Wie geht es dem Text? - Zsuzsanna Gahse - E-Book

Wie geht es dem Text? E-Book

Zsuzsanna Gahse

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Beschreibung

»Angenommen, dem Text geht es, wie es dem Schreibenden in dem Augenblick ergangen ist, als er den Text niedergeschrieben hat. Dann ist alles in Ordnung. Aber wie geht es ihm, wenn es ihm nicht so geht?« (Zsuzsanna Gahse)

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Inhalt

I. Sichtbares Material (30. Mai)

II. Ein Hin und Her (13. Juni)

III. Wie geht es dem Text? (20. Juni)

IV. Das Zusammenspiel der Präpositionen

Der heimliche Titel ist aber: Sonder Titel

(27. Juni)

Vier Vorlesungen an der Universität Bamberg, Sommer 1996

I. SICHTBARES MATERIAL

Donnerstag, 30. Mai

Guten Abend, meine Damen und Herren. Wobei Damen kein gutes, kein wirkliches Wort mehr ist. Im Singular hat es einen spöttischen Beigeschmack; zu sagen, eine Dame sei gekommen und habe dies oder das gesagt, hat beinahe etwas Abfälliges. Damen in der Mehrzahl, als Bestandteil von Begrüßungen, wirken noch halbwegs akzeptabel. Und solange von mehreren Frauen, von einer Gruppe gesprochen wird, ist es nicht falsch, Damen zu sagen, zumal, wenn einem kein anderes Wort einfällt, Bürgerinnen oder Schwimmerinnen vielleicht, wobei Schwimmerinnen, auch wenn sie, als heitere Personen, heiter angesprochen werden, als seien die lebensbejahenden Schwimmerinnen grundsätzlich gesund, gerade mit der Gesundheit Probleme haben können, das können sogar beachtliche Gesundheitsprobleme sein, zumal, wenn sie Leistungssport betreiben, weil der Leistungssport, das ist bekannt, alles andere als gesundheitsfördernd ist.

Jandl sagt sogar:

... ich fühlte nie des schwimmers todeslust / hab immer stracks zurück zum strand gemußt.

Wobei das Wort zumal, und ich habe unentwegt zumal gesagt, im heutigen Sinn ein unwirklicher Begriff geworden ist. Ein Verlegenheitspartikel. Der Sinn von zumal ist zugemalt, zugekleistert. Wie ist das passiert? Hinzufügen muß ich noch, daß Gruppen von Schwimmerinnen, Bürgerinnen und Zuhörerinnen oder auch Zuschauerinnen, ebenso wie von Partybesuchern und Autofahrern, einen entscheidenden Teil der Gesellschaft ausmachen, von unserer Gesellschaft, daher kann es nicht gleichgültig sein, mit welchen Begriffen, mit welchen gewohnten Begriffen dieser wichtige Anteil unserer Gesellschaft benannt wird, wobei ich auch darauf eingehen möchte, was es bedeutet, wenn ich sage: ein Anteil unserer Gesellschaft. Ich habe mich nämlich, indem ich Anteil sage, gebärdet, als wüßte ich etwas mathematisch Exaktes, als hätte ich einen exakten Anteil berechnet, und daher habe ich den Anschein erweckt, eine zuverlässige Person zu sein. Immerhin, so sieht es aus, kann ich von Anteilen und von unserer Gesellschaft reden; ich weiß sowohl, was uns gehört, wie auch – selbstverständlich – was dieses uns besagt. Vielleicht wollen wir jetzt gleich auf eine mathematische Lektion hinaus! Während sich mit der Zeit etliche zuverlässige Personen als nicht verläßliche Leute erweisen, da die Wissenschaft, um nur ein Beispiel zu nennen, Fortschritte macht. Und sei eine frühere Aussage noch so wohlgemeint und angemessen gewesen, wird sie durch die nächste, ebenfalls zuverlässige Untersuchung oft zunichte gemacht oder, nur zum Beispiel, so weit modifiziert, daß nachher die vorangehende Aussage kaum noch wiederzuerkennen ist, wobei ich jetzt, da ich gerade wieder zum Beispiel gesagt habe, rechtzeitig zugeben möchte, daß man bei dem Ausdruck zum Beispiel lächeln könnte; es ist ziemlich lustig, daß man zum Beispiel sagt. Wer spielt? Wer spielt bei? Beistellen, beilegen, beischlafen, beispielen. Nun gut.

Trotzdem war das, was ich bisher gesagt habe, ein Beispiel. Eines für abzweigende Gedankengänge und für gedankliche Quereinschüsse oder für abzweigende Nebenstraßen, die der Sprechende, während er spricht, und auch schon der Denkende, während er denkt, unablässig mitzusehen hat. Er denkt ein oder zwei Sätze, geht mit diesen weiter, und währenddessen sieht er rechts und links immerzu in die sich abzweigende Gassen hinein. Dagegen wehrt er sich. Er habe sich etwas Bestimmtes vorgenommen und gehe lieber geradeaus, beschließt er. Oder er schaut sich doch um und zweigt rechts ab, nochmals und nochmals und nochmals rechts, und dann ist er wieder auf seiner ersten Straße und schüttelt den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Schlimmer, wenn er sich ganz verirrt, indem er mal links, mal rechts abbiegt und die Nebengassen nie zuvor gesehen hat.

Auch aus diesem Grund ist jene bekannte Dame, und jetzt sage ich doch gerne Dame, die mit ihrem Faden einst durch das Wirrnis geführt hatte, eine hilfreiche, rettende Person. Einst hatte sie nämlich jemanden – durchaus beispielhaft – vor der Verwirrung und dem tödlichen Abschweifen bewahrt.

Was ich eingangs vorgeübt habe, war der Versuch, jedesmal, wenn mir mitten im Satz etwas eingefallen ist, dem Einfall nachzugehen. Das ist ein ehrliches Unterfangen, immerhin habe ich meine Gedanken, wie sie sich im Augenblick gezeigt haben, umzustülpen und den Gedankeninhalt in aller Offenheit auszuschütten versucht. Bei diesem Vorgang konnte ich aber jenen Gedanken, den ich anfangs im Sinn hatte, nicht gleichzeitig weiterführen. Ursprünglich hatte ich vor, Sie zu begrüßen und dann sofort vom Körper der Texte zu reden. Davon, wie sich das äußere Erscheinungsbild von Texten dem Erzähler und seinem Gegenüber darstellt. Wie nämlich das, was jemand erzählt, als ein Gesamtbild aussieht.

Jemand erzählt. Ob er das geschickt oder ungeschickt macht, sei dahingestellt. Ob die Ausführlichkeit, mit der er sein Bild rundum beleuchten will, berechtigt ist, ist jetzt ebenfalls keine Frage. Jemand erzählt, und sicher ist, daß er sehr viel sagen will, daß er der Vollständigkeit halber viel zusammenträgt: so gut wie alles, was er weiß. Und dann kommt zum Glück wieder die bekannte Dame, Ariadne, denn wieder hätte man umkommen können in einem Labyrinth, wäre dort beinahe verschüttet worden, darum führt sie den Gefährdeten an ihrem Faden aus den verschachtelten Gängen hinaus. Sie ist lebensrettend.

Schon ist eine Art Gelände, ein Raum sichtbar, und da liegen und stehen:

Der oder die Erzählende, ein Labyrinth, ein Faden und Ariadne.

Das alles hat einigermaßen deutliche Umrisse und ist damit konkret. Außerdem haben wir abstrakte Dinge. Zu ihnen gehört das Wort zumal, das ich gleich wieder abstrahieren möchte. Es ist so abstrakt, unsichtbar, undeutlich, daß es nichts sagt. Wäre das Wort wiewohl vorgekommen, fiele es ebenfalls weg, weil sich jeder fragen müßte, wann er das letzte Mal freiwillig wiewohl gesagt hat. Wiewohl er das sicherlich geschrieben hat, aber warum schreibt jemand, was er nicht sagt. Denkt er: wiewohl? Und wagt es nicht zu sagen? Warum? Würde er das, was er schreibt, sagen, könnte es sich in ein wirkliches Wort zurückverwandeln, doch wie kommt es, daß er, wiewohl er das Wiewohl schreibt, das Wort nicht sagt? Will er das Schreiben und das Sprechen trennen?

Abstrahieren ist etwas wie wegoperieren, abschneiden. Das Sprechen vom Schreiben wegschneiden.

Weggeschnitten gehört, was sich nicht klar zeigen will und daher nichts darstellt.

Geblieben ist Ariadne, die Lebensrettende, die allerdings auch zerstörend wirkt. Schlank schreitet sie vor jedem mit ihrem Faden voran, und damit verfälscht sie das Aussehen von dem Gebilde, aus dem sie hinausführt. Sie ist klug, und klug wie sie ist, tut sie, als sei ein Labyrinth im Grunde eine Linie, und als sei auch der Sinn des Labyrinthes die Linie, die Vereinfachung. Sie versucht sogar den Eindruck zu erwecken, daß die Linie nicht nur eine Hilfslinie, sondern die Sache selbst sei. Als sei die ganze Welt, das Leben, ihr eigenes und jedes Leben, alle Intrigen und jede Liebe, die gesamte Geschichte und ihre Privatgeschichte so eine klare Linie, die man nur zu finden habe.

Für diese Vereinfachung hat sie später zahlen müssen, aber bis zum heutigen Tag nimmt sich ihr Trick nicht nur als eine gute, sondern leider auch als die einzige Lösung aus.

Als ob ein Labyrinth eine Linie wäre!

Natürlich ist es enorm hellsichtig und hilfreich, eine sichtbare Linie zu finden, die aus dem Labyrinth hinausführt, und als Bild gefällt es mir, vom deutlich sichtbaren Ariadnefaden zu reden und gleich auch vom abwegigen, grauenhaft dunklen Labyrinth. Das ist gut, indem es erschreckend ist.

Es gefällt mir sogar, daß der junge schöne Theseus, den Ariadne ihrerseits sicher liebte, mit Hilfe ihres Fadens wieder in die Freiheit finden konnte, anstatt im Labyrinth zu verkommen und dort aufgefressen zu werden.

Andererseits hat er auf diese Weise das Labyrinth nicht kennengelernt. Er hatte keine Gelegenheit dazu, er hatte lediglich die Möglichkeit, von vornherein die Vereinfachung zu sehen, den Faden, an dem immerhin sein Leben hing.

An dieser Stelle muß ich hinzufügen, daß die Redensart, sein Leben hing an einem Faden, nichts mit Theseus und Ariadne zu tun hat, obwohl sie mit ihnen zusammenhängen könnte. Außerdem scheint mir der Hinweis aus einem Lexikon nicht uninteressant, daß eine Vorstellung vom Leben, das an einem Faden hängt, keine volkstümliche Vorstellung sei, sondern zu den gebildeten Gedanken gehöre. Und noch etwas: Auch der rote Faden bezieht sich nicht auf Ariadne.

Nachdem sie Theseus mit ihrem Faden gerettet hatte, flohen sie gemeinsam auf die Insel Naxos, dort aber verließ er sie; untreu ließ er sie allein zurück.

Das ist eine herausfordernde Geschichte. Man kann sie kaum nicht nacherzählen wollen. Möchte sie, die Geschichte, besagen, daß Theseus, hätte er allein den Weg aus dem Labyrinth finden müssen, einsichtiger gewesen wäre, in welcher Hinsicht auch immer? War er untreu, weil er noch unreif war? Oder war Ariadne für ihn zu fad, indem sie ihm die Vereinfachung des Weges eilfertig gezeigt hatte? Oder geht es in dieser Geschichte nur beiläufig um das Paar Ariadne und Theseus, in Wirklichkeit aber um die Art des Labyrinthes? Soll nur verdeutlicht werden, um was für ein Labyrinth es auf Kreta ging? Immerhin gibt es viele Arten. Das ist entscheidend. Wären alle Labyrinthe gleich, könnte man ihre Tücken und Abwege auswendig lernen, dann wären sie keine Irrgänge mehr.

Zum Beispiel erzählt Jorge Luis Borges von einem König in Babylon, der einen anderen König, seinen Gast, den er für einfältig hielt, in sein ausgeklügeltes Labyrinth einzutreten bat, und dort ließ er ihn allein, da er sein Verderben wünschte. Der vermeintlich Einfältige fand aber hinaus. Dann nahm er seinen unfreundlichen Gastgeber gefangen und setzte ihn erst in seinem eigenen Land auf freien Fuß, in seinem eigenen Labyrinth, in der Wüste nämlich, aus deren Wirrnis es für den anderen kein Entrinnen gab.

Dann ein anderes Labyrinth: Würgeengel heißt ein Film von Luis Bunuel, in dem er der Gesellschaft sarkastisch den Spiegel vorhält. Der Würgeengel ist die Geschichte von einigen wohlhabenden Leuten, die sich nach einem Konzert in einer Villa zum Souper kurz treffen wollen. Die Zusammenkunft fällt aber nicht kurz aus, da keiner der Gäste den Ort wieder verlassen mag, verlassen kann. Tagelang bleiben sie in einem einzigen Raum beisammen, als seien sie dort eingesperrt. Sie werden von Hunger geplagt, werden krank, sie überbrücken die Zeit mit erotischen Versuchen, und einer von ihnen stirbt, weil er der Aufregung nicht gewachsen ist. Da erst fällt einem Gast die rettende Lösung ein, daß nur eine Jungfrau aus dem Verhängnis führen könne. Nachdem sie endlich eine ungefähre Jungfrau in den eigenen Reihen finden, rät diese, den Verlauf des Abends von Anfang an zu rekonstruieren, um so vielleicht weiterzukommen. Und wirklich ist das die Möglichkeit, die ihnen weiterhilft. Sie wiederholen die Geschichte des Abends aufs Genaueste, bald sind sie vom merkwürdigen Bann befreit und können wieder gehen.

Der rettende Faden ist in diesem Fall die Erinnerung, sie führt aus den Irrgängen der gesellschaftlichen Konventionen hinaus. Und wieder geht es um eine Hilfe bei Lebensgefahr.

Zu den Geretteten gehören bisher Theseus, dann der vermeintlich einfältige König und schließlich die wohlhabende, vertrackte Gesellschaft. Gestorben ist einzig jener König, der in der Unübersichtlichkeit der Wüste ausgesetzt wurde.

Auch die Insel Naxos ist einer Wüste vergleichbar, und dort steht Ariadne, allein, für immer, bis zum heutigen Tage, hinter ihr nichts als die große Kahlheit.

Von dieser kahlen und tragischen Situation erzählt Hugo von Hofmannsthal in seinem Opernlibretto (für Richard Strauß) die folgende Geschichte: In einem reichen Wiener Haus sollten an einem Abend zwei völlig verschiedene Stücke aufgeführt werden. Eines der beiden ist ein clowneskes Tanzspiel mit dem Mädchen Zerbinella und ihren drei Freunden. Das Zweite ist die neue tragische Oper eines jungen Komponisten, die von Ariadnes Geschick handelt. Ist es besser, mit dem fröhlichen Tanzspiel zu beginnen oder doch eher mit der Oper? Der Gastgeber wirft seine Pläne immer wieder um, schließlich schickt er seinen Haushofmeister zu den Künstlern – zu den doch so unterschiedlich veranlagten Künstlern, um ihnen ausrichten zu lassen, daß beide Stücke gleichzeitig aufgeführt werden müssen. Den jungen Komponisten kränkt diese Entscheidung geradezu tödlich. Zerbinella, die Tänzerin, nimmt es jedoch leichter und erklärt ihren Freunden, wie sie sich das neubestimmte Spiel um die trauernde Ariadne vorstellen sollten. Sie singt: Die Bühne stellt eine wüste Insel dar. (Ein Satz, der mir auch in der Vertonung besonders gefällt.) So weit das Vorspiel zur Oper. Dann folgt das Hauptstück.

Und weil in diesem Hauptteil wirklich zwei Stücke gleichzeitig gespielt werden, da diese übereinanderliegen, entsteht ein Gebilde, dessen Gesetzmäßigkeiten nicht auf Anhieb zu durchschauen sind, wo mehrere Aussagen gleichzeitig, miteinander und gegeneinander bestehen müssen und nichts in Eile auf einen Nenner gebracht werden kann. Damit taucht wieder eine Spur von einem Labyrinth auf. Die Komödie mischt sich mit der Tragödie, ohne daß sie sich gegenseitig die Wirkung nehmen würden.

Ich möchte nicht behaupten, daß mir kein Text oder Libretto oder Schauspiel oder keine Oper besser gefällt als diese Ariadne auf Naxos. Die Operette von Gombrowicz wäre in diesem Zusammenhang ebenfalls interessant. Auch dort gäbe es die schöne Unausgeglichenheit von leichtfertig und schwerfällig zugleich (wobei leichtfertig und schwerfällig jetzt für Komödie und Tragödie stehen), die mich in beiden Werken anspricht. Im Fall von Ariadne deckt sich die Überlagerung von verspielt bedeutungsvoll und ernsthaft bedeutungslos auch mit der Idee von linear und nicht linear, und das ist hervorragend.

Vor etwa zehn Jahren habe ich eine solche Mischung – leichtfertig und schwerfällig – nachzuspielen versucht. Daraus ist die Abendgesellschaft entstanden. Vor allen Dingen ging es mir darum, unvermittelt banal, unerwartet heiter und ebenso überraschend ernst sein zu können.

Mein Konzept hat mit der überlieferten Ariadne-Geschichte nichts zu tun, außer daß es auch bei mir eine verlassene Frau gibt, die Ariadne heißt. Im übrigen handelt die Abendgesellschaft