Wie durch ein dunkles Glas - Donna Leon - E-Book + Hörbuch

Wie durch ein dunkles Glas E-Book

Donna Leon

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Beschreibung

Tod vor dem Brennofen. Ist ein Familienzwist zwischen dem Fabrikbesitzer und seinem Schwiegersohn schuld? Oder musste der Nachtwächter der Glasmanufaktur dafür büßen, dass er ein fanatischer Umweltschützer und Leser ist? In einer Ausgabe von Dantes Inferno entdeckt Brunetti die entscheidende Spur.

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Seitenzahl: 354

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Donna Leon

Wie durch ein dunkles Glas

Commissario Brunettis fünfzehnter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel des Originals:

›Through a Glass, Darkly‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2007 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, Don Giovanni,

in der Übersetzung von Hermann Levi,

Theodor Ackermann Verlag, München 1910

Die göttliche Komödie, Teil 1 Die Hölle

von Dante Alighieri in der Übersetzung von Philaletes,

Diogenes Verlag, Zürich 1991

Umschlagfoto von Thomas Grand

(Ausschnitt)

Für Cecilia Bartoli

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23786 3 (7. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60071 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Da qual tremore insolito Sento assalir gli spiriti! Dond’escono quei vortici Di foco pien d’orror?

Welch’ ungewohntes Angstgefühl Fesselt und lähmt die Sinne mir, Gewittersturm umbrauset mich

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

[7] 1

Brunetti stand am Fenster und flirtete mit dem Frühling. Er war da! Gleich drüben, am anderen Ufer des Kanals, zeigte er sich in den frischen, jungen Trieben, die dort aus der Erde spitzten. In all den Jahren hatte Brunetti nie jemanden in dem Garten arbeiten sehen, und doch mußte während der letzten Tage irgendwer den Boden aufgelockert haben, auch wenn ihm das erst jetzt auffiel. Zwischen den Grashalmen schimmerten zartweiße Blümchen, und die unerschrockenen kleinen, die sich so dicht an den Boden schmiegten und deren Namen er sich nie merken konnte – die mit den gelben und rosafarbenen Blüten –,brachen aus dem frisch gewendeten Erdreich hervor.

Er stieß die Fensterflügel auf und ließ frische Luft in sein überheiztes Büro strömen. Sie duftete nach neuem Wachstum oder steigenden Säften oder was immer es war, das die sprichwörtlichen Frühlingsgefühle wachrief und jenes Urverlangen nach Glück. Und weil dieses Etwas auch die Würmer hervorgelockt hatte, waren anscheinend sogar die Vögel, die so eifrig drüben im Garten pickten, in Hochstimmung. Zwei von ihnen zankten sich um einen Leckerbissen, dann flog einer davon, und Brunetti sah ihm nach, bis er links hinter der Kirche verschwand.

»Verzeihung«, hörte er jemanden hinter sich sagen und setzte eine ernste Miene auf, bevor er sich umdrehte. Vor ihm stand Vianello in Uniform, er blinzelte nervös und wirkte viel zu streng für einen so schönen Tag. Angesichts [8] seiner dienstlich-steifen Haltung war Brunetti versucht, ihn mit Rang und Namen anzusprechen, obwohl sie sich seit Vianellos Beförderung zum Inspektor doch immer häufiger duzten. Unschlüssig vermied er die Anrede fürs erste und fragte höflich: »Ja, was gibt’s denn?«

»Hättest du wohl einen Moment Zeit?«

Wenn Vianello so umstandslos das vertrauliche tu benutzte und Brunetti auch nicht mit »Commissario« ansprach, war er wohl doch nicht dienstlich hier.

Um die Situation zu entspannen, sagte Brunetti: »Ich habe mir gerade die Blumen dort drüben angesehen« – er wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Garten – »und mich gefragt, was wir an einem Tag wie heute im Büro verloren haben.«

Da lächelte Vianello endlich. »Der erste Tag, an dem man den Frühling spürt. Da habe ich früher immer die Schule geschwänzt.«

»Ich auch«, schwindelte Brunetti. »Und womit hast du dir die Zeit vertrieben?«

Vianello setzte sich auf den rechten der beiden Besucherstühle, seinen angestammten Platz. »Mein älterer Bruder hat damals den Rialto beliefert, und statt in die Schule bin ich zu ihm auf den Markt, und wir haben den ganzen Vormittag Obst- und Gemüsekisten geschleppt. Um die Zeit, wenn normalerweise Unterrichtsschluß war, bin ich dann heim zum Mittagessen.« Er schmunzelte und lachte schließlich laut heraus. »Meine Mutter ist mir immer auf die Schliche gekommen. Wie, weiß ich nicht, aber sie fragte mich jedesmal, was am Rialto los gewesen sei und warum ich ihr keine Artischocken mitgebracht hätte.« [9] Kopfschüttelnd hing Vianello seinen Erinnerungen nach. »Und den Kindern ergeht es heute mit Nadia nicht anders: als ob sie ihre Gedanken lesen könnte und einfach weiß, wann sie den Unterricht geschwänzt oder etwas ausgefressen haben.« Er sah Brunetti an. »Kannst du dir erklären, wie sie das machen?«

»Wer? Mütter?«

»Ja.«

»Du hast es eben selbst gesagt, Lorenzo. Indem sie Gedanken lesen.« Und da die Atmosphäre nun hinreichend entspannt schien, fragte Brunetti ganz direkt: »Also, was führt dich zu mir?«

Schlagartig kehrte Vianellos anfängliche Nervosität zurück. Er stellte die übereinandergeschlagenen Beine nebeneinander, preßte die Knie zusammen und setzte sich kerzengerade hin. »Es handelt sich um einen Freund«, sagte er. »Er hat Probleme.«

»Womit?«

»Mit uns.«

»Der Polizei?«

Vianello nickte.

»Hier? In Venedig?«

Vianello schüttelte den Kopf. »Nein, in Mestre. Das heißt, eigentlich in Mogliano, aber sie wurden nach Mestre gebracht.«

»Wer, sie?«

»Na, die Leute, die man festgenommen hat.«

»Was denn für Leute?«

»Die vor der Fabrik.«

»Meinst du das Farbenwerk?« fragte Brunetti, der sich [10] an einen Artikel in der heutigen Morgenzeitung erinnerte.

»Ja.«

Der Gazzettino hatte auf der ersten Seite seines Innenteils groß über die Festnahme von sechs Personen berichtet, die am Vortag an einer Anti-Globalisierungsdemo vor einem Farbenwerk in Mogliano Veneto teilgenommen hatten. Die Fabrik war mehrmals wegen Mißachtung der Auflagen zur Giftmüllentsorgung gebührenpflichtig verwarnt worden, ohne daß dies etwas gefruchtet hätte, denn die Firma zahlte lieber die lächerlichen Bußgelder, als in neue Filtersysteme zu investieren. Die Demonstranten verlangten die Schließung des Werks und hatten versucht, die Arbeiter am Betreten des Geländes zu hindern. Dabei war es zu einem Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Werktätigen gekommen, der die Polizei auf den Plan rief und mit sechs Festnahmen endete.

»Gehört dieser Freund zur Belegschaft oder zu den No- Global-Aktivisten?« fragte Brunetti.

»Weder noch«, entgegnete Vianello und setzte dann hinzu: »Also er ist kein organisierter No-Global. Genausowenig wie ich.« Da ihm diese Erklärung offenbar selbst unzulänglich schien, atmete Vianello tief durch und begann noch einmal von vorn. »Marco und ich, wir sind zusammen zur Schule gegangen, aber danach hat er studiert und wurde Ingenieur. Er hat sich schon immer für die Umwelt interessiert, und bei Öko-Versammlungen und dergleichen sind wir uns dann auch wieder über den Weg gelaufen. Manchmal gehen wir im Anschluß an ein Treffen noch zusammen in die Bar.«

[11] Brunetti unterließ es, sich näher nach diesen Zusammenkünften zu erkundigen. Und der Inspektor fuhr fort: »Marco macht sich große Sorgen wegen der unsauberen Praktiken in diesem Werk. Und natürlich in Marghera. Ich weiß, daß er auch dort an Demos teilgenommen hat, aber mit so was wie gestern hatte er noch nie zu tun.«

»Was meinst du?«

»Na, die tätlichen Ausschreitungen.«

»Davon wußte ich gar nichts«, sagte Brunetti. Die Zeitung hatte nur über die Festnahmen berichtet, von Handgreiflichkeiten oder gar Prügeleien war nicht die Rede gewesen. »Was ist denn passiert?« erkundigte er sich. »Und wer hat angefangen?« Er wußte, was die Befragten darauf unweigerlich antworteten, egal, ob sie für sich selbst sprachen oder für ihre Freunde: Schuld war immer die gegnerische Partei.

Vianello lehnte sich zurück und schlug die Beine wieder übereinander. »Das weiß ich nicht. Ich habe nur mit seiner Frau gesprochen. Das heißt, sie hat heute früh angerufen und gefragt, ob ich ihm nicht irgendwie helfen könne.«

»Was denn, erst heute?« fragte Brunetti.

Vianello nickte. »Marco hat gestern abend aus dem Gefängnis in Mestre mit ihr telefoniert und sie gebeten, mich zu verständigen; aber nicht vor heute morgen. Sie hat mich gerade noch erreicht, bevor ich aus dem Haus mußte.« Und auf Brunettis Frage zurückkommend, fuhr Vianello fort: »Ich weiß also nicht, wer angefangen hat. Es könnten die Arbeiter gewesen sein oder vielleicht auch ein paar von den No-Globals.«

Daß Vianello diese Möglichkeit einräumte, verblüffte Brunetti.

[12] »Aber Marco war’s bestimmt nicht«, beteuerte jener. »Der ist absolut friedlich und würde sich mit niemandem anlegen. Es gibt allerdings auch Leute, die zu solchen Demos gehen, um – na ja, die wollen da ihren Spaß haben.«

»Eine merkwürdige Auffassung von ›Spaß‹.«

Vianello hob die Hand und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß, aber manche von denen sehen es eben so. Marco hat solche Typen erwähnt. Sagt, er mag sie nicht und hat sie auch nicht gern bei einer Demo dabei, weil mit ihnen das Risiko, daß es zu Ausschreitungen kommen könnte, natürlich steigt.«

»Kennt er diese Randalierer persönlich?« fragte Brunetti.

»Weiß ich nicht, gesagt hat er nur, daß sie ihn nervös machen.«

Brunetti beschloß, das Gespräch zum Ausgangspunkt zurückzulenken. »Aber was wolltest du jetzt eigentlich von mir?«

»Du kennst doch die Kollegen in Mestre. Besser als ich jedenfalls. Und auch die Richter, wobei ich nicht weiß, wem der Fall zugeteilt wurde. Könntest du nicht mal anrufen und sehen, was du in Erfahrung bringst?«

»Und kannst du mir erklären, warum du das nicht machst?« Die Frage klang so, wie sie gemeint war: eine Bitte um Information und nicht etwa als Empfehlung, Vianello möge die Sache selbst in die Hand nehmen.

»Weil ich glaube, es macht sich besser, wenn die Anfrage von einem Commissario kommt.«

Nach kurzem Überlegen stimmte Brunetti zu. »Ja, mag sein. Weißt du, wie die Anklage lautet?« fragte er.

[13] »Nein. Ich tippe auf Ruhestörung oder Behinderung eines Beamten in Ausübung seiner Dienstpflicht. Marcos Frau hat sich nicht dazu geäußert. Und ich habe sie gebeten, nichts zu unternehmen, bis ich mit dir gesprochen habe. Ich dachte, du oder wir könnten vielleicht irgendwie vermitteln… inoffiziell natürlich. Würde Marco eine Menge Ärger ersparen.«

»Weiß seine Frau Näheres?«

»Nur was Marco ihr erzählt hat: daß er sich mit einem Transparent dort postiert hatte, zusammen mit seiner Gruppe, etwa ein Dutzend Leute. Plötzlich seien drei oder vier Fremde aufgetaucht, die die Arbeiter anpöbelten und sogar bespuckten. Und dann warf jemand einen Stein.« Bevor Brunetti nachhaken konnte, sagte Vianello: »Nein, Marco weiß nicht, wer’s war. Er sagt, er habe nichts gesehen. Das mit dem Stein hat ihm wer erzählt. Und dann war auf einmal die Polizei da, er wurde zu Boden geworfen, in einen Transporter verfrachtet und nach Mestre gebracht.«

Nichts davon überraschte Brunetti im mindesten. Falls kein Videofilmer vor Ort gewesen war, würden sie nie erfahren, wer als erster zugeschlagen oder wer den Stein geworfen hatte, und folglich wußten nur die Götter, wie die Anklage lauten und gegen wen sie sich richten würde.

Nach kurzem Schweigen sagte Brunetti: »Du hast recht, aber wir erledigen das lieber persönlich.« Und falls es sonst nichts bringt, dachte er bei sich, haben wir immerhin einen Grund, dem Büro zu entfliehen. »Können wir gehen?«

»Ja«, sagte Vianello und erhob sich.

[14] 2

Als sie aus der Questura traten, sah Brunetti eine Polizeibarkasse auf die Anlegestelle zusteuern. Foa, der neue Bootsführer, stand am Ruder. Er grüßte Brunetti mit einem Lächeln und winkte Vianello zu. »Wo wollen Sie hin?« rief er und schob ein »Commissario« nach, um klarzustellen, wem die Frage galt.

»Piazzale Roma«, sagte Brunetti, der beim dortigen Kommissariat telefonisch einen Wagen bestellt hatte. Da von seinem Bürofenster aus kein Polizeiboot in Sicht gewesen war, hatte der Commissario angenommen, er und Vianello würden das Vaporetto nehmen müssen.

Foa sah auf die Uhr. »Ich habe erst um elf die nächste Fuhre, Commissario – bis dahin bin ich leicht zurück, wenn ich Sie jetzt rüberbringe.« Und an Vianello gewandt: »Komm schon, Lorenzo: Herrliches Bootswetter heute.«

Mehr brauchte es nicht, um die beiden an Bord zu locken. Sie blieben an Deck, während Foa den Canal Grande entlangsteuerte. Beim Rialto meinte Brunetti augenzwinkernd zu Vianello: »Der erste richtige Frühlingstag, und schon schwänzen wir beide wieder.«

Vianello lachte, weniger über Brunettis Bemerkung als aus Freude über das prächtige Wetter, die schräg einfallenden Sonnenstrahlen, die vor ihnen auf dem Wasser tanzten, und über den diebischen Spaß, am ersten Frühlingstag blauzumachen.

Als das Boot am Piazzale Roma anlegte, bedankten sich [15] beide Männer bei Foa und gingen an Land. Hinter der ACTV-Zentrale wartete ein Streifenwagen mit laufendem Motor, dessen Fahrer sich, kaum daß sie eingestiegen waren, in den Verkehr einfädelte, der über den Damm zum Festland rollte.

Im Präsidium in Mestre brachte Brunetti rasch in Erfahrung, daß die festgenommenen Demonstranten Giuseppe Zedda zugeteilt worden waren, einem Kollegen, mit dem er vor einigen Jahren schon einmal zusammengearbeitet hatte. Zedda, ein Sizilianer, den Brunetti fast um Haupteslänge überragte, hatte den Commissario seinerzeit durch seine unbedingte Ehrlichkeit beeindruckt. Sie waren zwar nicht direkt Freunde geworden, hatten einander aber kollegialen Respekt gezollt. Weshalb Brunetti heute darauf vertraute, daß Zedda für einen gerechten Ablauf sorgen und verhindern würde, daß man die Inhaftierten zu Aussagen drängte, die sie später widerrufen mochten.

»Könnten wir einen der Männer sprechen, die ihr in Gewahrsam habt?« fragte Brunetti, nachdem er und Vianello den angebotenen Kaffee dankend abgelehnt hatten.

»Wen denn?« Erst Zeddas Gegenfrage machte Brunetti klar, daß er von dem Mann, dessentwegen sie gekommen waren, nicht mehr wußte, als daß er mit Vornamen Marco hieß und ein Freund von Vianello war.

»Ribetti«, soufflierte Vianello.

»Na, dann kommt mal mit«, sagte Zedda. »Ich stelle euch einen Verhörraum zur Verfügung und lasse den Mann vorführen.«

Das Zimmer, in das sie gebracht wurden, unterschied sich in nichts von all den anderen Verhörräumen, die [16] Brunetti mit den Jahren kennengelernt hatte: Der Fußboden mochte heute morgen frisch gewischt worden sein – vielleicht sogar erst vor zehn Minuten –, trotzdem knirschte körniger Staub unter ihren Sohlen, und zwei Plastikbecher lagen nicht im, sondern neben dem Papierkorb. Es roch nach abgestandenem Rauch, ungewaschenen Kleidern und Unterwerfung. Schon beim Eintreten drängte es Brunetti, etwas zu gestehen, irgendwas, nur um schnell wieder wegzukommen.

Nach ungefähr zehn Minuten erschien ein uniformierter Beamter mit einem Mann, der, obwohl größer als er, mindestens zehn Pfund leichter war. Brunetti hatte schon oft beobachtet, daß Häftlinge, selbst solche, die nur über Nacht in Polizeigewahrsam saßen, in ihren Kleidern schrumpften: so auch dieser Mann. Sein Hosenboden schleifte fast über die Dielen, und sein Hemd bauschte sich so, daß es aus der zugeknöpften Jacke herausquoll. Er hatte sich offenbar an diesem Morgen nicht rasieren können, und die dichten, schwarzen Haare standen auf einer Seite ungebändigt vom Kopf ab. Seine abstehenden Ohren verliehen ihm etwas Linkisches, was durch die schlechtsitzende Kleidung noch unterstrichen wurde. Er schaute Brunetti ausdruckslos an, aber bei Vianellos Anblick lächelte er froh und erleichtert, und sobald seine Züge sich entkrampften, sah Brunetti, daß er jünger war, als es zunächst den Anschein hatte, so etwa Mitte dreißig.

»Dann hat dich Assunta also erreicht?« Mit diesen Worten umarmte der Mann Vianello und klopfte ihm auf den Rücken.

Den Inspektor schien diese herzliche Begrüßung zu [17] überraschen, doch er erwiderte Ribettis Umarmung und sagte: »Ja, sie hat mich angerufen, kurz bevor ich zum Dienst mußte, und gefragt, ob ich irgendwie helfen kann.« Vianello trat einen Schritt zurück und wies auf Brunetti. »Das ist mein Vorgesetzter, Commissario Brunetti. Er war so freundlich, mich zu begleiten.«

Ribetti streckte Brunetti die Hand hin. »Danke, daß Sie gekommen sind, Commissario.« Sein Blick wanderte von Vianello zu Brunetti und wieder zurück. »Ich wollte keine…« Er brachte den Satz nicht zu Ende. »Also«, setzte er noch einmal an, »ich wollte dir nicht so viele Umstände machen, Lorenzo.« Und an Brunetti gewandt: »Geschweige denn Ihnen, Commissario.«

Vianello trat an den Tisch. »Schon gut, Marco. Mit Leuten zu verhandeln ist doch unser täglich Brot.« Er zog zwei Stühle an einer Seite des Tisches heraus und rückte dann den am Kopfende für Ribetti zurecht.

Als alle Platz genommen hatten, machte Vianello eine Geste zu Brunetti hin, als wolle er an ihn übergeben. »Erzählen Sie uns, was vorgefallen ist«, sagte der Commissario.

»Alles?« fragte Ribetti.

»Alles«, bestätigte Brunetti.

»Drei Tage lang haben wir demonstriert«, begann Ribetti. Sein Blick schien zu fragen, ob die beiden von der Protestkundgebung wußten. Als alle zwei nickten, fuhr er fort: »Gestern waren wir etwa zu zehnt. Mit Transparenten. Wir haben versucht, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß sie mit dem, was sie dort tun, uns allen schaden.«

Brunetti machte sich kaum Illusionen über die Bereitschaft von Werktätigen, auf ihren Job zu verzichten, nur [18] weil man ihnen vorhielt, daß zahllose Menschen, die ihnen noch dazu völlig fremd waren, durch ihre Arbeit zu Schaden kämen. Trotzdem nickte er wieder.

Ribetti faltete die Hände auf dem Tisch und betrachtete angelegentlich seine Finger.

»Wann sind Sie bei der Fabrik angekommen?« fragte Brunetti.

»Nachmittags, so gegen halb vier«, antwortete Ribetti und sah den Commissario dabei an. »Die meisten von uns sind berufstätig und können sich erst nach der Mittagspause freimachen. Die Arbeiter kommen um vier ins Werk zurück, und wir möchten, daß sie uns sehen, unsere Plakate lesen, vielleicht sogar zuhören oder mit uns diskutieren.« Und mit einem ganz verlegenen Gesichtsausdruck, der Brunetti an seinen Sohn erinnerte, setzte Ribetti hinzu: »Wenn wir den Leuten begreiflich machen können, welche Gefahren von der Fabrik ausgehen, nicht nur für sie, sondern für uns alle, dann werden sie vielleicht…«

Auch diesmal behielt Brunetti seine Gedanken für sich. Vianello war es, der das Schweigen brach: »Bringt es denn wirklich was, mit den Leuten zu reden?«

Da lächelte Ribetti. »Wer weiß? Wenn wir sie einzeln antreffen, hört manch einer zu. Doch sobald sie zu mehreren sind, gehen sie einfach weiter. Oder sie machen auch mal Bemerkungen.«

»Zum Beispiel?«

Ribetti sah erst die beiden Polizisten an, dann senkte er den Blick auf seine Hände. »Ach, daß sie nicht interessiert sind, daß sie arbeiten müssen, daß sie Familie haben. Oder sie werden sogar ausfallend.«

[19] »Aber nicht handgreiflich?« fragte Vianello.

Ribetti schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Wir sind ja auch alle darin geschult, jede Konfrontation zu meiden, nicht mit ihnen zu streiten, alles zu unterlassen, was sie provozieren könnte.« Er blickte Vianello so eindringlich an, als wolle er ihn mit seiner offenen Miene vom Wahrheitsgehalt seiner Worte überzeugen. »Wir sind dort, um den Leuten zu helfen«, schloß er, und Brunetti glaubte ihm.

»Aber diesmal ist etwas schiefgelaufen?« forschte er.

Ribetti schüttelte ratlos den Kopf. »Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte. Es stießen ein paar Leute zu uns – keine Ahnung, woher sie kamen, ob sie zu uns gehörten oder zu den Arbeitern –, jedenfalls fingen sie an zu krakeelen, und prompt brüllten die Arbeiter zurück. Dann rempelte mich jemand an, ich ließ mein Plakat fallen, und als ich es wieder aufgehoben hatte, da waren scheinbar plötzlich alle durchgedreht. Man schubste und stieß sich gegenseitig; dann hörte ich Polizeisirenen, und gleich darauf ging ich zu Boden. Zwei Männer zogen mich hoch und schafften mich zusammen mit etlichen anderen in einen Kleinbus, der uns hierherbrachte. Erst gegen Mitternacht kam eine uniformierte Polizistin in die Zelle und gestattete mir ein Telefonat.« Ribettis Stimme klang bei dieser hastig heruntergespulten Zusammenfassung nicht minder verwirrt als die Ereignisse, die er beschrieb.

Sein Blick schnellte zwischen Brunetti und Vianello hin und her, dann sagte er an letzteren gewandt: »Ich habe Assunta angerufen und ihr erklärt, wo ich bin und was passiert ist. Und als du mir eingefallen bist, habe ich sie [20] gebeten, dir Bescheid zu geben.« Offenbar hatte er vergessen, was Vianello ihm berichtet hatte, denn plötzlich erkundigte er sich besorgt: »Sie hat dich doch nicht noch in der Nacht angerufen, oder?«

Vianello lächelte. »Nein, nein, erst heute morgen.« Und Brunetti sah Ribetti seine Erleichterung an.

»Aber ihr brauchtet meinetwegen nicht den weiten Weg zu machen«, sagte Ribetti. »Wirklich, Lorenzo: Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, Assunta an dich zu verweisen. Ich war wohl in Panik letzte Nacht. Aber ich dachte, du könntest hier jemanden anrufen oder so, und alles wäre geregelt.« Er sah Vianello an und beteuerte mit erhobener Hand: »Ehrlich, ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß du eigens hier rausfahren müßtest.« Und an Brunetti gewandt: »Geschweige denn, daß Sie sich herbemühen würden, Commissario.« Wieder senkte er den Blick auf seine Hände. »Ich wußte einfach nicht weiter.«

»Sind Sie früher schon mal verhaftet worden, Signor Ribetti?« fragte Brunetti.

Ribetti starrte ihn so entgeistert an, als hätte Brunetti ihn geohrfeigt. »Natürlich nicht«, versicherte er.

»Und wie steht es mit den anderen?« mischte Vianello sich ein.

»Die auch nicht, niemals!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, wurde Ribetti unversehens lauter. »Ich sagte doch, wir sind darauf geschult, jede Provokation zu vermeiden.«

»Aber sind solche Demos nicht an sich schon eine Provokation?« fragte Brunetti.

Ribetti schien die Frage im Geiste zurückzuspulen und [21] nach einem sarkastischen Hintersinn zu suchen. Offenbar ohne Ergebnis. »Das stimmt schon«, gab er zu. »Aber unsere Aktionen sind absolut gewaltfrei. Wir sind einzig und allein bestrebt, den Arbeitern klarzumachen, daß das, was sie tun, hochgradig gefährlich ist. Nicht nur für uns, sondern weit mehr noch für sie selbst.«

Brunetti sah, daß Vianello sich damit zufriedengab, forschte aber trotzdem weiter. »Was sind denn das für Gefahren, Signor Ribetti?«

Marco machte ein Gesicht, als hätte Brunetti ihn gefragt, wieviel zwei und zwei sei. Doch er gab sich einen Ruck und sagte: »Nun, an erster Stelle stehen die Lösungsmittel und Chemikalien, mit denen die Leute arbeiten. Zumindest in der Farbenfabrik. Die werden mal verschüttet oder einer bespritzt sich damit, ganz zu schweigen von den giftigen Dämpfen, die man den ganzen Tag einatmet. Oder denken Sie nur an all die Abfallstoffe, die ja irgendwo entsorgt werden müssen.«

Brunetti, der Ähnliches schon seit geraumer Zeit von Vianello zu hören bekam, mied den Blickkontakt mit dem Inspektor. »Und glauben Sie denn«, fragte er, »daß Ihre Proteste etwas bewirken werden, Signor Ribetti?«

»Das wissen die Götter!« Marco reckte die Handflächen zur Decke. »Aber es ist immerhin etwas, ein kleiner Aufschrei. Der anderen vielleicht zeigt, daß Widerstand möglich ist. Außerdem«, setzte er klagend, aber zugleich im Brustton der Überzeugung hinzu, »wenn wir gar nichts machen, dann bringen die uns alle irgendwann um.«

Gerade weil er solche Debatten schon oft mit Vianello geführt hatte, brauchte Brunetti nicht zu fragen, wer »die« [22] seien. Und er erkannte plötzlich, wie sehr auch er inzwischen umgestimmt, wenn nicht gar bekehrt worden war – und das nicht nur durch Vianello und sein ökologisches Gewissen. Vielmehr achtete er von ganz allein vermehrt auf Berichte über globale Erderwärmung oder darüber, wie ungeniert die Ökomafia ihre toxischen Abfälle in der dritten Welt entsorgte. Mittlerweile hielt er es sogar für möglich, daß zwischen dem Mord an einer Fernsehjournalistin der RAI in Somalia vor ein paar Jahren und den Giftmülldeponien in diesem krisengeschüttelten Land eine Verbindung bestanden hatte. Wenn er sich noch über etwas wunderte, dann waren es jene unbeirrbaren Idealisten, die nach wie vor glaubten, mit ihren bescheidenen Protesten etwas ausrichten zu können. Auch wenn er das nicht gern zugab.

»Doch nun zum praktischen Teil«, sagte Brunetti kurz entschlossen. »Da Sie offenbar noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, können wir vielleicht etwas für Sie tun.« Er sah Vianello an. »Wenn du hierbleibst, gehe ich und rede mit Zedda und sehe mir mal das Protokoll an. Falls niemand verletzt und auch keine Anzeige erstattet wurde, sehe ich keinen Grund, warum Signor Ribetti weiter in Haft bleiben sollte.«

In Ribettis Augen mischten sich Furcht und Erleichterung. »Danke, Commissario«, sagte er und setzte dann rasch hinzu: »Auch wenn Sie nichts erreichen können oder nichts dabei herauskommt – trotzdem danke.«

Brunetti erhob sich, ging zur Tür und war froh, sie unversperrt zu finden. Draußen auf dem Gang fragte er nach Zedda und wurde in ein Büro verwiesen, das, wie sich herausstellte, nur ein Viertel so groß war wie sein eigenes und [23] bloß ein Fenster hatte, das noch dazu auf einen Parkplatz ging.

Bevor Brunetti sein Anliegen vorbringen konnte, sagte Zedda: »Nehmen Sie ihn mit, Brunetti. Es kommt ja doch nichts dabei heraus. Es gab keine Verletzten, niemand hat eine denuncia eingereicht, und wir wollen bestimmt keinen Ärger mit diesen Leuten. Sie gehen einem gehörig auf den Wecker, das stimmt, aber letztlich sind sie harmlos. Also nehmen Sie Ihren Freund, und bringen Sie ihn heim.«

Ein jüngerer Brunetti hätte sich vielleicht noch bemüßigt gefühlt klarzustellen, daß Ribetti nicht sein, sondern Vianellos Freund sei, aber nachdem er schon so viele Jahre mit dem Inspektor zusammenarbeitete, war ihm diese Unterscheidung nicht mehr wichtig. Also bedankte er sich einfach bei Zedda und fragte, ob er noch irgend etwas unterschreiben müsse. Doch Zedda wischte alle Formalitäten mit einer Handbewegung beiseite, versicherte Brunetti, er habe sich gefreut, ihn wiederzusehen, und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, um den Commissario zu verabschieden.

[24] 3

Die drei traten aus dem Hauptportal der Questura di Mestre und schritten die Eingangsstufen hinunter. Vianello legte Ribetti den Arm um die Schultern und sagte: »Komm, Marco, bis zum Piazzale Roma fährst du mit uns. Das ist das mindeste, was wir für dich tun können.« Ribetti bedankte sich lächelnd. Er rieb sich die Augen, und als er mit einer Hand an seinem Gesicht entlangfuhr, konnte Brunetti fast hören, wie seine Finger über die unrasierte Wange schabten. Als sie sich dem wartenden Auto näherten, hielt neben ihnen ein Taxi, dem ein kleiner, untersetzter Mann mit schlohweißen Haaren entstieg. Nachdem er sich durchs offene Fenster gebeugt und den Fahrer entlohnt hatte, wandte er sich der Questura zu. Und sah die drei Männer vor dem Eingang.

Mit einem zornigen Hieb knallte er die Fondtür zu und stürmte über die Fahrbahn. »Du Arschloch!« schrie er. Das Taxi fuhr davon. Der alte Mann blieb stehen und drohte den dreien mit erhobener Faust. »Du Arschloch!« brüllte er noch einmal und setzte sich wieder in Bewegung. Brunetti und seine Begleiter blieben starr vor Staunen auf halber Treppe stehen.

Die Züge des Mannes, dessen blau angelaufenes Gesicht den Gewohnheitstrinker verriet, waren wutverzerrt. Er war so klein, daß er Brunetti nicht einmal bis zur Schulter gereicht hätte, dafür aber doppelt so breit, mit einer Wampe, die mangels Muskelmasse schlaff herunterhing. »Du und deine Viecher und deine Bäume und deine ewige [25] Natur! Marschierst einfach los und machst so lange Rabatz, bis sie dich einbuchten und dein Name in die Zeitung kommt. Rindvieh! Aber du hattest ja noch nie einen Funken Verstand. Und jetzt belagern diese Aasgeier vom Gazzettinomich am Telefon!«

Brunetti schob sich zwischen den Alten und Ribetti. »Ich fürchte, hier liegt ein Mißverständnis vor, Signore. Signor Ribetti wurde nicht verhaftet. Ganz im Gegenteil: Er ist hier, um der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen.« Brunetti wußte selbst nicht, warum er log. Es würde keine Ermittlungen geben, bei denen Ribetti hätte behilflich sein können, aber dem tobenden Alten mußte Einhalt geboten werden, und vor der Autorität eines Staatsorgans kuschten Menschen seiner Generation noch am ehesten.

»Ja, was glauben Sie denn, wer Sie sind?« herrschte der Alte Brunetti an und legte den Kopf in den Nacken, um seinen Gegner ins Auge fassen zu können. Ohne eine Antwort abzuwarten, versuchte er, sich an dem Commissario vorbeizudrängen, der ihm jedoch mit einem raschen Ausfallschritt erst nach links und dann nach rechts den Weg versperrte.

Da blieb der Alte stehen, hob einen Finger in Schulterhöhe und stieß ihn Brunetti vor die Brust. »Aus dem Weg, Freundchen! Ich dulde keine Einmischung von Fremden, verstanden?« Er machte einen halben Schritt nach links, aber Brunetti ließ ihn auch diesmal nicht vorbei. »Aus dem Weg, hab ich gesagt!« schrie der Alte, und diesmal langte er nach Brunettis Arm. Man konnte gewiß nicht sagen, daß er ihn gepackt oder gar an seinem Arm gezerrt hätte, aber genausowenig war es die freundliche Geste eines Mannes, der [26] nur etwas Wichtiges mitzuteilen hat und sicherstellen will, daß sein Gegenüber ihm auch zuhört.

Vianello jedenfalls kam vorsorglich zwei Stufen hinunter und baute sich links neben dem alten Mann auf. »Anfassen sollten Sie den Commissario lieber nicht, Signore.«

Doch der Alte war in seiner Wut nicht mehr zu bremsen. Er riß die Hand von Brunettis Arm und reckte sie Vianello entgegen. »Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß Sie mich aufhalten können, Sie Dreckskerl!« Er hatte einen knallroten Kopf, und Brunetti, der selten jemanden erlebt hatte, der sich so maßlos ereiferte, fürchtete schon, dem Alten drohe ein Schlaganfall: Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Hände zitterten, an den Mundwinkeln war Speichel ausgetreten, und seine kleinen, dunklen Augen hatten sich zu zwei schmalen Schlitzen verengt.

Hinter sich hörte Brunetti auf einmal Ribettis Stimme. »Bitte, Commissario, er wird keinen Ärger machen.«

Vianello konnte sein Erstaunen nicht verbergen, ebensowenig wie Brunetti, was dem Alten nicht entging. »Er hat recht, Signor Commissario, wer immer Sie sind: Ich mache keinen Ärger. Dafür ist er zuständig, das Arschloch.« Er wandte sich von Brunetti zu Marco, der jetzt zur Linken Brunettis stand. »Wir kennen uns, weil er diese dumme Gans geheiratet hat, meine Tochter. Ist einfach dem Geld nachgestiegen und hat sich die Richtige geangelt. Und sie dann mit seinen beschissenen Ideen vollgestopft.« Der Alte machte Miene, Ribetti anzuspucken, besann sich aber gerade noch. »Und jetzt landet er auch noch im Knast«, schloß er mit einem Blick zu Brunetti, der deutlich machte, daß er auf dessen Lüge nicht hereingefallen war.

[27] Marco lenkte Brunettis Aufmerksamkeit auf sich, indem er ihn leicht am Ärmel zupfte. »Ich danke Ihnen, Commissario.« Und an Vianello gewandt: »Dir natürlich auch, Lorenzo.« Und als ob der alte Mann Luft wäre, wich er seitwärts aus und stieg unbehelligt die letzten Stufen hinunter. Auf dem Bürgersteig angekommen, sah Brunetti ihn nach dem parkenden Streifenwagen schielen; doch dann lief Ribetti zügig weiter und verschwand hinter der nächsten Ecke.

»Feigling!« rief der Alte ihm nach. »Wenn’s drum geht, deine gottverdammten Viecher zu retten oder deine gottverdammten Bäume, ja, dann bist du mutig. Aber wenn du’s mit einem richtigen Mann aufnehmen sollst, du…« Hier gingen dem Alten plötzlich die Schimpfwörter aus. Nachdem er Brunetti und Vianello angestarrt hatte, als wolle er sich ihre Gesichter für alle Zukunft einprägen, drängte er sich an den beiden vorbei und stürmte hinauf in die Questura.

»Was war denn das?« fragte Brunetti.

»Ich erzähl’s dir auf dem Rückweg«, versprach Vianello.

Die Geschichte, die der Commissario auf der Rückfahrt nach Venedig zu hören bekam, hatte Vianello von einem ehemaligen Klassenkameraden, der ein halbes Jahr als maestro in der Glasbläserei von Giovanni De Cal, dem tobsüchtigen Alten vor der Questura, gearbeitet hatte, bevor er dort kündigte und zu einer anderen fornace wechselte. Am Beginn stand eine typische Liebesromanze von Herzklopfen bis Hochzeitsglocken: Sie, De Cals Tochter, ließ auf dem Rialto eine Tüte voll Orangen fallen, ein Fremder, [28] der gerade Garnelen kaufte, jagte den Früchten nach und sammelte sie wieder ein. Sie bedankte sich lachend und lud ihn auf einen Kaffee ein, über dem sie sich dann eine Stunde lang unterhielten. Anschließend begleitete er sie zu ihrem Boot, ließ sich ihre Handynummer geben, rief wenig später an und bat sie, mit ihm ins Kino zu gehen, und vier Monate später zogen sie zusammen. Ihr Vater war strikt dagegen, weil er den jungen Mann für einen Mitgiftjäger hielt. Assunta, die nie besonders hübsch gewesen und inzwischen auch nicht mehr jung war, kannte kein anderes Leben als ihre Arbeit in der väterlichen Glasbläserei. Wer würde eine solche Frau begehren, außer um ihres Geldes willen? Dahinter verbarg sich die weniger offen geäußerte Frage, wer sich, falls die Tochter gar eine eigene Familie gründete und ihn verließ, um ihn kümmern würde, einen Witwer, allein in einer Zehn-Zimmer-Villa und zu sehr von seinen Geschäften in Anspruch genommen, um für sich selbst sorgen zu können.

Liebe Leser, sie hat ihn geheiratet. Aber der Konflikt spitzte sich zu, als die Prinzipien und politischen Ansichten des jungen Mannes, seine Sorge um die Umwelt und das Mißtrauen gegen die augenblickliche Regierung auf die Philosophie seines Schwiegervaters prallten. In De Cals Welt regierte die Maxime »Fressen und gefressen werden«; Arbeiter waren zum Arbeiten da und hatten nicht auf der faulen Haut zu liegen, geschweige denn von ihren Brötchengebern auch noch Geld fürs Nichtstun zu kassieren; Produktionssteigerung und Umsatzwachstum waren immer willkommen – je mehr, desto besser.

Vollends ein rotes Tuch waren für den Alten Ausbildung [29] und Beruf des jungen Mannes. Nicht genug damit, daß er einen Universitätsabschluß hatte, also zu diesen nutzlosen dottori gehörte, die alles studiert, aber von nichts eine Ahnung haben; nein, der Herr Ingenieur verschlimmerte das Übel noch, indem er ausgerechnet bei der Firma anheuerte, die die Ausschreibung zum Bau von Mülldeponien im Veneto gewonnen hatte und in deren Auftrag er nun Standortanalysen erstellte, den Abstand der Industrieanlagen zu fließenden Gewässern sowie den Grundwasserspiegel und die Bodenbeschaffenheit untersuchte. Er schrieb Gutachten, die bereits geplante Deponien verhinderten, und solche, die den Bau der Anlagen verteuerten – und finanziert wurde das Ganze mit dem Geld, das man ehrbaren Leuten wie De Cal aus der Tasche zog, fleißigen Unternehmern, die Steuern zahlten, auf daß Faulpelze und Schwächlinge weiter am Tropf des Sozialstaats hängen und windige Ingenieure den Kommunen Geld abpressen konnten, nur damit ein paar Fische und andere Viecher sich nicht dreckig machten oder einen Schnupfen kriegten.

Ribetti und seine Frau, Assunta De Cal, bewohnten ein Haus auf Murano, das Assunta von ihrer Mutter geerbt hatte. Sie, die gewissermaßen als Puffer zwischen Vater und Ehemann stand, bemühte sich, das Haus in Ordnung und die beiden Streithähne auseinanderzuhalten, was, da sie den ganzen Tag in der väterlichen Firma arbeitete, beides nicht leichtfiel. Giovanni De Cal war, wie Brunetti und Vianello bezeugen konnten, ein Choleriker; seine fornace auf Murano befand sich seit sechs Generationen in Familienbesitz.

An dieser Stelle unterbrach Vianello seine Erzählung und [30] meinte: »Also, wenn ich mich hier so reden höre, wundert es mich, woher ich soviel über die beiden weiß. Bestimmt nicht alles von Pietro aus seiner Zeit bei De Cal. Und Marco und ich, wir sind zwar zusammen zur Schule gegangen, aber danach hatten wir uns bis vor drei Jahren ganz aus den Augen verloren. Daß ich trotzdem so gut auf dem laufenden bin, ist mir ein Rätsel. Schließlich sind wir keineswegs dick befreundet, und über seinen Schwiegervater hat er sich nie geäußert.« Während Vianello so vor sich hin sinnierte, passierten sie den Ponte della Libertà, und dem Inspektor, der im Fond des Wagens saß, war es, als sähe er Brunettis Kopf von den Schornsteinen Margheras umrahmt.

Brunetti schloß aus Vianellos Verwunderung, daß der Inspektor sich seiner Gabe, Menschen ins Gespräch zu ziehen und dabei ihr Vertrauen zu gewinnen, womöglich auch nach all den Jahren noch nicht vollends bewußt war. Vielleicht war sie ja angeboren, wie das absolute Gehör oder eine tänzerische Begabung, und für diejenigen, die sie besaßen, absolut nichts Ungewöhnliches.

Vianello deutete zur Industrielandschaft Margheras hinüber und lenkte Brunettis Gedanken wieder zum Thema zurück. »Du weißt, daß ich seine Meinung teile, oder?«

»Was die Proteste angeht?«

»Ja«, bestätigte Vianello. »Als Beamter kann ich zwar nicht mitdemonstrieren, aber das hindert mich nicht daran, ihre Aktionen zu billigen. Ich hoffe bloß, sie machen weiter und lassen sich nicht unterkriegen.«

»Und was ist mit De Cal?« fragte Brunetti. In wenigen Minuten würden sie am Piazzale Roma anlangen, und er wollte verhindern, daß Vianello ihn vorher noch in eine [31] Debatte über den untergangsgeweihten Planeten verwickelte.

»Ach, ein elender Stänkerer, du hast ihn ja vorhin selbst erlebt. Auf Murano hat der sich schon mit jedem angelegt: wegen Immobilien, Löhnen… einfach allem, worüber man nur streiten kann.«

»Wie schafft er es denn, seine Mitarbeiter zu halten?« fragte Brunetti.

»Na ja, beim einen klappt’s, beim anderen nicht«, antwortete Vianello. »Hab ich jedenfalls gehört.«

»Von wem, von Ribetti?«

»Nein, ich hab dir doch gesagt, Marco spricht nicht über den Alten, und er hat ja auch nichts mit der fornace zu schaffen. Aber ich habe Verwandte auf Murano, von denen einige in den Glasbläsereienarbeiten. Und da weiß jeder über jeden Bescheid.«

»Ach ja? Was erzählt man sich denn so?«

»Also seine beiden letzten maestri hat De Cal jetzt seit zwei Jahren«, sagte Vianello und fügte erklärend hinzu: »Das ist fast schon ein Rekord für ihn, selbst wenn es keine erstklassigen Kräfte sind. Kommt bei ihm aber wohl nicht so drauf an.«

»Wieso das?« Hinter Vianellos Kopf schob sich der Panoramabus vorbei: Sie würden gleich dasein.

»Weil sein Betrieb bloß diesen Touristenscheiß herstellt. Du weißt schon, springende Delphine… Toreros.«

»Die mit der roten Capa und den schwarzen Kniebundhosen?« fragte Brunetti.

»Ja! Ist das zu glauben? Als ob wir hier Toreros hätten, geschweige denn Delphine.«

[32] »Ich dachte, dieser ganze Ramsch wird heutzutage in China gefertigt oder meinetwegen in Tschechien«, wiederholte Brunetti das, was er oft gehört hatte, und zwar von Leuten, die es eigentlich wissen sollten.

»Es wird auch sehr viel importiert, nur die großen Teile, die kriegen die dort nicht hin, jedenfalls noch nicht. Aberlaß mal fünf Jahre vergehen, dann kommt bestimmt alles aus China.«

»Und was wird dann aus deinen Verwandten?«

Vianello hob resigniert die Hände. »Entweder sie lassen sich umschulen, oder es ergeht ihnen so, wie deine Frau es uns Venezianern jetzt schon prophezeit: Man steckt sie in historische Kostüme und läßt sie, einen urwüchsigen Dialekt auf den Lippen, als Touristenattraktion herumlaufen.«

»Sogar uns?« fragte Brunetti. »Die Polizei?«

»Ja«, bestätigte Vianello. »Kannst du dir Alvise mit einer Armbrust vorstellen?«

Herzhaftes Gelächter beendete das Thema, und ihr Gespräch mündete in jenen Strom aus Klatsch und Tratsch, der seit alters her durch Venedig fließt, oftmals nicht viel sauberer als das Wasser in den Kanälen.

Zurück in der Questura suchte Brunetti als erstes Signorina Elettra auf, um sich zu erkundigen, ob der Dienstplan für die Ostertage schon fertig sei. »Ah, Commissario«, rief sie, als er ihr Büro betrat, »ich habe schon auf Sie gewartet.«

»So?« fragte er.

»Ja, wegen der Lotterie.« Sie sagte das so selbstverständlich, als müsse er wissen, worum es sich handele. »Wollen Sie nicht auch ein Los kaufen?«

[33] Ohne nachzufragen, von was für einer Lotterie die Rede sei, ob sie mit Ostern zu tun habe oder mit einer von Vianellos grünen Kampagnen, zückte Brunetti bereitwillig seine Brieftasche. »Ja, natürlich. Wieviel?«

»Nur fünf Euro, Commissario«, erwiderte sie. »Wir rechnen mit einem so regen Absatz, daß wir es uns leisten können, den Preis niedrig zu halten.«

»Schön«, sagte Brunetti, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte, und legte einen Geldschein auf den Tisch.

Elettra dankte ihm und zog sich einen Notizblock heran. »Und welches Datum möchten Sie, Commissario?« Auf der Suche nach einem Stift kramte sie auf ihrem Schreibtisch herum und blickte dann wieder zu ihm hoch. »Vom ersten Mai an haben Sie die freie Wahl.«

Einen Moment lang spielte Brunetti mit dem Gedanken, den zehnten Mai, Paolas Geburtstag, anzugeben und nicht weiter nachzufragen, aber dann war seine Neugier doch stärker. »Entschuldigen Sie, Signorina, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Ganz einfach, Commissario, jeder muß sich ein Datum aussuchen. Und wer auf das richtige tippt, der kassiert den gesamten Wetteinsatz.« Und lächelnd setzte sie hinzu: »Sie können übrigens ruhig mehrere nehmen, solange Sie für jedes fünf Euro einzahlen.«

»Also gut«, stöhnte Brunetti. »Ich gestehe: Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Signorina Elettra führte die Hand an die Lippen, und wenn Brunetti sich nicht täuschte, flog eine feine Röte über ihre Wangen. Begleitet von einem langgezogenen Seufzer – als wäre sie ein Fußball, dem man die Luft herausgelassen [34] hat. Er verfolgte ihr wechselndes Mienenspiel, sah sie den Gedanken an eine gnädige Lüge zugunsten der Wahrheit verwerfen. Das alles beobachtete Brunetti, ohne zu wissen, wie oder woran er es erkannte.

»Es geht um den Vice-Questore«, sagte sie endlich.

»So? Was ist mit ihm?« fragte Brunetti geduldig.

»Wegen der Stelle bei Interpol.«

»Sie meinen, er hat sich beworben?« Brunetti war baß erstaunt, daß Patta tatsächlich Ernst gemacht hatte. Um genau zu sein, wunderte es ihn noch mehr, daß man ihm nichts von Pattas Bewerbung um die Position gesagt hatte – auf Pattas Ebene wurden aus Stellen Positionen.

»Ja, Commissario. Vor vier Monaten schon.«

Brunetti wußte nicht mehr genau, was für eine Position das war, auf die sein Vorgesetzter es abgesehen hatte. Aber er erinnerte sich dunkel, daß es um die Zusammenarbeit – oder wie diejenigen, die eine Position bekleideten, zu sagen pflegten: um das interaktive Agieren – mit der Polizei eines Landes ging, dessen Sprache Patta nicht beherrschte. Um welches Land es sich handelte, war ihm leider auch entfallen.

In sein Schweigen hinein soufflierte Signorina Elettra: »London, Commissario. Als Mafiaexperte bei Scotland Yard.«

Wie so oft, wenn er etwas über Pattas Karriereplanung erfuhr, war Brunetti um die passenden Worte verlegen. »Und die Lotterie?« fragte er schließlich.

»Betrifft den Tag, an dem er die Absage erhält«, versetzte sie ungerührt.

Die Einzelheiten interessierten ihn nicht, aber eins hätte er doch zu gern gewußt. Bloß, wie so eine Frage taktvoll [35] anbringen? »Für Sie steht das Ergebnis offenbar schon fest, Signorina.« Ja, das war die richtige Formulierung.

»So gut wie«, bestätigte Elettra, ließ sich jedoch keine Erklärung entlocken. Statt dessen klopfte sie lächelnd mit ihrem Stift auf den Block. »Und Ihr Tip, Commissario?«

»Zehnter Mai, bitte.«

Sie schrieb das Datum auf einen kleinen Zettel, den sie abriß und ihm über den Tisch reichte. »Nicht verlieren, Dottore.«

»Was passiert bei Stimmengleichheit?« fragte Brunetti, während er das Los in seine Brieftasche steckte.

»Oh, das ist schon geregelt, Commissario. Ein paar Daten sind tatsächlich mehrfach angefragt worden, aber für den Fall, daß eins davon gewinnt, wurde vorgeschlagen, den ganzen Einsatz an Greenpeace zu spenden.«

»Sieht ihm ähnlich, oder?« bemerkte Brunetti trocken.

»Wem sieht was ähnlich, Commissario?« fragte sie sichtlich verwirrt.

Brunettis kleiner Schnaufer schien zu sagen, das sähe doch ein Blinder, wessen Kopf dieser Vorschlag entsprungen sei. »Na, Vianello.«

»Um ehrlich zu sein, Commissario«, versetzte sie, ohne ihr zuckersüßes Lächeln zu verlieren, »es war meine Idee.«

»Wenn das so ist«, lenkte Brunetti geistesgegenwärtig ein, »dann wünsche ich mir nichts sehnlicher als einen stimmengleichen Sieg, damit ich mein Teil dazu beitragen kann, das Geld einem so löblichen Zweck zuzuführen.«

Erst musterte sie ihn mit ausdrucksloser Miene, doch als sie sprach, kehrte ihr Lächeln zurück: »Nun hör sich einer diesen durchtriebenen Schwindler an.«

[36]

[37] 4

Der Frühling war auf dem Vormarsch, was Brunetti weiterhin anhand der Flora verfolgte. In den Blumenläden erschien der erste Flieder, und er brachte Paola einen riesigen Strauß mit heim; die kleinen rosafarbenen und gelben Knospen in dem Garten am anderen Kanalufer waren schon voll erblüht; als nächstes kamen wilde Narzissen, gefolgt von Tulpen, die in Reih und Glied den Weg am Rand des Grundstücks säumten. Und dann, eines Samstags, schleppte er auf Paolas Geheiß die großen Terrakottakübel vom kühlen, dunklen Dachboden, in dem sie überwinterten, zurück auf die Terrasse, wo sie bis November bleiben würden. Von dort oben sah er, daß die Blumenkästen auf dem Balkon gegenüber sowie ein Stockwerk tiefer mit den roten Geranien bepflanzt waren, die er so häßlich fand.

Dann kam Palmsonntag, was er erst bemerkte, als Leute mit Olivenzweigen in der Hand durch die Stadt spazierten. Die Woche darauf war Ostern, und in den Schaufenstern von Biancat lockte ein Meer von Blumen in so extravaganten Arrangements, daß Brunetti jeden Abend auf dem Heimweg wie verzaubert davor haltmachte.

Am Ostersonntag hatten Paolas Eltern sie zum Mittagessen eingeladen; ihre Tante Ugolina, die dieses Jahr ebenfalls anwesend war, trug einen mit winzigen Papierrosen garnierten Strohhut, der höchstens einmal pro Jahr das Tageslicht erblickte. Da man den Faliers nichts schenken konnte, was sie nicht schon besaßen – und ganz gewiß in [38] besserer Qualität –, brachten die Brunettis Blumen mit. Und obwohl der ganze Palazzo mit üppigen Arrangements geschmückt war, pries die Contessa ihre Rosen so überschwenglich, als handele es sich um die ersten Exemplare einer neuen Züchtung. Chiara hielt angesichts der Blumenorgie aus dem Stegreif einen Vortrag über den horrenden Energieverbrauch von Treibhauspflanzen, dem jedoch niemand Beachtung schenkte.

Blumenmotive hatten auch bei der an Paola adressierten Einladung zu einer Galerieeröffnung Pate gestanden, wo drei junge Glaskünstler ihre Arbeiten vorstellen wollten. Den eingescannten Fotos nach zu schließen, entwarf einer florale Ornamente aus farbigem, mit Blattgold versetztem Glas; der zweite Vasen, deren Ränder er den Kelchblättern der Schnittblumen nachempfunden hatte, für die sie bestimmt waren; und der dritte, der offenbar einen traditionelleren Stil pflegte, Zylindervasen mit gerade geschliffenem Rand.

Ein Kollege von Paola, der mit dem Galeristen befreundet war, hatte für die Vernissage Werbung gemacht. Und da die Kriminalitätsrate Venedigs gerade so niedrig war wie der Pegelstand des diesjährigen Frühjahrshochwassers, ließ sich auch Brunetti gern überreden. Die Galerie befand sich auf Murano, und er war gespannt, ob er Ribetti und dessen Frau dort antreffen würde; ein Wiedersehen mit De Cal auf einer Kunstausstellung schien zum Glück kaum zu befürchten.

Die Vernissage begann an einem Freitagabend um sechs, was den Gästen reichlich Gelegenheit bot, bei einem [39] Prosecco und ein paar Kanapees die Werke der Künstler zu betrachten und trotzdem rechtzeitig zum Abendessen nach Hause oder ins Restaurant zu gelangen.

Erst als sie an den Fondamenta Nuove die Linie 41 bestiegen, kam Brunetti zu Bewußtsein, daß er seit Jahren nicht mehr auf Murano gewesen war. In seiner Kindheit, als sein Vater eine Zeitlang in einer fornace gearbeitet hatte, war er oft dort gewesen, seither aber nur noch selten, da von ihren Freunden keiner auf Murano wohnte und er auch beruflich noch nie dort zu tun hatte.

Außer ihnen gingen noch drei, vier Paare an der Station Faro von Bord und strebten der Via Garibaldi zu. »Die in dem roten Mantel«, flüsterte Paola, während sie sich an Brunetti schmiegte und ihn unterhakte, »das ist Professoressa Amadori.«

»Und ist er der Professore?« Brunetti zeigte mit der freien Hand auf den hochgewachsenen, graumelierten Begleiter der älteren Dame in Rot.

Paola nickte. »Wenn du dich benimmst, einen höflichen und devoten Eindruck machst, dann stelle ich dich vielleicht vor«, versprach sie.

»Ist sie so schlimm?« fragte Brunetti und faßte die Frau ins Auge, die eigentlich ganz harmlos aussah und die man sich gut vorstellen konnte, wie sie auf dem Rialto um den Preis für die Meeräschen feilschte. Von hinten betrachtet war sie leicht o-beinig und hatte ihre Füße in offenbar sehr unbequeme Schuhe gezwängt; ein Eindruck, der aber auch von ihrem Gang herrühren konnte: winzige Trippelschritte mit einwärtsgekehrten Zehen.

»Noch schlimmer«, versicherte Paola. »Ich habe [40]