Wie ich das chinesische Lager überlebt habe - Gulbahar Haitiwaji - E-Book
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Wie ich das chinesische Lager überlebt habe E-Book

Gulbahar Haitiwaji

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Beschreibung

»Ein Aufsehen erregendes Zeugnis.« DER TAGESSPIEGEL.

Seit Jahren lebt Gulbahar Haitiwaji mit ihrem Mann und ihren Töchtern in Frankreich. Bis die chinesische Regierung sie auffordert, aus administrativen Gründen nach Xinjiang zu kommen. Gulbahar Haitiwaji bucht eine zweiwöchige Reise und kehrt drei Jahre später zurück. Sie ertrug Verhöre, Folter, Hunger und kafkaeske Zersetzungsmethoden. Weil eine der Töchter an einer uigurischen Versammlung in Paris teilgenommen hatte. Seit 2017 wurden mehr als eine Million Uigurinnen und Uiguren in Umerziehungslager gesperrt. Gulbahar Haitiwaji ist die Erste, die darüber berichten kann, weil sie wieder in Frankreich lebt. Ihr Buch ist ein mutiger Appell an die internationale Gemeinschaft, diesen Völkermord nicht mehr zu dulden.

»Ich habe dieses Buch geschrieben, weil die Menschen dort, selbst wenn sie aus den Lagern freikommen, nicht darüber sprechen können. Wenn sie den Mund aufmachen, bringt man sie sofort zurück.« Gulbahar Haitiwaji.

 

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Über das Buch

»China hat mir drei Jahre meines Lebens gestohlen. Ich finde keine echte Ruhe mehr. In mir wohnt immer eine Angst.« GULBAHAR HAITIWAJI

»Nur wenige Zeugen haben bislang ausführlich über die Unterdrückung der uigurischen Minderheit in China berichtet, das macht die Geschichte von Hai­tiwaji so besonders. Kaum jemand entkommt den Lagern in Xinjiang. Und diejenigen, die freikommen, schweigen zumeist.« DER SPIEGEL

»Gulbahar Haitiwaji gewährt einen schockierenden und seltenen Einblick in das Leben in den von China errichteten Umerziehungslagern für die muslimische Minderheit der Uiguren.« DER FREITAG

»Eindrücklich und fundiert!« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

Über die Autoren

Gulbahar Haitiwaji wurde 1966 in Nordchina geboren und arbeitete mit ihrem Mann als Ingenieurin in Xinjiang. Als sich die Lage für die Uiguren dort zuspitze emigrierte die Familie 2006 nach Frankreich. 2016 wurde Gulbahar Haitiwaji von den chinesischen Behörden nach Xinjiang zitiert und verbrachte drei Jahre in den Umerziehungslagern. Mit der „Figaro“-Journalistin Rozenn Morgat hat sie über ihre Haft gesprochen. Daraus ist dieses Buch entstanden, das sofort zum internationalen Bestseller wurde.

Claudia Steinitz wurde 1961 in Berlin geboren, studierte Romanistik und übersetzt seit 30 Jahren französischsprachige Literatur u.a. von Albertine Sarrazin, Virginie Despentes und Véronique Olmi. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Uta Rüenauver, geboren 1964 in Düsseldorf, hat Germanistik, Romanistik und Philosophie studiert. Sie arbeitet als Lektorin und als Feature- und Essay-Autorin für den Rundfunk. Aus dem Französischen übersetzt sie u. a. für „Le Monde diplomatique“.

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Gulbahar Haitiwaji, Rozenn Morgat

Wie ich das chinesische Lager überlebt habe

Der erste Bericht einer Uigurin

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver und Claudia Steinitz

Mit einem Vorwort von Gesine Schwan

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Vorwort

Kapitel I

Paris, 28. August 2016

Kapitel 2

Paris, 19. November 2016

Kapitel 3

Karamay, 29. Januar 2017

Kapitel 4

Baijiantan, 30. Januar 2017

Kapitel 5

15. April 2017

Kapitel 6

5. Juni 2017

Kapitel 7

10. Juni 2017

Kapitel 8

20. Juni 2017

Kapitel 9

14. Juli 2017

Kapitel 10

3. September 2017

Kapitel 11

20. November 2017

Kapitel 12

Ende 2017, Anfang 2018

Kapitel 13

Frühjahr 2018

Kapitel 14

Irgendwo im Norden von Xinjiang 5. November 2018

Kapitel 15

23. November 2018

Kapitel 16

Paris, 19. Februar 2019

Kapitel 17

Karamay, 3. März 2019

Kapitel 18

11. März 2019

12. März 2019

Kapitel 19

Karamay, 15. März 2019

Kapitel 20

2. April 2019

Kapitel 21

12. April 2019

Kapitel 22

6. Juni 2019

Kapitel 23

22. Juni 2019

Kapitel 24

13. August 2019

Kapitel 25

21. August 2019

Epilog

Januar 2021

Danksagung

Nachwort

Erläuterungen

Impressum

Für alle, die nicht entkommen konnten.Für Fanny, Gaétane und Lucile, freie Frauen

»Dank der Berufsausbildung1 konnten die Schüler über ihre Fehler nachdenken und das Wesen sowie die verheerenden Folgen von Terrorismus und Extremismus erkennen. Sie haben ihr nationales Bewusstsein, ihr ziviles Bewusstsein und ihr Bewusstsein für den Rechtsstaat geschärft und sind Mitglieder der Gemeinschaft der chinesischen Nation geworden. Sie unterscheiden besser zwischen Gut und Böse und widerstehen fortan dem extremistischen Denken. [...] Sie haben Vertrauen in die Zukunft.«2

»Niemand kann sich Xinjiang auf dem Weg zu Stabilität, Entwicklung und Wohlstand entgegenstellen.«3

Karte des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang

Stammbaum von Gulbahars Familie

Vorwort

Gulbahar hat die Deportation überlebt. Sie hat Hunderte Stunden Verhör, Folter, Mangelernährung, Polizeigewalt, Indoktrination ertragen. Wegen eines Fotos, das ihre Tochter auf einer Demonstration der uigurischen Diaspora in Paris zeigt, verurteilte China sie nach einem Jahr Untersuchungshaft in einem neunminütigen Prozess ohne Richter und Anwalt zu sieben Jahren Umerziehungslager. Allein auf der Anklagebank, vor sich drei Polizisten. Nachdem sie lange geglaubt hatte, hingerichtet zu werden, überkam sie nun die Angst, in einem Gulag in Xinjiang zu sterben. Niemand konnte ihr zunächst helfen. Weder Frankreich, wo sie seit zehn Jahren im Exil lebte, noch ihre beiden Töchter und ihr Mann, Gulhumar, Gulnigar und Kerim, alle drei politische Flüchtlinge in Paris. Sie dachte, die Falle, in die China sie gelockt hatte, sei für immer zugeschnappt.

Während unserer Gespräche in ihrer Wohnung in Boulogne-Billancourt war Gulbahar lange unschlüssig: Sollte sie offen berichten oder anonym bleiben, um ihre Angehörigen zu schützen? Aus Vorsicht schien sie zunächst entschlossen, ihre wahre Identität zu verschweigen.

Gulbahar stammt aus einer uigurischen Familie, die seit Generationen in Xinjiang lebt. Wie ihre Vorfahren wuchs sie in dieser erdölreichen Gegend aus Wüsten und Oasen auf, die über Jahrhunderte von geopolitischen Unruhen geprägt und abgesehen von ein paar kurzen Unabhängigkeitsphasen immer wieder von China besetzt war. Der Machtantritt der Kommunisten führte 1955 zum Anschluss Xinjiangs4 an die Volksrepublik China. Seitdem heißt es Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang. Xinjiang bedeutet auf Mandarin »neue Grenze«. Seit dem Anschluss erlebt das riesige Gebiet eine regelrechte Kolonisierung durch die Han-Chinesen, die größte Volksgruppe Chinas. Mit dem Bau der Erdölraffinerien wuchsen unter den Schaufeln der chinesischen Bagger die Städte, überschwemmte das Rot des Kommunismus die Straßen mit Lampions, Spruchbändern und Fahnen und erlebten die Uiguren die ersten Schikanen und Diskriminierungen – Vorboten dessen, was heute nichts anderes ist als ein Genozid. Eines Tages war Kerim es leid, dass sich die Zukunftsaussichten immer mehr verdüsterten, und er ging nach Frankreich. Gulbahar folgte ihm mit ihren Töchtern.

Da die Uiguren einen sunnitischen Islam praktizieren und ihre von China erst spät vereinnahmte Kultur türkische Wurzeln hat, fordert eine separatistische Minderheit der Uiguren die Unabhängigkeit unter der himmelblauen Flagge von Ostturkestan. 2009 führten Aufstände in Ürümqi, bei denen mehrere Hundert Han-Chinesen und Uiguren ums Leben kamen, in der Region zu Repressionen von bis dahin ungekannter Gewalt. Die Regierung installierte ein allumfassendes Überwachungs- und Kontrollsystem: Legionen von Kameras mit Gesichtssoftware, Polizeistationen an jeder Straßenecke und seit 2017 Umerziehungslager. Die Region wurde zur am strengsten überwachten Gegend der Welt und zugleich ein Herzstück von Xi Jinpings »Neuer Seidenstraße«. Als Tor nach Zentralasien teilt Xinjiang seine Grenzen mit acht Staaten. Das Gebiet ist ein strategischer Riegel für das gewaltige Infrastrukturprojekt, das China mit Europa verbinden soll. Amnesty International und Human Rights Watch schätzen, dass mehr als eine Million Uiguren in den Umerziehungslagern waren oder sind. China besteht darauf, sie als »Schulen« zu bezeichnen, wo die Lehrer »den islamistischen Terrorismus« aus den Köpfen der Uiguren entfernen wollen.

Gulbahar hat sich nie für Politik interessiert. Das sagt sie ohne Verachtung, sogar ein bisschen stolz. Wenn sie ihre Religion erwähnt, spricht sie von einem Islam »des Friedens«, von einem »gemäßigten« Islam. Sie ist also weder Unabhängigkeitsverfechterin noch »islamistische Terroristin«. Trotzdem kam auch sie in ein Umerziehungslager. Das zeigt die ganze Heuchelei und Perversion der chinesischen Politik, die nicht die extremistische Minderheit unter den Uiguren bestrafen, sondern das gesamte Volk verschwinden lassen will, auch Uiguren im ausländischen Exil wie Gulbahar.

Eines Morgens im November 2016 erhielt Gulbahar einen seltsamen Anruf aus Xinjiang. Ein Angestellter ihres früheren Unternehmens bat sie, nach China zu kommen. »Wegen administrativer Angelegenheiten«, »Dokumente für Ihren Vorruhestand«, erklärte er. Gulbahar wurde nicht misstrauisch oder nicht misstrauisch genug. Ein paar Tage später landete sie in Ürümqi und ihr Leidensweg begann: Die Behörden nahmen ihr den Pass weg und steckten sie in ein Gefängnis, dann, nach Monaten in einer Zelle, deportierten sie sie ohne ein Urteil in ein Lager.

Im Wohnzimmer in Boulogne saß Gulbahar zwischen ihrer Tochter Gulhumar und mir und durchlebte noch einmal diese Zeit der Leere. Sie konzentrierte sich, die Stirn etwas in Falten gelegt, mit ernster Miene. Was empfand sie, als die Wachen sie 20 Tage lang an ihr Bett gekettet hatten? »Nichts«, antwortete sie mit verstörtem Blick, weil sie selbst spürte, wie seltsam ihre Antwort klang. Als man sie in einer eisigen Dezembernacht in einen Lastwagen steigen ließ, ohne ihr zu sagen, wohin sie gebracht werden sollte, dachte Gulbahar, man würde sie in der verschneiten Wüste erschießen. Und was empfand sie da? Auch nichts. »In diesem Moment war ich innerlich tot.« Und als man ihr ankündigte, sie werde freigelassen? »Da bin ich starr auf meiner Pritsche liegen geblieben.«

Im Verlauf ihrer »Umerziehung« verschwanden ihre menschlichen Empfindungen. In der Vertraulichkeit unserer Gespräche fand sie sie wieder. Unter dem mitfühlenden Blick ihrer Tochter, der ihre Befreiung vor allem zu verdanken ist und die unsere Gespräche übersetzte, durchlebte Gulbahar jede Szene ihres Dramas aufs Neue. Sie sprach mit der groben Stimme des Polizeichefs oder mit der inquisitorischen des falschen Richters, der sie verurteilte. Wenn ihr die Worte fehlten, stand sie auf und imitierte den mühsamen Gang mit Ketten an den Knöcheln oder den steifen, martialischen Schritt der Militärparaden. Sie marschierte quer durch das Wohnzimmer, aufrecht, die ausgestreckten Arme eng am Körper. Dann drehte sie sich zu uns um und brach in ein ansteckendes Lachen aus. »Das ist lächerlich, oder?« Wir lachten. Wenn sie sich so über sich selbst und über die anderen lustig machte, entlarvte sie den Irrsinn des Lagersystems.

Auch als sie mir von den Geständnissen erzählte, die sie unter Zwang bei der Polizei abgegeben hatte, wurde sie von einem wilden, unkontrollierbaren Lachen gepackt. Ja, oft halfen ihr Spott und Lachen gegen ihre Traumatisierung.

Aber man kann nicht einfach so von der Umerziehung genesen. Neben den unheilbaren körperlichen Folgen steckt die Angst weiter in Gulbahars Seele. Auch wenn die Chinesen sie nach langwierigen Verhandlungen mit dem französischen Außenministerium freigelassen haben, bleibt die Befürchtung, dass die chinesischen Behörden an die Türen ihrer Mutter, ihrer Schwestern, Brüder oder Freunde klopften, die noch in Xinjiang leben. Dass die Gewalt der Polizisten wie ein Blitz auf die Menschen niedergeht, die Gulbahar liebt, und damit die »Verheißungen« der Kommunistischen Partei Chinas ad absurdum führt. Dass sie ebenso wie Gulbahar verhört, verhaftet, gefoltert, deportiert werden. Wie sie als »kriminell« und »terroristisch« beschimpft werden. Wie sie in den Lagern verschwinden, ihre Menschenwürde verlieren und mit dieser die glücklichen Erinnerungen, alle Erinnerungen, und dann Stück für Stück die Lust zu leben. Nein. Das will sie nicht. Alles, aber nicht das.

Eines Morgens im September 2020 saß Gulbahar auf dem weißen Sofa in ihrer Wohnung in Boulogne und las die ersten Seiten des Manuskripts. Ein gutes Jahr war seit ihrer Freilassung, ihrer Ankunft am Flughafen von Roissy, dem Wiedersehen mit Kerim, Gulhumar und Gulnigar vergangen. Beim Lesen dachte sie wieder darüber nach, ob sie ihre wahre Identität in dem Buch nicht doch offenbaren sollte. »Sie sagt es noch nicht, aber sie denkt darüber nach«, schrieb mir ihre Tochter. Wenige Tage später hatte Gulbahar ihre Entscheidung getroffen. »Das ist meine Geschichte. Ich will ganz und gar dazu stehen. Das ist meine Pflicht als Uigurin«, sagte sie mir. Sie wollte ihren Namen auf dem Buchumschlag sehen. Damit begibt sie sich in große Gefahr. Dessen muss sich jeder Leser ihres Berichts bewusst sein.

Während China gar nicht daran denkt, sein Lagersystem in Xinjiang zu beenden, sondern weiter Uigurinnen und Uiguren deportiert, weiter Uigurinnen zwangssterilisiert, ohne dass sich bis heute die UNO oder eine andere internationale Delegation ein Bild vom Ausmaß dieses Genozids machen kann, spricht Gulbahar, die erste Gefangene, die von Frankreich befreit wurde, in diesem Buch in ihrem eigenen Namen. Dafür gebührt ihr und ihrer Tochter Gulhumar größter Dank.

Rozenn Morgat

Kapitel I

Paris, 28. August 2016

Trotz der erstickenden Augusthitze war es ein wunderbares Fest. Unter den hellen Lampen herrschte ein angeregtes Stimmengewirr. Eine fröhliche Symphonie aus Lachen und Geschirrklappern begleitete die Lautenmusik. Um die Tische mit malvenfarbenen Läufern, auf denen Rosen- und Hortensiensträuße prangten, drängten sich die Gäste vor bunten Nudelsalaten, großen dampfenden Tajines und Bergen von Teigtaschen mit Fleisch und Zwiebeln.

Das Besondere an uigurischen Hochzeitsfesten ist, dass man nicht aufhört zu tanzen und zu essen. Es darf an nichts fehlen. Musik begleitet die Gespräche bis zum Morgengrauen. Man steht auf, um zu tanzen, dann setzt man sich wieder und nimmt sich eine Schale Polo5 oder eine Tasse Tee. Nie zuvor haben meine Kochkünste so viele Gäste erfreut. Sie waren alle so elegant in ihren dunklen Anzügen und schillernden Kleidern. Die Han-Chinesen sagen, die Uigurinnen seien die schönsten Frauen der Welt. An diesem Abend strahlten beim Lachen ihre Zähne unter den hohen Wangenknochen, und ihre von einem Eyeliner-Strich gesäumten Augenlider spannten sich. Eine von ihnen strahlte mehr als alle anderen: Gulhumar, die Braut, meine Tochter. Wie schön sie war in ihrem weißen Kleid aus Satin und Tüll! Eine Reihe feiner Perlen um ihre Taille betonte ihre harmonischen Kurven. Das dichte schwarze Haar war im Nacken hochgesteckt, ihre Schultern rund und gerade; ein kunstvolles Oberteil schmiegte sich um ihr Dekolleté und ihren Rücken. Dieses Kleid hatte uns viel Kopfzerbrechen bereitet! Ich sehe noch Gulhumars unzufriedene Miene im Spiegel der Umkleidekabine, während sie die Fäuste in die Hüften stemmte. Flitter und Pailletten waren noch nie nach ihrem Geschmack.

Als Kind wollte sie ein Junge sein. Das war ihr Drama, sie war wie besessen davon. Sie tat alles, was sie ihrem Wunschbild näher brachte. Nichts konnte sie bremsen. Weder Kleider noch Lederschuhe noch Bänder in den Haaren.

Das Fest war ein großer Erfolg. Noch lange danach erzählten sich die Gäste von Gulhumars wunderbarer Hochzeit. In den Niederlanden, in Norwegen, in Schweden … Überall, wo die Uiguren Zuflucht gefunden haben, rühmte man die Schönheit der Braut. Ihre herzlichen Komplimente hätten Kerim, meinen Mann, und mich fast vergessen lassen, dass die wichtigsten Gäste fehlten: unsere Familien, die in Xinjiang geblieben waren.

Xinjiang ist der Ausgangspunkt dieser Geschichte, der Geschichte unserer Familien. Ich heiße Gulbahar. Ich wurde am 24. Dezember 1966 in Gulja in Xinjiang geboren.

Bevor wir nach Frankreich gegangen waren, führten wir in Xinjiang ein glückliches Leben, obwohl unser Volk dort seit Jahrzehnten von China gnadenlos unterdrückt wird. Wir Uiguren werden verfolgt, eingesperrt, umerzogen.

Aber beginnen wir mit dem Anfang: Xinjiang liegt Tausende Kilometer von Frankreich entfernt in Zentralasien. Kerim und ich sind in diesem Paradies voller Berge und Oasen aufgewachsen, das dreimal so groß ist wie Frankreich. Es liegt ganz im Westen von China und grenzt an die Mongolei, an Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan, Pakistan und Indien. In unserem Land wachsen Südfrüchte, birgt der Boden Gold und Diamanten, aber auch andere Reichtümer: Erdgas, Uran und vor allem Erdöl. Ich sage »unser Land«, aber das ist nicht ganz korrekt. Das im Westen zu unabhängigen Republiken hin ausgefranste Gebiet hat nur kurze Perioden nationaler Freiheit erlebt, meist war es von China annektiert: erst unter dem Kaiserreich, dann nach der Machtübernahme der Kommunisten 1949. Sie schlugen die Aufstände der Separatisten nieder, die von einer unabhängigen Republik Ostturkestan träumten, bedeckten unsere Schotterstraßen mit Beton und rissen die Erde auf, um an das darin ruhende Erdöl und Gas zu kommen.

Seither sind wir Uiguren das Steinchen im Schuh des Reichs der Mitte. Xinjiang ist als strategischer Korridor viel zu wichtig, als dass China es sich leisten könnte, darauf zu verzichten. Es hat zu viel Geld in das wirtschaftspolitische Großprojekt »Neue Seidenstraße«6 investiert, das China mit Europa verbinden soll und für das unsere Region unverzichtbar ist. Deshalb braucht Xi Jinping Xinjiang. Ein friedliches, dem Handel gegenüber aufgeschlossenes, von seiner separatistischen Bevölkerung und allen ethnischen Spannungen gereinigtes Xinjiang. Kurz und gut, ein Xinjiang ohne die Uiguren.

In allen Schulen des Landes können die Schüler herbeten, dass die 56 nationalen Volksgruppen, zu denen die Uiguren gehören, der Eckpfeiler für den kulturellen Glanz Chinas in der Welt sind. Auf unserem Personalausweis steht, dass wir Bürger der Volksrepublik China sind, aber im Herzen bleiben wir Uiguren. Männer und Frauen beten in Moscheen zu ihrem Gott, nicht in buddhistischen Tempeln. Die besonders religiösen Muslime tragen einen Bart und ihre Frauen ein Kopftuch. In den Familien, den Schulen und den Straßen von Xinjiang hört man die rauen, heiseren Laute der uigurischen Sprache, einer Turksprache, nicht Mandarin. Unser Grundnahrungsmittel ist nicht Reis, wie bei den Han-Chinesen im Osten, sondern Naan, das runde, flache Brot, das man in Zentralasien kennt. Im aktuellen Kontext stören die kulturellen Besonderheiten der Uiguren die Zentralregierung, und die Aufstände der Vergangenheit beunruhigen sie. Deshalb sind wir 2006 nach Frankreich geflohen. Das war, kurz bevor in Xinjiang unvorstellbare Repressionen begannen.

Bei unserer Ankunft in Frankreich hatte bisher kaum jemand etwas von Xinjiang gehört. Erst recht nicht von den ethnischen und kulturellen Konflikten in der Region. Als wir von der Diskriminierung und den Verhaftungen erzählten, von der Unmöglichkeit, ein Leben ohne Angst zu führen, runzelten die Leute ungläubig die Stirn. Meistens stießen unsere Erklärungen auf Gleichgültigkeit, bestenfalls auf höfliche Neugier. »Ist das so ähnlich wie in Tibet?«, wurden wir oft gefragt. Ein bisschen, ja, das stimmt. Für die Europäer ist die Unterdrückung, unter der wir leiden, etwas Exotisches. Und unser Widerstand die chinesische Version von David gegen Goliath. Nur dass bei uns David Goliath noch nie besiegt hat. Er kämpft seit Generationen, vergeblich. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wann die ersten Unruhen begannen. Sie lauerten bereits im Verborgenen, als ich in meinem Dorf im Norden aufwuchs. Vielleicht waren sie schon immer da.

Dabei hatte es für Kerim und mich ganz gut angefangen. Es gab eine gar nicht so ferne Zeit, als uns die politischen Probleme Xinjiangs kaum berührten. Wir hörten ihr Echo, aber wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, unser Leben aufzubauen. Das waren die 1990er Jahre. Xinjiang zog alle an, die reich werden wollten, Chinesen wie Ausländer. Die Hauptstadt Ürümqi war voller frisch diplomierter Ingenieure, Han-Familien aus dem Osten und kasachische Landarbeiter, die in der Region ein Stückchen Land bestellten. Im Stadtzentrum wuchsen Bürotürme oder Einkaufszentren in die Höhe und überragten die Moscheen. Die Erdölfirmen stellten Scharen von Uiguren und Han-Chinesen ein. Auf dem großen Basar fand sich eine bunte Gesellschaft zusammen. Verschleierte Frauen standen neben Frauen in Jeans und Kapuzenpulli. Mütter und Kinder saßen im Damensitz auf kleinen Motorrollern und klammerten sich an bärtige Männer mit Doppa, der traditionellen bestickten Kopfbedeckung der Uiguren. Inmitten der Hupkonzerte hockten Verkäufer auf dem Bordstein und boten diverse elektronische Geräte, Plastikspielzeug und billigen Schmuck feil, den die Chinesinnen aus dem Osten so lieben; beim nächsten Händler gab es hölzerne Kochutensilien, Henna oder Naan-Brot in gestapelten Plastikkästen.

Kerim und ich haben uns in Ürümqi kennengelernt, in den Hörsälen der Erdöl-Universität. Ürümqi hat einen ganz besonderen Charme, weil die Bewohner aus unterschiedlichen Gegenden, Kulturen und Traditionen kommen. Die Han-Chinesen machen fast die Hälfte der Bevölkerung aus. Die andere Hälfte setzt sich aus einer Vielzahl von ethnischen Minderheiten zusammen: Uiguren7, Kirgisen, Kasachen, Tadschiken, Mongolen … Kerim kam aus Altay. Die Stadt liegt im Norden, am Fuße des Gebirges, das die Grenze zu Kasachstan, Russland und der Mongolei bildet. Die Menschen aus dem Norden mit ihrer kupferfarbenen Haut gelten als raue Bergbewohner. Ihr Dialekt stammt vom Kasachischen ab, nicht vom Türkischen, wie das traditionelle Uigurisch. Den etwas ungeschliffenen Charme des großen, stämmigen Jungen habe ich nicht gleich erkannt. Ich komme aus Gulja, auch eine Stadt im Norden. Aber zwischen ihr und Altay liegen mehrere Hundert Kilometer Wüstenstraße. Uns trennte eine ganze Welt.

Ich erinnere mich noch an unsere Nachbarin in Gulja. Eine winzige, gekrümmte Frau, ihr Mann war ebenso winzig und krumm. Warum sie dort wohnten, wusste ich nicht, nur, dass sie Han-Chinesen waren. Trotzdem trug die kleine Frau traditionelle uigurische Kleider. Sie bereitete mit Schaffleisch gefüllte Teigtaschen und Lammspieße, deren Duft unsere Gasse erfüllte. Han-Chinese oder Uigure, das war damals völlig unwichtig. Jedenfalls bei uns. Wir hatten beste Beziehungen zu dieser Nachbarin, die mit ihrem Mann sogar das Opferfest mit uns feierte. Sie schätzte unsere Kultur. Es war auch die ihre.

Dann ließen wir uns in Karamay, auf halbem Weg zwischen Altay und Gulja, nieder. Der uigurische Name heißt »schwarzes Öl«. Die Stadt besteht nur aus Beton und wurde in Windeseile aus dem Boden gestampft, um die Familien Hunderter Beschäftigter unterzubringen, die auf den benachbarten Ölfeldern arbeiteten. Karamay galt als Eldorado.

Die lokale Erdölgesellschaft bot uns dort nach Abschluss unseres Studiums Stellen als Ingenieure an. Das war ein Glück. Damals faszinierte uns Karamay, denn es gab Arbeit in Hülle und Fülle. Als wir 1988 in die Stadt kamen, waren dort nur schnurgerade, leere Straßen ohne Geschäfte, Restaurants oder Märkte. Auf diesem Schachbrett, das nach dem Vorbild amerikanischer Städte angelegt war, befanden sich überall Baustellen, und der Lärm von Presslufthämmern, Kränen und Baggern hallte durch die Straßen. Man wachte mit dem Krach auf und schlief mit ihm ein. Die Stadt kreischte, brummte, dröhnte Tag und Nacht. Hochhäuser schossen aus dem Boden, um weitere Familien aus allen Ecken Xinjiangs aufzunehmen. Während sich Karamay füllte, hoben Arbeiter das Bett eines künstlichen Flusses aus und pflanzten dicht belaubte Bäume. Inmitten dieses tosenden Gewimmels bewohnten wir eine kleine Zweizimmerwohnung, die uns unser Arbeitgeber zur Verfügung gestellt hatte, direkt neben den Firmengebäuden. Wir haben fast 20 Jahre in Karamay gelebt, aber die Bauarbeiten kamen nie zu einem Ende, als wollte sich die Stadt immer weiter auf dem Boden ausbreiten, in dem das schwarze Gold floss.

Das Leben in Karamay war bescheiden. Im Winter erfror man fast. Im Januar fiel die Temperatur bis auf -30 °C. Ein starker Wind fegte durch die Straßen und kniff einem ins Gesicht. Sobald der Frühling begann, erstickte man vor Hitze. An Maiabenden stieg von dem neuen Straßenpflaster eine schwüle Luft auf. Während die Familien zum Abendessen in die Kühle ihrer Wohnungen flüchteten, fuhren Kerim und ich in dieser Glut mit dem Fahrrad durch die Straßen, ich saß auf dem Gepäckträger und umschlang seine Taille. Hier war alles neu und offen. Die Stadt glich unserem gemeinsamen Leben. Die Zukunft lag wolkenlos vor uns wie die breiten, staubigen Straßen von Karamay. Wir feierten unsere Hochzeit in unserer kleinen Wohnung mit einer Handvoll Freunden und dem Imam, der uns traute. Dann wurden die Mädchen geboren und die Welt schien uns strahlender denn je.

Mit unseren Einkommen kamen wir gerade so über die Runden, aber wir brauchten nur wenig. Es war die Zeit einfacher Vergnügungen. Auch unsere Freunde, einige kannten wir aus Ürümqi, andere aus der Firma, führten ein bescheidenes Leben. Wir arbeiteten alle viel. Eine Woche glich der anderen. Wir hatten damals eine Tradition begründet, um den Alltagstrott zu überlisten: Beim Neujahrsfest machten wir eine Verlosung. Einer von uns schrieb unsere Namen auf kleine Zettel und warf sie in eine tiefe Schale. Dann losten wir aus, wer von uns im neuen Jahr in welchem Monat eine Unternehmung für alle organisieren würde. Einen Besuch im Restaurant oder im Hamam, ein Essen beim einen oder anderen zu Hause … Das waren unsere Atempausen. Karamay entwickelte sich, die Freizeitangebote wurden vielfältiger. Was für schöne Momente wir miteinander verbracht haben, wenn wir um den Tisch versammelt waren und Fleischspieße aßen oder wir Frauen im Dampf des Hamam herumkicherten! Fehlte es einem von uns an Geld, legten wir zusammen. Wir hatten alle unsere Heimat verlassen, um in dieser neuen Stadt mitten in der Wüste zu arbeiten. Weil wir fern unserer Familien leben mussten, schufen wir uns hier eine neue. Ali, Nilopar, Muhammad, Dilnur, Aynur … Ich frage mich, was aus ihnen geworden ist. Keiner von ihnen hat Karamay verlassen. Sie fehlen mir. Als wir das letzte Mal von ihnen gehört haben, arbeiteten einige noch in der Firma, andere unterrichteten in der Grundschule oder an der Universität. Inzwischen melden sie sich immer seltener, als fürchteten sie, ihre Nachrichten würden von Fremden gelesen. Kein Uigure, der in Xinjiang geblieben ist, entgeht dem Auge des großen chinesischen Bruders. Ich möchte auch nicht, dass meine Fragen sie in Schwierigkeiten bringen.

Ich glaube, Kerim hat immer gewusst, dass wir Xinjiang eines Tages verlassen müssten. Der Gedanke hatte schon in seinem Kopf gekeimt, bevor wir in der Firma anfingen. Schon 1988 in Ürümqi, als wir beide nach unserem Diplom Arbeit suchten. In vielen Zeitungsanzeigen stand klein gedruckt eine Bedingung: »Keine Uiguren«. Das hat Kerim nie verwunden. Der aufkommende Wind der Diskriminierung verfolgte uns bis nach Karamay. Er wurde immer stärker, aber damals wollten wir es nicht wahrhaben. Nur Kerim konnte es nicht hinnehmen. Während ich mich weigerte, mich mit seltsamen Kleinigkeiten aufzuhalten, wurden sie für ihn zur Obsession.

Da war zuerst die Geschichte mit den Hong Bao8. Das sind die kleinen roten Umschläge mit Geld, die man zum chinesischen Neujahrsfest verschenkt. Die Tradition verlangt, dass auch der Arbeitgeber welche an seine Angestellten verteilt. In der Firma vergaß das der Chef nie. Aber in einem Jahr erhielten die Han-Chinesen mehr Geld als die Uiguren. In den Uiguren-Familien machten wir keine große Sache daraus. Vielleicht waren es ja auch nur Gerüchte. Doch kurz darauf wurden alle uigurischen Angestellten in Büros am Stadtrand versetzt. Einige von uns protestierten. Ich habe mich das nicht getraut. Ich packte meine Sachen in einen Karton, und ein Han-Chinese zog in mein Büro. Ein paar Monate später bewarb sich Kerim innerhalb der Firma um eine Leitungsstelle. Er besaß alle Voraussetzungen, auch die ausreichend lange Betriebszugehörigkeit. Es gab keinen Grund, weshalb man ihn nicht nehmen sollte. Dennoch bekam ein anderer die Stelle. Und raten Sie, wer! Ein Han-Chinese, der nicht einmal ein Ingenieursdiplom hatte. Die Vorfälle häuften sich, unsere Töchter wuchsen heran. Kerim wurde immer wütender.

Obwohl ich mich in einer bequemen Realitätsverleugnung verkroch, sah ich, wie unsere Zukunftsperspektiven schwanden. Die Enttäuschungen in der Firma trieben Kerim allmählich in die Verzweiflung. 2002 verließ er Xinjiang, um im Ausland Arbeit zu suchen. Erst in Kasachstan, von wo er nach einem Jahr ziemlich unzufrieden zurückkehrte. Dann in Norwegen. Und schließlich in Frankreich, wo er Asyl beantragte. Er ließ sich dort nieder, die Mädchen und ich sollten ihm folgen, sobald er als Flüchtling anerkannt wäre und Arbeit gefunden hätte. Unsere Freunde fanden alle, er sei verrückt, so bei Null anzufangen. Zumal es das Leben in Karamay doch gut mit uns zu meinen schien. Im Laufe der Jahre hatten Kerim und ich höhere Gehälter bekommen. Wir wohnten in einer geräumigen Wohnung im Zentrum, die uns die Firma bei Gulhumars Geburt gegeben hatte. Unsere Töchter gingen in uigurische Schulen. Wir fuhren ein schönes Auto. Kurzum, wir gehörten gewissermaßen zur Elite. Ich teilte die Meinung der Freunde. Außerdem war ich noch nie außerhalb meiner Provinz gewesen. Die Vorstellung, irgendwo in der großen, weiten Welt zu landen, machte mir Angst. Wie viel Demütigung, Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit muss man ertragen, bis man mit der Faust auf den Tisch haut und sagt: »Es reicht!« Ein chinesisches Sprichwort besagt, dass dir immer und überall etwas zustoßen kann.

In Xinjiang sind Checkpoints, Polizeikontrollen, Verhöre, Einschüchterungen und Drohungen so häufig, dass man fast nicht mehr darauf achtet. Wir bewegen uns wie auf Bewährung, in einem Zustand der Halbfreiheit, die uns jederzeit auch ganz genommen werden kann. Es gehört zum Alltag, auf einen Tee ins Kommissariat des Stadtviertels eingeladen zu werden. Man erzählt den Polizisten von seinem Alltag, nennt die Namen seiner Freunde und Bekannten, spricht über seine Arbeit. Das ist der Preis für eine gewisse Ruhe.

Je umfassender die Überwachung ist, desto mehr wird sie zu einer normalen Bezugsgröße des Lebens. Bei den Uiguren hat jeder einen Bruder, einen Freund, einen Cousin oder Neffen, der Schwierigkeiten mit der Polizei bekam oder für ein paar Monate verschwunden war. Ja, alles kann jederzeit passieren. Jedem. Jeder Bürger ist ein potenzieller Dissident. Und in jeder uigurischen Familie schlummern Jahrhunderte kultureller Auflehnung, was uns von Geburt an zu Staatsfeinden macht.

Dieser Konflikt hat lange vor der Annexion durch die Kommunisten begonnen. Warum soll man sich dann über ein paar zusätzliche Diskriminierungen aufregen?

Den Franzosen fällt es schwer, uns zu verstehen. Meine Tochter Gulhumar nennt ein gutes Beispiel, um zu illustrieren, was ich erzähle: Frankreich ist voller Städte, Dörfer, kleine Weiler voller Häuser, Geschäfte und Cafés, die wiederum voller Menschen sind. Die Menschen sind überall. In Xinjiang trennen vierhundert Kilometer kahles Land die beiden großen Städte Ürümqi und Karamay. Außerhalb dieser beiden Metropolen, die am Rand von Oasen und Erdölfeldern erbaut wurden, erstrecken sich Einsamkeit und Stille, so weit das Auge reicht. Die Trockenheit erstickt jedes menschliche Leben. Nur die gezackten Linien der verschneiten Berggipfel unterbrechen den Wüstenhorizont. Für die Geheimdienste gibt es nichts Leichteres, als einen Gegner verschwinden zu lassen und irgendwo zu verscharren. Uigure in China zu sein, heißt auch, mit dem Bewusstsein zu leben, dass es jederzeit möglich ist, in der großen Taklamakan-Wüste zu verschwinden.

Auch deshalb habe ich mich immer von politischen Angelegenheiten ferngehalten. Ich bin in Gulja aufgewachsen und habe nie gehört, dass sich meine Eltern beklagten oder über die Regierung aufregten. Sie arbeiteten in der nahe gelegenen Brennerei und sahen zu, dass es ihren acht Kindern trotz der mageren Löhne an nichts fehlte. Ich glaube, sie sorgten sich mehr um unser Überleben als um die Diskriminierung der Uiguren, die es schon damals gab. Wir waren eine bescheidene Familie und lebten weit weg von den großen Städten, in denen sich die Ethnien mischten.

Ich wurde eine schüchterne und fleißige junge Frau. An der Universität von Ürümqi ging ich politischen Fragen, die sich in alle Gespräche mischten, bewusst aus dem Weg. Ich verstand sie nicht, und all der Zorn ängstigte mich. Dabei konnte man diesen Themen in der Hauptstadt kaum entgehen. Als ich Kerim kennenlernte, öffnete sich mir eine neue Welt. Kerim war besessen von Politik. Er konnte stundenlang darüber reden. Seine Augen glänzten, wenn ein Gespräch zur Debatte wurde. Überall diskutierten Studenten aus allen Ecken und Enden des Landes neue Ideen. Die bleierne Decke der Kulturrevolution bröckelte. Das war vor den Ereignissen 1989 in Peking, als Tausende Studenten wochenlang auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstrierten und von der Regierung demokratische Reformen verlangten, aber unsere Studentenbewegung hatte ähnliche Forderungen.

Aus Liebe, vielleicht auch aus Neugier begleitete ich Kerim im Dezember 1985 zu einer Demonstration in Ürümqi.9 Wir forderten mehr gesellschaftliche Gleichberechtigung für die ethnischen Minderheiten, das Ende der Ein-Kind-Politik und mehr Unabhängigkeit für unsere Provinz. Die Bewegung wurde wie jede andere im Keim erstickt, zum Glück ohne Blutvergießen. Die Polizei beschränkte sich darauf, die Anführer zum Schweigen zu bringen, und wir, die Masse, kehrten in die Hörsäle zurück, ohne etwas erreicht zu haben. Doch das Feuer, das schon damals in Kerim loderte, ist nie erloschen. Eines Abends kam er mit verschlossenem Gesicht nach Hause. Er hatte die Enttäuschung über die abgelehnte Beförderung nicht verwunden, nun war seine Entscheidung getroffen. Ich sah ihn an und fand den Glanz der Auflehnung wieder, der schon fünfzehn Jahre zuvor in seinen Augen gebrannt hatte. »Ich habe gekündigt«, sagte er nur und stellte einen Karton mit dem Logo der Firma ins Wohnzimmer. Ich war fassungslos. Er fügte nur hinzu: »Es reicht.«

Während unsere Tochter ihre letzten Hochzeitsgäste umarmte, ging es mir wieder durch den Kopf: Kerim hatte recht. Mehr denn je. Frankreich hatte uns die Freiheit zurückgegeben. Derweil traf die Uiguren in Xinjiang eine neue Welle des Terrors mit nie da gewesener Gewalt.

In jenem warmen Augustmonat, der uns so viel Freude schenkte, kündigte sich in unserer Heimat der Auftritt eines neuen Protagonisten im Konflikt unseres Volkes mit der Kommunistischen Partei an. Chen Quanguo, von 2011 bis 2016 Parteisekretär in Tibet und dafür bekannt, dass er dort drastische Überwachungsmethoden eingeführt hatte, kam in gleicher Funktion in unsere Region. Mit ihm nahm die Unterdrückung der Uiguren dramatische Ausmaße an. Tausende von ihnen wurden in sogenannte Schulen geschickt, die man eilig in der Wüste errichtet hatte und die nichts anderes waren als Umerziehungslager. Hier wurde den Gefangenen das Gehirn gewaschen. Und Schlimmeres. Die wenigen, die aus diesen Lagern wieder herauskamen, waren an Körper und Seele gebrochen.

Doch an jenem Abend, die Tanzfläche war noch in ein weiches orangefarbenes Licht getaucht, die letzten Freundinnen legten die Tücher um ihre goldbraunen Schultern und Automotoren brummten im Hof, war mir das Grauen, das sich in Xinjiang ereignete, noch unbekannt. Selbst in meinen dunkelsten Gedanken konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich wenige Monate später in den Strudel dieser Geschichte gerissen werden würde. Ich sah nur Gulhumar in ihrem weißen Kleid, und mein Herz war voller Glück.

Kapitel 2

Paris, 19. November 2016

Am Telefon hatte sich der Mann als Mitarbeiter der Erdölfirma vorgestellt, »Buchhaltungsabteilung«. Die Stimme war mir unbekannt. Ich habe nicht gleich begriffen, was er wollte. Er erwähnte meinen unbezahlten Urlaub, den ich 2006 bei unserer Ausreise aus Xinjiang genommen hatte. Es rauschte in der Leitung, ich verstand ihn schlecht. »Sie müssen nach Karamay kommen und Dokumente für Ihren Vorruhestand unterzeichnen, Frau Haitiwaji«, verlangte er. »Dann werde ich eine Vollmacht ausstellen«, erklärte ich ihm. »Ich habe eine Freundin in Karamay, die sich um meine Belange kümmert. Warum soll ich wegen irgendwelcher Dokumente nach Karamay kommen? Extra dafür so eine weite Reise? Und warum gerade jetzt?« Der Mann beharrte zwar darauf, dass ich kommen müsse, konnte aber meine Fragen nicht beantworten. Am Ende sagte er, er werde sich wegen der Vollmacht erkundigen und mich in zwei Tagen wieder anrufen.