Wie keine andere - Sonya Winterberg - E-Book

Wie keine andere E-Book

Sonya Winterberg

4,3

Beschreibung

Aus den Ruinen des zerstörten Dresdens wurde in den Nachkriegsjahren eine ganz besondere Schule wiedergeboren, deren Ursprünge bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen und die somit zu den ältesten Deutschlands zählt: die Kreuzschule. Da sie für ein christlich-humanistisches Weltbild eintrat, durchlebte sie in der DDR konfliktreiche Zeiten. So musste sie sich einerseits mehr und mehr der sozialistischen Ideologie anpassen, wagte es aber andererseits, die Grenzen des in der DDR Erlaubten immer wieder auszuloten. Später weltberühmte Sänger wie Peter Schreier und Theo Adam, aber auch Jens Sembdner (Die Prinzen) sowie Bestsellerautor Ingo Schulze und Filmemacher Asteris Koutoulas wurden in ihrer Jugend durch die Kreuzschule geprägt. Sonya Winterberg hat zahlreiche Zeitzeugen interviewt und bislang unbekannte Fakten aus Archiven zusammengetragen. So gelingt erstmals eine lebendige Gesamtdarstellung aller Facetten jener spannungsvollen Jahre an der Kreuzschule, die in der DDR eine Schule war Wie keine andere.

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Sonya Winterberg

Wie keine andere

Die Dresdner Kreuzschule

in der DDR

Bild und Heimat

Bildnachweis

© Kretzschmar, Harald: S. III © Sammlung Frank Morgeneyer: S. XIV f. © Sammlung Magirius: S. II © Sammlung Milko Kersten: S. X © Sammlung privat: S. I, S. IV, S. XI ff. © SLUB / Deutsche Fotothek / Höhne, Erich & Pohl, ­Erich: S. V, S. VII © Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«, Sammlung: Martin Morgner: S. VI © TU Dresden, Universitätsarchiv, PHD-Fotosammlung: S. IX © Vrbata, Peter / Nürnberger Nachrichten: S. XVI © Winterberg, Sonya: S. VIII

Sonya Winterberg, geboren 1970, absolvierte ihren Master in European Media an der University of Portsmouth/UK. Sie lebt und arbeitet nach Stationen in Belgien und den USA als freie Journalistin in Dresden und ihrer finnischen Heimat. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Krieg und Trauma. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Drehbuchautor Yury Winterberg, schrieb sie u. a. Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg (2014) und Kollwitz. Die Biografie (2015). Im Rotbuch Verlag erschien von ihr zuletzt Besatzungskinder – Die vergessene Generation nach 1945 (2014).

ISBN 978-3-95958-067-0

1. Auflage

© 2016 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: SLUB / Deutsche Fotothek / Höhne, Erich & Pohl, Erich (oben), SLUB / Deutsche Fotothek / Nützenadel, Wolfgang (unten)

Druck und Bindung: CPI Moravia Books

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

In memoriam

Ingolf Müller (*1965 †1983)

Und plötzlich steht man wieder in der Stadt, in der die Eltern wohnen und die Lehrer,und andre, die man ganz vergessen hat.Mit jedem Schritte fällt das Gehen schwerer. […]

Dann fährt man Straßenbahn und hat viel Zeit.Der Schaffner ruft die kommenden Stationen. Es sind Stationen der Vergangenheit!Man dachte, sie sei tot. Sie blieb hier wohnen. […]

Das ist die Schule. Hier hat man gewohnt. Im Schlafsaal brennen immer noch die Lichter. Im Amselpark schwimmt immer noch der Mond. Und an die Fenster pressen sich Gesichter.

Erich Kästner (aus: Führung durch die Jugend)

Vorwort

Als vor drei Jahren deutlich wurde, dass Kreuzkirche, Kreuzchor und Kreuzgymnasium tatsächlich ihr 800-jähriges Bestehen feiern, überlegten wir, worin unser Beitrag als Schule bestehen könnte. Wenn es auch berechtigte Zweifel an der historischen Korrektheit dieser Zahl gibt, so ist es eine gewachsene Tradition der drei Institutionen, gemeinsam ihre Jubiläen zu begehen. Stolze Traditionen sind es, die uns miteinander verbinden, doch schaut man genauer hin, sind diese keineswegs frei von Widersprüchen. Sich diesen zu stellen schien uns ein ehrlicher Umgang mit dem Jubiläum und eine Gelegenheit, die Verbindung von Kirche, Chor und Schule neuerlich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.

Sowohl in der NS-Diktatur als auch während der SED-Herrschaft vollzog die Kreuzschule, das heutige Evangelische Kreuzgymnasium, einen schwierigen Spagat zwischen Anpassung und Widerstand. Beide Epochen sind in der Geschichtsschreibung unserer Einrichtung bisher nicht umfassend aufgearbeitet worden. Während sich zur Situation der Kreuzschule im »Dritten Reich« immerhin noch einige Publikationen finden lassen, fokussieren sich Darstellungen über die DDR-Zeit fast ausschließlich auf den Chor. Daher schien es uns geboten, dieses Bild zu erweitern und zu vervollständigen.

So wesentlich es für uns war, einen differenzierten Einblick in die Ereignisse an der Kreuzschule in der Zeit zwischen 1945 und 1989 zu erhalten, so groß waren auch die Schwierigkeiten. Die Protagonisten leben zum Teil noch, es war also darauf zu achten, dass ihre Persönlichkeitsrechte nicht verletzt werden. An Akten von Schülern und Lehrern ist nicht leicht heranzukommen, manches ist verschwunden, anderes unter Verschluss und erst für spätere Generationen einsehbar. Vor allem während und kurz nach der Wende wurden etliche Unterlagen vernichtet oder um wesentliche Teile dezimiert. Man weiß von Schülern, denen in der DDR übel mitgespielt wurde, aber ihre Akten waren häufig nicht mehr auffindbar oder ausgedünnt.

Manchmal hingegen war es gerade der Reichtum von Archivalien, der die Wahrheitsfindung erschwerte. So wird vermutlich das Schicksal des 17-jährigen Kreuzschülers Ingolf Müller nie eindeutig geklärt werden können, der 1983 tragisch ums Leben kam. Hat er selbst seinem Leben ein Ende bereitet, wie es die staatlichen Behörden behaupteten, oder wurde er ein Opfer der Stasi, wie seine Eltern vermuten? Noch nie zuvor ausgewertete Unterlagen der Schule, des Ministeriums für Staatssicherheit, der Polizei und des Volksbildungsministeriums sind voller Widersprüche und offener Fragen.

Auch das Finden von Zeitzeugen vom Schulleiter bis zum ehemaligen Schüler erwies sich als kompliziert. Einige Funktionsträger der damaligen Zeit lehnten Interviews aus Furcht ab, an einen Pranger gestellt zu werden, andere hielten ihre Rolle für zu unwesentlich, um sie für die Öffentlichkeit festzuhalten. Dennoch haben es letztlich sowohl zahlreiche schriftliche wie auch mündliche Quellen ermöglicht, ein Bild der Kreuzschule unter den Bedingungen des Sozialismus in der DDR mit vielen neuen und überraschenden Einblicken zu zeichnen, wie wir das zuvor so nicht erhofft hatten.Dass Schüler wie Lehrer von der Bearbeitung des Themas profitieren, war uns von Beginn an wichtig. Dass die vorliegende Publikation nun erscheinen kann, verdanken wir Sonya Winterberg, einer Schülermutter und engagierten Elternvertreterin, vor allem aber erfahrenen Journalistin. Sie hat zwei Geschichtslehrer, unseren Bibliothekar, selbst auch Historiker, sowie Teilnehmer der 10. Klassen in Techniken der Zeitzeugenbefragung geschult. Die Lehrer wiederum betreuten die Schülerinnen und Schüler, die anschließend selbständig Interviews führten und zu dem Thema später ihre Jahresarbeiten verfassten.

Sonya Winterberg brachte am Ende alles Vor- und Zugearbeitete so in Buchform, dass das Opus auch leserlich wurde – und viele Leser wünschen wir dem Buch natürlich, denn es stellt einen wichtigen Baustein auf dem Weg zur Aufarbeitung der Geschichte der Kreuzschule in einer komplizierten Phase ihrer Existenz dar. Wir sind Sonya Winterberg sehr dankbar, dass sie auf unsere Bitte eingegangen ist, sich dieses Themas anzunehmen. Alle Beteiligten, Schüler, Lehrer, auch manche Zeitzeugen, haben im Laufe der Arbeit Neues gelernt und von ihrer Beschäftigung mit der Zeit profitiert.

Vor einigen Jahren veranstaltete die Schülervertretung eine Podiumsdiskussion mit ehemaligen Kreuzschülern, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Schule besucht hatten. Auch der eine oder andere betagte Lehrer war geladen, um über diese Zeit in der Schule zu berichten. Man hörte recht viel Positives, vor allem über den starken Zusammenhalt der Schülerschaft – es klang vieles ein wenig verklärt, fast schon idyllisch, aber authentisch. Zumindest waren die jungen Schülerinnen und Schüler auf dem Podium und im Publikum beeindruckt von den Erzählungen und stellten fest, dass Schüler heute viel stärker ihren eigenen Interessen nachgehen, denn sich als verschworene Gemeinschaft zu empfinden.

Die vorliegende Publikation vermittelt einen Eindruck, dass es manchmal eben doch ein richtiges Leben im falschen geben konnte. In den Jahren zwischen 1945 und 1989 gab es trotz linientreuer Schulleiter kleine, fast freiheitliche Nischen für die Schüler, vor allem dank des Kreuzchores und der evangelischen Kirche. Für die DDR war diese Konstruktion einmalig und bewährte sich unter schwierigen Bedingungen. In diesem Sinne war die Kreuzschule in der DDR einewie keine andere.

Gabriele Füllkrug

Schulleiterin, Ev. Kreuzgymnasium

1 Wie liegt die Stadt so wüst

Am 13. Februar 1945 um 21.45 Uhr beginnt für Dresden eine neue Zeitrechnung. In einem der massivsten Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges wird die Innenstadt der Elbmetropole fast vollständig zerstört. Einige der ersten Bomben, die auf Dresden niedergehen, treffen die beiden Heimstätten des Kreuzgymnasiums und des zugehörigen weltberühmten Knabenchores: die Schule am Georgplatz sowie die Kreuzkirche. Ohnmächtig sitzen die jüngeren Internatsschüler (Alumnen) im Keller der Schule und hören über sich die Einschläge. Immerhin gilt der Ort ihrer Zuflucht als einer der sichersten Luftschutzkeller der Stadt. Die älteren Schüler heben auf den Feldern bei Weißig Panzergräben und Ringstellungen aus, um die Rote Armee aufzuhalten; andere sind am Bahnhof im Einsatz und versorgen die aus Schlesien kommenden Flüchtlinge mit Essen und Trinken. Der 1928er-Jahrgang ist schon im November, obwohl nicht volljährig, zur Wehrmacht oder zum Reichsarbeitsdienst einberufen worden, Hitlers letztes Aufgebot in einem schon längst verlorenen Krieg.1

Nach einer halben Stunde geben die Sirenen Entwarnung; der Angriff auf Dresden scheint vorüber. Der repräsentative neugotische Bau aus dem Jahr 1866, der der gewachsenen Bedeutung der Schule Rechnung tragen sollte, steht in Flammen. Einige Jungen unternehmen auf Anordnung des Alumnatsinspektors Gebauer den mutigen Versuch, den Brand einzudämmen. Einer von ihnen ist der vierzehnjährige Wolfgang Bitterlich. Ausgerüstet mit einer Pumpspritze kämpft er sich bis zum Zeichensaal durch, erkennt aber bald die Aussichtslosigkeit des Unterfangens. In der chaotischen Lage bleiben klare Anweisungen der Erwachsenen aus. Einige Schüler versuchen aus dem Schulgebäude zu gelangen, andere ziehen den Schutz des Kellers vor.

»Ich hatte aber doch Bedenken, das über uns brennende Gebäude könnte irgendwann zusammenstürzen und die Menschen im Keller verschütten«, erinnert sich Bitterlich. »So zog ich meinen Mantel durch eine Löschwasserwanne, bis er patschnass war, zog meine Gasmaske über, setzte den Luftschutzhelm auf, nahm meinen Koffer und verließ den Keller durch den Not­ausgang. Draußen wurde ich von einem fürchterlichen Feuersturm empfangen. Die Luft war ein einziges Feuermeer. Ich rannte in Richtung Bürgerwiese.«2 Während die Gymnasiasten aus der Schule fliehen, versuchen andere, sich zu ihr hinzukämpfen. Eine von ihnen ist Ursula Bobe, die ihren jüngeren Bruder Helfried sucht. Der Georgplatz ist abgesperrt, und die Helfer lassen sie nicht durch. »Ein Mann wusste genau, dass alle Schüler noch am Leben waren und weggebracht würden. Ich würde sie doch nie finden und mich selbst in Gefahr bringen. Schweren Herzens trat ich den Heimweg nach Wilschdorf an. Am ›Wilden Mann‹ angelangt, kam der zweite Angriff. Dresdens Himmel war übersät mit Christbäumen. Ich war so überzeugt, dass die Kreuzschüler alle gerettet und außerhalb von Dresden waren.«3Kreuzkantor Rudolf Mauersberger ist ebenfalls auf dem Weg zur Kreuzschule, obwohl bei dem Angriff seine Wohnung getroffen worden ist. Er hat gerade die Bürgerwiese erreicht, als der zweite Angriff beginnt, noch vernichtender als der erste. »Ich warf mich auf die Straße und musste eine Dreiviertelstunde liegen, einige hundert Meter vor der Kreuzschule, wo eine Sprengbombe nach der andern niederging«, berichtet Mauersberger. »Es steht auch kein Haus mehr dort, ja nicht einmal ein Baum steht noch. Nur Baumstümpfe siehst Du da. […] Als ich endlich zur Kreuzschule kam, war alles menschleer und wie ausgestorben. Das Gebäude brannte noch. Man konnte sich nicht aufhalten, weil man dauernd mit schlimmster Atemnot kämpfen musste.«4 Mauersberger erleidet eine Rauchvergiftung; er wird nie wieder singen können.5

Wolfgang Bitterlich hat den Angriff auf ähnliche Weise überlebt. Auch er begibt sich am frühen Morgen zum Georgplatz. In den Gängen der Schule liegen Tote. So schnell er kann, läuft er gemeinsam mit einem Elternpaar, das seinen Jungen sucht, in den Luftschutzkeller der Internatsschüler. Es ist heiß und stickig, der Raum hat kaum noch Atemluft, ist voller Kohlenmonoxid. Manche Kruzianer tragen zudem Gasmasken. Die einzige Reaktion der noch Lebenden ist: »Lasst uns schlafen!« Zu dritt zerren sie diejenigen, die auf den Bänken sitzen, nach oben. Dann kümmern sie sich gemeinsam mit zwei weiteren Männern um die Liegenden, die tot zu sein scheinen. Als Bitterlich bei dem nach draußen gebrachten Siegfried Berndt Lebenszeichen bemerkt, beginnt er Wiederbelebungsversuche. Als aus der Nase seines Schulfreundes rosafarbener Schaum tritt, glaubt er an eine Besserung und verdoppelt die Anstrengungen, bis ein Mann ihm erklärt: »Die Mühe kannst du dir sparen, der ist tot.«6

Neben den Kreuzschülern im Alumnat sind weitere während des zweiten Angriffs im Großen Garten ums Leben gekommen und andere in ihren Elternhäusern, insgesamt elf – einer von sechs bei der damaligen Chorstärke. Alle drei Pfarrer der Kreuzkirche sind tot, wie auch mehrere Angestellte des Alumnats. Dazu kommen die Verluste unter den Angehörigen der Kreuzschüler. Besonders schwer trifft es den Apothekersohn Hermann Barth, der seine Schwester und seine Eltern verliert. Das Dasein als Vollwaise wird sein Leben von nun an prägen.7

»Als ich nach zwei Tagen immer noch nichts von Helfried gehört hatte, lief ich von meiner Arbeit in Hellerau ins Stadtzentrum«, berichtet Ursula Bobe. »Am Georgplatz angekommen, wurden überall rechts und links die steifen toten Körper mit Mistgabeln auf LKW und Pferdewagen geladen. Als ich der Kreuzschule näher kam, musste ich feststellen, dass auf den Vorstufen mein kleiner Bruder Helfried und Theo Kühn lagen. Die blonden Haare von Theo sahen aus, als wären sie weiß geworden. Als ich die beiden sah, wurde mir schlecht, und ich musste gestützt werden.« Zwei Männer tragen die Leichen ans Körnerdenkmal auf dem Platz. Helfried trägt nur noch einen Schuh, den anderen hat er offenbar auf der Flucht verloren. Später erfährt Ursula von einem Kruzianer, er habe dem Toten noch über die Hand gestrichen. Da trug Helfried noch den blau-weißen Schülerring, das äußere Kennzeichen der Zugehörigkeit zu einer verschworenen Gemeinschaft. In seiner Jacketttasche steckte ein Füllfederhalter, neben ihm stand sein kleiner Koffer mit den wenigen Habseligkeiten, die ihm wichtig waren. Als Ursula den Bruder findet, ist all das bereits geplündert worden. An seinem Körper befestigt ein Mann einen Zettel: »Leiche wird abgeholt«. »Am nächsten Tag hat mein Vater meinen Bruder abgeholt. Als er mit Helfried auf dem Arm zu Hause ankam, brach meine Mutter schreiend zusammen. Nachbarn erzählten uns, dass Professor Mauersberger später am Grab gekniet und bitterlich geweint hat. Er liebte doch jeden Schüler, als wäre es sein eigenes Kind.«8

Anfang März 1945 beschreibt Mauersberger in einem Brief an den Kruzianer Klaus Zimmermann seinen Schmerz »um alles, was wir gemeinsam verloren haben: die toten Alumnen, unsere liebe Kreuzschule, der schöne Gesangssaal, die Kreuzkirche! Wie soll man so Furchtbares ertragen können?«9 Zwar rettet schon zu dieser Zeit der Kreuzkantor mit einem in Olbernhau besorgten Lastwagen die Notenreste aus den Ruinen des Gymnasiums. Doch ergibt das noch einen Sinn? Die Schule ist zerstört, wie auch die Stadt, viele Schüler sind tot. Der von Hitler angezettelte Krieg ist für Deutschland verloren, es herrscht die Angst vor der unweigerlichen Rache der Roten Armee für die Kriegsgräuel in der Sowjetunion. Wie soll ein Neuanfang da möglich sein? Alles ist vorbei.

In dieser Situation beginnt Mauersberger zu komponieren. Er kann nicht anders. Es entsteht die Trauermotette »Wie liegt die Stadt so wüst«. Den Text hat er den Klageliedern des Jeremias entnommen:

Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war.

Alle ihre Tore stehen öde.

Wie liegen die Steine des Heiligtums

vorn auf allen Gassen zerstreut.

Er hat ein Feuer aus der Höhe

in meine Gebeine gesandt und es lassen walten.

Ist das die Stadt, von der man sagt,

sie sei die Allerschönste, der sich

das ganze Land freuet?

Sie hätte nicht gedacht,

dass es ihr zuletzt so gehen würde;

sie ist ja zu gräulich heruntergestoßen

und hat dazu niemand, der sie tröstet.

Sein ganzes Leid, sein ganzes Suchen nach einem Sinn hat Mauersberger in diese Musik gelegt. Aber wird sie jemals aufgeführt werden?

2 Katzenbart

»Mit der Zerstörung Dresdens schien zugleich das Schicksal des Kreuzchores besiegelt«, erinnert sich Peter Schreier, seit 1943 in der Kruzianer-Vorbereitungsklasse an der Kreuzschule. Im März 1945 sollte über seine endgültige Aufnahme entschieden werden. Doch dazu kommt es nicht. »Meine Kruzianerlaufbahn schien mit dieser Bombennacht abgebrochen, noch ehe sie eigentlich begonnen hatte. Der Kreuzchor besaß kein Obdach mehr, die überlebenden Sänger waren in alle Winde verstreut, Rudolf Mauersberger hatte sich zunächst in seine erzgebirgische Heimat zurückgezogen. Niemand wusste, ob und wie es weitergehen würde.«1

Ist an eine Wiederaufnahme des Schulbetriebs in den letzten Kriegswochen nicht mehr zu denken, so versucht Mauersberger, wenigstens die Sänger zusammenzuhalten. Tatsächlich findet sich ein Ausweichquartier im sächsischen Schneeberg. Am 1. Mai soll dort der Chor die Arbeit wiederaufnehmen. Zwei Briefe des Kantors aus dem April zeigen seine Stimmungslage zwischen Resignation und Hoffnung. »Jetzt fange ich an, wieder langsam Mensch zu werden. Ich habe hier im Gebirge nach einer neuen Bleibe für den Chor gesucht, um das Institut zu retten«, schreibt er an seine Cousine. »Das Ausmaß der Vernichtung unserer Werte lässt sich nicht beschreiben. Es handelt sich nur darum, dass die Jungens nicht dauernd auseinandergerissen sind.«2 Während er in diesem Brief erklärt, er »werde aber etwas zu alt sein für einen neuen Anfang«, ermutigt er sich selbst in einer etwa zeitgleichen Nachricht an seine spätere Sekretärin Erna Hofmann: »Das ist nicht gleichbedeutend, dass wir die Tradition gerettet hätten. Wir fangen nur ganz ärmlich von vorne an, und da habe ich gerade das richtige jugendliche Alter dazu.«3 Daraus kann unter Kriegsbedingungen freilich nichts werden. Am 19. April wird auch Schneeberg von einem Bombenangriff erschüttert, Teile der Altstadt, vor allem der spätgotische Bergmannsdom werden völlig zerstört. Erst die deutsche Kapitulation am 8. Mai macht den Weg frei für einen Neuanfang.

Bereits zwei Tage später ernennt der neue sowjetische Stadtkommandant den Sozialdemokraten und ehemaligen Kruzianer Rudolf Friedrichs zum Oberbürgermeister.4 Neben der Herstellung der öffentlichen Sicherheit ist der Roten Armee vor allem daran gelegen, auch das kulturelle Leben der Elbmetropole rasch wiederzubeleben. Das klingt heute erstaunlich – und klang es auch damals schon. Der Dresdner KPD-Funktionär Herbert Gute äußert auf diese Forderung seitens eines von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) eingesetzten Kulturoffiziers hin offenes Unverständnis: »Sie wissen, wie schwer unsere Stadt zerstört ist. Die Menschen leben zusammengepfercht in den wenigen noch benutzbaren Wohnungen. Sie haben Hunger.« Unbeirrt antwortet sein Gegenüber, ohne Optimismus und Vertrauen in die eigene Kraft ließen sich Hunger und Zerstörung nicht überwinden: »Wer kann besser helfen als die Kunst? Sie haben doch hier berühmte Traditionen!« Das ist keine Phrase, sondern existentielle Erfahrung. Die fürchterliche Blockade von Leningrad durch die Wehrmacht überstanden die Bewohner auch deshalb, weil sie selbst angesichts des Massensterbens bis zuletzt noch in Konzerte gingen. Dennoch gibt sich der KPD-Mann nicht sofort geschlagen. Die erwähnten Traditionen seien solche der herrschenden bürgerlichen Klasse. »Nun, wer verbietet Ihnen, die Tradition besser zu machen?«, fragt der russische Offizier zurück.5

Einer der tonangebenden Kulturpolitiker innerhalb der Roten Armee ist der Leningrader Alexander Dymschitz, mitverantwortlich unter anderem für die Wiedereröffnung von Theatern und die Gründung der DEFA. Dymschitz holt Brecht zurück nach Berlin und beruft Arnold Zweig zum Akademiepräsidenten.6 »Wir wussten, dass der Nazismus die deutsche Kunst zwar missbrauchen, aber niemals töten konnte«, erklärt er 1946. »Und weil wir wussten, dass auch innerhalb Deutschlands die deutsche Kunst noch atmete, ließen wir uns von den Trümmern nicht täuschen, sondern gingen daran, gleichsam wie Archäologen diese Kunst wieder auszugraben.«7 Mit diesen Aussagen ist der Ton vorgegeben, der Kreuzschule und Kreuzchor in den kommenden Jahrzehnten prägen wird. Eine Abschaffung der Institutionen steht nicht im Raum, sehr wohl dagegen ihre Umwidmung im Sinne einer neuen, sozialistischen Doktrin. Die Frage wird sein, was von der alten Tradition bewahrt werden kann.

Es ist ein warmer Frühlingstag, als am 30. Mai erstmals wieder der Kreuzchorstempel verwendet wird, freilich ohne das vor wenigen Wochen noch ganz selbstverständlich benutzte Hakenkreuz, das der Studienrat für Erdkunde, Englisch und Deutsch, Dr. Dittrich, nun feinsäuberlich entfernt hat.8 Der Stempel ziert ein Schreiben, das Joachim Schröter und Manfred Kühnel, zwei junge Kruzianer der Klasse 5, zu einem Passierschein verhelfen soll. Ihr Auftrag ist es, Rudolf Mauersberger im Erzgebirge aufzusuchen und um seine Rückkehr nach Dresden zu bitten.

In der Oberschule auf der Kantstraße in Dresden-Plauen wird nach Rücksprache mit dem Schulamt ein provisorischer Standort ausgebaut: Die Keller sollen als Internat dienen, die Schulräume für den Unterricht, die Aula als Gesangssaal. Das, was einmal Büro werden soll, sieht mehr als dürftig aus. Ein feuchter Keller mit vermauerten Fenstern, einem heruntergekommenen Schreibtisch und zwei klapprigen Stühlen. Von hier aus begibt sich Studienrat Dittrich am darauffolgenden Morgen in die Neustadt, wo die meisten Behörden ihren provisorischen Sitz haben. Oberbürgermeister Rudolf Friedrichs ist übernächtigt und erstickt fast in Verwaltungsaufgaben, doch beim Stichwort Kreuzschule wird der frühere Kruzianer sofort hellwach.

Dennoch erteilt Oberbürgermeister Friedrichs dem Vorschlag, zum 1. Juli die Schule wiederzueröffnen, eine Absage. Der Grund ist einfach: Noch gibt es keine Richtlinie, was an den Schulen im Jahre null eigentlich unterrichtet werden soll. Von Lehrplänen keine Spur. Dürfen die vielen NS-belasteten Lehrer weiter Wissen vermitteln? Wer könnte an ihre Stelle treten? Diese Fragen sind im Sommer 1945 noch nicht mal annähernd beantwortet. Gegen eine Neugründung von Chor und Alumnat dagegen gibt es keine Einwände.

»Als ich pünktlich am 1. Juli in der Kantstraße erschien, war ich der erste Schüler, und in der folgenden Nacht schlief ich auch allein im Internat«, erinnert sich Peter Schreier. Dabei sollte ja über seine Zulassung erst noch befunden werden. Doch von einer abschließenden Prüfung ist jetzt keine Rede mehr. Die Schüler der Vorbereitungsklassen werden ebenso eingegliedert wie die regulären Chormitglieder – wenn sie denn überhaupt auffindbar sind. »Dieses Kuriosum, dass ich als erster beim Neubeginn des Kreuzchores zur Stelle war, ist in die Chronik eingegangen. Nach und nach fanden sich weitere Schüler ein, und im Laufe des Monats war schon fast ein arbeitsfähiges Ensemble beisammen.«9 Dass noch keine Schule stattfindet, empfinden Kantor und Kruzianer gleichermaßen als Chance, um das Niveau des Chores schnell wieder zu heben. »Wir probten drei Stunden am Vormittag und drei Stunden am Nachmittag«, erinnert sich Schreier.10 »Dass es keine Schule gab, darüber waren wir Jungs nicht gerade unglücklich.« Dar­über hinaus besteht der Alltag im Abschreiben von Noten, weil die meisten Bestände verbrannt sind, sowie im Enttrümmern der zerstörten Kreuzkirche.

Am 4. August tritt der Kreuzchor zum ersten Mal seit dem Bombenangriff wieder in der von Schutt und Asche befreiten Ruine der Kreuzkirche auf. Mauersbergers eben erst fertiggestellte Trauermotette »Wie liegt die Stadt so wüst« wird uraufgeführt. Die Gedenkvesper zu Ehren der getöteten Kruzianer übt eine starke Wirkung auf die Dresdner Bevölkerung aus. Der 16-jährige Karl-Ludwig Hoch schreibt in sein Tagebuch: »Plötzlich ertönte ganz langsam die tiefste Glocke – viel lauter als früher, weil alle Fenster kaputt sind. Einige Männer und Jugendliche hatten unter Schwierigkeiten ein starkes Seil angebracht, die Elektrik ist verbrannt. – Es war wie ein Aufschrei und Trostruf über einer toten Stadt.«11 Die zum Stillstand gekommene Zeit – nach diesen Glockenschlägen scheint sie wieder zu laufen.

Am 25. August legt die Sowjetische Militäradministration in ihrer Besatzungszone mit dem Befehl Nr. 40 den Grundstein für die Gründung einer Zentralverwaltung für Volksbildung. Deren Präsident (und später auch Volksbildungsminister) wird Paul Wandel, seit 1931 kommunistischer Kader in der Sowjetunion, wo er persönlicher Sekretär von Wilhelm Pieck und Mitglied des Auslandsbüros der KPD in Moskau gewesen ist. Aufgrund seines Lebenslaufes aus Sicht der neuen Machthaber über jeden Zweifel erhaben, ist Wandel dennoch kein klassischer Hardliner und macht sich gelegentlich auch für Freiräume in der Bildungspolitik in der SBZ und später der DDR stark.

Zum 1. Oktober setzt der Schulbetrieb überall in Ostdeutschland wieder ein.

In Dresden ist das eine Herausforderung. In der Innenstadt gibt es kaum noch intakte Schulgebäude. Dem Kreuzgymnasium werden Räume in der 6. Volk­sschule in der Ehrlichstraße und im Wettiner Gymnasium zugewiesen. Das Wettinum selbst, einst zur Entlastung als zweites städtisches Gymnasium gegründet, ist stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Oberschule West und das Kreuzgymnasium nutzen den funktionstüchtigen Flügel des Gebäudes abwechselnd im Vormittags- und Nachmittagsunterricht. Die Chorknaben werden dagegen in der Kantstraße beschult. Der Unterricht beginnt mit 15 zusammengewürfelten Klassen, acht weniger als 1937.12 Die Kruzianer bleiben unter sich, während Schüler des zerstörten Vitzthum-Gymnasiums sowie des sogenannten Staatsgymnasiums in die übrigen integriert werden.

Zum neuen Rektor wird der 1882 in Dresden geborene Oberstudienrat Dr. Werner Hoffmann bestimmt, der seit 1934 an der Kreuzschule tätig und schon zuvor Konrektor gewesen ist.13 Anders als Mauersberger war der beliebte Griechisch- und Lateinlehrer nie Mitglied der NSDAP und scheint als politisch Unbelasteter eine gute Wahl. Von den Schülern hat er aufgrund seines markanten Schnauzers den Spitznamen »Katzenbart« erhalten.14

Kreuzschüler Hans-Helmut Bickhardt15 berichtet, dass sich Hoffmann während der Nazizeit des Öfteren schützend vor seine Schüler gestellt hatte. So beispielsweise bei Peter Hepner, der als Halbjude hätte gemeldet werden müssen und der unter seinem Schutz so lange an der Schule bleiben konnte, bis es eben nicht mehr ging. Der 1928 geborene Hepner überlebte die Judenverfolgung in einer Schutzwohnung der Villa Fliederhof in der Goetheallee. Jetzt wird er wieder im Kreuzgymnasium aufgenommen und legt dort auch sein Abitur ab.16 Ein anderer Schüler, der noch in den letzten Kriegsmonaten zur Wehrmacht hätte eingezogen werden sollen, wurde nach einer Intervention Hoffmanns zurückgestellt.

Die Berufung zum Rektor kann auch deshalb als glücklich gelten, weil Werner Hoffmann neben pädagogischer Professionalität von tiefer musikalischer Leidenschaft erfüllt ist. Er spielt Violine im Dresdner Mozartorchester17 unter der Leitung von Erich Schneider, der bis zu ihrer Zerstörung zugleich Kantor der Frauenkirche war. Vor dem Krieg als bestes Laienorchester Deutschlands ausgezeichnet, trat der Klangkörper mit Werner Hoffmann in seiner Mitte zuletzt im Dezember 1944 in der Frauenkirche auf. Im Sommer 1945 nehmen die verbliebenen Mitglieder die Proben wieder auf und führen schließlich im November in der Heilig-Geist-Kirche in Dresden-Blasewitz die Bach-Kantate »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« sowie Beethovens C-Dur-Messe auf. Durch solche Aktivitäten verdient sich Hoffmann zusätzlich den Respekt der Kruzianer.