Wie ist Jesus weiß geworden? - Sarah Vecera - E-Book

Wie ist Jesus weiß geworden? E-Book

Sarah Vecera

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Beschreibung

Von Anfang an war die Kirche für alle Menschen gedacht. Trotzdem gibt es auch in ihr rassistische Strukturen, die weißen Menschen meistens gar nicht auffallen. Sarah Vecera macht auf diese Strukturen aufmerksam und erklärt, wie jeder und jede etwas dagegen tun kann. So will sie ermutigen, im Sinne des christlichen Glaubens eine Kirche zu gestalten, in der sich jede*r willkommen und angenommen fühlt.

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Sarah Vecera

Wie ist Jesus weiß geworden?

Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus

Patmos Verlag

Inhalt

Bibelarbeit zur kanaanäischen Frau

Einleitung

Über mich: Ein Blick ins kirchliche Familienalbum

Das Privileg, Schwarz zu sein

Mein »Migrationshintergrund«

Kirche als Safe Space?

Meine Politisierung – ein langer Weg

Intersektionalität

Mutter-Sein

Warum ich nicht Pfarrerin geworden bin

Warum sollte sich Kirche mit Rassismus auseinandersetzen?

Die Kirchengeschichte ist subjektiv und eurozentriert – ­Lusungu Mbilinyi

Die Erfindung der Menschenrassen und der Beitrag der Kirche

Keine kurze Definition von Rassismus

Ein Blick in die Vergangenheit

Das Christentum als weiße eurozentrische Norm

Rassismus in Deutschland

Das Erbe der NS-Zeit – Josephine Furian

Rassismus hat verschiedene Gesichter

Antisemitismus

Anti-muslimischer Rassismus

Anti-asiatischer Rassismus

Rassismus gegen Weiße

Warum es hier nicht um Fremdenhass und ­Ausländerfeindlichkeit geht

Liebe weiße Kirche ...

Wo begegnet uns Rassismus heute in der Kirche und in kirchlichen Institutionen in Deutschland?

Weiße Privilegien: Wo profitieren weiße Menschen in der Kirche?

Wie ist Jesus weiß und Christ geworden?

Kinderbibeln

Das Märchen von der Augenhöhe

Eurozentrismus als Kernproblem der ­internationalen ­Ökumene

White Savior Komplex

Warum ich kein Patenkind in Afrika habe

Zerbrechlichkeit

Von Abwehrmechanismen und gescheiterten Dialogen

People of Color in einer weißen Kirche

Ein Versuch des gemeinsamen Weges am Beispiel der ­Stiftung Himmelsfels

Der Blick nach vorn

Was bleibt? Die Hoffnung!

Befreiung ist möglich

Wir sind untrennbar eins

Die Bibel dekolonisieren

Einen Schritt weiter gehen – grenzenlos und unverschämt

Wenn es eine To-do-Liste gäbe ...

Zum Schluss bleibt die Liebe

Von ganzem Herzen DANKE

Anmerkungen

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

I have a dream – Ich habe einen Traum,

dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer ­Kirche1 ­leben werden,

in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe,

sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. (…)

Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, zusammen zu arbeiten,

zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für die Freiheit aufzustehen, in dem Wissen,

dass wir eines Tages frei sein werden.

Nach Martin Luther King Jr. am 28. August 1963

»I have a dream« ist wohl eine der berühmtesten Reden, und sie handelt vom Kampf gegen Rassismus. Wir kennen alle diese weltbekannten Worte. Sie standen in meinem Englischbuch. Dort stehen eigentlich keine Predigten eines Baptistenpfarrers, aber diese Predigt ist vielleicht die berühmteste, die je gehalten wurde. Der Traum ist bis heute, auch in Deutschland, nicht endgültig in Erfüllung gegangen. Warum ich das so sehe und weshalb ich nicht aufhöre, von einer Kirche ohne Rassismus zu träumen? Das möchte ich Ihnen gern erzählen …

Bibelarbeit zur kanaanäischen Frau

Ich bin in einer christlichen Familie und Gemeinde aufgewachsen, habe Theologie studiert und arbeite seit über zehn Jahren in der Kirche.

Wir machen eine Bibelarbeit, und ich habe aufgrund meiner Ausbildung die arrogante Haltung, dass ich nicht viel Neues aus dieser Bibelarbeit mitnehmen werde. Es geht um die Geschichte der kanaanäischen Frau nach Matthäus 15,21–28: Eine Frau aus Kanaan kommt zu Jesus und fleht ihn an, ihre Tochter zu heilen. Jesus reagiert zuerst mit Ignoranz, erst nachdem seine Jünger*innen ihn zu reagieren bitten, weist er die Frau von sich ab. Er sei nur für das Volk Israel zuständig – sie gehöre nicht dazu. Diese Frau aber lässt nicht locker – selbst dann nicht, nachdem Jesus sie sogar mit einem Hund verglichen hat. Am Ende heilt Jesus die Tochter mit der Begründung, dass das Vertrauen der Mutter groß sei.

Für Menschen, die die Bibel lesen, ist das ein bekannter Text. Ich erinnere mich an zahlreiche Diskussionen und Streitgespräche über diesen Text auf diversen Sommerfreizeiten. Er provoziert und regt zum Nachdenken an und wirft so viele Fragen auf: Warum ist Jesus so abweisend und anders als sonst? Ändert er seine Meinung? Kann ich Jesus von etwas überzeugen, wovon er selbst nicht überzeugt ist? Lernt Gott dazu? Warum schließt er diese Frau zunächst aus, wo er doch an so vielen Stellen gerade auf solche Menschen zugeht, die von der Gesellschaft ausgeschlossen werden?

Doch darum soll es heute in dieser Bibelarbeit gar nicht primär gehen. Wir werden vielmehr gebeten, uns in eine*n der unterschiedlichen Protagonist*innen hineinzuversetzen. Dann werden uns in diesen Rollen Fragen gestellt. Bibliolog nennt man diese Methode der Bibelarbeit. Wir sind also die Jünger*innen, die Frau, Jesus und die umherstehenden Leute.

Abschließend tauschen wir uns über das Erlebte aus. Eine völlig neue Erkenntnis bricht über mich herein: Ich habe mich spontan mit der Frau identifiziert, während die weißen Menschen im Raum sich völlig selbstverständlich mit denen identifiziert haben, die sich für diese Frau einsetzen.

Am Ende stellt sich heraus, dass alle Menschen of Color2 aus unserer Bibelarbeitsgruppe genauso empfanden wie ich. Wir haben uns unbewusst mit der identifiziert, die ausgegrenzt wurde, und nicht mit denen, die sich zugehörig und sicher fühlten. Bei genauerem Hinsehen auf die damalige biblische Situation wäre das Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit, zum Beispiel bei den Jünger*innen, nicht gerechtfertigt, weil alle weißen christlichen Menschen gemäß der Gruppierungen in Israel ebenso wenig wie die kanaanäische Frau zum erwählten Volk Israel gehörten. Diese Bibelstelle ist also auch interessant hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Israel. Aus heutiger Perspektive hätten wir Christ*innen die Position der Frau innegehabt, die nicht zum Volk Israel Gehörenden. Im Bibliolog, in dem es um aktuelle Identifikation mit den Rollen und Positionen geht, haben sich aber nur einige so gefühlt.

Eine völlig neue Erkenntnis für mich! Ich habe diese Geschichte tausend Mal gehört, gelesen und sogar darüber gepredigt, aber mir war dabei nicht klar, dass sich alle weißen Menschen um mich herum nicht unbedingt mit der Frau identifizierten. Ich habe mich aber immer mit der Frau identifiziert, aus ihrer Perspektive habe ich diese Geschichte gelesen, verinnerlicht und verkündigt.

Bitte überlegen Sie doch mal, wem Sie sich in dieser Geschichte am nächsten fühlen? Mit wem identifizieren sie sich vielleicht sogar? Beim Lesen dieser Geschichte haben Sie vielleicht Partei für Jesus ergriffen, irgendwie versucht zu erklären, warum er so oder so handelt. Sie haben sich vielleicht automatisch aus der Perspektive derer betrachtet, die zu Jesus gehören. Nicht verwunderlich: Sie haben zeitlebens erfahren, zur gesellschaftlich-kirchlichen Norm zu gehören und diese nicht hinterfragen zu müssen. Daher fühlen Sie sich auch denen näher, die keine Angst haben müssen, nicht dazuzugehören. Sie haben vielfach gehört: Sie sind angenommen von Gott und der Welt.

Ich hingegen habe diese Geschichte bereits als kleines Mädchen aus Perspektive der Frau gehört. Vielleicht ging es einigen Frauen oder anderen marginalisierten Gruppen auch so.

Ich habe das anscheinend nicht bewusst gemacht, aber ich war immer die Frau.

Ich war die, die mit den Hunden unter dem Tisch verglichen wurde.

Von dem, der alle Kinder lieb hat.

Ich war die, die Jesus erst überreden musste, um dazugehören zu dürfen.

Ich war die, die Jesus anschrie: Ich gehöre auch zu dir!

Ich war die, die auf die Beleidigung »Hund« nicht mal eingegangen ist, weil sie gelernt hat, freundlich zu bleiben, um das Gegenüber nicht zu verletzen.

Schließlich meine er es eigentlich gut und darauf käme es an.

Und dennoch wollte ich dazugehören.

Dass ich die Frau war, lag nicht an meiner weißen Kirchengemeinde.

Und auch nicht an meiner weißen Familie.

Das lag an einem System, in dem wir auch als Kirche leben.

Das liegt daran, dass Weiß-Sein die Norm darstellt.

Und alles andere als »fremd«, »anders« oder als »exotisch« oder sogar als »besonders schön« betitelt wird.

Menschen meinen »das« nicht böse und genau das macht es so schwierig, darüber zu sprechen.

Dass sich nicht alle um mich herum mit der kanaanäischen Frau identifiziert haben, wurde mir erst in dieser Bibelarbeit bewusst. Warum ich mich mit ihr identifiziere, weiß ich schon länger.

Einleitung

Dieses Buch ist eine Momentaufnahme auf meiner Lebensreise im Sommer 2021. Ein Ist-Zustand meiner eigenen Selbstrefle­xion und fachlichen Expertise. Ein Zwischenstand meiner aktuellen politischen Haltung und meiner langsamen Weiterentwicklung meines geistlichen Zugangs; denn auch mein Glaube verändert sich stetig in der Auseinandersetzung mit Rassismus. Auch ich habe mich schließlich lange nicht gefragt, wie Jesus eigentlich weiß und Christ geworden ist. Dieses Buch ist ein Ausdruck meiner biografisch reflektierten Art und Weise, mich als Schwarze Christin in einer weißen Dominanzgesellschaft und Kirche mit dem Thema Rassismus auseinanderzusetzen. Es ist das Buch, das ich mir gewünscht hätte, als ich jünger war. Es ist das Buch, das ich gern Menschen geben möchte, die dieserart Informationen und Sichtweisen anderswo in der Kirche nicht bekommen.

Seit 38 Jahren bin ich mit Rassismus konfrontiert, seit 15 Jahren ist mir das auch bewusst. Seit zehn Jahren beschäftige ich mich beruflich mit dem Thema Rassismus in der Kirche, und seit zwei Jahren rede ich darüber öffentlich in den sozialen und digitalen Medien. Ich bin nicht sprachfähig über Rassismus auf die Welt gekommen. Die Sensibilität dafür und das Sprechen darüber mussten sich auch bei mir entwickeln, und ich habe immer mehr gelernt, seitdem ich mich bewusst damit auseinandersetze. Durch die Diskussionskultur, die Bedürfnisse, die Fragen und die Herausforderungen in der Kirche konnte ich vor allem in den letzten Jahren viel lernen. All diese Erfahrungen fließen in dieses Buch ein. Vielleicht würde es in fünf Jahren ganz anders aussehen – vor fünf Jahren hätte es sicherlich anders ausgesehen.

Allein die Frage, wie Jesus weiß geworden ist, ist komplexer, als sie in dem gleichnamigen Kapitel erörtert werden kann. Dahinter steht eine lange kolonialistische Traditionslinie, die sich erst bei der Lektüre des gesamten Buches erschließen wird.

Da wir uns an einigen Stellen in der Kirche in Deutschland seit dem Sommer 2020 intensiver mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen, wächst das Bewusstsein für verinnerlichte Vorstellungen, gewohnheitsmäßige Sprache, reflexhafte Verhaltensweisen, äußere Strukturen, und einiges kommt in Bewegung! Ich denke, dass ein Buch zum Thema »Rassismus und Kirche« jetzt dran ist.

Dieses Buch ist ein Versuch, der vorläufig und anfechtbar ist. Es ist ein versöhnliches Experiment, mit Ihnen über Rassismus ins Gespräch zu kommen. Ich mache mich angreifbar und verletzlich, um Sie mitzunehmen. Ich werde persönliche Dinge teilen und sie zugleich in einen großen geschichtlichen und globalen Zusammenhang setzen.

Durch die Verflechtung von persönlichen Erfahrungen und Hinweisen auf allgemeine Strukturen will ich auch zum Ausdruck bringen, dass Rassismus viel mehr ist als individuelle Vorurteile, Ausgrenzung und Diskriminierung. Er ist ein Merkmal unseres Systems, unserer sozialen und kirchlichen Strukturen. Weil Rassismus unsere christliche Gemeinschaft vergiftet, ist er unser aller Problem und geht uns alle etwas an. Schon an einigen Stellen war ich aufgrund meiner Antirassismusarbeit mit Hass konfrontiert, den ich zuvor so nicht erlebt hatte. Aber ich fühle mich der Kirche zugehörig, bin für sie mitverantwortlich, ich möchte sie verändern und mitgestalten.

Einige von Ihnen werden sich ärgern und angegriffen fühlen, andere werden denken, das könne ich noch deutlicher sagen, und wieder andere werden sich an manchen Stellen vielleicht an eigene Rassismuserfahrungen erinnern. Letzteres tut mir schon jetzt leid, und ich möchte euch, liebe Geschwister, ganz besonders bitten, das Buch zuzuschlagen, wenn ihr merkt, dass euch die Lektüre nicht guttut. Manchen Menschen wird das Buch vielleicht zu oberflächlich erscheinen, denn es hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit – das fände ich, um ehrlich zu sein, auch anmaßend. Es soll vielmehr Denkanstöße und Anregungen geben, wissenschaftliche Erkenntnisse weitergeben, in die Geschichte gucken und meine Erfahrungen aus der rassismuskritischen Bildungsarbeit und Vernetzung in der Kirche teilen. Es soll keinen fertigen Masterplan darstellen, wie wir nach einem Zehn-Punkte-Plan Rassismus aus der Kirche verbannen, vielmehr dazu dienen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Daher wird es immer mal wieder Fragen zur Selbstreflexion oder auch Empfehlungen zum Weiterhören und -lesen geben. Wir stehen in unseren Kirchen in Deutschland erst am Anfang der Rassismus-Debatte und sollten auf jeden Fall miteinander im Gespräch bleiben. Das können wir zum Beispiel über Social Media oder auf unserem Blog www.rassimusundkirche.de tun.

So oder so wird es eine spannende Reise.

Meine Tonalität in diesem Buch ist die Art, die ich zurzeit als gut empfinde, um über Rassismus im kirchlichen Kontext zu sprechen. So spreche ich in meinem Beruf, in meiner Gemeinde, unter Freund*innen und in der Familie. Diese Art empfinde ich aus meiner Biografie und aus meinem Glauben heraus als angenehm, aber das ist a) mein ganz persönliches Empfinden, und ich möchte niemand anderem vorschreiben, dies ebenso zu handhaben, und es ist b) auch nur zurzeit so und sieht vielleicht in einigen Jahren ganz anders aus. Ich stelle mir selbst häufig die Frage, ob ich deutlich genug bin oder jemanden durch Äußerungen verletze, und lerne dadurch tagtäglich, diesen Balance-Akt zu meistern.

Das alles mache ich, weil ich von einer Kirche träume, die sich auf ihren Ursprung besinnen will und der die Perspektiven fehlen, um dies überhaupt tun zu können.

Im Galaterbrief 3,28 steht: »Da ist weder Jude noch Grieche.« Diese Vision des Apostels Paulus möchte ich mit Ihnen gemeinsam in die Realität umsetzen, weil ich vermute, dass Sie als Leser*in dieses Buches von genau solch einer Kirche träumen. Nach einem bitteren Blick auf die Realität und der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskriminierungsformen will ich wieder so werden, wie ich als Kind war: als ich noch glaubte, dass alle die gleichen Chancen und Möglichkeit haben – erst recht in der Kirche. Ich möchte wieder daran glauben und Hoffnung schöpfen, dass wir solch eine Kirche werden können und darin unserer Gesellschaft einen Schritt voraus sein können. Heute will ich dies aber nicht nur träumen, sondern auch bewusst daran arbeiten – und am liebsten mit Ihnen zusammen.

Und genau deswegen sollten wir miteinander ins Gespräch kommen. Sie als mehrheitlich weiße Leser*innenschaft und ich, die eine von vielen Stimmen vertritt, die von Rassismus zwar negativ betroffen ist, ihn aber, genauso wie Sie, internalisiert hat und versucht, auch sich selbst von alten Mustern und Denkstrukturen zu befreien. Ich will mit Ihnen darüber nachdenken, woher manche Denkmuster kommen, was uns auch kirchlich von klein auf geprägt hat und kritisch hinterfragt werden sollte.

Mein Christin-Sein ist für mich keine Vereinsideologie, sondern das Wichtigste und Allumfassendste in meinem Leben. Es hat mich von Geburt an geprägt und begleitet.

Als Person of Color bin ich aufgewachsen in einer weißen Welt und Kirche, die ich liebe. Und genau deshalb möchte ich Ihre Augen öffnen, weil ich Ihnen glaube, dass Sie es gut meinen. Aus diesem Grund schreibe ich dieses Buch und bitte Sie, dass Sie sich dies in Erinnerung rufen, wenn Sie sich ärgern oder wenn das, was ich schreibe, Wut in Ihnen auslöst.

Ich glaube Ihnen, dass Sie diese Welt ein Stück weit zu einem besseren Ort machen und Rassismus bekämpfen wollen – aus Ihrem Glauben oder Ihrer Überzeugung heraus –, so wie ich auch. Ich glaube, dass Gott sich die Gemeinschaft von Christ*innen vielfältig und divers vorgestellt hat und dass uns genau das tagtäglich herausfordert. Ich will mich mit Ihnen gemeinsam diesen Herausforderungen stellen, weil ich auf Sie setze, während Sie dieses Buch gerade in Händen halten. Warum ich das tue? Weil ich eine von Ihnen bin. Ich bin evangelische Christin und verstehe mich als Ökumenikerin im konfessionellen wie auch im weltweiten Sinn.

Ich wäge häufig ab: Soll ich etwas Kritisches sagen oder lächle ich freundlich, wie ich es gelernt habe? Diese Frage ist allgegenwärtiger Teil meines kirchlichen Lebens. Mein Streben nach Harmonie und das Bedürfnis, gemocht zu werden, sind oft schwer damit zu vereinbaren. Aber ich glaube, dass genau das meine Chance ist, eine gute Gesprächspartnerin und Brückenbauerin zu sein bei der gemeinsamen Suche, heilsam miteinander über Rassismus in der Kirche sprechen zu lernen.

Ich biete Ihnen an, ein Vertrauensverhältnis zu mir aufzubauen, das es mir erlaubt, Binnenkritik zu üben, die bis an die Substanz geht, wenn ich unter anderem den weißen Jesus hinterfrage. Für meinen weißen 88-jährigen Opa, der die NS-Zeit erlebte, war es sicherlich oft nicht leicht, mit mir über Rassismus zu sprechen, aber er tat es, weil er mich liebte. Sie sollen mich nicht lieben, aber Sie dürfen mich ein wenig kennenlernen, sodass wir eine Grundlage finden können, die es Ihnen ermöglicht, mir zuzuhören. Denn was ich schreibe, wird nicht immer angenehm sein. Vielleicht verderbe ich ihnen sogar das weiße Christkind im Stall von Betlehem. Ich biete Ihnen an, sich mit mir auf die Reise zu begeben, auch wenn Sie manchmal das Bedürfnis haben werden, dieses Buch lieber in die Ecke zu werfen. Wenn Ihnen danach ist, tun sie das übrigens gern. Was raus muss, kann in dem Fall raus, und das Buch wird es aushalten. Es darf dann auch gern ein paar Wochen dort liegen, bis Sie entscheiden, dass es nun Zeit ist weiterzugehen. Sie bestimmen das Tempo und können am besten ihre Kraft und Ausdauer einschätzen. So wird es eine lebendige Beziehung durch Höhen und Tiefen. Und damit das so sein kann, möchte ich Ihnen das »Du« anbieten. Das tun wir auch in unseren digitalen Antirassismus-Seminaren und haben die positive Erfahrung gemacht, dass wir damit eine Atmosphäre aufbauen, die Türen öffnet. Und wie ich es auch online immer sage: Sollten wir uns im realen Leben wiedersehen, können wir gern zum »Sie« wechseln.

Damit wir wissen, worüber wir sprechen, und sich manche nicht von neuen Begriffen überrollt fühlen, weil sie das ein oder andere Wort nicht verstehen, gibt es Fußnoten, in denen das Notwendige kurz erklärt ist. Ich versuche aber so zu schreiben, dass es für uns alle verständlich bleibt, weil mir der Dialog wichtig ist. Und um miteinander reden zu können, müssen wir uns auch verstehen

Ich werde im gesamten Buch mit einem Sternchen gendern, weil ich alle Geschlechter hineinnehmen will. Ich kann nicht über Rassismus sprechen und andere Diskriminierungsformen ignorieren, weil alle ineinander verflochten sind. Außerdem werde ich über Gott mal in der männlichen und mal in der weiblichen Form schreiben, weil auch das Teil von meinem Traum von Kirche ist und wir ihr und uns so gerechter werden. Wir können Gott nicht kategorisieren und unseren Vorstellungen unterordnen. Gottes Unverfügbarkeit wird durch das Abwechseln der Pronomen bekräftigt.

»Schwarz« werde ich groß schreiben, weil es nicht um die Farbe geht, sondern um ein Konstrukt, auf das ich noch detailliert eingehen werde, und weil die große Schreibweise den Widerstand und die Selbstermächtigung darstellen soll. Weiß werde ich kursiv schreiben, damit auch hier immer wieder in Erinnerung gerufen wird, dass es nicht um die Farbe geht.

Über mich: Ein Blick ins kirchliche Familienalbum

Da ich einiges kritisieren werde, was uns vertraut und lieb ist, möchte ich euch einen kleinen Einblick in mein Leben gewähren, bevor ich den großen Bogen spanne, um Rassismus geschichtlich und strukturell zu erklären. Ich stelle mich euch vor, damit ihr wisst, wer die Frau ist, die hier auf einiges aufmerksam macht, das ihr noch nicht gesehen habt und vielleicht auch im ersten Moment nicht sehen wollt oder könnt.

Ich bin Sarah, 38 Jahre alt, verheiratet mit einem weißen Mann, Mutter von zwei Kindergartenkindern. Ich bin mitten im Ruhrgebiet bei den weißen Eltern meiner weißen Mutter aufgewachsen. Zu meinem Vater, der gebürtig aus Pakistan kommt, hatte ich nie wirklich Kontakt. Meine Mutter lebt nicht mehr. Das klingt für Außenstehende dramatischer, als es ist. Für mich war es normal, von Geburt an bei meinen Großeltern zu leben und dort wohlbehütet aufzuwachsen. Am Stadtrand von Oberhausen lebte ich in einer kirchlich stark engagierten und belesenen Arbeiter*innenfamilie. Meine Oma war wie eine Mutter für mich. Mit ihr verbrachte ich die meiste Zeit meiner Kindheit. Sie war nicht berufstätig, und ich ging daher auch nur von neun bis zwölf Uhr in den Kindergarten und verbrachte den Rest des Tages mit ihr zusammen, während mein Opa beruflich viel unterwegs war. Sie war mir am nächsten, und erst heute weiß ich, wie wichtig das für meine persönlichen Diskriminierungs­erfahrungen war.

Meine Oma floh 1945 mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder im Alter von elf Jahren von Pommern ins Ruhrgebiet. Bis zu ihrem Tod sprach sie kaum über ihre Fluchterfahrung, aber sie wusste, was Diskriminierung und Ausgrenzung bedeutete. Seit 1945 trug sie das Stigma »Flüchtling« und konnte dies ihr Leben lang nicht ablegen. Andere Identitätsentwürfe hatten dadurch weniger Platz. Aufgrund dessen konnte sie mir von klein auf immer das größte Verständnis schenken, wenn ich mal wieder das Gefühl hatte, nicht ganz dazuzugehören. Das Wort Rassismus fiel in diesen Zusammenhängen zwar nicht, das war um des lieben Friedens willen auch undenkbar, aber ich fühlte mich verstanden. Mein Opa kam aus einer klassischen Bergarbeiter-Ruhrgebiets-Familie. Wir hatten nicht viel, aber wir waren dem lieben Gott stets dankbar für all das, was wir hatten. Als besonders privilegiert hätte uns wohl niemand bezeichnet, weil wir es wirtschaftlich gesehen sicherlich auch nicht waren. Das führte vielleicht dazu, dass ich mich bis heute mit dem Begriff »weiße Privilegien« schwer tue, weil es so viele Menschen gibt, die weiß sind, aber eben auch viel weniger Privilegien haben, als ich sie heute genieße, obwohl mir das Privileg des Weiß-Seins mein Leben lang verwehrt bleibt.

Ich kannte in meiner Kindheit weder das Wort Privileg noch das Wort Rassismus. Gefühle für diese Wörter hatte ich jedoch, seit ich mich zurückerinnern kann. Das fing bei dem Poster an, das in dem Friseursalon bei uns im Viertel hing: eine blonde Frau mit einem Bob-Haarschnitt. Ich habe sie bis heute vor Augen, weil ich mir während meiner gesamten Kindheit wünschte, genauso auszusehen. Meine damalige beste Freundin war blond und sah in meinen Augen aus wie Barbie. Mir gab man von klein auf das Kompliment »Monchhichi«3 mit auf den Weg, obwohl ich auch gern mal die Barbie gewesen wäre. Ich wurde mit einem Tier gleichgesetzt und nicht mit einem Topmodel mit viel zu langen Beinen. Als kleine Kinder bekamen wir Fragen gestellt, wie alt wir seien und ob wir schon in den Kindergarten gingen. Ich wurde zusätzlich gefragt, woher ich käme, und ich hatte schnell raus, dass die richtige Antwort die Herkunft meines Vaters war.

Auf den ersten Blick mag dieser Alltagsrassismus harmlos wirken, aber er begleitet mich mein Leben lang, kommt daher unter dem Deckmantel der Nächstenliebe, suggeriert mir, »anders« oder »besonders« zu sein, und hängt mit der historisch gewachsenen Erfindung von Menschenrassen und dadurch mit einem strukturell verankerten System zusammen, auf das wir noch ausführlich zu sprechen kommen.

Neben diesem Deckmantel der Nächstenliebe habe ich von klein auf aber auch echte Liebe und viel Wertschätzung erfahren dürfen. Ich habe als Kind und Jugendliche das Gefühl vermittelt bekommen, dass es schön ist, dass ich auf der Welt bin, und dass ich Gaben und Talente habe. Dieses Gefühl bekam ich von Christ*innen, Gott, meiner Familie und am allermeisten von meinen Großeltern vermittelt. Für mich stand immer fest, dass ich von Gott geliebt und wunderbar geschaffen bin. Das ist bis heute ein Grundstein für mein Selbstbewusstsein.

Mir wurde nicht beigebracht, dass es auch nach 1945 Rassismus außerhalb einer rechten Szene gibt, und mir wurde als Kind und Jugendlicher auch nicht erzählt, dass ich von Rassismus betroffen sein könnte. Meine Großeltern hatten selbst als Kinder Rassismus im Wahnsinn der NS-Zeit erlebt, und nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde vieles einfach unter den Tisch gekehrt, und Probleme wurden totgeschwiegen. Das war vermutlich eine zu der Zeit angemessene Überlebensstrategie. Wie sollten sie mit all dem im Gepäck mir auch erklären, dass ich als Kind Rassismus erfahre, wenn sie selbst einen völlig anderen Erfahrungshorizont hatten? Und dennoch haben sie mich ausgerüstet und vorbereitet auf das Leben mit all seinen Herausforderungen.

Irgendwann fing ich an, mit meiner Familie über Rassismus zu sprechen und darüber, dass dieser nicht aufhörte nach 1945, sondern heute weiter subtil und gefährlich daher kommt und sich klammheimlich in unserer Gesellschaft, unseren Köpfen und in unseren Kirchen ausbreitet und Machtgefälle aufrechterhält.

Das Privileg, Schwarz zu sein

Die eigene Vergangenheit – die eigene Geschichte – anzunehmen,

bedeutet nicht, darin zu ertrinken; es bedeutet, sie zu nutzen.

Eine erfundene Vergangenheit lässt sich nicht nutzen,

sie bricht und bröckelt unter dem Druck des Lebens wie Lehm in der Dürre.

James Baldwin in: Nach der Flut das Feuer

Austen Peter Brandt, Gründer des Vereins Phoenix e. V., sagte mal zu mir: »Sarah, es ist ein Privileg, dass wir Schwarz sind!« Das klingt zunächst merkwürdig, wo wir doch immer von weißen Privilegien sprechen. Er meint damit, dass wir schon früh erfahren haben, dass Rassismus grausam und fern von Gott ist. »Erkenntnisprivileg« sagt man auch dazu. Wir können Rassismus nicht leugnen, sondern haben ihn schon immer erkannt, weil wir von Geburt an mit ihm konfrontiert sind. Ich bewundere diese Haltung, aber ich frage mich auch, ob all die Anstrengung wirklich nötig war, um heute mit einer selbstverständlich sensiblen Wahrnehmung jeglicher Diskriminierungsformen durch die Welt zu gehen. Es wirkt auf mich noch ein wenig so wie die Reaktionen von Menschen, die Leid nicht aushalten können und zu erkennen versuchen, was Gott mit diesem Leid nun Gutes bewirken wolle. Auch in Bezug auf Gott denke ich oft: Nein, ich will und kann es nicht akzeptieren, dass Gott manche Dinge zulässt. Ich kann mir auch nicht alle Ungerechtigkeit einfach nur damit erklären, dass sie »menschengemacht« sein muss, wenn ich doch auch glaube, dass die Heilige Geistkraft bis heute in dieser Welt weht. Also muss ich diesen Widerspruch einfach aushalten, und wenn ich irgendwann die Möglichkeit haben sollte, vor Gott zu stehen, dann habe ich direkt ein paar Fragen parat. Vielleicht hinkt dieser Vergleich aber auch, und Austen hat Recht. Er ist 30 Jahre älter als ich, war bereits in den 1980er-Jahren Schwarzer Pfarrer in dieser weißen Kirche und setzt sich seitdem unermüdlich gegen Rassismus ein. Bestimmt sieht er Dinge, die ich heute noch nicht sehen kann, weil ich auch noch auf meiner Lebensreise bin.

Mein »Migrationshintergrund«

Lange Zeit habe ich mich damit zufrieden gegeben, dass Leute mir den Stempel »Migrationshintergrund« aufdrückten. In der Jugendarbeit wurde ich häufig damit betitelt, es sollte zeigen, wie international und bunt wir waren. Damit jede*r sieht: Hier ist jede*r willkommen, und wir sind alle gleich!

Das Wort Migrationshintergrund wurde im Zusammenhang mit mir zwar vermeintlich positiv benutzt, gleichzeitig wirkt der Begriff in unserer Gesellschaft aber wie eine Diagnose: Der ist unpünktlich, die macht ihre Aufgaben nicht, der ist schlampig, ... »Ja klar, die haben ja auch Migrationshintergrund.« – »So ist das bei denen halt.« – »Das haben die im Blut.« Da haben wir sie, die Anspielung auf die Erfindung der Menschenrassen, die dieses und jenes »im Blut haben« – hier wird dieser schädliche Glaube mit dem Euphemismus »Migrationshintergrund« bezeichnet. Es ist eine einfache Erklärung geworden, um Verhaltensweisen zu begründen, ohne sich mit der dahinterstehenden Problematik auseinandersetzen zu müssen. Heute weiß ich, dass man Synonyme wie »Migrationshintergrund« oder »Kultur« verwendet, um Menschen zu rassifizieren, ohne den Begriff der »Rasse« zu verwenden. Man spricht auch von »Kulturrassismus«: Dabei geht man davon aus, dass Migration oder Kultur unüberwindbare Hürden seien, und verschleiert dadurch die längst widerlegte Rassenideologie nur durch neue Begriffe. Die dahinter liegende Vorstellung des Konstrukts »Rasse«, dass es unüberwindbare Unterschiede zwischen weißen und Schwarzen Menschen gäbe, bleibt dabei also bestehen.

Ich wusste schon lange, dass mich die Bezeichnung »mit Migrationshintergrund«, auf mich bezogen, störte. Mir war sie unangenehm, aber ich habe es jahrelang über mich ergehen lassen, so von Leuten bezeichnet zu werden, die es nur gut meinten, die es für was Besonderes hielten. Daher habe ich mich nicht getraut, mein Unbehagen anzusprechen. Ich hätte nicht mal gewusst, wie ich es hätte ausdrücken sollen. In der Kirche meinte man es ja gut mit mir, und im Internet konnte ich nachlesen, dass »Migrationshintergrund« auf mich zutraf: Ich hatte schließlich einen Elternteil, der nicht in Deutschland geboren wurde. Da halfen auch nicht meine guten Manieren, mein Abitur, mein deutscher Pass mit Geburtsort Oberhausen, meine Ordination in der Evangelischen Kirche im Rheinland, Interesse an deutschem Kulturgut von Goethe über Pommes Schranke bis hin zu Helene Fischer, später dann unser Eigenheim im Spießerviertel, ein weißer Ehemann, zwei weiße Kinder (wobei man sich bei meinem Sohn noch nicht ganz einig ist), ein überproportionaler Hang zu Effektivität, fundiertes Wissen über die NS-Zeit und mein ordentlicher Ruhrpott-Dialekt. Ich liebte als Kind Bratkartoffeln mit Rahmspinat, verbrachte meine Sommer an der holländischen Nordseeküste, hatte echte Bergleute in meiner Familie, trank Medium-Sprudel­wasser aus ausgespülten Senfgläsern und schaute gern die Sendung mit der Maus, den Li-La-Launebär und später Gute Zeiten Schlechte Zeiten. Wo war denn da bitte mein Migrationshintergrund? Evangelische Taufe, katholischer Kindergarten, Kindergottesdienste, die sogar mein eigener Opa hielt, Vorschule, Grundschule, Montessori-Gymnasium, Konfirmation, ehrenamtliches Engagement in der Jugendarbeit, Freiwilligendienst mit der Vereinten Evangelischen Mission in Tansania, CVJM-Kolleg, Uni, Nebenjob, WGs, ... Wenn es »den« deutschen Lebenslauf gäbe, ich würde viele Kriterien erfüllen. Was aber zum »richtigen« Deutsch-Sein fehlt: Ich bin nicht weiß. Und weil es an Begrifflichkeiten wie »People of Color« mangelte und »nicht-weiß« so klingt, als ob mir irgendwas fehlte, wählte man »Migrationshintergrund«, um auszudrücken, was sowieso alle sahen. Obwohl wir ja häufig beteuern, dass wir eigentlich ­keine Hautfarbe sehen und gleichzeitig oft voller Freude feststellen, wie schön bunt unsere Gemeinschaft ist. Es ist kompliziert.

Aber dieses Phänomen gibt es nicht nur in Bezug auf Schwarze Deutsche, sondern auch in Bezug auf Menschen mit Flucht­erfahrungen – und das auch nicht erst seit 2015. Wie bereits erwähnt, ist meine eigene Oma 1945 als »Flüchtling« ins Ruhrgebiet gekommen und 2018 als »Flüchtling« von dieser Welt gegangen. Dieses Gefühl, nicht ganz dazuzugehören, hat sie nie ablegen können. Heute lebe ich mit vielen Geschwistern, die ebenfalls Fluchterfahrungen haben, in einer Gemeinde, und ich frage mich oft: Wie lange bleibt man eigentlich »Flüchtling«? Ist das ein lebenslanger Status, oder wird er im Laufe der Zeit durch andere Rollenaspekte ergänzt oder ganz abgelöst? Schreiben sich Menschen diesen Status selbst zu, oder ist er eine Fremdzuschreibung durch andere? Und ab wann sprechen wir eigentlich von einem kollektiven »Wir« trotz unterschiedlicher biografischer Erfahrungen? Vielleicht ist Flucht aber auch eine so prägende Erfahrung, dass »Flüchtling« den Menschen gar nicht von außen zugeschrieben wird, sondern von innen allgegenwärtiger Teil des Lebens bleibt. Auch das ist möglich. Ich weiß es nicht.

Kirche als Safe Space?

Seit meiner Kindheit wurde mir in der Kirche das Gefühl vermittelt, dass Kirche ein geschützter und ein besserer Raum sei als die Welt da draußen. Dazu habe ich später als Ehren- und Hauptamtliche selbst beigetragen, und in gewisser Hinsicht war es gut für mich und für viele andere, dieses Gefühl vermittelt zu bekommen und solch einen Ort in gewisser Weise auch zu schaffen. Bereits vor den in den letzten Jahren aufgedeckten Skandalen um sexuelle und spirituelle Gewalt in den Kirchen befragte der Autor Sami Omar das Ideal des geschützten Raums mit Blick auf People of Color und es leuchtete mir sofort ein: Sind Kirche und Jugendarbeit nicht höchstens für heteronormative, weiße Mittelschichts-Menschen ein Safe ­Space (»sicherer, geschützter Ort«)? Denn heterosexuell, weiß und einigermaßen wohlhabend zu sein, wurde bei aller verbalen Wertschätzung von Diversität doch irgendwie als Norm vorausgesetzt. Deutlich wurde das zum Beispiel, wenn sich jemand als homosexuell outete, Ehebruch beging oder jemand Übergriffe offen ansprach – dann waren diese Menschen plötzlich doch nicht mehr so willkommen wie vorher. Sie wurden zu Gebetsanliegen, Sünder*innen und Störenfrieden.

Die Illusion oder, besser gesagt, der tiefe Wunsch nach »Hier sind alle willkommen und gleichwertig!« beinhaltet nämlich den Trugschluss: Wir sind hier nur ein Safe Space, solange wir alle derselben Meinung sind und unsere weiße, heteronormative, eurozentrische Mittelschichts-Perspektive auf diese Welt als die Norm wahrnehmen. Sobald jemand aufgrund irgendeiner Form von Diskriminierung eine andere Lebenswirklichkeit hat, die andere nicht nachvollziehen können oder sogar von sich weisen, wird es problematisch. Dann gilt das, was »schon immer so gewesen« ist. Neue Ansichten zu entwickeln, ist schwierig und daher nicht immer willkommen, und Menschen müssen sich Akzeptanz erkämpfen. Die LGBTQI- und die Frauenbewegungen haben sich viel erkämpft, um einen hohen Preis. Die Kämpfe um Gleichberechtigung wurden häufig auf den Rücken der Betroffenen ausgetragen, und bis heute haben immer noch nicht alle gleiche Chancen in der Kirche.