»Wie ich den Weg zum Führer fand« - Jürgen W. Falter - E-Book

»Wie ich den Weg zum Führer fand« E-Book

Jürgen W. Falter

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Beschreibung

Welche Beweggründe motivierten Deutsche, in die NSDAP einzutreten? Und welche Strategien wählten genau diese Parteimitglieder nach 1945, um sich in ihren Entnazifizierungsprozessen zu entlasten? Anhand zahlreicher zeitgenössischer Quellen gibt dieser Band – erstmals überhaupt – Antworten auf beide Fragen, indem er die Entnazifizierungsakten und die darin enthaltenen Aussagen von Mitgliedern der NSPAP mit ihren während des Dritten Reichs verfassten Lebensgeschichten vergleicht. Er bietet damit hochinteressante Einblicke in die Sozialisationserfahrungen und die persönlichen Einstellungen der untersuchten Personen, analysiert die Rolle ihrer Fronterlebnisse, ihre Erfahrungen als Kriegskinder und die bedeutende Funktion nationalistischer und antisemitischer Organisationen als Übergangsstationen auf dem Weg in die NSDAP. Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich darüber hinaus mit den über diese Männer und Frauen gefällten Spruchkammerentscheidungen.

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Jürgen W. FalterKristine Khachatryan, Lisa Klagges, Jonas Meßner, Jan Rosensprung, Hannah Weber

»Wie ich den Weg zum Führer fand«

Beitrittsmotive und Entlastungsstrategien von NSDAP-Mitgliedern

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Welche Beweggründe motivierten Deutsche, in die NSDAP einzutreten? Und welche Strategien wählten genau diese Parteimitglieder nach 1945, um sich in ihren Entnazifizierungsprozessen zu entlasten? Anhand zahlreicher zeitgenössischer Quellen gibt dieser Band – erstmals überhaupt – Antworten auf beide Fragen, indem er die Entnazifizierungsakten und die darin enthaltenen Aussagen von Mitgliedern der NSPAP mit ihren während des Dritten Reichs verfassten Lebensgeschichten vergleicht. Er bietet damit hochinteressante Einblicke in die Sozialisationserfahrungen und die persönlichen Einstellungen der untersuchten Personen, analysiert die Rolle ihrer Fronterlebnisse, ihre Erfahrungen als Kriegskinder und die bedeutende Funktion nationalistischer und antisemitischer Organisationen als Übergangsstationen auf dem Weg in die NSDAP. Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich darüber hinaus mit den über diese Männer und Frauen gefällten Spruchkammerentscheidungen.

Vita

Jürgen W. Falter ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz. Er war dort von 1993 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Innenpolitik und Empirische Politikforschung und von 2012 bis 2019 Senior-Forschungsprofessor.

Inhalt

Jürgen W. Falter: Vorwort

Die Abel- und Gimbel-Berichte

Die Spruchkammerakten

Datensatz

Auswertungsstrategie

Zum Aufbau des Bands

Danksagung

Einleitend

Jürgen W. Falter: 1. »Mein Lebenslauf oder richtiger: Wie ich Nationalsozialist wurde«

Jonas Meßner: 2. »Er ist dann aus irgendwelchen Gründen Mitglied der NSDAP geworden«

Vorläufer und Zwischenwirte

Jan Rosensprung: 3. »Für den Nationalsozialismus reif gemacht«

Jan Rosensprung: 4. »Gegen eine Welt von Feinden«

Jan Rosensprung: 5. »So musste der Stahlhelm als Notnagel hinhalten«

Ein- und Austrittsmotive

Jürgen W. Falter: 6. »Weil ich national und sozial eingestellt war«

Kristine Khachatryan und Jürgen W. Falter: 7. »Meine Frau war gleich Feuer und Flamme«

Hannah Weber: 8. »Was mich erst zum Antisemiten und dann zum Nationalsozialisten machte«

Jonas Meßner: 9. »Da stand ich dann ganz allein«

Entnazifizierung

Jürgen W. Falter: 10. »Wenn ich ausgetreten wäre, wäre mir der Strick sicher gewesen«

Kristine Khachatryan und Jürgen W. Falter: 11. »Der Partei trat ich aus Idealismus bei«

Jan Rosensprung: 12. »Ich gebe zu, bereits im September 1922 der NSDAP beigetreten zu sein«

Lisa Klagges: 13. »Ich bitte heute nicht um Gnade«

Empirische Grundlagen

Literatur

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Jürgen W. Falter

Darüber, wer wann und wo in die NSDAP eingetreten ist, wissen wir mittlerweile recht gut Bescheid (Falter 2020a). Anders sieht es mit den Beweggründen aus, die gut zehn Millionen Mitglieder veranlasst haben, sich der NSDAP anzuschließen. Insbesondere über die Motive der zwischen 1933 und 1945 in hellen Scharen in die Partei geströmten Parteigenossen1 liegen nur pointillistische, alles andere als repräsentative Zeitzeugenberichte vor.

Darum aber geht es letztendlich in allen Untersuchungen zur Anhängerschaft der NSDAP: »Die grundlegende Frage, die den Bemühungen zugrunde liegt, die soziale Zusammensetzung der nationalsozialistischen Bewegung zu ermitteln ist, warum Individuen motiviert waren, in die Partei einzutreten« (Andrews 1986: 309). Ziel aller Wer-, Wie- und Was-Fragen in Bezug auf die NSDAP-Mitgliedschaft ist folglich, die damit verbundene Frage nach dem Warum zu beantworten oder, anders formuliert, zu erklären, warum sich bestimmte Individuen der NSDAP anschlossen und andere das nicht taten, obwohl sie die gleichen sozialen Charakteristika aufwiesen. Denn tatsächlich war es ja im Allgemeinen nur eine Minderheit einer Sozialschicht, einer Berufsgruppe oder einer demographischen Kategorie, die vor 1933 um Aufnahme in die NSDAP ersuchte.2 Gefragt wird in diesem Band einerseits nach den Motiven, einen Aufnahmeantrag in die NSDAP zu stellen, sowie nach den persönlichen, sozialen und politischen Umständen, die einen Parteieintritt begünstigten. Andererseits blicken wir auf die Entschuldigungsversuche und Entlastungsstrategien ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Rahmen ihrer nach dem Krieg eingeleiteten Spruchkammerverfahren.

Warum Menschen einer bestimmten Partei die Stimme geben oder sich ihr als Mitglied anschließen, erfahren wir gewöhnlich aus Befragungen. Repräsentative Bevölkerungsumfragen, wie wir sie heute kennen, gab es jedoch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland nicht, zumindest nicht für den politischen Bereich.3 Allerdings existieren für die Jahre vor 1933 zwei umfangreiche Quellenbestände mit jeweils mehreren hundert zeitgenössischen Zeugnissen früher Nationalsozialisten über die Umstände und die Beweggründe ihres Parteieintritts. Es handelt sich zum einen um die mittlerweile gut zugänglichen autobiographischen Berichte der sogenannten Abel-Collection, zum anderen um die weitaus weniger bekannten »Gimbel-Berichte«. Daneben existieren einzelne, zumeist nach 1945 aufgrund lokaler Befragungen und Dokumentenanalysen verfasste Zeugnisse von NSDAP-Mitgliedern über die Umstände, die sie zu einem Parteieintritt bewogen (Sternheim-Peters 2015; Allen 1966). Erkenntnisse darüber, warum manche Nationalsozialisten geworden sind, kann man auch punktuell aus einer Untersuchung von Erich Fromm über »Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches« gewinnen (Fromm 1980). Ein weiterer, bisher für unsere Fragestellung nicht systematisch ausgewerteter, mehrere Millionen Akten umfassender Quellenbestand liegt schließlich in Form der inzwischen zugänglichen Entnazifizierungsakten vor.4

Die Abel- und Gimbel-Berichte

Theodore Abel war ein ursprünglich aus Polen stammender amerikanischer Soziologe, der zwischen 1929 und 1950 an der Columbia University lehrte. Ihm gelang es 1934, mit Unterstützung von Parteistellen ein Preisausschreiben unter NSDAP-Mitgliedern zu lancieren, indem er für die besten autobiographischen Berichte von Parteigenossen über die Motive und die Umstände ihres Parteibeitritts Geldpreise auslobte. Auf diese Weise erhielt er rund 700 Lebensberichte, von denen 581 erhalten geblieben sind.5 Diese lagern in der Hoover Institution on War, Revolution and Peace der Stanford University, Kalifornien (USA) und sind mittlerweile sowohl als Faksimile als auch in digitalisierter Form über das Internet zugänglich.6

Einen zweiten größeren Quellenbestand bilden die autobiographischen Niederschriften von Mitgliedern der sogenannten Alten Garde aus der »Kampfzeit der Bewegung«, die sogenannten Gimbel-Berichte.7 Zur Alten Garde zählte, wer zwischen Februar 1925, also direkt nach Neugründung der Partei, und Oktober 1928 in die NSDAP eingetreten war, eine Mitgliedsnummer unter 100.000 trug und ihr ununterbrochen angehörte. Wer diese Anforderungen erfüllte, bekam nach 1933 auf Antrag das Goldene Ehrenzeichen der Partei verliehen, das sogenannte Goldene Parteiabzeichen. Einer Anordnung von Rudolf Heß folgend wurden alle Träger des Goldenen Parteiabzeichens aufgefordert, für ein geplantes Ehrenbuch der Alten Garde Erlebnisberichte aus der sogenannten Kampfzeit niederzuschreiben und bei ihm einzureichen.8 Verfasst wurden die erhalten gebliebenen, aus dem Gau Hessen-Nassau stammenden Berichte in der Regel zwischen November 1936 und Mitte 1937 (Schmidt 1981a: 58). Der Bestand umfasst ca. 2.700 Seiten (ebd.: 70). Zwar wird in den Gimbel-Berichten, anders als bei den Abel-Berichten, nicht direkt nach Eintrittsmotiven gefragt, sondern nach der Schilderung von Erlebnissen in der Frühzeit der NS-Bewegung. Doch enthalten nicht wenige auch Angaben über die Umstände und Beweggründe des Beitritts zur NSDAP.

Zusätzlich zu den Abel- und Gimbel-Berichten gab es im Gau Hessen-Nassau 1936 eine Fragebogenaktion für die in der Partei organisierten Mitglieder der Alten Garde9, die sich in den Augen der Partei weitgehend aus dem Parteileben verabschiedet hatten. Auch diese Daten haben wir teilweise mit ausgewertet. Da sich die Befragung explizit an »inaktive« Parteimitglieder richtete und diese konkret nach den Gründen für ihr mangelndes Engagement befragt wurden, ließen sich daraus Informationen zu etwaigen Austrittsmotiven erschließen. Darüber hinaus erlauben diese Daten reizvolle Vergleiche zwischen den Ausführungen im Rahmen der Gimbel-Aktion, den im Rahmen der Fragebogenaktion genannten Gründen für die Inaktivität und den Angaben in den Spruchkammerakten.10

Die Spruchkammerakten

Eine dritte Quelle sind die Millionen von Spruchkammerakten, die im Rahmen von Entnazifizierungsverfahren zwischen 1945 und 1950 entstanden. Für Personen, die nach dem 30. Januar 1933 Parteimitglied wurden, stellen diese Akten vermutlich die einzige Massenquelle mit Angaben über die Umstände und möglichen Motive ihrer Parteimitgliedschaft dar. Die Angaben sind zwar mit der nötigen Vorsicht zu interpretieren, weil die meisten Erklärungen, warum man der Partei beigetreten sei, in apologetischer Absicht formuliert worden sein dürften. Doch bewies schon eine frühe Studie anhand von Spruchkammerakten, dass sich darin durchaus Hinweise auf mögliche Beitrittsmotive finden lassen, die selbstverständlich durch die Brille angemessener Quellenkritik interpretiert werden müssen (Rumpf 1951).

Im Rahmen von Entnazifizierungsverfahren entstandene Spruchkammerakten haben wir aus mehreren Perspektiven herangezogen. Zum einen haben wir wo immer möglich versucht, die Spruchkammerakten der von uns untersuchten Abel- und Gimbel-Respondenten zu ermitteln und auszuwerten. Schließlich haben wir, um auch Aussagen über die Beitrittsgründe von NSDAP-Mitgliedern zu erhalten, die sich der Partei erst nach der Machtergreifung anschlossen, eine zufallsangenäherte Stichprobe von Spruchkammerakten aus den Beständen des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden gezogen und ausgewertet (siehe Kapitel 14). Auf das Hessische Hauptstaatshauptarchiv beschränkt haben wir uns, weil der Löwenanteil der Gimbel-Berichte sich auf Personen bezieht, die während der »Kampfzeit der Bewegung« auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen lebten. Spruchkammerakten von Gimbel-Respondenten, die ihren Wohnsitz im damals hessischen Regierungsbezirk Rheinhessen hatten, haben wir über die rheinland-pfälzischen Landes(haupt)archive in Koblenz und Speyer zu erschließen versucht. Gezogen wurden im Rahmen der Zufallsstichprobe die Akten von insgesamt 282 NSDAP-Mitgliedern.

Datensatz

Das oben genannte Quellenmaterial wurde von uns digitalisiert und zu einem Datensatz mit zunächst 1.397 Personen zusammengefügt. Dieser bildete die Grundlage für die Suche nach den Entnazifizierungsakten der Abel- und Gimbel-Autoren in verschiedenen einschlägigen Archiven. Durch die im Bundesarchiv digital zugänglichen NSDAP-Mitgliedskarten konnten die Personendaten von rund zwei Drittel der Fälle aufgenommen werden. Wesentlich komplizierter als bei den Gimbel-Berichten erwies sich die Archivlage im Falle der Abel-Berichte, weil sich das Preisausschreiben auf das gesamte damalige Reichsgebiet erstreckte. Da ein Großteil der Abel-Fälle, nämlich mehr als 200 der 581 Teilnehmer, als letzten Wohnort Berlin angegeben hatte, wurde im dortigen Landesarchiv ebenfalls nach Spruchkammerakten gesucht.11

Zusätzlich wurde von uns eine zufallsangenäherte Stichprobe von Entnazifizierungsakten aus dem Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden gezogen. Das Ziel war es, Aussagen über die Eintrittsmotive von NSDAP-Mitgliedern, die sich zwischen 1933 und 1945 der Partei anschlossen, und deren während ihres Entnazifizierungsprozesses gewählten Entlastungsstrategien machen zu können. Angestrebt wurde die Ziehung von 300 Akten. Gezogen werden sollten nur Akten von NSDAP-Mitgliedern, die von keiner Amnestie betroffen waren und die zusätzlich zum Meldebogen eine persönliche Stellungnahme des betreffenden Mitglieds enthielten. Ersatzweise wurden auch Stellungnahmen eines Anwalts akzeptiert.

Ergänzende Informationen haben wir aus dem sogenannten MBM-Datensatz gewonnen.12 Hierbei handelt es sich einerseits um eine sehr große repräsentative Stichprobe aus den beiden NSDAP-Mitgliederkarteien mit rund 50.000 Fällen, andererseits um damit verknüpfte Kontextmerkmale wie die Sozialstruktur, die konfessionelle und politische Färbung, die Arbeitslosenrate oder die Wirtschaftsstruktur der Wohngemeinden der in der Stichprobe erfassten NSDAP-Mitglieder. Wo immer möglich haben wir Informationen des MBM-Datensatzes mit den Personendaten des Motivdatensatzes verknüpft, was es uns beispielsweise erlaubte, Informationen über den lokalen Kontext, in dem die Abel- und Gimbel-Respondenten lebten, zu gewinnen. Weiter konnten wir auf diese Weise die Qualität der ja – mit Ausnahme der Entnazifizierungsstichprobe – nicht zufällig zustande gekommenen Auswahlvorgänge des Motivdatensatzes anhand von Informationen des für die NSDAP-Mitglieder repräsentativen MBM-Datensatzes bestimmen, indem wir beispielsweise die Alters- und Geschlechtsverteilung der Abel- und Gimbel-Fälle wie auch der auf die Gaue Hessen-Nassau und Kurhessen beschränkten Zufallsstichprobe von Entnazifizierungsakten mit der des MBM-Datensatzes verglichen. Näheres dazu findet sich in Kapitel 16.

Auswertungsstrategie

Um das jeder Textanalyse zwangsläufig innewohnende subjektive Element zu minimieren, hatten wir uns entschieden, die vorliegenden Textmaterialien mithilfe des Verfahrens der quantitativen Inhaltsanalyse auszuwerten (siehe Kapitel 14 und 15).13 Zwar liegt durch die voluminöse Studie Peter Merkls bereits eine quantitativ verfahrende Auswertung der Abel-Berichte vor (Merkl 1975). Und auch für seinen »Pretest« der Gimbel-Berichte wählte Christoph Schmidt ein analoges quantitatives Vorgehen (Schmidt 1981a). Doch verfolgt Schmidt im Kern eine andere Fragestellung als wir, während Merkl im Gegensatz zur vorliegenden Studie kein erkennbares, explizit theoriegeleitetes Auswertungsschema verwendet.14

Anders als Merkl stützen wir uns auf ein allgemeines Erklärungsmodell von Parteieintritten, das sogenannte General-Incentives-Modell (GIM). Allgemein ist dieses, weil es nicht für den Beitritt zu bestimmten Parteien, sondern zu formalen Organisationen generell entworfen wurde. Leicht umformuliert lässt es sich auch fruchtbringend für die Erklärung von Parteiaustritten verwenden (Meßner 2016a). Es wurde entwickelt, um dem sogenannten Beteiligungsparadox der Rational Choice-Theorie zu entgehen, demzufolge man nicht einer Partei beitreten muss, um von deren Politik zu profitieren – was nichts anderes bedeutet, als dass die Kosten eines Parteibeitritts fast immer den erwarteten Nutzen übersteigen und es daher nach den Kriterien der Rational Choice-Theorie als unvernünftig erscheint, Mitglied einer Partei zu werden.

Das General-Incentives-Modell (GIM)15 unterscheidet zwischen verschiedenen Formen von Anreizen, die einen Menschen bewegen können, sich einer Partei anzuschließen.16 Positive Anreize sind zum einen Stimuli, die mit persönlichen Vorteilen für den Beitretenden verbunden sind. Hierzu zählen die Gewinnung politischer Ämter oder das Erlangen persönlicher Befriedigung durch Parteiarbeit. Stärker auf intrinsische Motive des Parteibeitritts beziehen sich normative und altruistische Anreize, wobei erstere darauf gerichtet sind, den Erwartungen des sozialen Umfelds zu genügen. Letztere sind beispielsweise mit der Vorstellung verbunden, durch einen Parteibeitritt einer Art Bürgerpflicht zu genügen. Schließlich gehören zu dieser Gruppe von Anreizen auch ideologische Beweggründe, die einen Parteibeitritt wahrscheinlicher machen, wenn vom Einzelnen eine starke Übereinstimmung zwischen den eigenen ideologischen Präferenzen und dem Programm einer Partei festgestellt wird. Der letzte der positiven Anreize stellt stärker auf emotionale Aspekte ab, beispielsweise auf die Anziehungskraft eines charismatischen Parteipolitikers. All diese Aspekte spielen bei den von uns entdeckten Beweggründen, sich der NSDAP anzuschließen, eine gewichtige Rolle.

Zu den negativen Anreizen, die einen eher von einem Parteibeitritt abhalten oder zum Austritt aus einer Partei bewegen, zählen Opportunitätskosten wie Zeitverlust, aber auch ein Unbehagen an der Art und Weise der parteiinternen Mitarbeit, ferner monetäre Kosten und schließlich sozialer Druck durch die Familie, die Arbeitskollegen oder Freunde, die der Partei gegenüber kritisch eingestellt sind und dem Parteimitglied nahelegen, die entsprechende Partei wieder zu verlassen. Wie wir sehen werden, berichten viele der Gimbel- und Abel-Respondenten voller Stolz, allen widrigen Umständen zum Trotz dem Druck ihrer Umgebung, nicht in die Partei einzutreten oder sie wieder zu verlassen, standgehalten zu haben (siehe Kapitel 9).

Auf die NSDAP angewandt, sollten in unterschiedlichen Eintrittsperioden unterschiedliche Gründe für den Parteibeitritt ausschlaggebend gewesen sein. Denn vor 1933 und stärker noch vor 1930 erfolgte der Beitritt zur NSDAP typischer Weise in einer Hochkostensituation, nach der Berufung Hitlers zum Reichskanzler und insbesondere nach der Etablierung und Konsolidierung des Dritten Reichs dagegen in einer Niedrigkostensituation. Wir erwarten daher, dass vor 1933 eher ideologische und emotionale Anreize den Parteibeitritt begünstigt haben, nach der Machtergreifung dagegen eher ergebnisbezogene Anreize. Wir werden sehen, dass vor 1933 sich in der Tat vor allem ideologisch überzeugte Nationalsozialisten der Partei anschlossen, ab 1933 eher Opportunisten. Motive für den Beitritt vor 1933 waren beispielsweise die Enttäuschung über die politischen Eliten und deren Unfähigkeit, mit den verschiedenen Krisen der Zeit zurechtzukommen, ferner ideologische Motive wie extremer Nationalismus, Antisemitismus und Antimarxismus sowie die allgemeine Verzweiflung angesichts der Wirtschaftskrise und die Suche nach Halt und Ordnung in einer (subjektiv) aus den Fugen geratenen Welt. Nach der Machtergreifung und der Etablierung des Dritten Reichs traten stärker erfolgsbezogene Anreize in den Vordergrund. Nun ging es ganz konkret um die Angst, nicht als Referendar in den Staatsdienst übernommen zu werden, ging es um die Hoffnung, leichter einen Arbeitsplatz zu bekommen oder zusätzliche Kunden zu gewinnen. Zu dieser Kategorie von Anreizen zählten auch Motive wie der Schutz der Familie, die Hoffnung auf schnelle Beförderung oder auch nur auf die Fürsorge der Partei für ihre Mitglieder.

Das General-Incentives-Modell diente uns als Grundlage, um ein detailliertes Kategoriensystem zu entwickeln. Mit dessen Hilfe wurden die mehr als 10.000 Textseiten der Abel-, Gimbel- und Entnazifizierungsakten analysiert. Geprüft wurde für jedes einzelne Dokument, ob die im Kategoriensystem aufgeführten Aspekte überhaupt auftraten und wie oft das der Fall war. Solche Kategorien waren beispielsweise politische Einstellungen (national, völkisch, antisemitisch, revisionistisch, sozialistisch, antikommunistisch usw.), bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse (aktive und passive Kriegserfahrungen, Folgen der Niederlage oder der Revolution, wirtschaftliche Deprivation, Verlust des Arbeitsplatzes usw.), expressive Anreize wie Führerkult, Gemeinschaftsgefühl und Kameradschaft in der NSDAP sowie Euphorie der Massen und vieles andere mehr.17

Ausgewertet wurden ferner die in den Entnazifizierungsakten enthaltenen Meldebögen. Diese hatten je nach Besatzungszone und nach dem Zeitpunkt der Erhebung ein unterschiedliches Format, auch wenn die Inhalte relativ gleich waren. Sowohl in der amerikanischen als auch in der französischen Besatzungszone gab es zunächst sehr ausführliche Meldebögen, die Anfang 1946 durch kürzere, leichter zu verwaltende Formate ersetzt wurden. Auf den Meldebögen war neben dem Namen, dem Geburtsdatum, dem Beruf, Familienstand, Wohnort usw. auch verzeichnet, ob das einzelne Mitglied in weiteren NS-Organisationen gewesen war, ob man Träger eines Parteiabzeichens war, finanzielle oder berufliche Vorteile aus der Parteizugehörigkeit gezogen hatte und welche Vermögenswerte man besaß. Ergänzt wurden diese Informationen von uns durch Angaben aus der im Bundesarchiv in Berlin lagernden zentralen Mitgliederkartei der NSDAP, auf der ja auch der erwähnte MBM-Datensatz beruht. Auf diese Weise war es möglich, den Wahrheitsgehalt einzelner Angaben etwa über den Austritt und Wiedereintritt in die Partei, über Mitgliedschaften in der SA oder SS usw. zu überprüfen. Da für ein Großteil der Fälle auch der Wohnort ermittelt werden konnte, war es möglich, bestimmte Kontextinformationen wie den Konfessionsanteil in der Wohngemeinde, die politische Färbung oder auch die Arbeitslosenquote im jeweiligen Wohnort heranzuziehen (siehe Kapitel 16).

Als Ergebnis dieser sehr aufwändigen Auswertungsprozesse wurden drei Datensätze geschaffen. Der erste enthält Informationen auf der Ebene der Dokumente, was unter anderem deren Umfang, die Hauptmotive und die anhand unseres Kategoriensystems gewonnenen Codierungsresultate betrifft. Der zweite Datensatz enthält Angaben auf der Ebene der einzelnen in die Untersuchung einbezogenen Personen. Enthalten darin sind neben sozio-demographischen Merkmalen u. a. auch Informationen über die Einbindung in nationalsozialistische Organisationen. Der dritte Datensatz schließlich bezieht sich auf Informationen über die Entscheidungen der hessischen Spruchkammern gegen Mitglieder der Alten Garde.

Zum Aufbau des Bands

Der vorliegende Band gliedert sich in fünf Teile. In Teil I wird aus biographischer Perspektive ein Blick auf 13 verschiedene Wege zur NSDAP geworfen (Kapitel 1) und auf die theoretischen Grundlagen des weiteren Vorgehens eingegangen (Kapitel 2). In Teil II wird nach vorgelagerten Faktoren des Beitritts zur NSDAP gefragt, und zwar nach prägenden Sozialisationserfahrungen (Kapitel 3), nach der Rolle des Ersten Weltkriegs, das heißt, ob es sich bei den untersuchten NSDAP-Mitgliedern eher um ehemalige Frontsoldaten oder um Kriegskinder handelte (Kapitel 4), und nach Vorläuferorganisationen und Zwischenstationen auf dem Weg in die NSDAP (Kapitel 5). Teil III ist der Untersuchung möglicher Eintritts- und Austrittsmotive gewidmet. Wir fragen darin nach Beweggründen bzw. positiven Anreizen, sich der NSDAP anzuschließen (Kapitel 6), wobei wir zusätzlich nach unterschiedlichen Beitrittsmotiven von Männern und Frauen differenzieren (Kapitel 7). Ferner analysieren wir in einem gesonderten Beitrag, welche Rolle antisemitische Einstellungen für den Beitritt zur NSDAP gespielt haben (Kapitel 8); in dem Kapitel, das diesen Teil abschließt, behandeln wir schließlich die Frage danach, was ehemalige Parteimitglieder zum Austritt aus der NSDAP motiviert haben könnte (Kapitel 9).

In Teil IV werden in den Entnazifizierungsakten genannte, vor allem für die Zeit nach der sogenannten Machtergreifung geltende Beitrittsgründe analysiert (Kapitel 10), um dann nach unterschiedlichen Entlastungsstrategien in den Spruchkammerverfahren zu fragen (Kapitel 11); ein weiterer Beitrag befasst sich mit Widersprüchen zwischen den Lebens- und Kampfzeitberichten der Abel- und Gimbel-Autoren und den von ihnen in ihren Spruchkammerverfahren angegebenen Beitrittsgründen (Kapitel 12). Das diesen Teil abschließende Kapitel befasst sich mit den Entscheidungen der Spruchkammern in den Entnazifizierungsverfahren der von uns untersuchten Mitglieder der Alten Garde (Kapitel 13). Teil V schließlich ist der Darstellung der empirischen Grundlagen der vorliegenden Untersuchung gewidmet. Darin geht es um die Stichprobenziehung und die analysierten Daten (Kapitel 14), weiter um den Prozess der Codierung und das Auswertungsverfahren (Kapitel 15) und schließlich um den Vergleich der soziodemographischen Zusammensetzung der Abel-, Gimbel- und Entnazifiziertenstichprobe mit der entsprechenden Zusammensetzung aller NSDAP-Mitglieder (Kapitel 16). Ein abschließendes Resümee wirft einen Blick auf den Ertrag des Forschungsprojekts, diskutiert offene Fragen und versucht, einen Bezug zur Gegenwart herzustellen.

Danksagung

Mit dem vorliegenden Buch ist meine mittlerweile viele Jahre dauernde Beschäftigung mit den Wählern und Mitgliedern der NSDAP, deren sozialer Zusammensetzung und ihren Motiven, die Partei zu wählen oder ihr beizutreten, zunächst abgeschlossen. Ziel dieser sich – mit Unterbrechungen – über vier Jahrzehnte erstreckenden Beschäftigung mit der Massenbasis des Nationalsozialismus war es zum einen herauszuarbeiten, wer die NSDAP, sei es als Wähler oder als Mitglied, unterstützte und aus welchen sozialen Schichten, beruflichen Gruppen, demographischen Kategorien und regionalen Kontexten die NSDAP-Anhänger kamen. Zum anderen war es der Versuch zu verstehen, warum sich Millionen von Deutschen, am Ende waren es 17 Millionen Wähler und rund 10 Millionen Mitglieder, dieser rassistischen, gewalttätigen, bis zur Bestialität inhumanen Bewegung anschlossen.

Antworten auf diese Fragen wurden in verschiedenen aufeinanderfolgenden und teilweise aufeinander aufbauenden Forschungsprojekten gesucht. Am Entstehungsprozess der daraus resultierenden Publikationen arbeiteten sehr viele Personen mit. Sie alle hier aufzuzählen, würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen. Erwähnt seien daher nur die direkt am vorliegenden Motivprojekt Beteiligten. Das waren, in alphabetischer Reihenfolge, Marcel Bürkle, Philipp Garrison, Kristine Khachatryan, Lisa Klagges, Jonas Meßner, Evelyn Otto, Jan Rosensprung und Hannah Weber, ferner Jan Bucher, Sabrina Schmidt-Simmons, Antonia Blumenstock und als Schülerpraktikanten Mattias Leber und Conrad Nilles.

Solche Projekte kämen nicht zustande, wenn nicht Institutionen, Stiftungen und im vorliegenden Fall auch ein privater Mäzen für die notwendige finanzielle Förderung gesorgt hätten. Nach einer Anschubhilfe durch die Johannes Gutenberg-Universität Mainz wurden die ersten beiden Projektjahre von der Friede Springer-Stiftung finanziell gefördert. Nach Auslaufen der Fördermittel der Friede Springer-Stiftung half uns ein privater Mäzen, das Projekt weiterzuführen. Seine Spende ermöglichte es uns, ein weiteres Jahr der brennenden Frage nachzugehen, was so viele Deutsche bewogen hatte, den Nationalsozialismus zu unterstützen. Für seine großzügige Unterstützung möchte ich diesem ungenannt bleiben wollenden Mäzen an dieser Stelle ausdrücklich danken. Dank gebührt auch dem Kollegen Hans-Joachim Voth von der Universität Zürich, der uns durch einen Datenankauf half, eine Förderungslücke zu überbrücken. Dank geht schließlich auch an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die uns nicht nur die erwähnte Anschubfinanzierung gab, sondern auch das Projekt beheimatete und durch eine zusätzliche finanzielle Förderung einsprang, als Corona-bedingt die Projektarbeiten sich unerwarteterweise erheblich verzögerten. Dadurch wurde es uns ermöglicht, die Arbeit am Projekt zwar später als geplant, aber doch einigermaßen zufriedenstellend abzuschließen. Auch dieser Band erscheint wieder wie seine drei Vorgängerbände beim Campus Verlag in Frankfurt, und erneut darf ich seinem wissenschaftlichen Lektor Jürgen Hotz und dem externen Lektor Christoph Roolf herzlich für ihre unschätzbare Unterstützung danken.

Einleitend

1. »Mein Lebenslauf oder richtiger: Wie ich Nationalsozialist wurde«

Viele verschiedene Wege führten zu Hitler

Jürgen W. Falter

Alle Wege führen nach Rom, hieß es in der Antike. Das war schon damals nicht ganz richtig, aber in der Tat führten viele Wege in die Hauptstadt des Römischen Reichs. Und viele Wege sind es auch, die in der Weimarer Republik und im Dritten Reich zu Hitler und zur NSDAP führten. Ganz unterschiedliche Wege, die mit Prägungen durch das Elternhaus, den Freundes- und Kollegenkreis, die Schule und die Jugendgruppe, der man angehörte, zu tun hatten. Es gab begünstigende Umstände, zu denen das Schützengrabenerlebnis der Frontsoldaten, die deutsche Niederlage im Krieg, die Revolution von 1918, die Erlebnisse von Grenzlandbewohnern in den Abstimmungskämpfen um die nationale Zugehörigkeit ihrer Heimat, aber auch die Kriegserfahrungen und -entbehrungen von Kindern und Jugendlichen zählten. Die nachfolgend skizzierten Lebens- und Kampfzeitberichte wie auch die Schilderung der manchmal verschlungenen, manchmal sehr geradlinigen Pfade in die NSDAP, die sich in manchen Spruchkammerprotokollen finden lassen, sollen diese unterschiedlichen Wege zu Hitler und seiner Partei illustrieren. So verschiedenartig die Wege sind, lassen sich doch typische und atypische unterscheiden. Von beiden wollen wir Beispiele zitieren, von Männern und Frauen, Älteren und Jüngeren, zu einem frühen Zeitpunkt und erst relativ spät eingetretenen Parteigenossen, ehemaligen Frontsoldaten und Kriegskindern wie auch von Arbeitern, Angestellten, Beamten und Selbständigen.

Vom Baltikumskämpfer zum glühenden Anhänger Hitlers (1.000.643 A)18

Der Parteigenosse Hans Eder19 trug die sehr niedrige Mitgliedsnummer 8.646. Eingetreten in die NSDAP war er erstmals 1922 und dann, kurz nach Wiedergründung der Partei, noch einmal im Jahre 1925. Zum Zeitpunkt der Niederschrift seines mit viel Emphase verfassten Lebensberichts, den er 1934 für das Abel-Preisausschreiben einreichte, war er Bürgermeister der Kleinstadt Calbe an der Saale. Zwischen 1914 und 1918 war er Soldat gewesen, was ihn stark geprägt zu haben scheint. Denn seinen Lebensbericht für das Abel-Preisausschreiben beginnt er geradezu mit einem Hohelied auf den soldatischen Kameradschaftsgeist, die Opferbereitschaft und den unbedingten Willen, »etwas [zu] tun, ob nun für oder wider«. Er schreibt: »Uns war der Kampf Lebenszweck und -ziel geworden, Kampf schlechthin, und Opfer für Macht und Größe des Reiches.« National sei er durch »Erziehung und Überlieferung« gewesen, durch den Krieg entwurzelt und nun ohne erkennbaren Sinn. Widerstand gegen die roten Revolutionäre in Kiel habe man ihm, dem jungen Marineoffizier, und seinen kampfbereiten Kameraden von Seiten der Vorgesetzten verboten. Die ältere Generation habe den Umsturz über sich ergehen lassen und auf bessere Zeiten gehofft. Über deren Versagen müsse man Bescheid wissen, »um begreifen zu können, wie sich zwei Generationen in wenigen Tagen entfremdeten. In diesen Tagen wurde unser gläubiges Vertrauen zu den alten Führern, zu der alten Generation vernichtet. Totgeschlagen. Jetzt mussten wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.«

Er begab sich ins baltische Kurland, um kämpfen zu dürfen, um »uralten deutschen Boden wieder deutsch [zu] machen«. Obwohl siegreich gegen die Bolschewisten, seien sie vom republikanischen Berlin im Stich gelassen worden. Da habe er erkannt, dass dies nicht mehr sein Deutschland sei. Von Wolfgang Kapp, dem Führer des gleichnamigen Putsches gegen die Reichsregierung, sei er ebenfalls enttäuscht gewesen. Ein Intermezzo in Pommern habe ihm dann die Augen geöffnet, dass die adeligen Deutschnationalen zwar ebenso wie er fanatische Gegner des Bolschewismus, aber doch ganz anders gewesen seien: »Sie sprachen Deutschland, und sie meinten Geld und Vorrecht. Sie sucht in unseren Männern nicht künftige freie Bauern, sondern leibeigene Knechte.« In Pommern stieß er zur Deutschsozialen Partei, einer völkisch orientierten Gruppierung, bei der er »Sozialismus, Aufgabe des Dünkels, Pflege des Gemeinschaftsgeistes« zu finden hoffte. Die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus sollte »das deutsche Volk zur Freiheit führen«. Um seine Familie zu ernähren, da »zu der tapferen kleinen Frau, die ich mir als Beutestück aus dem deutschen Kurland mitgebracht hatte, der Stammhalter getreten war«, musste er ins »bürgerliche Leben« zurück, wurde Geschäftsführer, Prokurist, Verkaufsleiter in München. Dort traf er Adolf Hitler, dem er sich »im unerschütterlichen Glauben an die Richtigkeit der Synthese von Nationalismus und Sozialismus, mitgerissen von der gewaltigen Persönlichkeit dieses wahren Führers«, anschloss. 1922 wurde er Mitglied der NSDAP und hielt ihr auch während der Zeit des Verbots die Treue.

Nun trat er nach eigener Aussage einen neuen Leidensweg an: »Die gesellschaftliche Ächtung begann, der wirtschaftliche Boykott.« Seine Frau, die selbst 1925 Parteigenossin wurde, habe ihm dabei stets zur Seite gestanden. Bis zur Machtergreifung diente er nach verschiedenen Aushilfstätigkeiten der nationalsozialistischen Sache als Schriftleiter von Parteiblättern. Am 30. Januar 1933, dem Tag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, habe er nicht getobt vor Begeisterung. »Ganz still habe ich zu Hause mit meiner Frau gesessen, Hand in Hand. Und Tränen haben ihr und mir, uns Alten Kämpfern Hitlers, in den Augen gestanden.«

Im Falle des Parteigenossen Eder scheinen Kriegserfahrungen, vor allem in Form des häufig genannten Schützengrabensozialismus, die als Schmach empfundene Niederlage und die Revolution, eine Art naturwüchsig vermittelter Nationalismus und latent vorhandener, nicht im Vordergrund seiner lebensgeschichtlichen Ausführungen stehender Antisemitismus den Wurzelgrund gebildet zu haben, aus dem seine nationalsozialistische Überzeugung und seine glühende Hitlerverehrung hervorwuchsen.

Ein ziemlich untypischer Fall (1.000.591 A)

Walter von Feder wurde 1899 in Moskau als Sohn eines deutschen Lehrers geboren und lebte in dieser Stadt bis ins Jahr 1918, in der er das Gymnasium einer deutschen Kirchengemeinde besuchte. Seine Mutter war eine »Halbdeutsche, ihre Mutter […] eine Deutsche, der Vater […] ein russischer Offizier«. Von Feder wuchs praktisch zweisprachig auf, reiste viel mit seinen Eltern. Zu seinen ersten Erinnerungen gehört die Revolution von 1905 in Moskau mit ihren Toten, dem »Blut auf dem Pflaster«, wie er schreibt, und der »Verdunkelung«. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, er war gerade 15 Jahre alt, erlebte er erstmals »die Realität des Nationalitätenhasses«. Zum ersten Mal habe er das Wort »Deutscher« als Schimpfwort gehört. Daran, dass er ein Deutscher sei, habe er früher nie gedacht. Nun aber begann er, »allmählich den Unterschied zu merken zwischen meinen russischen Schulkameraden und mir«. Am Gymnasium wurde die deutsche Sprache verboten. Auch seien die Zeitungen tagtäglich voll gewesen von Berichten über Gräueltaten der deutschen Soldaten, während seine russischen Verwandten »fast übereinstimmend das Gegenteil berichteten«.

1915 erlebte er in Moskau ein Deutschen-Pogrom mit der Ermordung von sechs oder sieben Deutschen, schwarzen Listen und Plünderungen deutscher und nicht-deutscher Läden und Privatwohnungen. In dieser Zeit, schreibt er, habe er erstmals viele Juden auf einmal gesehen. Juden hätten bis dahin in Moskau keine Wohnerlaubnis erhalten. Nur Juden mit Hochschulbildung hätten damals in Moskau ihren Wohnsitz gehabt. Von Juden selbst habe er bis dahin nichts gehört, »umsomehr aber jüdische Witze«. Das massenhafte Auftreten jüdischer Flüchtlinge, die vornehmlich aus Polen stammten, habe ihm bewusst gemacht, »wie groß der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden ist. Schon rein äußerlich, in Gebärden, Kleidung und dem Auftreten auf der Straße und im Hause. Alles das war mir fremd und unangenehm.«

1917 erlebte er die nächste russische, von Sozialdemokraten geführte Revolution, die sich den Kampf gegen »Reaktion, Ausbeutung, Kriege und soziales Elend« auf die Fahnen geschrieben hatte. Ihn habe das mit seinen 17 Jahren »mitgerissen«. Wie auch in Deutschland würden nun »die paar restlichen Könige […] angesichts des Glücks und Friedens der anderen Völker beschämt ihre Throne zugunsten der gewählten Volksvertreter verlassen. Diese Vertreter aber müssten und würden die fähigsten, die Jungen, die Idealisten, also die jeweils Besten!« Schnell allerdings sei die Ernüchterung gekommen. Die bürgerlich-sozialdemokratische Regierung habe sich als unfähig erwiesen, die aufkommende Gefahr des Kommunismus in die Schranken zu weisen. Gegenüber diesen Kommunisten sei er »von vornherein von einem aufrichtigen Hass erfüllt« gewesen. Zwar sei er für die Änderung der sozialen Lage der Handarbeiter, für Landreform und gegen kapitalistische Ausbeutung gewesen, aber »an den Erfolg und Richtigkeit der marxschen Theorie« habe er nicht geglaubt; »ich stutzte bei der Feststellung der Anzahl von Juden innerhalb der Spitze der beiden sozialistischen Parteien. Sollten etwa die Juden die Gerechtigkeit der arbeitenden Welt schenken? An sowas konnte ich nicht glauben. Also wurde ich zum Feinde der marxschen Theorie und Praxis.«

In der Oktoberrevolution siegten nach blutigen Auseinandersetzungen die Bolschewiki. Von Feder glaubte sich eines Wortes von Lenin zu entsinnen, das sinngemäß gelautet habe: »Die Zarenregierungen haben Gefängnisse mit vier Wänden gebaut, wir werden aber nur eine brauchen« – an die die Konterrevolutionäre gestellt würden. Von Feder zitiert noch ein weiteres Lenin-Wort (»Die Freiheit ist ein bürgerliches Vorurteil«) und fragt danach: »Ist das nicht ein herrliches Motto für den Gesamtkommunismus?«

Ein Jahr verblieb die Familie noch in Moskau. Der Vater war 1916 verstorben. Als die Nahrungssorgen wie die Zahl der Hinrichtungen immer weiter zunahmen, verließ die Familie das Gebiet der jungen Sowjetunion und emigrierte nach Riga, das damals noch von den Deutschen besetzt war. Das Erlebnis, auf deutsche Soldaten und Beamte zu treffen, die deutsche Sprache zu hören und deutsche Uniformen zu sehen, beeindruckte den 18-Jährigen stark. Not an Lebensmitteln habe es in Riga nicht gegeben, im Gegensatz zu Russland wie auch zum Deutschen Reich, das schwer unter der Blockade der Alliierten litt. Die Nachricht von der Novemberrevolution in Deutschland sei für ihn »ein furchtbarer Schlag« gewesen. Die deutschen Besatzungstruppen zogen ab, mit ihnen der »Großteil der deutschblütigen Bevölkerung Rigas«. Kommunistische lettische Verbände füllten das Vakuum aus. Von Feder blieb mit seiner Familie noch fünf Monate in Riga, wo von den Kommunisten prompt die privaten Läden geschlossen wurden. »Das erste, was wir Stadtbewohner merkten, war das sofortige Verschwinden von jeglichen Lebensmitteln (darin sind die Kommunisten Meister!).« Täglich habe man mit seiner Verhaftung rechnen müssen, zunächst Hunderte, später Tausende seien erschossen worden. Er sei als Geisel eines Tages ins Gefängnis geworfen worden, was ihn erkennen ließ: »statt Sozialismus – eine umgekehrte, despotische Klassenherrschaft in Willkür und Blut watend«. In dieser Zeit sei er »innerlich vom Kommunismus als Idee und Praxis für ewige Zeiten abgerückt«.

Nach einem knappen halben Jahr wurde Riga von der Baltischen Landwehr zurückerobert. Dieser Tag sei als einer der schönsten seines Lebens in seiner Erinnerung haften geblieben. Sofort habe er sich als Freiwilliger gemeldet. Die lettische Regierung habe aber bald den Abzug der Deutschen gefordert, »die heimatliche republikanische Regierung beugte sich diesem Verlangen … Es war furchtbar, erniedrigend, beschämend, von allen Seiten der Undank, sogar Hass[,] verfolgt … wie gehetztes Wild, von allen verlassen zogen wir uns zurück. […]. Aus diesem Gefühl der Ohnmacht und Schwäche heraus, das ich persönlich sehr stark empfand, wurde ich damals Nationalist. Bewusst und ohne Bedenken.«

Er selbst schloss sich der russischen weißen Nord-West-Armee an, die im Kampf gegen die Kommunisten stand, den sie schließlich verlor. Von Feder wurde verwundet und gelangte dann über mehrere Stationen nach Deutschland. 1925 war er bei der Reichspräsidentenwahl Anhänger Paul von Hindenburgs, geriet in Auseinandersetzungen mit Kommunisten, bei denen er »den mir schon bekannten sinnlosen, furchtbaren Hass in den funkelnden Augen dieses jungen Burschen erkannte. Mir wurde bewusst, dass die Gefahr, vor der ich schon zweimal floh, wieder da ist, mitten in dem schönen, ja lieben Berlin. Ich musste aktiv werden!« Er kam nun in Kontakt mit Nationalsozialisten. »Gierig nahm ich die neue Lehre in mich auf, noch mehr aber fesselten mich die Berichte über München und die Straßen- und Saalschlachten mit den Roten. Nach einigen Monaten, also im Herbst 1925, war ich genauso von der geheimnisvollen Macht der Persönlichkeit Hitlers eingefangen, wie meine neuen Freunde es bereits waren.« Wie verhext seien sie gewesen: »Über seine Worte, Thesen oder Befehle gab es keinen Zweifel und Diskussion. Ohne es zu merken, wurde ich von der kleinen Organisation vollkommen erfasst.«

In bezeichnenden Sätzen, die hier zitiert werden sollen, legt von Feder dar, wie er binnen kurzer Zeit ein gläubiger Nationalsozialist geworden war: »Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Synthese zwischen Nationalismus und Sozialismus waren für mich bereits eine Tatsache geworden, jetzt hatte ich Erklärungen für alles, was politisch auf dieser Welt geschieht, oder schon geschehen war. Ich hatte das Gefühl, dass ich sehend geworden war, alle anderen Menschen dagegen waren für mich eben blind, unwissend oder – verbrecherisch. Und das war keine Überheblichkeit, sondern eine absolut ehrliche und tiefe Überzeugung, ja, Erkenntnis. […] Eine feste Zuversicht, dass wir doch siegen würden und Hitler der Chef des Staates wird, hat mich nie verlassen. Beim Anblick von Massendemonstrationen roter Parteien empfand ich zum Teil Mitleid mit den Dummen da, die für ihren Untergang marschierten, andernteils aber Wut, ähnliche Empfindungen hatte ich in der ›bürgerlichen‹ Gesellschaft, und auch sonst überall […]. Mit einem Wort, ich war der neuen Idee verfallen.« 1925 im Oktober trat er der NSDAP bei.

Als Folge seiner von ihm immer und überall mit Leidenschaft vertretenen Überzeugung geriet er in Konflikt mit Familienangehörigen, mit alten Bekannten aus Moskauer und Rigaer Zeiten und verlor zweimal seine Stellung. »Menschen, die den Kommunismus durchgemacht hatten, konnte ich ihre ablehnende Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber innerlich nicht verzeihen.« Als er zum ersten Mal eine Rede Hitlers hörte, schreibt er in seinem Biogramm, »konnte ich nicht mehr viel sehen, Tränen standen in den Augen, die Kehle war vom Schluchzen zu geschnürt, ein befreiendes Schreien der reinsten Begeisterung löste die furchtbare Spannung, der Saal zitterte vom Beifall. […] Betäubt und mit Gefühl von riesiger Freude stürmte ich auf die Straße. Endlich war ich nicht mehr alleine … Um mich herum waren Menschen, die genauso dachten wie ich, die sich gegenseitig freudig und bewegt ansahen, als wären wir alle eine Familie oder ein Bund, oder eine neue, feste und glückliche Gemeinschaft, die gegenseitig in den strahlenden Augen ein Treuegelöbnis, ja einen heiligen Schwur ablasen. Und dieses Erlebnis wiederholte sich bei mir im Laufe der kommenden Jahre viele Male, und jedes Mal wurde dieses Gefühl stärker und tiefer.«

Dieses Gefühl geradezu religiöser Inbrunst findet sich in nicht wenigen Schilderungen der frühen Parteigenossen, gleichgültig ob Männer oder Frauen. Außergewöhnlich ist von Feders äußerer Weg zu Hitler und zum Nationalsozialismus aus Moskauer Kindheits- und Jugendtagen bis zur ersten Begegnung mit den geschlossenen Marschkolonnen der SA in Berlin. Außergewöhnlich ist auch sein aus persönlichem Erleben gewachsener tiefer Antikommunismus. Der Führerkult nahm selbst bei einem akademisch ausgebildeten Zeitgenossen wie Walter von Feder, der Architektur studiert hatte, irrationalen Charakter an, blinde Gefolgschaft, kritiklose Begeisterung erfassten ihn wie Hunderttausende, ja Millionen andere. Darüber hinaus scheinen es eine Art völkischer Sozialismus und mit Antisemitismus verbundener Nationalismus gewesen zu sein, die ihn zur NSDAP führten. Zum Abschluss seines 24 handschriftliche Seiten umfassenden Lebensberichts schreibt er gewissermaßen als Quintessenz seiner Lehr- und Wanderjahre: »Im Anfang saugte ich alles auf, was Hitler eben lehrte und was seine nächsten Mitarbeiter schrieben. Allmählich wuchs dieses Aufgenommene, zum größten Teil in diesen Jahren mehrfach bewiesen, zu festeren Formen, u. in den Jahren 1930/31/32 wurde alles bereits zu Selbstverständlichkeiten, ja zu Axiomen, über die zu streiten eigentlich lächerlich wäre. Ich stand auf einem weltanschaulichen Gleise, ich fuhr nun selbstständig und unbeirrt weiter.«

Ein schon als Jugendlicher eingetretener Parteigenosse (1.000.833 A)

Hans Adler, Geburtsjahrgang 1910, war der Sohn eines Ladenbesitzers aus Bad Ems. In die Partei trat er bereits als 16-Jähriger im Jahre 1926 ein. Sein Vater sei nach dem Krieg »wegen der vielen Ungerechtigkeiten, welche während des Krieges vorkamen, eine Zeitlang sozial-demokratisch eingestellt gewesen; hatte jedoch wegen der pazifistischen Erfüllungspolitik und der bald einsetzenden Korruption die Sozialdemokratie schnell wieder verlassen und schwenkte wieder auf die politische Rechte«. Da die NSDAP damals in der Provinz noch völlig unbekannt gewesen sei, habe der Vater stets treu die DNVP gewählt. Vom Milieu geprägt, war Hans Adler von Kind an nach eigenem Bekunden national eingestellt, »jedoch fehlte dieser Einstellung die richtige politische Sinngebung«. Als 15-Jähriger besuchte er in Koblenz die Handelsschule, wo ihm auf dem täglichen Schulweg mehrere Plakate auffielen, auf denen zu einer Versammlung mit dem Mitglied des Reichstags Gottfried Feder eingeladen wurde. Als er feststellte, dass die Plakate gleich wieder abgerissen wurden, fragte er seine älteren Kollegen, was es denn mit der Hitlerbewegung auf sich habe, doch seien die Antworten »so verworren und widersprechend« gewesen, dass er sich entschloss, in diese Versammlung zu gehen. Dabei geriet er gleich in eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialisten und Marxisten, wie er schreibt. »Ehe ich umgesehen hatte, hatte man mir das schwarz-weiß-rote Bändchen, welches ich im Knopfloch trug, herausgerissen, und war ohne dass ich es wollte in die Schlägerei verwickelt.« Es gab mehrere Verletzte auf beiden Seiten. Dass die angegriffenen Nationalsozialisten so behandelt wurden, »als ob sie schuldig seien«, empörte ihn. »Aufgrund dieser Vorkommnisse wurde ich instinktiv zum Nationalsozialisten; und die temperamentvollen Reden des Pg. Feder und des heutigen Gauleiters Grohe20 konnten nur noch zur verstandesmäßigen Erfassung der Ziele [der] N.S.D.A.P. beitragen.« Er wurde dann als 16-Jähriger in die Partei aufgenommen.

Zuerst habe man sich über das kleine Häuflein der Nationalsozialisten lustig gemacht, mit fortschreitender Ausbreitung allerdings sei »der Gegner langsam zum Terror über [gegangen]. Versammlungen wurden gesprengt, einzel heimkehrende Pg. überfallen und blutig geschlagen.« Das Geschäft seiner Eltern wurde so stark boykottiert, dass sie es schließlich aufgeben mussten, »da sämtliche Emser Hotelbesitzer unter freimaurerischen und regierungstreuen [sic] Einfluss standen«. Wie Verbrecher seien er und seine Kameraden des Nachts durch die Straßen geschlichen, um Plakate zu kleben, Flugblätter herzustellen und zu verteilen. »Nicht Hoffnung später einmal einen Posten zu erhaschen, oder von der Nachwelt Dank zu ernten, hat uns zusammengehalten, sondern nur der blinde Gehorsam zum Führer, selbst wenn wir ihn im 1. Augenblick nicht verstanden hätten; und nur das vorbildliche Auftreten des Führers, uns immer wieder zum neuen Kampfe angespornt.«

Bei diesem sehr jungen Parteigenossen der ersten Stunde nach Wiederbegründung der NSDAP fehlt jeder Bezug auf Antisemitismus, Volksgemeinschaft und die Vorstellung von einem nationalen Sozialismus. Lediglich der sozusagen durch die Muttermilch aufgesogene Nationalismus und der blinde Führerglaube sowie die instinktive Solidarität mit den politischen Underdogs, welche die Nationalsozialisten vor ihrer nach 1928 einsetzenden organisatorischen Konsolidierung waren, werden von Adler als Beweggründe für seinen Parteieintritt genannt. Eigentlich hätte er nach den Parteistatuten gar nicht in die Partei aufgenommen werden dürfen, da er 1926 das Parteieintrittsalter noch nicht erreicht hatte.

Ein in die USA ausgewanderter Parteigenosse (1.000.214 A/G)

Der 1886 in Frankfurt am Main geborene Bauingenieur oder Zimmerermeister21 Konrad Schuster ist insofern ein besonders interessanter Fall, als von ihm sowohl ein für das Abel-Preisausschreiben verfasster Lebenslauf als auch ein im Rahmen der Gimbel-Aktion entstandener, nicht damit identischer Kampfzeitbericht vorliegen; ferner existiert von ihm ein Meldebogen mit ausführlichem Lebenslauf aus dem Jahr 1946, auf dem er auch Angaben über die Gründe seines NSDAP-Beitritts macht. Schuster war Träger des Goldenen Parteiabzeichens. Zwischen 1934 und 1938 war er Zellenleiter in seiner örtlichen Parteiorganisation. Nach einer Zimmererlehre leistete er seinen dreijährigen Militärdienst auf Torpedobooten, wurde dann Teilhaber im väterlichen Baugeschäft, um im August 1914 erneut zur Kriegsmarine eingezogen zu werden, wo er in der Seefliegerabteilung Dienst tat. Nach dem Krieg gründete er ein eigenes Geschäft als Zimmerer und Schreiner. Der NSDAP hatte er sich im Jahre 1927 angeschlossen, verließ sie dann anscheinend während eines Aufenthalts in den USA, um sich ihr nach seiner Rückkehr nach Deutschland im September oder Dezember 1933 wieder anzuschließen.22

Bis ins Jahr 1913 war Schuster zunächst Gewerkschafts- und SPD-Mitglied, verließ aber 1913 beide Organisationen, weil »hier der Arbeiter gegen den Unternehmer, Arbeiter gegen Bauern und Bauern gegen Arbeiter gehetzt wurden«. Bis 1926 gehörte er dann keiner Partei mehr an. 1922 habe er erstmals von Hitler und der NSDAP gehört, berichtet er in seinem Abel-Biogramm, und sich von da an für sie und die mannigfachen »Völkischen Blocks und Bünde […], die dazu alle nach ihrer Ansicht nur das Beste für Deutschland wollten«, interessiert. Es sei für ihn schwer gewesen, den richtigen Weg zu finden, weshalb er erst Ende 1926 in die NSDAP eingetreten sei. Obwohl es für ihn als selbständiger Geschäftsmann besonders schwer gewesen sei, sich offen zur NSDAP zu bekennen, habe er dem »seinerzeitigen herrschenden skrupellosen System offen den Kampf an[gesagt]«. Der Partei sei er beigetreten »mit dem festen Glauben, dass nur diese Idee und ihr Führer Adolf Hitler allein imstande sei, unser Vaterland wieder besseren Zeiten entgegenzuführen«. Seine wöchentlichen Schulungen habe er vom Frankfurter Ortsgruppenleiter Gemeinder und vom späteren Gauleiter Sprenger erhalten, die ihn mit dem nötigen weltanschaulichen Rüstzeug ausstatteten, um neue Parteigenossen zu werben. Als erstem sei ihm das bei seinem Bruder gelungen.

Wie andere Nationalsozialisten sei er »vollkommen durch das System zum Ruin gebracht« und zum Wohlfahrtsempfänger gemacht worden, schreibt er in seinem Abel-Biogramm. Insbesondere »der berüchtigte sozialdemokratische Stadtrat Mey« habe dafür gesorgt, dass er keine städtischen Aufträge mehr erhielt. Ein langwieriger Prozess mit der Stadt führte schließlich zur Erschöpfung seiner Barmittel, sodass er auf Armenrecht weiterklagen musste. Der ihm zugeteilte »jüdische Rechtsanwalt hatte natürlich für meine gerechte Sache kein Verständnis«. Der Rechtsstreit endete mit der Zwangsversteigerung seines Anwesens und seinem völligen finanziellen Ruin. Er sei nun fast mittellos gewesen »und wäre in absehbarer Zeit der öffentlichen Fürsorge zur Last gefallen«. Weil er das nicht wollte und eine Wiedererrichtung seines Geschäfts unmöglich erschien, habe er den Entschluss gefasst, nach Amerika auszuwandern. Durch Vermittlung von Verwandten wurde ihm dort eine Stelle angeboten, die er 1929 annahm. In den USA betätigte er sich sogleich wieder als Aktivist der nationalsozialistischen Sache, gründete in seinem County in New Jersey eine Ortsgruppe der NS-Bewegung, als deren Leiter er bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland im Juli 1933 fungierte. Das sei allerdings äußerst schwierig gewesen, da alle deutschsprachigen wie auch die meisten englischsprachigen Zeitungen der USA »zum größten Teil unter jüdischem Einfluss« standen. Insbesondere in der deutschsprachigen Staatszeitung und Herold seien »die schauderhaftesten Märchen über den Nationalsozialismus in Deutschland […] verbreitet« worden.

Um größeren Einfluss unter den ortsansässigen Deutschen zu gewinnen, bei denen er es sehr schwer hatte, seine nationalsozialistischen Anschauungen zu verbreiten, gründete er eine Musikkapelle, die bald öffentlich auftrat. Dadurch gelang es ihm, Kontakte zu knüpfen und allmählich weitere Gesinnungsgenossen zu werben. Ab März 1932 wurden die reichsdeutschen Mitglieder der bisherigen, Teutonia genannten Organisation offiziell als Mitglieder der NSDAP geführt. Die Deutsch-Amerikaner wurden in der Gesellschaft »Freunde der Hitlerbewegung« zusammengefasst. Beide Gruppen wurden in Hudson County von Schuster geführt. Ziel war es, »alle Deutschen unter der Fahne Adolf Hitlers zu sammeln«. Auch gründete Schuster »eine S.A. nach deutschem Muster […]. Diese wurde als ›Wanderabteilung‹ getarnt.« Es sei in den USA selbstverständlich gewesen, »dass das Deutschtum von Juden geführt wurde. Diese Führung wollte man sich nicht so einfach nehmen lassen.« Man habe sich bemüht, eine Handhabe zu finden, die nationalsozialistische Bewegung in den Vereinigten Staaten zu verbieten. Viele seiner Gesinnungsgenossen wie auch er selbst hätten ihre Stellung verloren und seien als Rassenhetzer verschrien worden, obwohl sie doch nichts anderes im Sinne gehabt hätten, als die in den USA lebenden Deutschen über ihr Vaterland und den Nationalsozialismus zu informieren. Nach seiner Rückkehr 1933 gehörte er der Ortsgruppe Frankfurt am Main Riederwald an, wo er es laut seinem Meldebogen bis zum Zellenleiter, also ins nächsthöhere lokale NSDAP-Amt über dem Blockleiter, brachte.

Interessant ist die Diskrepanz zwischen den Angaben in seinem Meldebogen und seinen beiden Berichten für das Abel-Preisausschreiben und die Gimbel-Aktion, in denen sich ebenfalls unterschiedliche Angaben finden lassen. So schreibt er in seinem Meldebogen: »Ich war seinerzeit arbeitslos und die Partei versprach Arbeit und Brot zu verschaffen deswegen trat ich im Glauben an eine Besserung der Partei ein [sic].« Dagegen führt er in seinem Abel-Bericht aus, erst durch seine aktive Betätigung in der NSDAP sei er aufgrund von Boykottmaßnahmen von Parteigegnern in wirtschaftliche Not geraten. Auffallend ist auch die Differenz zwischen seinem Abel- und Gimbel-Bericht in Bezug auf seine erste Begegnung mit dem Nationalsozialismus. In seinem Abel-Lebenslauf datiert er diese auf das Jahr 1922, im Kampfzeitbericht ist es das Jahr 1925, wo er »anlässlich eines Besuchs in Bayern auf die nationalsozialistische Bewegung aufmerksam« wurde. Es ist gut möglich, dass er damit seinen – wie er es selbst empfand – relativ späten Eintritt in die NSDAP bemänteln wollte. Unverkennbar ist in seinen Berichten die radikale Ablehnung des politischen Systems der Weimarer Republik, vermutlich eines der Hauptmotive für seinen Beitritt zur NSDAP. Schließlich fällt auf, wie viel stärker er in seinem Gimbel-Kampfzeitbericht, den er am 31. Dezember 1936 abschloss, den Einfluss der deutsch-amerikanischen Juden und der deutschsprachigen amerikanischen »Judenpresse« hervorhebt als in seinem 1934 abgefassten Bericht für das Abel-Preisausschreiben. Ohne Zweifel macht sich hier auch der unterschiedliche Adressat, für den die beiden Berichte geschrieben wurden, bemerkbar. In dem einen Fall sind es die Columbia University und die amerikanische Öffentlichkeit, im anderen Fall Parteidienststellen. Aber auch in seinem Abel-Bericht tauchen Begriffe wie »jüdische Hetze«, »jüdischer Einfluss« oder »jüdischer Boykott gegen alles Deutsche« auf, was ihn unzweifelhaft als überzeugten Antisemiten kennzeichnet.

Die plötzliche Bekehrung einer Beamtenwitwe (1.000.893 A)

Susanne Karst, Jahrgang 1882, entstammte wie ihr Ehemann einer Beamtenfamilie. Ihr Schwiegervater war Landrat in Erbach im Odenwald und später Provinzialdirektor gewesen, ihr 1928 verstorbener Mann Adolf Karst Jurist und in dieser Eigenschaft zunächst anscheinend Richter an einem Amtsgericht, später dann am Landgericht.23 Susanne Karst scheint von Haus aus national eingestellt gewesen zu sein, wenn sie über den Kriegsausbruch 1914 schreibt, es seien trotz aller Mühsal und Furchtbarkeit des Krieges »heilige Stunden und eine unsägliche Begeisterung« gewesen. »Ich persönlich, wäre am liebsten mit ausgezogen.«

Nach dem Krieg sei der Mann an die Bergstraße versetzt worden, »Vertretung im Landgericht«. Ihr Mann habe es schwer gehabt, sich in der neuen Umgebung durchzusetzen. Mancher Richter, »der früher stolz seine Uniform trug«, sei umgeschwenkt – gemeint ist wohl der Übergang von der Monarchie zur Demokratie. Man müsse mit der Zeit gehen. Und vor einem Jahr – sie schrieb ihren Bericht im Jahre 1934 nieder – habe »mancher Richter […] wieder sein Herz neu entdeckt«. An der Bergstraße hätten ihre Kinder viel zu leiden gehabt, da die Gesinnung der Familie bekannt gewesen sei.

Ihr Sohn Erich hätte sich gern im Jahre 1927 der SA angeschlossen, was aber ihr Mann nicht erlauben wollte, »denn er wäre einfach abgesetzt worden«. Eine derartige Form der Sippenhaftung erscheint im sozialdemokratisch regierten Volksstaat Hessen allerdings mehr als unwahrscheinlich. Hier schließt Frau Karst wohl von der Praxis des Dritten Reichs auf die verhasste Weimarer Republik. Ihr Mann verstarb Weihnachten 1928 im Alter von 56 Jahren plötzlich aufgrund einer Grippeerkrankung, was dazu führte, dass sie innerhalb kürzester Zeit entweder die gemeinsame Wohnung zu räumen oder eine vergleichsweise hohe Miete zu zahlen gehabt hätte. Offenbar handelte es sich um eine Dienstwohnung, und anscheinend konnte die Mutter von vier Kindern mit ihrer Witwenpension die um 45 Reichsmark erhöhte monatliche Miete nicht aufbringen. Sie zog deshalb »in ein total verwahrlostes Haus«.

Ihre Bekehrung zum Nationalsozialismus erfolgte im Zusammenhang mit dem Tod ihres Sohnes Erich, der am NSDAP-Reichsparteitag 1929 in Nürnberg teilnahm. Er wurde erstochen, der Täter wurde nie gefunden. »In meinem großen Schmerz kam Adolf Hitler zu mir, sah mir ins Auge, drückte meine Hände. Ich wusste nun, dein Bub fiel nicht umsonst. Dieser Mann ist die Leben wert, die für ihn und seine Bewegung fallen. Seit dieser Stunde, 6. August 1929 zehn Uhr bin ich Nationalsozialistin.«24

1932 trifft sie ein weiterer Schicksalsschlag. Auf den ältesten Sohn Werner wird nach einer Versammlung der SA aus dem Hinterhalt geschossen; er erlitt einen Lungenschuss, den er überlebte. Und wieder scheint Frau Karst durch Hitler, der seinen Adjutanten Brückner zu ihr schickt, den Hohenzollernprinzen August Wilhelm (Auwi) und die Partei Unterstützung erfahren zu haben: »Die Selbstlosigkeit und gegenseitige Hilfe der Partei, versteht nur der, der sie erlebt. Fällt ein Parteigenosse, stehen Hunderte, Tausende auf. Ich habe es in unserem Ort bei dem Tod meines Sohnes Erich und bei Werners Verwundung erlebt.« Ihr Biogramm schließt Susanne Karst mit den Worten: »Wir bleiben unserem Führer treu – der Führer bleibt uns treu. Heil Hitler«.

Völlig glaubhaft ist diese plötzliche Bekehrung zum Nationalsozialismus nach Art eines Saulus-Paulus-Erlebnisses nicht. Zumindest war der Boden schon bereitet. Demokraten jedenfalls waren sie in der Familie Karst nicht. Der Weimarer Republik stand man ablehnend gegenüber, die Richter, die zuvor dem Hohenzollernstaat gedient hatten und nun zur Zusammenarbeit mit den demokratischen Kräften bereit waren, verachtete man als Wendehälse, das »rote Ministerium« strich ihr »aus nichtigen Gründen« die Kinderzuschläge, und wiederum waren es »die Roten«, die ihrem Sohn auflauerten und ihn um ein Haar erschossen. Antisemitismus spielt in ihrem Lebensbericht keine prominente Rolle, dafür umso stärker der schon fast religiös anmutende Führerkult.

Wie ein russischer Graf zu Hitler fand (1.000.558 A)

Graf Leander von Rybnik war bis zur Russischen Revolution 1917 Stabskapitän in der Leibgarde der russischen Kaiserinmutter Maria Feodorowna. Er wurde als Deutschrusse im Jahre 1892 in Russland geboren. Sein Vater war russischer General der Kavallerie und seine Mutter eine geborene Baroness von S. Bereits in seinem siebten Lebensjahr kam er nach Kiew in die Kadettenanstalt, danach besuchte er in Sankt Petersburg die Militärtechnische Akademie. Als Leutnant kam er 1912 zur Leibwache der Kaiserinmutter. Einer seiner Führungsoffiziere wollte aus ihm »einen echten aus Gottes Gnaden zaristischen Aristokraten machen«, während seine Mutter sich zum Ziel gesetzt hatte, ihn »zu einem entschiedenen Christen zu erziehen«, was zur Folge hatte, dass er »ab und zu durch und durch Aristokrat, aber manches Mal […] auch nur ein elender Mensch, ein Mensch wie alle –, ja wie mein Diener auch einer ist«, sei.

Im Krieg wurde er wie andere deutschstämmige Offiziere an die türkische Front abgestellt. Nach der Revolution arbeitete er zunächst als Dolmetscher im deutschen Generalstab in Kiew, danach kämpfte er auf Seiten der Weißen gegen die Rote Armee, nach der Niederlage der Weißen Armee trat er unter falschem Namen in die Rote Armee ein, wurde entdeckt, verhaftet und zum Tode verurteilt. »Auf dem Wege zur Erschießung wurde ich mit noch etlichen Delinquenten von Weißgardisten befreit.« Da er keine andere Lebensmöglichkeit sah, ging er nochmals zur Roten Armee, wurde von dieser zum Offizier befördert, aber auch dort bald erkannt, worauf er »mit einem guten 8 Zylinder-Kraftwagen« die russische Front durchbrach und sich als Gefangener in die Hände der rumänischen Armee begab. Nach fünfmonatiger Gefangenschaft wurde er wieder freigelassen und gelangte »nach vielen Irrfahrten durch Rumänien nach Ungarn, von Ungarn nach Österreich, von dort nach der Tschechoslowakei […] 1921 endlich nach Deutschland«. Hier schließlich sei er nicht mehr als Fremder, sondern »als ein Zugehöriger« aufgenommen worden. Sein Wagen allerdings wurde beschlagnahmt, da er nicht im Besitz des vorschriftsmäßigen deutschen Führerscheins sei und auch keinen Nachweis darüber erbringen konnte, dass er Eigentümer des Wagens war. Er gelangte zunächst nach Berlin, um dann in Stettin seinen Wohnsitz zu nehmen. Er schreibt: »Da ich damals noch Geld hatte, fehlte es mir nicht an Freunden und Bekannten.« In deutschnationalen Versammlungen hielt er mehrfach Vorträge über die politischen Verhältnisse in Russland. Bei einem Ausflug nach Nürnberg hörte er zum ersten Mal Adolf Hitler reden. Da er sich für den Inhalt von dessen Rede nicht begeistern konnte, verließ er vorzeitig die Veranstaltung. Kurz darauf scheiterte der Hitlerputsch, was er »für ganz selbstverständlich« hielt. Die Verurteilung Hitlers zu fünf Jahren Festungshaft betrachtete er als viel zu milde. In den nächsten beiden Jahren bewegte er sich weiter in Stahlhelm- und DNVP-Kreisen.

Ohne über den Einladenden Bescheid zu wissen, reiste er zu einem Vortrag nach Halle an der Saale, wo er beim Betreten der Versammlung feststellte, dass es sich um eine nationalsozialistische Veranstaltung handelte. Nach seinen Worten überlegte er, wieder abzureisen. Als er aber auf dem Podium stand und »in die Gesichter der etwa 500–600 versammelten Hakenkreuzler schaute, wurde ich innerlich ruhiger, denn ich gewann die Überzeugung, dass ich es hier mit Menschen zu tun habe, die nur die Wahrheit, die das Selbsterlebnis eines Menschen hören wollten, der Russland nicht nur vom Hören kennt, sondern der über Geschehenes und Erlebtes berichten kann«. Danach habe er noch mehrere Stunden mit den »Hakenkreuzlern« verbracht. Das Gefühl der »Zusammengehörigkeit, ja ich möchte fast sagen diese selbstlose Gemeinschaft untereinander, die auch von den Führern gehegt und gepflegt wurde, machte doch einen sehr tiefen Eindruck auf mich«.

1925 wurde er erneut nach Halle zu einem von der NSDAP veranstalteten Vortrag eingeladen. Nun begann er sich intensiver mit der NSDAP und ihrem 25-Punkte-Programm und zuletzt auch mit Hitlers Mein Kampf zu beschäftigen. Auch hatte er Gelegenheit, Hitler nochmals persönlich zu hören, den er jetzt nicht mehr als Abenteurer und Putschisten sah. »Nein er ist ein Organisator größten Stils, ein Kämpfer, der für seine Idee Spott und Hohn auf sich nimmt ohne sich dagegen zu wehren. […] Von seinen Feinden und Gegnern mit Schmutz und Unrat besudelt steht er als eine edle Perle, an der kein Schmutz haften bleibt da, und leuchtet. Wahrlich, er hat viel auf sich genommen, er ist ein großer Arbeiter, ja noch mehr, er ist unser Knecht, Deutschlands Knecht.« Und er schreibt nun weiter, inzwischen sichtlich von der Bewegung und ihrem Anführer zutiefst überzeugt: »Diese Idee, diese Bewegung muss ich unterstützten, sie hat das best durchsichtbareste [sic] Programm von allen Parteien. Es ist ein bisschen hart aber desto aussichtsvoller. Ich werde Nationalsozialist.«

Da er als lästiger Ausländer ausgewiesen werden sollte, wechselte er den Wohnort und ließ sein Adelsprädikat fahren. 1927 ließ er sich dann doch wieder zum Vortrag überreden. Dieses Mal aber sei er »mit Herz und Seele dabei [gewesen]. Ich liebte die Hakenkreuzler, die Nazis, denn ich fand in ihren Reihen die deutschesten Männer, Männer, die nicht über Politik debattierten, sondern über Kampf ums deutsche Reich und über Arbeit.« Der Partei beizutreten habe er zunächst nicht gewagt, um nicht am Ende vielleicht doch noch ausgewiesen zu werden. Erst 1930 habe er sich der NSDAP als aktives Mitglied angeschlossen. Er trat dann auch der SS bei. Und ähnlich wie Walter von Feder verfällt er in reine Hitler-Idolatrie, wenn er in seinem Lebensbericht formuliert: »Ja, Liebe ist es, die Hitler bringt, um sein Volk vom unseligen Marxismus, aber auch von anderen Feinden zu retten. Seine Liebe zum Volk kommt aus dem Herzen, das erkenne ich an ihm, wo ich ihn reden und handeln sehe. […] Liebe zu seinem Volke ist das Wesen seiner Macht mit der er alle Schlummernden aufrüttelt und sie beseelt, um dann durch solche Volksgemeinschaft wiederum beseelt zu werden. Aber seine Liebe ist keine weichliche, schwächliche Liebe. […] Das deutsche Volk steht heute überwiegend zu Hitler, zu dem Uneigennützigen, dem Liebenden. Bald ja bald wird auch die ganze Welt zu der Erkenntnis kommen, dass Hitler ein Mensch der Liebe ist. Ein Mensch, der nichts lieber sähe, als dass die Völker der Welt sich heute schon die Hand, die Bruderhand reichten.«

Dass auch für Graf von Rybnik Antikommunismus eine bedeutende Rolle bei seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus gespielt hat, erscheint angesichts seiner Herkunft und seines Lebenswegs nicht verwunderlich. Hierin ähnelt er dem ja ebenfalls aus deutsch-russischen Verhältnissen stammenden Walter von Feder. Und wie dieser scheint er vom Charisma Hitlers überwältigt zu sein. Hinzu treten bei ihm die Wirkung der Partei, das Gefühl des Zusammenhalts und der Kameradschaft, das er dort erfahren habe. Was ihn von v. Feder unterscheidet, ist die Abwesenheit jeglicher antisemitischer Aussagen. Weder Juden als Rasse noch Menschen jüdischen Glaubens spielen in seinen lebensgeschichtlichen Ausführungen eine Rolle. Er wünscht sich vielmehr, dass »Frankreich von Franzosen, England von Engländern, Judäa von Juden, Russland von Russen und Deutschland von Deutschen beherrscht und regiert wird […] Möge Gott auch den anderen Nationen bald einen Hitler geben, der sein Volk lieb hat. Herr Gott, den Deutschen aber wollest du ›Hitler‹ bewahren und erhalten. Schenke uns Liebe und Treue zum Führer, den Du uns zur rechten Stunde geschenkt hast.« In diesen letzten Worten triumphiert sichtlich der christlich-religiöse Geist, den ihm seine Mutter mitgeben wollte, über seinen aristokratischen Hintergrund.

Ein Parteigenosse aus der Kriegskindergeneration (1.000.634 A)

Horst Gallwitz wurde 1909 in Tilsit im äußersten Osten des Reiches als Sohn eines Landwirts geboren. Er besuchte das Gymnasium, das er mit der mittleren Reife verließ. Gallwitz widerfuhr ein typisches Kriegskinderschicksal: der Vater an der Front, die Mutter arbeitete im Krankenhaus, aufgezogen wurde er von der Großtante. Als kleiner Junge erlebte er, wie russische Truppen, Kosaken, auf den elterlichen Hof kamen, er sah brennende Dörfer in der Ferne und sprach bald von »russischen Mordbrennern«. Als Neunjähriger wurde er nach eigenen Aussagen Zeuge der Novemberrevolution und der Besetzung des Memelgebiets durch französische Truppen, denen er mit Hass begegnete. Großen Einfluss auf ihn nahm anscheinend sein Pensionsvater, bei dem er als Schüler in Tilsit lebte. Er schildert ihn als alten deutschen, aufrechten Patrioten. »Wenn die kindliche Seele zu zerbrechen drohte an der Widerwärtigkeit der Verhältnisse, dann fand sie Halt an dem stets gleichen deutschen Wesen dieses einzigartigen Mannes, der sich den Glauben an Deutschland bis zu seinem letzten Atemzug bewahrte. […] Er war unbewusst schon damals Nationalsozialist.«

Schon als Schüler scheint Gallwitz Antisemit gewesen zu sein, wenn er schreibt, er habe Hunger und Not in den ärmsten Volksschichten gesehen, aber auch »Prassen und Schlemmen« bei »Menschen, die mir innerlich fremd waren und die man als Juden bezeichnete, die keine männliche Haltung hatten und keine moralische Hemmung«. Der »Jude, der die Schrecken des Krieges nie gesehen hatte«, der es wagte, »den Heldentod wie überhaupt die Tugenden eines deutschen Soldaten in den Dreck zu ziehen! Die innerliche Abneigung gegen die Fremdrassigen, die den Heiland ans Kreuz geschlagen hatten, und die nun unser Volk verrieten, steigerte sich, und eines Tages wuchs sie zum Hass. Der Jude war an allem Elend schuld.« Auch die Inflation, die das Volk arm gemacht habe, habe »der Jude« auf dem Gewissen.

Im »Bund Deutscher Jungmannen Preußen« organisierte er sich dann als Gymnasiast. Stolz hätten sie damals »das Hakenkreuz, die schwarz-weiß-rote Schleife im Knopfloch« getragen. »Wir waren deutschvölkisch geworden.« Beseelt vom Willen, »das bestehende System, das durch Volks- und Landesverrat an die Macht gekommen war, hinwegzufegen«, wollte er doch die Vorkriegsverhältnisse nicht wiederhergestellt wissen. »Wir wollten etwas, was aus dem gemeinsamen Kriegserlebnis und Fronterlebnis hervorwachsen sollte, das keine Stände und Klassen, das nur das deutsche Volk kannte. Das Wort Hitler wurde mir Symbol einer weltfernen Zukunft.« Zurück auf dem Hof erlebte er die immer stärker steigende Verschuldung des väterlichen Betriebs und dadurch verursacht eine starke Einschränkung der persönlichen Lebensumstände. »Immer war der Jude verbindlich lächelnder Geldgeber und satanisch grinsender Eintreiber von Forderungen.«