merken, wenn er weggegangen war.

Gleich am nächsten Morgen setzte das Papierfresserchen den Plan in die Tat um. Er merkte schnell, dass nicht alle Bücher gleich gut schmecken. Schon durch den Geschmack des Einbandes schmeckte das Papierfresserchen, ob es sich lohnte, das Buch weiter zu fressen. Er verköstigte sich mit Robinson Crusoe, Onkel Toms Hütte, Pinocchio, Alice im Wunderland oder Nussknacker und Mäusekönig. Er mochte keine Kochbücher. Die Wörterbücher waren ihm lästig, weil er sowieso das Gefühl hatte, dass ihn auf der Burg keiner verstehen würde und keine weitere Sprache lernen wollte. Am meisten hasste er Gesetzesbücher. Die lagen wie Steine im Magen, und indem sie ihn in den Schlaf quatschen, stahlen sie ihm die kostbare Zeit in seiner Bücherwelt.

Die Drachenburg war in großer Gefahr. Vielleicht denkt ihr, dass die Drachen starke und unbesiegbare Wesen sind, die mit ihren Feuerwalzen und Feuerbällen den Gegner in die Flucht schlagen können. Aber das ist ein Gerücht!

Papierfresserchen hörte im Keller die Sirenen. Sie wurden nur angeschaltet, wenn ein Feind im Anmarsch war. Es breitete sich der Notstand in der Burg aus, alle Drachen spuckten durcheinander, sie brüllten und schrien und kreischten. Alle rannten in alle möglichen Richtungen und verletzten sich gegenseitig mit ihrem Feuer. Sagte ich bereits, dass sie sich schwer kontrollieren können? Es herrschte kein reges Treiben, sondern ein unbeschreibliches Chaos.

Der böse Dämon war da: gewaltig, riesig, mit bösen roten Augen und riesigen Pranken. Aber er war nicht allein, sondern er wurde unterstützt von einer habgierigen und bösartigen Armee. Der Dämon wusste, dass die Drachen sehr vergesslich sind, nicht lesen können und eher chaotische Wesen sind, deshalb beschloss er, seine Männer zu schonen, weil sie noch von dem letzten Kampf erschöpft waren. So schlug er dem Bürgermeister der Drachenburg ein Ultimatum vor. „Ihr habt drei Möglichkeiten: Entweder geht ihr freiwillig und räumt die Burg für uns, oder ihr kämpft gegen uns, oder ihr beantwortet mir eine Frage, die ich mir ausdenke, und ich werde nie zurückkehren. Antwortet ihr aber falsch, werdet ihr die Burg verlassen müssen.“ Die Drachen überschätzten stets ihre Klugheit und waren keine guten Kämpfer, deshalb wollten sie die Frage richtig beantworten.

Der Dämon überlegte sich eine Literaturfrage: „Jules Verne schrieb einen Klassiker, der von einer Abenteuerweltreise erzählt. Wie lange dauerte die Reise?“ Die Drachen murmelten und spuckten wild durcheinander, aber keiner wusste die Antwort. Der Dämon lachte.

„Stopp“, schrie Papierfresserchen, der gerade aus dem Schacht gekrochen kam. „80 Tage, es waren 80 Tage.“ Der Dämon verstummte und zischte wütend mit seiner Bande ab.

Diesmal vergaßen die Drachen nicht, ein Fest für das Papierfresserchen zu feiern, und es fiel ihnen auch wieder ein, warum der Drache Papierfresserchen hieß: Seine Mutter erwischte ihn schon als kleines Drachenbaby, wie er durch den Schacht in den Keller kletterte und das Papier verspeiste. Nachdem das Papier und die Bücher aus den Augen waren, waren sie auch aus dem Sinn, und sie wussten nicht mehr um die Herkunft des Namens Bescheid.

Katarzyna Boy wurde 1987 im polnischen Breslau geboren. Sie wohnt in Mannheim und hat an der Pädagogischen Hochschule Deutsch, Ethik und Kunst studiert. In ihrer Freizeit verfasst die Referendarin eigene Geschichten. Die hier abgedruckte hat sie für ihre Freundin Michaela geschrieben.

*

Oskars drachenstarker Freund

Es war nicht die Dunkelheit, die Oskar plagte. Nein, die Aussicht auf ewige Schwärze konnte ihm keine Angst machen, als sein Augenlicht mit zunehmendem Alter immer mehr schwand und ihn schließlich ganz im Stich ließ. Der alte Mann kannte sein kleines Häuschen gut genug, um sich auch blind noch problemlos darin zurechtzufinden. Jedes Zimmer, jede Ecke und jedes Möbelstück waren ihm bestens vertraut. Sogar seine Einkäufe im Dorf konnte er ohne größere Schwierigkeiten bewältigen. Mithilfe seines Gehstocks fand er auch ohne Sehvermögen die altbekannten Wege wieder, die er im Laufe seines langen Lebens so oft gegangen war.

Und obwohl er stets ein sehr einsames, eigenbrötlerisches Leben geführt hatte, gab es immer ein paar freundliche Passanten, die ihn erkannten und ihm zu Hilfe eilten.

„Guten Tag, Sie wollen sicher zum Metzger dort drüben?“

„Achtung, denken Sie an die Stufe dort vorne!“

Natürlich gab es einige Umstellungen in seinem Alltag, doch all das war nicht der Grund, warum Oskar so furchtbar unter seiner Blindheit litt. Nein, die Ursache seines Kummers war eine ganz andere: Er konnte nicht mehr lesen.

Auch noch Wochen, nachdem sein Augenlicht ihn verlassen hatte, konnte Oskar es nicht lassen, jeden Abend wie gewohnt in sein kleines Lesezimmer zu gehen und mit den Fingerkuppen zärtlich über die Buchbände zu streichen, die ordentlich nebeneinander auf den Regalen standen.

Ab und zu bildete er sich ein, die Bücher flüstern zu hören, vorwurfsvoll, enttäuscht. Dann zog er eines heraus, blätterte durch die Seiten und sog tief den vertrauten Papiergeruch ein – ein Geruch voller Versprechungen von Geschichten und fernen Welten, die ihm nun für immer verschlossen waren. Verbittert tastete er dann über die Seiten und den Einband, unfähig herauszufinden, um welchen seiner Schätze es sich handelte. Und schließlich musste er es mit einem Gefühl nagender Verzweiflung im Magen wieder an seinen Platz zurückstellen.

Es war ein solcher Abend, als es auf einmal an seine Haustür klopfte. Verwundert hielt Oskar inne und meinte im ersten Moment, sich nun nicht einmal mehr auf seine Ohren verlassen zu können. Er bekam sonst nie Besuch. Doch gleich darauf klopfte es erneut. Überrascht machte er sich auf den Weg zu seiner Haustür, welche er vorsichtig öffnete. „Ja bitte?“, fragte er.

Natürlich konnte er den kleinen grünen Drachen nicht sehen, der dort vor seiner Tür stand. Er konnte nicht sehen, wie das Kerlchen den Hals reckte, um dem alten Mann neugierig ins Gesicht sehen zu können. Wohl aber konnte er hören, wie der Drache vor Aufregung mit seinen kurzen Flügelchen schlug. Genauso wie er den warmen Lufthauch auf seinen faltigen Wangen spüren konnte, als der Lindwurm zur Begrüßung einmal kräftig durch seine Nüstern blies. Und als er dann eine Hand ausstreckte und vorsichtig nach der Schulter seines ungewöhnlichen Besuchers tastete, konnte er die glatten Schuppen fühlen.

Was in diesem Moment wohl in Oskars Kopf vorging? Was sah er vor seinem inneren Auge? Das wird wohl immer sein Geheimnis bleiben. Fest steht nur, dass er ohne zu zögern zur Seite trat, um den kleinen Drachen hereinzulassen. Daraufhin führte er ihn in sein Wohnzimmer und legte ihm zum Schlafen eine Decke vor das prasselnde Kaminfeuer.

Am nächsten Morgen war sich Oskar schon fast sicher, die ganze Sache nur geträumt zu haben. Doch sobald er das Wohnzimmer betrat, hörte er den kleinen grünen Drachen aufstehen und mit schnellen Schritten auf ihn zukommen. Liebevoll wurde er von dessen Schnauze angestupst und wäre beinahe zu Boden gestürzt.

„He, nicht so stürmisch!“, lachte Oskar. Seine Worte gingen jedoch beinahe unter in einem Furcht einflößenden Geräusch, das lautem Donnergrollen glich. Es dauerte einen Moment, bis der alte Mann begriff, dass dies das Magenknurren seines Gasts gewesen war. „Hast wohl Hunger, was?“, fragte er. „Wollen wir doch mal sehen, was wir Schönes für dich finden können.“

Doch das war leichter gesagt als getan. Egal, was Oskar aus Küche und Vorratskammer hervorkramte, nichts wollte dem Drachen schmecken. Ob Obst oder Gemüse, Brot oder Fleisch, heiß oder kalt, gekocht oder roh – keine der Speisen rührte er an. Stattdessen fing er nach einer Weile an, ein jämmerliches Winseln von sich zu geben, und sein Magenknurren wurde fast schon ohrenbetäubend laut.

Oskar kratzte sich ratlos den Kopf. Ehe er jedoch eine Lösung für dieses Dilemma finden konnte, hörte er, wie der kleine Drache auf einmal aus dem Zimmer stürmte. „Wo willst du denn hin?“, fragte Oskar und eilte ihm nach, so schnell es ihm möglich war. Gleich darauf hörte er eine Tür quietschen, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. „Nein! Nicht dort hinein!“

Doch es war bereits zu spät, der Drache hatte das Lesezimmer betreten. Ein unheilvolles Schmatzen drang an Oskars Ohren. Mit einem Aufschrei warf dieser sich nach vorne, griff suchend in die Luft, bekam etwas zu fassen und zog daran. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr, als er feststellte, dass er eines seiner geliebten Bücher in Händen hielt – in der Mitte entzweigerissen. Neben ihm schluckte der Lindwurm geräuschvoll.

Heiße Wut loderte in Oskar auf. „Wie konntest du das tun?“, rief er und Tränen stiegen ihm in die blinden Augen. „Du ... du ... Papierfresser!“ Aber in diesem Moment erfüllte auf einmal eine Stimme den Raum. Es war keine menschliche Stimme, doch Oskar hatte noch nie so einen warmen, angenehmen Klang vernommen. Und die Stimme sagte: „Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter ...“

Oskar erstarrte. Fing so nicht der Gebrüder Grimms Märchen vom Rotkäppchen an? Fieberhaft befühlte er mit seinen Fingern das Buch in seinen Händen. Es war durchaus möglich, dass dies sein altes Märchenbuch war. Und während der Drache munter weitererzählte, formte sich in Oskars Kopf eine Idee.

Von diesem Tage an musste Oskar nie mehr auf seine Bücher verzichten. Statt betrübt und hilflos mit den Fingern darüberzutasten, verfütterte er sie an den Drachen. Der kannte daraufhin auf wundersame Weise ihren Inhalt und gab dem alten Mann die Geschichten Wort für Wort wieder.

Dass die Regale von Oskar dadurch immer leerer wurden, machte ihm nichts aus, denn der Drache vergaß die Geschichten nie und konnte sie immer wieder von Neuem erzählen. Außerdem verfügten sie dank des Buchladens im Dorf über einen unerschöpflichen Nachschub. Und es gab keinen talentierteren Erzähler auf der Welt als diesen kleinen grünen Drachen. Das war allerdings auch kein Wunder, denn er lebte von Geschichten. Geschichten, Handlungen, Erzählungen, Fantasie, Figuren und Ideen, das war es, woraus er seine Lebenskraft zog. Es wäre also viel richtiger gewesen, ihn Geschichtenfresser zu nennen. Doch wie so oft im Leben, blieb der erste Name haften.

Und so legte Oskar in Zukunft noch oft liebevoll eine Hand an die glatten Schuppen des kleinen Drachens und fragte glücklich: „Was würde ich nur ohne dich tun, mein kleines Papierfresserchen?“

Carina Zacharias wurde 1993 in Aachen geboren und lebt in Münster, wo sie Landschaftsökologie studiert. Neben dem Lesen und Schreiben spielt sie in ihrer Freizeit gern Lacrosse, schwimmt, joggt und engagiert sich für den Umweltschutz. In Papierfresserchens MTM-Verlag erschienen bisher „Der Wunschbengel“ und „Luramos - Der letzte Drache“ von ihr.

*

Wie das Papierfresserchen zu uns kam

Feen, Hexen, Zauberer, Drachen, eben all jene Fabelwesen, gibt es nur im Märchen, das weiß doch jedes Kind. Aber es stimmt nicht so ganz. Manchmal gibt es sie auch wirklich, wie die folgende Geschichte zeigt.

Marie saß in ihrem Zimmer, umgeben von einem großen Stapel Bücher. Bereits seit ihrer frühen Kindheit war sie vernarrt in Bücher. Mussten anfangs ihre Eltern Martina und Thorsten vorlesen, konnte sie nun als fortgeschrittene Erstklässlerin bereits viele Bücher selber verschlingen. Das tat sie bevorzugt bei schlechtem Wetter, wenn sie nicht draußen herumtollen konnte. So wie an jenem Tag, als es Bindfäden regnete und der mit grauen Wolken verhangene Himmel keine baldige Besserung in Aussicht stellte.

Der Regen prasselte so laut gegen die Scheiben, dass Marie zunächst das Geräusch gar nicht hörte. Doch schließlich vernahm sie ein leises Schmatzen, ein Rascheln von Papier, auch so etwas wie Rülpsen und ... na ja, lassen wir das unausgesprochen. Marie blickte von dem Abenteuerbuch auf, halb erschrocken, halb irritiert, wer oder was denn noch in ihrem Zimmer war. Da tauchte neben ihr aus dem dicken Sagenbuch ein kleiner grüner Kopf auf. Lange Schnauze, große Augen, mehr war von dem Wesen nicht zu sehen. „Sieht aus wie ein Reptil, das aus einem Ei schlüpft“, sagte Marie, mehr zu sich selbst als zu dem Wesen, das gerade eine Buchseite schmatzend kaute und dabei diese etwas unappetitlichen Nebengeräusche von sich gab.

„Ich bin kein Reptil, sondern ein Drache“, sprach das Wesen und schien ein wenig beleidigt zu sein.

„Entschuldigung, ich wollte dich nicht kränken“, beeilte sich Marie zu versichern. „Aber Drachen kenne ich nur aus Büchern.“

„Deswegen kämpfe ich mich ja aus diesem Sagenbuch, weil ich keine Lust mehr habe, nur in dem Buch zu existieren“, erwiderte der kleine Kerl.

„Aber warum bist du ganz grün im Gesicht?“, fragte Marie besorgt. „Ist dir nicht gut?“

„Ich bin nicht nur im Gesicht grün, sondern insgesamt“, erwiderte das Wesen. „Ich bin halt ein grüner Drache. Allerdings ist mir tatsächlich schlecht. Bei dem vielen Papier, das ich verspeisen muss, um mich aus diesem Buch zu befreien, wohl kein Wunder.“ Und er ließ einen lauten Rülpser los, dass fast das Zimmer erbebte.

„Besonders gute Manieren hast du nicht gerade“, tadelte ihn Marie. Wenn er nicht so durch und durch grün gewesen wäre, hätte er mit Sicherheit einen knallroten Kopf bekommen, so schämte sich der kleine Kerl. „Ich kann doch nichts dafür, das liegt nur an den Bergen von Papier in meinem Magen. Papier als Nahrung bin ich nicht gewöhnt“, stammelte er verlegen. „Eigentlich kann ich mich durchaus benehmen.“ Und wieder musste er ein lautes Geräusch von sich geben, das tief aus dem Inneren des Buches herauskam.

Marie verkniff sich ein Lachen, um das Kerlchen nicht noch verlegener zu machen. Stattdessen sagte sie mitfühlend: „Du Ärmster. Wenn ich Bücher essen müsste, würde mir das auch nicht bekommen. Kann ich dir nicht helfen und dich einfach aus dem Buch herausziehen?“

„Nein, bloß nicht“, wehrte der grüne Kerl ab. „Nur wenn ich das Buch aufesse, kann sich mein Körper materialisieren. Da muss ich jetzt einfach durch. Du kannst aber in der Zwischenzeit aus dem Zimmer gehen, dann ist es mir nicht so peinlich ... du weißt schon, was ich meine.“ Ganz geheuer war es Marie zwar nicht, dem grünen Kerl ihr Zimmer zu überlassen, aber als sie seinen flehentlichen Blick sah, stand sie auf und ging zur Tür. Ohnehin war es bereits Mittag. Ihre Mutter würde sie jeden Moment zum Essen rufen.

Als Marie nach gut einer Stunde wieder ihr Zimmer betrat, hockte ein kleiner grüner Drache auf ihrem Bett. Das dicke Sagenbuch war verschwunden. „Du bist ja ein richtig süßer Kerl“, stellte sie anerkennend fest. Außer dem Kopf, den sie ja schon gesehen hatte, besaß der Drache einen langen Hals und einen ebenso langen Schwanz, dazu auf seinem Rücken zwei kleine Flügel.

„Dich hätte ich gerne als mein neues Kuscheltier“, sagte Marie und schlang ihre Arme um den schlanken Drachenhals. Das grüne Kerlchen strahlte selig. „Kein Problem, würde mich freuen, dein neues Kuscheltier zu sein.“ Und er streckte Marie seine rechte Drachenvorderpfote entgegen. „Mir scheint, dass ich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Licht der Wirklichkeit erblickt habe. Das ist doch gleich ein ganz anderes Gefühl, ein Drache aus Fleisch und Blut zu sein und nicht nur auf den Seiten eines Sagenbuches mein Dasein zu fristen.“

Nachdem sie Freundschaft geschlossen hatten und eine Zeit lang sehr ausgelassen durch Maries Zimmer gehüpft waren, wurde der kleine Drache plötzlich ernst. „Du bist mir doch hoffentlich nicht böse, dass ich dein Sagenbuch vernichtet habe?“ Marie schüttelte heftig den Kopf. „Ich bin dir überhaupt nicht böse. Was ist ein Sagenbuch schon gegen einen leibhaftigen kleinen Drachen?“ Der kleine Kerl reagierte mit einem erleichterten Seufzer. Dennoch schien ihn noch etwas zu bedrücken.

„Heraus mit der Sprache“, forderte ihn Marie mit sanftem Nachdruck auf.

„Was ist, wenn deine Eltern mich sehen?“, fragte das Kerlchen.

„Was soll dann sein?“, entgegnete Marie.

„Na ja, Erwachsene sind da manchmal etwas komisch.“ Der kleine Kerl wurde richtig aufgeregt. „Die glauben, Drachen gäbe es nur in Märchen und Sagen, aber nicht in Wirklichkeit.“ Marie schüttelte abermals energisch den Kopf. „Mach dir deswegen keine Sorgen. Meine Eltern sind nicht so. Wenn ich dich ihnen als meinen neuen Freund vorstelle, werden sie dich bestimmt auch in ihr Herz schließen.“

„Wenn du meinst ...“

Marie sah ihrem neuen Freund seine Skepsis an. Doch die erwies sich als völlig unbegründet, wie sich bald herausstellen sollte. Maries Eltern waren sofort von dem kleinen grünen Drachen begeistert. „Wie heißt du denn?“, wollte Mutter Martina wissen. Das Kerlchen musste traurig gestehen, noch keinen Namen zu haben.

„Kein Grund, dich zu grämen“, lachte Vater Thorsten und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. „Dann werden wir dir eben einen Namen geben.“ Und zu viert überlegten sie hin und her, gingen sowohl die aktuell angesagten Vornamen als auch die Namen aus alter Zeit durch, aber keiner gereichte zur allseitigen Zufriedenheit. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, meistens gefielen dem kleinen grünen Drachen die Namen nicht, da war er sehr anspruchsvoll. Als Thorsten schon den Vorschlag gemacht hatte, die Namenssuche auf den nächsten Tag zu verschieben, worauf der grüne Kerl glatt in Tränen ausbrach, ging Marie in Gedanken noch einmal die Stationen durch, wie ihr neuer Freund das Licht der Welt erblickt hatte. „Um sich aus dem dicken Sagenbuch zu befreien“, erzählte sie ihren Eltern, „musste er das Buch komplett verspeisen. Er hat also ganz viel Papier fressen müssen, der Ärmste, worauf ihm fürchterlich übel geworden ist.“

„Aber da haben wir ihn doch, seinen Namen!“, rief Martina aus. Und zu dem kleinen grünen Drachen gewandt: „Wie gefällt dir: Papierfresserchen?“ Dem kleinen Drachen gefiel der Name prima. Und auch Marie, Martina und Thorsten waren von dem Namen und seinem Träger so begeistert, dass sie ihren neuen Verlag Papierfresserchens MTM-Verlag nannten und der kleine grüne Kerl seither auf dem Cover jedes Buches zu sehen ist.

Norbert J. Wiegelmann, geboren 1956 in Bochum, wohnhaft in Arnsberg, verheiratet, Vater zweier Töchter. Der Verwaltungsjurist hat schon in gut dreißig Anthologien Lyrik und Kurzprosa sowie Reiseberichte in Zeitungen und Glossen wie Buchrezensionen in juristischen Fachzeitschriften veröffentlicht.

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Ein Knistern in der Nacht

Ihr wollt wissen, wie der kleine Drache zu seinem Namen kam?

---ENDE DER LESEPROBE---