Wie laut soll ich denn noch schreien? - Jürgen Dehmers - E-Book

Wie laut soll ich denn noch schreien? E-Book

Jürgen Dehmers

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Beschreibung

Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule hat die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten. Dass ausgerechnet in einer pädagogischen Modellschule sexuelle Übergriffe stattgefunden haben, schockierte die Menschen − und viele wollten die schreckliche Wahrheit zuerst nicht glauben, weil die Ereignisse ihre Vorstellungskraft überstiegen. Dazu sagt Jürgen Dehmers: «Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu!» Mittlerweile ist bekannt, dass über hundert Schüler Opfer des Missbrauchs wurden und mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher zu den Tätern gehören. Mit Jürgen Dehmers berichtet der Initiator der Aufklärung persönlich von den Vorfällen. Dehmers gelang es bereits als jungem Mann, trotz massiver Traumatisierungen und ideologischer Gehirnwäsche ein Leben nach der Odenwaldschule zu finden und Distanz zwischen sich und den schrecklichen Erlebnissen zu schaffen. Das Buch demaskiert die Täter und ihre Helfer, die schutzbefohlenen Kindern unheilbare Verletzungen zugefügt haben. Darüber hinaus gelingt es dem Autor, das «System Odenwaldschule» zu beleuchten und dem Leser die Hintergrundinformationen zu liefern, wie es dazu kommen konnte, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern zum Alltag einer hochgelobten Reformschule gehörte, in der die Schule alles war und das einzelne Kind nichts. Ein Aufklärungskrimi, der spannend bleibt bis zum Schluss, obwohl die Täter ab der ersten Seite bekannt sind.

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Seitenzahl: 492

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Jürgen Dehmers

Wie laut soll ich denn noch schreien?

Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch

Aus juristischen Gründen wurden die Namen

der handelnden Personen teilweise pseudonymisiert.

Meinen Geschwistern

denen die sprechen und denen die schweigen

den Lebenden und den Toten

Prolog

Das Telefon klingelte, ich meldete mich wie gewohnt.

«Jürgen Dehmers.»

Es war relativ spät, normalerweise rief kaum jemand am fortgeschrittenen Abend bei mir an. Ich stand im Wohnzimmer und ging eher reflexartig ans Telefon, als dass ich wirklich mit jemandem hätte reden wollen. Es war der Übergang vom Frühling zum Sommer, die Saison hatte begonnen, und ich war müde vom Training. Das war 1998, ich war zu diesem Zeitpunkt 29Jahre alt.

«Hallo, hier ist Thorsten, Gerold ist wieder an der OSO. Wir müssen was machen.»

Thorsten ist mein Freund, mein Bruder. Wir haben gelacht, gestritten, gefeiert, uns nach der Schulzeit aus den Augen verloren, wiedergefunden, und nun sind aus den zwölfjährigen Jungs, die sich damals, als sie sich das erste Mal im Sommer 1981 an der Odenwaldschule begegneten, gegenseitig für Mädchen hielten, weil sie beide süß waren und lange Haare hatten, Männer geworden. Thorsten war einen Monat jünger als ich, also fast ein Zwillingsbruder. Gerold Becker war von 1972 bis 1985Schulleiter der Odenwaldschule. Bereits seit 1969 war er dort Lehrer.

Über die sexualisierte Gewalt, die uns von Gerold Ummo Becker angetan wurde, hatten wir nie gesprochen. Es gab keine Andeutungen, keine zotigen Witze, keine Hinweise zwischen uns beiden. Es gab nichts. 16Jahre lang. Thorsten brauchte keine Erklärungen. Es war alles klar. Glasklar. Wir brauchten nicht viele Worte. Ich erwiderte:

«Ja. Wir müssen was machen. Das ist klar.»

Mein gesamter Körper war in Alarmbereitschaft. Mein Puls schlug höher, ich begann zu schwitzen, Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich hatte sofort wieder ein Gespür für die Gefahr, die von Becker ausging. Ich hatte sofort wieder Bilder in meinem Kopf von meinen Erlebnissen mit ihm. Ich war wach. Hellwach. Doch statt der Starre und der Angst, die ich als Kind empfand, wenn Becker mir zu nahe trat, war ich nun bereit zu handeln, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was diese Entscheidung für Konsequenzen haben würde.

Was wir damals nicht wussten, was Becker nicht wusste, was niemand wusste: An diesem Abend haben wir damit begonnen, die Geschichte der Odenwaldschule neu zu schreiben. Unsere Geschichte mit der Odenwaldschule neu zu schreiben. Unsere Lebensgeschichte neu zu schreiben. Inzwischen haben unzählige Menschen ihre Biographien neu schreiben müssen.

Becker, der pädokriminelle Schulleiter, der über fast zwei Jahrzehnte lang Schüler der Odenwaldschule systematisch und in inflationärem Ausmaß sexuell misshandelt hatte und der nach seinem Abschied aus der Odenwaldschule seine Karriere als einer der bedeutendsten Pädagogen der Bundesrepublik fortsetzte, hatte nicht mit uns gerechnet. Man sieht sich immer zweimal. Aber Becker war kein einsam handelnder Pädokrimineller. Und wir nicht die «beiden bedauerlichen Einzelfälle», zu denen uns die Verantwortlichen der Schule immer machen wollten.

Im Abspann von Christoph Röhls Film «Und wir sind nicht die Einzigen», der im Frühjahr 2011 fertiggestellt wurde, ist über die Odenwaldschule zu lesen:

«Zwischen Mitte der 60er Jahre und Ende der 90er Jahre gab es dort 18Täter. Bis zum Januar 2011 haben 132Schüler der Odenwaldschule gemeldet, dass sie sexuell missbraucht wurden.»

Das hätte damals unsere Vorstellungskraft überstiegen. Rechne ich diese Zahlen heute hoch – die Dunkelziffer ist bei sexuellem Missbrauch enorm –, komme ich auf eine vierstellige Anzahl schwer beschädigter Biographien. «Der Dehmers spinnt», höre ich die Unkenrufe. So wie seit zig Jahren immer wieder. Wie gern würde ich einmal danebenliegen.

Zum Zeitpunkt von Thorstens Anruf hatten wir mit dem Puzzle «Odenwaldschule und sexueller Missbrauch» erst begonnen. Von manchen wurden bis dahin die Puzzleteilchen nicht als solche erkannt, weil sie die Erlebnisse verdrängt hatten oder nicht zuordnen konnten. Von denen, die sie erkannten, versteckten sie viele, weil sie sich schämten oder die Erinnerung so schmerzhaft war oder sie nicht wussten, wohin damit. Einige erkannten sie und wussten auch, wohin damit. Die wurden vom Schulgelände gejagt oder in Gesprächen von den Verantwortlichen belogen, beschwichtigt und bedroht. Rechtsanwälte rieten ihnen ab, die Täter anzuzeigen, Therapeuten wiesen auf die Risiken der Retraumatisierung hin, die gerichtliche Auseinandersetzungen zwangsläufig mit sich bringen würden. Und so schlummerten die Puzzleteilchen verstreut in den Erinnerungen der einzelnen Beteiligten vor sich hin und stifteten im schlimmsten Falle als eingekapselte Traumata ihr Unheil. Ich bin weit davon entfernt, alle Puzzleteilchen zu sehen, aber das Bild ist klar erkennbar. Das Bild des Horrors. Schaue ich genau hin, höre ich Kinderstimmen schreien und tote Seelen wandeln, die keine Ruhe finden können.

Drei Jahre zuvor, im Sommer 1995, war ich bei einem Ironman-Triathlon über die Distanzen 3,8Kilometer Schwimmen, 180Kilometer Radfahren und 42Kilometer Laufen am Start. Es wurde einer der schwierigsten Wettkämpfe für mich. Beim abschließenden Marathon bekam ich einen Krampf im Oberschenkel. Durch einen Ernährungsfehler hatte ich sehr viel Flüssigkeit verloren und war bei 32Grad im Schatten ziemlich dehydriert. Ich wusste, dass sich ein Krampf irgendwann auch wieder auflöst. Ich wusste nur nicht, wann. Ich war entschieden, dieses Rennen zu finishen, und hoffte, dass der Krampf und damit die höllischen Schmerzen im Bein endlich verschwinden würden und ich ohne Gehumpel den Marathon fortsetzen könnte. Ich spürte jeden Schritt. Ich zählte jeden Kilometer. Nach 22 langen Kilometern war es so weit, mein Bein entspannte sich – und ich lief die letzten Schritte mit einem entspannten Gesicht ins Ziel.

Seit diesem Wettkampf hatten meine mentale Klarheit und meine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und aufrechtzuerhalten, zugenommen. Ich war entschieden, meine Wahrheit über mein Leben auf der Odenwaldschule laut und unmissverständlich zu sagen.

Ich erinnerte mich an meinen Zieleinlauf bei diesem Wettkampf und das Gefühl der Stärke, das sich im Anschluss an dieses Rennen in mir ausbreitete. Ich hatte die Gewissheit, dass ich wusste, was ich tat – und dass ich es tun würde.

Heute wissen alle: An der Odenwaldschule gab es viel mehr Täter, es gab viel mehr Opfer, es gab ein System von Menschen, die diesen ganzen Wahnsinn erst möglich gemacht haben. Die beste Schule Deutschlands war eine Hölle für Kinder, dazu verkommen, um die perversen Bedürfnisse von Erwachsenen zu befriedigen. Ideologisch. Sexuell. Gehirnwäsche plus Folter. Two in one. Vom Bundespräsidenten Johannes Rau im Jahr 2005 als «Besonderer Ort» gewürdigt. Die Urkunde hing im Jahr 2010 noch groß im Bürohaus der Schule.

Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich in meinem Zimmer überall auf dem Boden Zeitungsausschnitte aus den letzten Wochen und Monaten liegen. Ich kann nicht mehr alles lesen, was geschrieben wird. Die Menge ist zu groß. Nach dem öffentlichen Hearing im Juli 2010 an der Odenwaldschule, der «Wahrheitskommission» nach dem Vorbild der Veranstaltungen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, bei denen Opfer und Täter das Wort erheben konnten, gab ich am nächsten Tag «Odenwaldschule» und «News» in eine Internet-Suchmaschine ein und erhielt 330Zeitungsartikel allein zu dieser Veranstaltung. Weitere folgten in den kommenden Tagen. Vieles finde ich gut und denke an die Worte von Thorsten im Januar 2010: «Wir kriegen die Wichser!»

Ich lache. Das ist nicht neu. Ich lebe gern, ich lache öfter. Ich lache bei dem Thema Odenwaldschule. Das ist neu. Ohne meinen Humor und meine Lebensfreude wäre ich tot. So viel ist sicher.

Hunderte Male sah ich meine Worte dieses Abends zitiert. «Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu», habe ich noch meine eigene Stimme im Ohr. «Wie laut hätten wir denn noch schreien sollen?», platzte es an diesem Abend aus mir heraus und übertönte den Redner mit dem Mikrofon in der Hand, der in aller Seelenruhe über die Chronologie von 1999 sprach. Viele der über zweihundert Zuhörer zuckten zusammen, als meine zornigen Worte ihre Ohren erreichten, wie ich später von ihnen hörte. Einer meiner Freunde sagte mir Tage danach, dass er die Halle verlassen musste, als er mich schreien hörte. Er hatte es nicht ausgehalten. Diese Geschichte ist auch nicht zum Aushalten.

Manchmal fällt mir etwas auf, meistens dann, wenn ich leicht gelangweilt irgendeiner Alltagsbeschäftigung nachgehe, so wie in dem Moment, in dem ich die Entscheidung traf, diesen Text zu schreiben. Ich saß im Garten und versuchte, meine Kaffeetasse so auf dem Campingtisch abzustellen, dass der Kaffee nicht überschwappte. Ich hatte die Tasse viel zu voll gemacht, so wie immer, es war fast zehn Uhr, die Sonne würde gleich über das Dach klettern, so wie an jedem Sommertag.

Wozu noch ein Buch über die Odenwaldschule? Es haben alle berichtet. Alle? Alle! Ich denke an die Frage Cäsars an seinen Gesandten nach der Besetzung ganz Galliens, wie in Asterix eindeutig belegt. Ja. Alle. Focus, Stern, Frankfurter Rundschau, taz, Spiegel, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche, überall war die skandalöse und für viele Menschen immer noch unvorstellbare Geschichte der Odenwaldschule auf den Titelblättern. Tagesschau, Tagesthemen und Heute Journal brachten die Neuigkeiten aus Ober-Hambach als Topmeldungen. Spiegel-TV und Mona Lisa berichteten wiederholt über den Stand der Dinge. Die Frankfurter Rundschau berichtete fast täglich über einen Zeitraum von mehreren Wochen. Sie hatte natürlich, bedingt durch den ersten Aufklärungsversuch und die damit verbundene Publikation 1999, einen Vorsprung an Informationen und Kontakten, aber sie hatte es eben auch gemacht. Wer macht, hat Macht, habe ich immer meiner Mitstreiterin Kathrin Heres erwidert, wenn sie in der ihr eigenen Bescheidenheit ihre Wichtigkeit in diesem Prozess herunterspielte und anmerkte, dass die Friedhöfe voll seien von Leuten, die sich für unersetzlich hielten. Aber davon später mehr.

Das Bild des Goethe-Hauses, des zentralen Wohngebäudes der Odenwaldschule, war im März 2010 das am häufigsten gezeigte Motiv in den deutschen Medien.

Es ist also alles gesagt, alles geschrieben, alles gesendet. Im Jahr 2011 wird die ARD eine 90-minütige Dokumentation von den Dokumentarfilmerinnen Regina Schilling und Luzia Schmid ausstrahlen, das Team des Regisseurs Christoph Röhl ist bei 3sat am Start. Alles Nachrichten von gestern! Alles Nachrichten von gestern?

Die Idee, ein Buch über die Causa Odenwaldschule zu schreiben, hatte ich schon lange, ich will die Geschichte aufgeschrieben haben. Wirklichkeitskonstruktion via Schrift auf Papier. Es ist mir wichtig, die Definitionsmacht über meine Erlebnisse zu behalten. Was geschrieben steht, existiert. Außerdem muss der ganze Wahnsinn mal raus aus meinem Kopf.

Je besser die Leute, mit denen ich Gespräche über die Odenwaldschule führe, über den Prozess der Aufklärung des Missbrauchsskandals Bescheid wissen, desto interessierter zeigten sie sich an meiner Idee, die ganze Geschichte aufzuschreiben.

Die Geschichte aus meiner persönlichen Perspektive. Diese Geschichte ist ziemlich unbekannt, genau genommen kennen sie eine gute Handvoll Personen.

Diese Geschichte ist die Verbindung zweier paralleler Prozesse. Die Verbindung der äußeren Ereignisse, kommuniziert durch die Massenmedien und fast jedem Bundesbürger inzwischen hinlänglich bekannt, sozusagen aus Funk und Fernsehen, verbunden mit den vielen Puzzleteilchen eines weitgehend unbekannten Prozesses der Auseinandersetzungen und Gespräche, die zu einem großen Teil von mir am Telefon geführt wurden, weil meine Gesprächspartner in der ganzen Republik verstreut sind.

Die beiden wichtigsten Personen für mich in diesem Kontext leben in Berlin und Hannover, Thorsten Wiest und Kathrin Heres. Meine Freunde. Meine Kombattanten. Meine Diskussionspartner. Zum Glück habe ich zwei Telefone. Die Akkulaufzeiten dieser Geräte sind einfach zu kurz. Eins war immer auf der Ladestation, das andere an meinem Ohr. Und es müssen schnurlose sein, ich laufe beim Telefonieren immer durch die Wohnung. Ungezählte Kilometer.

Für mich gab es in der Auseinandersetzung mit der Odenwaldschule zwei Extreme zu erleben. Zum einen, wie die Öffentlichkeit 1999 auf die Bekanntmachung des Missbrauchsskandals in der Frankfurter Rundschau und in wenigen anderen Medien reagierte, nämlich gar nicht. Zum anderen die Riesenwelle, die im März 2010 losbrach, als ich am Tag nach Erscheinen der Samstagsausgabe der Frankfurter Rundschau nach Hause kam und mein Anrufbeantworter mir mitteilte: «Sie haben 17 neue Anrufe.»

Irgendjemand hatte unser letztes Positionspapier zum Thema Aufklärung und Verantwortungsübernahme, das wir an die Gremien der Odenwaldschule mit Ultimatum zur Stellungnahme geschickt hatten, an den größeren Teil der deutschen Journalisten weitergegeben. Von nun an blinkte jeden Tag, wenn ich nach Hause kam, mein Anrufbeantworter, zum Zeichen, dass er keine neuen Nachrichten mehr aufnehmen konnte. Ich habe nur ein Gerät für meinen Privathaushalt, Speicherzeit 15Minuten. Das Interesse sollte für Tage, Wochen und Monate kaum nachlassen. Meine ausgedruckten E-Mails füllen Aktenordner. Die aufeinandergelegten Zeitungen mit Artikeln zur Odenwaldschule sind ein respektabler Stapel.

Jörg Schindler, der Journalist, der 1999 den ersten Artikel zum Thema schrieb, formulierte für diese Ereignisse die Metapher, dass er 1999 dachte, wir hätten einen riesigen Stein ins Wasser geworfen, der aber zu unserem Erstaunen keine Wellen schlug. Das Wasser blieb glatt wie ein Spiegel. Als wir 2010 wieder einen Stein ins Wasser warfen, hielten wir die Wellen für möglich, manche hielten sie sogar für wahrscheinlich, aber mit diesem Tsunami hatte niemand gerechnet. Jetzt hieß es, das Surfbrett schnappen und zusehen, dass man auf dem Brett ist, wenn die Woge herantost.

Nehme ich mich zu wichtig? Gesichert ist, dass ich gemeinsam mit Thorsten der Erste war, der die Odenwaldschule mit ihrer Geschichte konfrontierte und nicht lockerließ, als die Verantwortlichen in der Schule eigentlich nichts mit dem zu tun haben wollten, was wir zu erzählen hatten. Ebenso war ich es gewesen, der im April 2008 die neue Schulleiterin, Frau Kaufmann, anschrieb und sie fragte, wie die Odenwaldschule eigentlich gedenke, mit ihrer Geschichte rund um den sexuellen Missbrauch anlässlich des 100-jährigen Jubiläums im Jahr 2010 umzugehen. Von ihrer Antwort, man werde die Vergangenheit «eher kursiv» behandeln, ließ ich mich nicht verscheuchen. Dass zu diesem Zeitpunkt Becker längst Thema des Vertrauensrats der Schule war, erfuhr ich erst später. Dass die Odenwaldschule sich dafür entschieden hatte, das Thema weiter unter dem Deckel zu halten, auch.

Ob es so ist, dass ich die Schlüsselfigur in dem Prozess der Aufklärung des sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule bin? Ob meine Beharrlichkeit und Unbeirrbarkeit dazu geführt haben, dass die sogenannten Pädagogen Gerold Becker und Hartmut von Hentig gestürzt sind und mit ihnen viele weitere Mittäter, Mitwisser, Handlanger und Profiteure dessen, was ich das «System Becker» genannt habe? Bin ich verantwortlich dafür, dass die Odenwaldschule, das bedeutende deutsche Internat, in die schwerste Krise ihres nun 100-jährigen Bestehens geraten ist? Vielleicht ein bisschen dick aufgetragen? Soll jeder selbst urteilen.

Vielleicht wäre auch ohne mich nun alles ans Licht gekommen, all diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber es wäre anders gelaufen. Niemand kann heute mehr sagen, er habe nichts gewusst. Vor zwölf Jahren haben wir es laut und deutlich gesagt und geschrieben, es hat bloß niemand verstehen wollen, worum es ging. Von denen, die es verstanden haben und versucht hatten, die Geschehnisse zu verdrängen, uns zu behindern und die Aufklärung zu sabotieren, spreche ich später.

In dieser ganzen Zeit hatte das Thema natürlich in mir und an mir gearbeitet. Nachdem die Publikation der Geschichte 1999 in der Frankfurter Rundschau für die Täter und die Odenwaldschule weitgehend ohne Konsequenzen blieb, sind wir erneut mit dem Gefühl zurückgeblieben, dass sich einfach kein Mensch für uns, unsere Geschichte und das uns widerfahrene Leid interessiert.

Ich denke, es ist leicht nachzuvollziehen, dass ich mich seit März 2010 immer wieder gefragt habe, was hier eigentlich läuft. Über ein Jahrzehnt lang schreiendes Schweigen – und jetzt will plötzlich jeder über alles reden, und zwar sofort. Dass das Interesse so lange anhalten würde, ahnte ich nicht! Jetzt treffe ich die Entscheidung, dass ich die Geschichte aufschreibe, meine Geschichte. Backstage sozusagen. Der Prozess der Aufklärung ist zwar nicht abgeschlossen, und der Prozess der Entschädigung hat noch nicht begonnen, aber ich finde es einen guten Zeitpunkt für ein «Was bisher geschah!». Und vor allem, was ich darüber denke.

Als mir Dr.Uwe Naumann vom Rowohlt Verlag bei unserem ersten Gespräch seine Visitenkarte gab, fiel mir eine Zeile darauf auf. «Programmdirektor Non-Fiction». Ich musste lachen. Diese Geschichte ist allerdings «Non-Fiction». 100Pro.

TEIL 1 Das Wasser

AmFußdes Berges

Als ich das Licht der Welt erblickte, sah ich außer der gleißenden Beleuchtung des Kreißsaals einer Kleinstadt noch etwas, das mich eigentlich erst mal optimistisch stimmte. Zwei Teenager. Offensichtlich ein Paar. Offensichtlich ziemlich jung. Offensichtlich meine Eltern.

Meine Mutter nahm mich dann mit nach Hause, also in das Zuhause ihrer Eltern, das sie außerdem mit einer älteren und einer jüngeren Schwester teilte. Das war Ende der 60er Jahre nicht ungewöhnlich, also nicht, wenn man Schülerin der zehnten Klasse war und sich auf seinen sechzehnten Geburtstag freute. Mein Vater wohnte ebenso bei seinen Eltern, einen Ort weiter, befand sich auf der Zielgeraden zur Volljährigkeit und in der vorletzten Runde zum Abitur, besuchte also die zwölfte Klasse des ortsansässigen Gymnasiums. Die beiden bedeutungslosen Orte in der hessischen Rheinebene trennten einige Kilometer und eine Schienenbusfahrt von einer Viertelstunde. So kam mein Vater häufig nach der Schule zu uns zu Besuch. Übernachten durfte er dort nicht. Schließlich waren meine Eltern nicht verheiratet. Noch nicht.

Die Mutter meiner Mutter drehte Zigarren in einer Fabrik. Akkord. Das war besser bezahlt. War auch nötig. Der Vater meiner Mutter war pensioniert. Mit 38Jahren. Alkoholismus. Sechs seiner sieben Geschwister starben am Suff, ein Bruder sitzt mit Schizophrenie in der Psychiatrie. Geschlossene. Zwei Teenager und ein Baby, mit zwei Wohnsitzen in ihren Elternhäusern. Mehrgenerationenmodell der späten sechziger Jahre sozusagen. Als meine Mutter wenige Wochen nach meiner Geburt anfing zu arbeiten, betreute mich ihre Mutter, die zwischenzeitlich auf Heimarbeit umgestiegen war. «Wenn du dir ein Kind anschaffst, dann sieh auch zu, wie du es durchbekommst», waren die Worte mütterlicher Zuwendung, die sie ihrer Tochter zukommen ließ. Mein Großvater war völlig vernarrt in mich, hatte er doch keinen Sohn, dafür aber einen vom Suff bereits ziemlich zerstörten Verstand. Adoptieren wollte er mich. So packte er mich häufiger in den Kinderwagen und ließ seine Frau wissen: «Ich gehe mal mit dem Jürgen ein wenig spazieren.» Meine Großmutter fand ihn dann nach Stunden der Sorge, wie er mit seinen Kumpanen soff und die Welt vergessen hatte, und ich stand im Kinderwagen daneben.

Nach einem Jahr reichte es meiner Mutter. Sie heiratete meinen Vater und zog mit ihm in das Dachgeschoss seines Elternhauses. Die Eltern meines Vaters betrieben einen Vivo-Laden, einen Mix aus Lebensmittelgeschäft und was man sonst so braucht. Die Geschichte hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung vom sozialen Aufstieg und einem friedlichen Leben im Post-Nazi-Deutschland gemacht. Mein Großvater kam als körperlich verletzter und schwer traumatisierter Veteran aus dem Russlandfeldzug zurück und lernte im Lazarett seine spätere Frau kennen, seinen Beruf als Metzger konnte er wegen seiner Kriegsverletzungen nicht mehr ausüben. Meine Großmutter wäre gern Lehrerin geworden und verschwendete ihre Zeit während der Naziherrschaft unfreiwillig mit dem Nähen von Wehrmachtsuniformen. Reichsarbeitsdienst. Die Ankündigung meiner Geburt gefährdete die elterlichen Träume vom sozialen Aufstieg des Sohnes, in persona meines Vaters, schon dessen vier Jahre älterer Bruder scheiterte am Erklimmen der sozialen Leiter und wurde – Soldat. Hatte der eigentlich nie mit seinem Vater gesprochen? Mein Vater und mein Großvater konnten nicht miteinander sprechen. Zur Entladung der schwelenden Konflikte schrien sie sich regelmäßig an. Psychohygiene. Ob die beiden sich je gehört haben?

Nachdem mein Vater das Abitur gemacht hatte, reichte ein Kind nicht mehr aus für die Freistellung vom Wehrdienst, es mussten jetzt schon zwei sein, sodass mein Vater zur Hessischen Polizei ging, um der Bürgerpflicht zu entkommen, die ihn auch wirtschaftlich weiterhin nicht von der Abhängigkeit von seinen Eltern befreit hätte. Ein zweites Kind hätten meine Eltern nun nicht so schnell vorweisen können, um dieser Formalie zu genügen, und sie wollten auch nicht. Meine Mutter fand dieses Leben langweilig. Lediglich ein Kleinkind zu versorgen entsprach ganz und gar nicht ihren Vorstellungen eines erfüllenden Lebens. Manchmal brachte sie mich abends zu Bett, fütterte mich vorher mit einer extragroßen Portion, damit ich auch ja durchschlief, und schlich sich leise aus dem Haus, die Deutsche Bahn brachte sie mit dem Zug in die nahe gelegene Großstadt, dort tauchte sie in die Glitzerwelt der Discotheken ein. Das war spannend. Schließlich war sie schon fast siebzehn. Mein Vater war währenddessen in der Polizeischule kaserniert.

Nach der Ausbildung reichte sein Gehalt für eine eigene Wohnung, und wir zogen um. Polizeimeister. Hin zum Dienstort meines Vaters, weg von den kontrollierenden Augen meiner Großmutter.

Jetzt begann die schönste Zeit meiner Kindheit. Wir wohnten in Feldrandlage in einem noch kleineren Ort als zuvor, ich hatte ein eigenes Zimmer, einen Kindergartenplatz und ganz schnell neue Freunde. In meinem Reich von zwölf Quadratmetern stand nicht nur ein Kinderbett, sondern es lag auch eine ausrangierte Doppelmatratze als Spielwiese unter dem Fenster der Dachschräge. Wenn es abends regnete, legte ich mich mit meinem Bettzeug auf diese große Matratze und schaute zu, wie der Regen auf die Scheibe trommelte. Ich liebe dieses Geräusch bis heute. Im Arm hatte ich zwei Stofftiere, die an einen Maulwurf erinnerten, aber eigentlich Phantasiegeschöpfe waren. Eine Bekannte meiner Eltern stellte diese Wesen in Eigenproduktion her. Für mich waren die beiden, die eine unterschiedliche Fellfarbe hatten, vollwertige Familienmitglieder. Wenn ich heute unruhig bin, nicht schlafen kann, mich Albträume quälen, dann stelle ich mir vor, wie ich auf dieser Matratze liege, den Regen trommeln höre und meine Kuscheltiere im Arm habe. Selbsthypnose. Das beruhigt mich.

Zum Einschlafen hörte ich Märchen von einem tragbaren Plattenspieler, bei dem sich der Lautsprecher im Deckel des Geräts befand. Mit meinem kleinen Fahrrad konnte ich ohne meine Eltern über die Wiesen und Felder oder auch im nahe gelegenen Wald herumradeln. Der sozialen Kontrolle der Erwachsenen entzogen wir Kinder aus der Nachbarschaft uns so ganz schnell durch ein paar Pedaltritte. Im Sommer fuhren wir an den nahe gelegenen Baggersee, sammelten Brombeeren in den Hecken am Waldrand und schauten den Reitern auf dem gegenüberliegenden Reiterhof bei ihrem Hobby zu. Alljährlich bewunderten wir den Wagemut der Teilnehmer beim Moto-Cross-Rennen. Gegend gab’s genug. Der Umweltschutz war noch nicht erfunden.

Im Winter spielte ich mit meiner Märklin-Eisenbahn, las Kinderbücher und verbrachte unbeschwerte Stunden in meinem Zimmer. Wenn es richtig gut lief, gab es abends Brathähnchen oder Spaghetti mit Tomatensoße. Meine Leibspeisen. Durch die zermatschten Kartoffeln mit Spinat baute ich mit meiner Gabel Straßen und liebte weiße Zitronenlimonade.

Dann wurde die Stimmung schlechter. Meine Eltern stritten sich, mein Vater brüllte, meine Mutter weinte, meine kleine Welt war in Gefahr. Die ersten beiden Jahre der Grundschule hatte ich ohne nennenswerte Ereignisse überstanden, das Lernen fiel mir leicht, und mir war total unklar, warum eigentlich alles in der Schule immer wiederholt werden musste, bis es mich überhaupt nicht mehr interessierte. Die meiste Zeit schaute ich aus dem Fenster. Das war ein schöner Ausblick. Als wäre es gestern, sehe ich die große Wiese vor dem Schulgebäude vor meinem inneren Auge.

Als ich sieben Jahre alt war, verreiste mein Vater ohne uns in die Sommerferien. Mit einem Freund flog er für vier Wochen nach Griechenland. Meine Mutter und ich blieben im Hessischen und damit am Baggersee. Ich genoss die Zeit ohne die Streitereien meiner Eltern und vermisste meinen Vater. Als sich nach dem Sommer die Stimmung zwischen meinen Eltern auf dem Tiefpunkt befand, fiel ein Schatten auf unsere kleine Familie. Ich ahnte nicht, dass die schönen Momente zu dritt nie wieder aufleben würden, was ich als Kind natürlich inständig hoffte. Irgendwann hörte ich etwas von Umzug, von Trennung, von der Berufstätigkeit meiner Mutter, von neuer Schule, von Kinderhort. Es gab keinen Abschied, nicht in der Schule und nicht von meinen Freunden. Ich war einfach weg.

Praktisch über Nacht fand ich mich in der nächsten Großstadt wieder, blickte aus meinem Zimmer auf eine vielbefahrene Straße und musste nun mit der Straßenbahn zur Schule fahren, anstatt mit meinem Rädchen. Mit diesem Umzug verlor ich beide Eltern. Zunächst schaute ich stundenlang aus meinem Kinderzimmerfenster auf die vorbeifahrenden Straßenbahnen. Nach ein paar Tagen kaufte ich mir eine Fahrkarte und fuhr bis zur Endstation. Und wieder zurück. Und zur anderen Endstation. Nach und nach fuhr ich nach der Schule das gesamte Streckennetz des Verkehrsverbunds ab. Das war mein Orientierungsversuch in meiner unübersichtlich gewordenen Welt. Die Fahrkarten klebte ich in ein Schulheft. Ganz ordentlich.

Meinen Vater sah ich in unregelmäßigen Abständen, meine Mutter arbeitete als Bürokraft und ging Schritt für Schritt in die innere Emigration. Ärzte diagnostizierten bei ihr eine Depression. Wem hat das genutzt? Mit meiner Mutter teilte ich von nun an eine 2-Zimmer-Sozialwohnung mit Kachelofen. Wenn ich von der Schule kam, holte ich zuerst im Keller die Kohlen, meine Mutter war ja noch auf der Arbeit. Zum Fußballspielen diente ein asphaltierter Platz in Fußnähe zu unserer Wohnung, bevölkert von Jugendlichen, die man heute «sozial benachteiligt» nennen würde. Mich machten diese Nachmittage oft traurig. Ich wollte kicken, nicht streiten und prügeln. Freunde fand ich dort keine.

Mein erster Schultag war ernüchternd. Als Neuer wollte mich ein Junge meiner Klasse verprügeln, am Ende saß ich auf ihm und traktierte sein Gesicht mit Fausthieben. Angst hatte ich keine, den Respekt meiner Mitschüler von da an schon. Von wegen Landei. Meine neue Klassenlehrerin war sehr religiös, ich vom Religionsunterricht befreit. So bildete ich mit Mohammed, dem einzigen Moslem der Klasse, und Tom, dem anderen Kind einer alleinerziehenden Mutter und ebenfalls von religiösen Verpflichtungen erlöst, eine Schicksalsgemeinschaft. Beim Elterngespräch ließ die Lehrerin meine Mutter wissen, dass die Schule nicht alles richten könne. Danke fürs Gespräch. Mohammeds Eltern hatten eine Änderungsschneiderei. Wenn wir früher aus der Schule kamen, bekam ich dort auch ein Mittagessen. Tom wohnte ein paar Busstationen weiter, bei ihm hatten wir ebenso sturmfreie Bude wie bei mir.

Irgendwann während des vierten Schuljahrs wurde meine Mutter in einer Psychiatrie einquartiert. Suizidgefahr. Mein Vater machte ein bedrücktes Gesicht, ich übernachtete mal bei diesen, mal bei jenen Freunden, die Struktur in meinem Leben reduzierte sich auf die 14-tägigen Heimspiele des Fußballclubs der Stadt. Irgendwann war meine Mutter wieder da. «Wenn die Mama wieder gesund ist, kommt sie nach Hause», hatte mich mein Vater immer wieder getröstet. Ich verstand schon damals unter gesund etwas anderes als das, was ich bei der Heimkehr meiner Mutter in ihren Augen sehen konnte. Am Ende der vierten Klasse teilte sie mir mit, dass ich aufs Gymnasium gehen würde. Ich wusste nicht, was das war, ich erfuhr nur kurz darauf, dass Tom und ich von nun an in den Pausen ohne Mohammed Fußball spielen würden.

Gymnasium wurde nach kürzester Zeit das Synonym für Langeweile. Dazu kam, dass die Schule umgebaut wurde und wir im Schichtbetrieb beschult wurden. So streiften Tom und ich morgens durch die Stadt und fanden heraus, wie wir etwas Spannung in unser tristes Leben bringen konnten. Zunächst klauten wir alles, was nicht niet- und nagelfest war. Als uns dieser Rausch nicht mehr ausreichte, um laut lachend auf irgendeinem Garagendach die Beute zu teilen, klauten wir alles, was durchaus fest genietet und genagelt war, brachen Autos auf und schossen mit dem Luftgewehr von Tom auf Passanten. Der spontane Zorn dieser großen Menschen hatte eine elektrisierende Wirkung auf uns. Inzwischen waren wir elf Jahre alt, in Englisch hatte ich eine Eins.

Bis dahin dachte ich, dass die Stimmung zu Hause nicht mehr sinken könnte. Weit gefehlt. Meine Eltern, die nicht miteinander und nicht ohne einander konnten, stritten immer häufiger und immer heftiger. Mal wohnte mein Vater wieder bei uns, mal lebte er in einer Wohngemeinschaft. Ich konnte keine Regelmäßigkeit in der Beziehung meiner Eltern erkennen. Außer, dass alles immer anders war als gestern. Wer kümmerte sich eigentlich um mich? Richtig. Ich selbst. Das klappte nur immer schlechter. Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen. Ich wollte nicht mehr zum Fußball. Ich wollte nichts mehr.

Meine Eltern versuchten, mich in der neu eröffneten Waldorfschule unterzubringen, die lehnten aber ab. Vielleicht hatte ihnen das Bild, das ich beim Aufnahmegespräch gemalt habe, nicht gefallen. Keine Ahnung, was ich damals gemalt hatte. Ich hasste malen. Das Halbjahreszeugnis der sechsten Klasse kannte dann auch überwiegend nur noch eine Note. Es wurde ernst. Meine Eltern schauten immer verzweifelter aus der Wäsche.

Dann war die Lösung geboren. Odenwaldschule. Das bedeutete Abschied. Gerade hatte ich mich mit einem Mädchen aus meiner Klasse angefreundet, das ich allerdings schon aus der Grundschule kannte. Bereits damals brauchte ich ziemlich lange, bis ich mich traute, jemandem ein Stück näherzukommen. Nachdem wir wochenlang nebeneinander auf meinem Bett gelegen und Musik gehört hatten, nahm ich all meinen Mut zusammen und legte ihr meine Hand auf den Bauch. Für Tage hatte ich Herzklopfen. Von meinem Weggang sagte ich ihr nichts, wie auch sonst niemandem. Ich war einfach plötzlich nicht mehr da. Zwei Jahrzehnte später erfuhr ich, dass auch ihr Herz an diesem Nachmittag geklopft hatte.

Eins pluseins

Im Sommer 1981 kam ich auf die Odenwaldschule. Für mich war es die zweite Fahrt nach Ober-Hambach, als meine Eltern mich nach den Sommerferien dorthin brachten. Zuvor waren wir schon einmal für ein Vorgespräch bei Marianne Senn, der zuständigen Mitarbeiterin für die Neuaufnahmen, nach Ober-Hambach gereist. Ich fand die Odenwaldschule bei diesem Besuch weder noch. Meine Eltern waren begeistert oder taten wenigstens so. Noch heute spricht ein anderer Ex-Schüler sehr leidenschaftlich über seine sexuelle Beziehung zu Marianne Senn. Ich fand sie nett.

Auf der Fahrt nach Ober-Hambach verlässt man in Heppenheim die Bundesstraße. Ab da geht es nur noch bergauf. Die Kreisstraße schlängelt sich durch Unter-Hambach, und seit die Umgehung gebaut wurde, bleibt sie durchgängig zweispurig. Durch den Ortskern führt die einspurige Dorfstraße, die wegen der Häuser nicht zu verbreitern ist. Wenn sich ein langsames landwirtschaftliches Fahrzeug vor dem Auto meiner Lehrer befand und diese wegen der Unübersichtlichkeit der Straßenführung nicht überholen konnten, nutzten manche die alte Dorfstraße als Abkürzung, um am Ende des alten Dorfkerns, wo Umgehung und Dorfstraße wieder zusammengeführt wurden, vor dem Traktor zu sein. Hase und Igel. Die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit im Dorf von 30Stundenkilometern musste dabei allerdings locker verdoppelt werden. Spielende Kinder durften in diesem Szenario nicht die Straße betreten.

Verlässt man Unter-Hambach nach circa zwei Kilometern, verläuft die Straße durch das Hambachtal, links die Bäume des Odenwalds, rechts die Wiesen und der Bach. Dieser Abschnitt trennt Ober-Hambach von dem Rest der Welt ab. Am Dorfeingang nach Ober-Hambach ist eine scharfe Rechtskurve zu nehmen, der Fahrt geradeaus steht das Gasthaus des Dorfes im Weg, der «Felsenkeller», betrieben vom Gastwirt Hübner, seines Zeichens in vergangenen Jahren bester Kunde der Schankwirtschaft. In den Achtzigern ließ Herr Hübner seinen Hof außen neu renovieren, von da ab sprachen die Schüler der Odenwaldschule wegen der sehr knalligen gelben Farbe des Anstrichs von der Ober-Hambacher Hauptpost.

Wenige hundert Meter weiter befindet sich auf der rechten Seite des inzwischen nur noch mit viel gutem Willen als zweispurige Straße zu bezeichnenden Fahrwegs die erste Einfahrt zur Odenwaldschule, genau über der Hambach. Auf dem grünen Geländer, das den Sturz in den Bach verhindern soll, sitzen die Schüler, wenn sie auf ein Auto warten, dem sie per hochgehaltenem Daumen signalisieren, dass sie gern nach Heppenheim mitgenommen werden würden. Die fünf Kilometer sind den meisten zu weit für einen Fußmarsch. Nichts deutet darauf hin, dass hier ein Privatgelände beginnt oder ein abgeschlossener Bereich, geschweige denn ein Internat. Es könnte auch einfach ein Dorf im Odenwald sein.

Bleibt man auf der Straße, welche jetzt an Steigung noch zulegt, kommt man nach einem weiteren kurzen Stück an die Einfahrt zur Odenwaldschule. Auch hier kein Tor, kein Zaun, lediglich ein Schild bescheidener Größe weist dem Unkundigen den Weg zur Schule. Fährt man auf das Gelände, liegt zur Linken das Bürogebäude, geschätzte siebziger Jahre, vor einem liegt der Goethe-Platz, das geographische Zentrum der Odenwaldschule, mit dem Goethe-Haus, einem ehemaligen Hotel, das zur Schulgründung von Paul Geheeb gekauft wurde. Hinter dem Bürogebäude liegt das Geheeb-Haus, ein schnörkelloser Bau aus der gleichen Zeit wie das Bürogebäude. Quadratisch. Praktisch. Gut. Der Bauplan war ein Sonderangebot, der Architekt war der Schule wohlgesonnen, der Entwurf wurde eigentlich für ein Schwesternwohnheim angefertigt und fand nun keine andere Verwendung mehr. Geheeb würde sich im Grabe herumdrehen. Schön geht anders. Zwischen Geheeb-Haus und Bürogebäude liegt der Speisesaal, auch in funktionalem Stil, die Betonträger wurden absichtlich nicht verputzt. Man sollte sehen, welches Material verbaut wurde, es sollte keine architektonische Kosmetik zu sehen sein. Ungewöhnlich. Von diesem Zentrum ausgehend verteilen sich die kleinen Häuser der Odenwaldschule über das weitläufige Gelände. Hier könnte man problemlos eine amerikanische oder japanische Touristengruppe durchführen. Mit feuchten Augen würden sie die «real old houses» bewundern. Auch bei näherer Betrachtung findet man kaum Hinweise auf eine Schule, von den einsehbaren Klassenräumen einmal abgesehen. Man geht durch die Schule und denkt: «Wie schön.» Wahlweise auch: «Wie idyllisch.»

Das Gelände der Odenwaldschule ist am Abend beleuchtet; sobald man jedoch das unmittelbare Gelände verlässt, wird es duster. Und im Herbst oft auch neblig. Ein Kunstlehrer der Schule nahm einmal am Abend eine Abkürzung über die Geheeb-Wiese und wurde im Nebel von einem Keiler umgerannt. Gipsbett. Sechs Wochen lang.

Ich bezog ein Zimmer im Goethe-Haus, dem großen, alten Haus im Herzen der Odenwaldschule. Meine Sachen passten bequem in eine große Reisetasche, ich brauchte nicht viel, als Zwölfjähriger, der in die siebte Klasse kam. Das Wichtigste hatte ich ohnehin in der Hand: meinen Fußball. Einen Tango, den offiziellen WM-Ball der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien 1978.Ich hatte mein ganzes Geburtstagsgeld auf einen Sitz zum Sportgeschäft gebracht, diesen Ball wollte ich damals unbedingt haben. Obwohl ich immer gut auf ihn aufgepasst habe und ihn regelmäßig mit Ballfett behandelte, waren die Gebrauchsspuren nach drei Jahren täglicher Traktion unübersehbar. Trotzdem war er mein ganzer Stolz. Dass hier Schüler zum Abitur Sportwagen aus Stuttgart-Zuffenhausen geschenkt bekamen, wusste ich damals nicht, und wenn ich es gewusst hätte, hätte es mich wahrscheinlich kaum berührt. Familie Porsche ließ ja auch in Ober-Hambach beschulen. Passt doch. Meine Welt war nach wie vor klein und fand überwiegend auf dem Sportplatz statt.

An meinem ersten Tag bekam ich mit, wie zwei Zimmer weiter offensichtlich ein Junge und ein Mädchen zusammen in einem Zimmer lebten. Darüber war ich überrascht. Darüber war ich richtig irritiert. Kurz darauf kam ich mit den beiden ins Gespräch, und bald saßen wir auf deren Fensterbank zusammen in der Sonne und schauten über den Goethe-Platz. Es waren natürlich zwei Jungs, einer halt mit ziemlich langen Haaren.

Von unten rief jemand: «Hey, Thorsten, ist das neben dir eigentlich ein Mädchen oder ein Junge?» Gemeint war ich. «Bist du ein Mädchen oder ein Junge?», fragte mich Thorsten, von dem ich bis zu dieser Sekunde annahm, dass er das Mädchen dieses Duos sei. «Ein Junge», rief Thorsten meine Antwort hinunter auf den Platz. «Schade», rief es zurück von dem schlaksigen Geschöpf, der wegen seiner langen Haare und seiner zarten Gesichtszüge genauso gut ein Mädchen hätte sein können. Es handelte sich um Phil Scharlenz, für den Gerold Becker der Vormund war. Es war der damaligen Mode geschuldet, dass Jungs häufig lange Haare trugen. Außerdem waren wir hübsch und kamen mit einem nicht ganz einfachen sozialen Hintergrund auf die Internatsschule. Mit der Betonung auf Hintergrund. Nicht auf sozial. Beide Komponenten sollten zu unserem Verhängnis beitragen, aber das wussten wir damals noch nicht.

Das war also Thorsten. Ich fragte noch ein paar Mal nach, ob er auch wirklich ein Junge war, ich konnte es nicht glauben. Thorsten war bereits seit einem Jahr auf der Odenwaldschule, seine Eltern waren beide Schauspieler, zogen von hier nach da. Einen dauerhaften Wohnsitz konnten sie ihrem Sohn nicht bieten. Als das Paar sich trennte, brach die Familie auseinander, und Thorsten wurde Osoianer.

Damals waren gerade Streifenhosen angesagt. Thorsten hatte Hosen mit breiten Streifen, ich mit schmalen. Wir hörten Neue Deutsche Welle und das aktuelle Album von David Bowie, «Scary Monsters». Wir hatten viele gemeinsame Vorlieben. Die Salamibrötchen bei Frau Schmitt zum Beispiel, der Betreiberin des kleinen Lädchens vis-à-vis des Schulgeländes, die wir mit Scheiblette, Gurke, Ei und Tomatenmark so dick belegten, dass beim ersten Biss der Gurkensaft an der Seite herauslief. Eine Tasse Kaffee kostete siebzig Pfennig. Nach dem Mittagessen spielten wir oft auf dem Kiesplatz im Wald Fußball. Thorsten war Torwart, ich derjenige, der versuchte, besser zu sein als der Torwart. Das waren die Unterschiede.

So ging es über die Jahre weiter. Wir tranken lieber Pils als Export, rauchten lieber pur als Joint, hörten englischen Ska und deutschen Punk, hatten bei drei Mädchen und später jungen Frauen echte Interessenkonflikte, ich glaube, es ging irgendwie unentschieden aus. Jedes Schuljahr beschlossen wir, das nächste Jahr gemeinsam ein Zimmer zu bewohnen, jedes Jahr hatten wir in der Phase der Zimmer- und Familiensuche Differenzen, sodass wir mit jemand anders zusammenzogen. Irgendwann hatte Thorsten auch gespürt, dass die Becker-Familie kein guter Platz war. Gerettet hat es ihn nicht.

Zu Beginn der Oberstufe sollte es dann klappen, dass wir zusammen ein Zimmer bezogen. Es war das erste Jahr, in dem Becker nicht mehr an der Schule war. Das heißt, er war nicht mehr Schulleiter und somit kein leitender Angestellter der Odenwaldschule mehr. Er war allerdings regelmäßig auf der Odenwaldschule, flanierte übers Gelände und leitete die Teekonferenz. Mein Deutschlehrer Herrmann Deef überreichte ihm dann zu Beginn der täglich um 11Uhr stattfindenden Veranstaltung lachend die Klingel, das Zepter der Konferenz. Natürlich kam Becker auf die Odenwaldschule, um weiter Beute zu machen, aber dazu später mehr.

Wir zogen zu einem Lehrer in das Geheeb-Haus, für mich war es der Beginn einer neuen Epoche auf der Odenwaldschule. Wir begannen gemeinsam die Ausbildung zum Chemisch-Technischen Assistenten und brachen sie auch gemeinsam nach einem Jahr wieder ab. Unser Abitur bestanden wir unter «ferner liefen».

Nach der Schulzeit besuchten wir uns, ich war Zivildienstleistender, Thorsten jobbte sich durch sein Leben; wir fingen an zu studieren und hatten mal mehr, mal weniger Kontakt. Recht bald nach der Schule lebten wir nur 200Kilometer auseinander, wodurch es recht einfach war, dass wir uns besuchten.

Ohne Thorsten wäre dieser Prozess der Aufklärung anders gelaufen, wäre dieses Buch ein anderes – und ich hätte vermutlich mehr Falten im Gesicht und ein noch stärker zerrüttetes Nervensystem, als ich es ohnehin schon habe. Thorsten hatte sich Ende 2010 weitgehend aus dem öffentlichen Teil der Auseinandersetzung ausgeklinkt. «Wir haben den Leuten mitgeteilt, dass Scheiße stinkt», sagte er mit müder Stimme. «Jetzt sind die anderen mal dran, etwas zu tun», setzte er lakonisch fort.

Wir sind eher ein Team, das sich ergänzt, dachte ich zu diesem Statement und fügte hinzu: «Und den einen oder anderen will ich noch dran riechen lassen.» Damit war alles zwischen uns besprochen. Keine Schnörkel, keine Umwege. Falls ich Thorstens Unterstützung nochmal brauchen sollte, weiß ich, er wird da sein. Meine Agenda von Aufklärung und Entschädigung wird noch einige Zeit und Nerven in Anspruch nehmen.

Wir wissen, wie der andere tickt, wir wissen, dass wir uns auf den anderen verlassen können. Wir wissen, eins plus eins ist mehr als zwei.

SiebenJahre Zauberberg

Die Odenwaldschule Ober-Hambach– Eingeweihte nannten sie einfach die OSO–, Projektionsfläche für pädagogische Sehnsüchte und Größenwahnphantasien, Flaggschiff der deutschen Reformpädagogik, bedeutendes deutsches Internat und UNESCO-Modellschule. Wenn man weitersuchen würde, kämen einem sicherlich noch ein paar vermeintliche Qualitätssiegel in den Sinn. Superlative waren als Begrifflichkeiten für die Ziele und die Konzeption der reformpädagogischen Einrichtung gerade gut genug. Reinhold Miller, als gelernter Hauptschullehrer mit beiden Beinen auf dem Boden stehend, in der Lehrerfortbildung engagiert und als Publizist in schulischen und pädagogischen Fragen für konkrete Positionen bekannt, stellt lediglich lapidar fest: «Von den Reformpädagogen werden keine Angaben gemacht, wie die Erzieher/​Lehrer von den idealistischen Sichtweisen zu entsprechenden Verhaltensweisen kommen können. Diese werden (naiv) vorausgesetzt. Hinweise auf ein ‹Beziehungslernen›. (also eine Beziehungsdidaktik i. w. S.) und darauf, was es konkret heißt, ein ‹Kind wirklich tief zu lieben›, sind bei den Autorinnen und Autoren der Reformpädagogik vergeblich zu suchen.»1 Vor 100Jahren war die Odenwaldschule am Start, um eine Alternative zu den staatlichen Drillanstalten anzubieten, in denen Kinder geprügelt wurden und Lernen aus geistigem Exerzieren bestand. Zu dieser Zeit wurde der Sportunterricht von den nicht mehr fronttauglichen Unteroffizieren geleitet. Nun haben die öffentlichen Schulen bereits vor Jahrzehnten den Überholvorgang eingeleitet. Und abgeschlossen.

Die Odenwaldschule wurde in den siebziger Jahren eine Integrierte Gesamtschule, eine inzwischen in vielen Bundesländern gängige Schulform. Alle Schüler eines Jahrgangs saßen in einer Klasse, Unterscheidungen nach Haupt-, Real- und Gymnasialschüler gab es offiziell nicht. Lediglich Stütz- und Ergänzungskurse bildeten die Struktur der äußeren Differenzierung. Die Lerngruppen waren klein, zehn, zwölf Schüler waren die Regel; einmal hatte ich einen Englisch-Leistungskurs, der aus zwei Schülern und dem Lehrer bestand. Die äußeren Bedingungen waren der reinste Luxus. In der Mittelstufe war ein ganzer Schultag dem Lernen in einer der Werkstätten gewidmet. In der siebten Klasse rotierten die Schüler quartalsweise durch die Schlosserei, Schreinerei, Design-Werkstatt und Töpferei. Nach der siebten Klasse entschied sich jeder Schüler für eine Werkstatt, in der er dann konstant bis zum Ende der zehnten Klasse arbeitete und lernte. In unserem Jahrgang entschied sich Jürgen Kahle, wieder eine Werkstattgruppe im Elektronik-Labor zu betreuen, ich war dabei. Fünf Jungs bildeten diese Gruppe, traumhafte Arbeitsbedingungen für einen Lehrer und die Schüler. In der Schlosserei und der Schreinerei konnte ein Gesellenbrief erworben werden. Dieses Programm konnte sogar parallel zur gymnasialen Oberstufe absolviert werden. Für weniger Ambitionierte auch nacheinander. Erst Fachoberschule plus Gesellenbrief, dann gymnasiale Oberstufe. Die noch weniger Ambitionierten wie Thorsten oder ich wurden zum Ausbildungsgang zum Chemisch-Technischen Assistenten getragen, welcher parallel zur gymnasialen Oberstufe belegt werden konnte, um nach einem Jahr die Fahne zu heben. Wir hatten damals andere Themen als die berufliche Qualifikation.

Ein weiteres Erkennungsmerkmal der Odenwaldschule war die Verkursung und Epochalisierung des Unterrichts. In den Klassen elf bis dreizehn nahmen die Schüler in den Fächern Religion, Sport, Gemeinschaftskunde und ein paar weiteren gemeinsam am Unterricht teil. Heute versteht diese Besonderheiten von Unterricht eigentlich jeder, da es sie an vielen Schulen gibt. Was als Unterschied zu anderen Schulen bis heute geblieben ist, ist der Lehrer-Schüler-Schlüssel der Odenwaldschule. Das sind strukturelle Vorteile, die gern als besondere pädagogische Brillanz angepriesen werden. It’s the money, that makes the world go round. Ich höre von Mitarbeitern, die den Dienst in der Odenwaldschule quittiert haben und sagen: «Ja, es war endlich Zeit zu gehen, aber die Arbeitsbelastung an einer staatlichen Schule…» Dann folgt eine Mimik, die große Belastungen erahnen lässt. Lehrersanatorium Odenwaldschule? Unterrichtlich betrachtet: ja.

Aber da war noch was. Fast jeder Lehrer der Odenwaldschule hatte eine Heimfamilie.

Familie? Nein, wir wurden nicht adoptiert. Eine Heimfamilie bestand aus einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter oder auch einem Ehepaar und einigen Internatskindern. Manche Mitarbeiter hatten eigene Kinder, manche nicht. Diese «Familienoberhäupter», wie sie genannt wurden, hatten eine private kleine Wohnung, in der Regel mit Bad und Toilette, in der sie mit ihren eigenen Familien lebten. Die Familienmitglieder der Heimfamilie waren, denkt man diese Konstruktion konsequent zu Ende, zueinander die Geschwister. Becker hatte kein eigenes Bad und keine eigene Toilette. Vor der Eingangstür der Privatwohnungen begann der Flur der Schüler, circa sechs bis zwölf Zehn- bis Zwanzigjährige wohnten in Doppelzimmern auf einem solchen Flur. Meist gab es auch noch ein Einzelzimmer für den Schüler aus der 12. oder 13.Klasse. Bei dieser großen Anzahl von Personen fiel es gar nicht sofort auf, wenn jemand beim Essen fehlte. Für diese Schüler war das Familienoberhaupt zuständig. Immer. Für alles. 24/​7.38Wochen im Jahr. Durchbrochen von den Ferien oder den Heimfahrwochenenden, die alle drei Wochen stattfanden.

Mit einem der Mitarbeiter sprach ich im vergangenen Jahr. Er erzählte mir, dass er seine Gitarrenstunde während des Abendessens nahm, da er sonst am Tag keine Zeit dafür hatte. Laut Arbeitsvertrag muss er allerdings auch an den Mahlzeiten teilnehmen. Strukturelle Versklavung, strukturelle Überforderung. Welchen Profit hat jemand, der sich das antut?

Je nach Größe eines Hauses – die Häuser der Odenwaldschule waren ja über den oberen Teil des Hambacher Tals hingewürfelt – wurde es von ein bis vier Familien bewohnt. Im Keller befanden sich die Duschräume für die Schüler, die Toiletten waren auf den Treppenabsätzen.

Was die Schulentwicklung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten veränderte, bemerkte in Ober-Hambach offensichtlich niemand. Was bleibt, ist die Odenwaldschule als pädagogischer Veteranenverein, dessen Vertreter den verklärten Blick in die Vergangenheit richten. Aber selbst dieser Blick ist stark getrübt und erhascht lediglich die Lichtspiegelungen pädagogischen Schaffens.

Ob es dem reformpädagogischen Ansatz immanent ist, dass Grenzen unscharf bis unkenntlich werden, dass die Pioniere dieser pädagogischen Ideologie mit Hilfe selbiger die Grundlagen für eine institutionalisierte sexualisierte Gewalt legten, dass viele von ihnen Jünger des Dichters Stefan George waren, der von Thomas Mann als eine «steile, krasse, im edelsten und neusten Sinn groteske Erscheinung» beschrieben wurde? Vieles spricht dafür. Die hierarchische Struktur des George-Kreises war bekannt, ebenso das prophetische Sehertum und dessen Hybris, im Konfliktfall die absolute Unterwerfung zu fordern. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Das Nachrichtenmagazin Spiegel dokumentierte im Sommer 2010 die 100Jahre sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule.

Bis zum Frühjahr 2010 war im Internetauftritt der Odenwaldschule unter der Rubrik «Über die Odenwaldschule» das Konterfei Hartmut von Hentigs zu sehen, garniert mit den Worten: «Endlich die Schule, die Rousseau gefordert hat. […] Sie guckt auf die Kinder, sieht, was die brauchen, und sieht auch die Folgen dessen, was sie selbst tut.» Das sollte Werbung sein. Das meinten die ernst. Eine prominente Ex-Schülerin stellte bis dahin ihr Porträt der Odenwaldschule zur Verfügung, ließ es aber infolge des jämmerlichen Versagens der Institution während des Aufklärungsprozesses im Jahr 2010 entfernen. Von den verbliebenen Prominenten auf der Homepage der Schule sind die meisten tot. Ist das fair? Wehrlose tote Prominente zu Werbezwecken zu benutzen?

Sprach eigentlich jemand über die toten Missbrauchsopfer? Ja.

Auf der 100-Jahr-Feier wurden sie von der Schulleiterin Margarita Kaufmann in ihrer Begrüßungsrede anlässlich der Feierlichkeiten erwähnt. Ansonsten halten sich die Verantwortlichen der Odenwaldschule in dieser Frage sehr bedeckt.

Ob ich grundsätzlich etwas gegen Reformpädagogik hätte, bin ich im «Misalla Blog», den ich als Plattform zum Gedankenaustausch zeitgleich zum ersten Zeitungsartikel im März 2010 eingerichtet habe, einmal von einem Mitarbeiterkind der Odenwaldschule gefragt worden. Das Kind ist inzwischen Mitte dreißig. Also, nochmal für alle: Nein, habe ich nicht. Aber auch nichts dafür. Ideologie kotzt mich an.

Häufig werde ich aufgrund meiner Positionen zur professionellen Arbeit mit Kindern mit provokativen Statements konfrontiert.

«Du denkst doch auch bei all deinen Überlegungen von der Individualität des Kindes aus, das ist doch originäre Reformpädagogik.» Ich höre mir das dann an und denke: «Ja, von wem aus denn sonst?» Stupid! Ohne hier den Begriff der Kundenorientierung überstrapazieren zu wollen, ist die Frage nach dem Profit des Kindes vom pädagogischen Handeln natürlich schon zielführend. Ich erwidere dann, dass die Forschungsergebnisse der Psychologie, der Neurophysiologie, der Kommunikationswissenschaften, der Soziologie und zahlreicher anderer Disziplinen die Grundlagen für meine Positionen bilden und es ja eben nicht zu verhindern ist, dass das Etikett Reformpädagogik auf alles aufgeklebt wird, was für die Ziele der Vertreter dieser Richtung instrumentalisiert werden kann. Liebe Leute, selber denken macht schlau! Sich der parteipolitischen Verhaftung entziehen macht frei! Wenn mein Gegenüber dann immer noch Kapazitäten hat, diskutiere ich gern über die verzwackte Auftragslage von Schule. Ein Auftraggeber ist das Land, der andere das Kind, stellvertretend die Eltern; bei der Odenwaldschule kommt dann in zahlreichen Fällen noch das Jugendamt dazu. So werden der Lehrer und die Schule zum Diener mindestens zweier Herren.

Die «tiefe Liebe zum Kind», wie es reformpädagogisch empfohlen wird, bleibt methodisch unerklärt. «Wie soll denn das gehen?», ist in meinen Augen eine zulässige Frage. Wer die Kinder, mit denen er arbeitet, liebt wie seine eigenen – was da auch immer mit «Liebe» gemeint ist–, der hat etwas nicht verstanden oder lässt fahrlässig oder vorsätzlich jede Professionalität vermissen, ist meine Antwort. Gefragt sind Beziehungsarbeiter, Beziehungsdidaktiker, Methodiker und Fachwissenschaftler.

Klingt nach Arbeit? Richtig! Das Streben nach Ruhm und Ehre ist hier deplatziert. Die angemessene Balance aus Nähe und Distanz? Eine ewige Gratwanderung, voller Tretminen und Unsicherheiten.

Es bleibt eigentlich nur, die Kundschaft des eigenen Handelns zu befragen, und die gibt häufig erst Jahre nach dem Erwachsenwerden darüber ehrliche Auskunft. Kein sehr fehlerfreundliches System. Korrekturen bedürfen vieler Jahre.

Ob die Misshandlung von Jungs durch eine Reihe meiner Lehrer und Lehrerinnen die eindimensionalisierte Übersetzung der Verehrung der Hellenen war? Von den Sportwettkämpfen dieser Epoche war nie die Rede. Oder ob Becker und sein Netzwerk, von mir das «System Becker» genannt, eine Gruppe von Männern war, die gezielt in pädagogische Institutionen gingen, unter anderem in die Odenwaldschule, um diese dort von innen heraus zu infiltrieren und sowohl die Kinder als auch die Institutionen für ihre perversen Bedürfnisse zu benutzen? Vieles spricht dafür. Niemand vermag im Moment zu sagen, was in der Zukunft noch ans Licht kommen wird. Meine Informationsmenge wächst wöchentlich. Diese Fragen sind wichtig und interessant, Mutige vor! Es gibt sicher nicht das eine entscheidende Kriterium, das die Situation an der Odenwaldschule geschaffen hat. Unterm Strich sind es viele Elemente, die nahezu alle über eine Gemeinsamkeit verfügen. Sie dienen den Interessen der Erwachsenen und nicht denen der Kinder.

Wer war denn eigentlich die Kontrollinstanz dieses pädagogischen Freiluftexperiments? Wer waren die Kunden dieser Privatschule? Als Endverbraucher die Kinder und Jugendlichen, ja klar. Und wer hat’s bezahlt? Die reichen Eltern und die Jugendämter. Die Odenwaldschule war ja kein Spiegel der Gesellschaft. Es kamen die von ganz oben und die von ziemlich weit unten. Die Mitte fehlte weitgehend. Von ein paar Eltern, die sich das Schulgeld abgespart hatten, mal abgesehen. Wie diese Differenzen von der Institution gesteuert und mit den Schülern kommuniziert wurden? Ich kann mich an kein einziges Gespräch erinnern, das die sozialen Kasten zum Thema hatte.

In meiner Jugendamtsakte steht, dass die Odenwaldschule über zweifellos hervorragende Qualitäten verfüge, aber dass es eine schwierige Situation für die Behörde sei, Gerold Becker nun zum achten Mal anmahnen zu müssen, den Bericht über meine Entwicklung zu schreiben. Hätte sich das eine andere Jugendhilfeeinrichtung leisten können? Ich fürchte, ja. Von den Jugendämtern anderer Städte oder Landkreise wurden auch Kinder geschickt. Ist den Leuten vom Jugendamt irgendetwas aufgefallen? Laut meiner Schülerakte kamen sie dann ja schließlich persönlich in die Odenwaldschule, um mit Becker zu sprechen. Der beeindruckte und charmierte, die Mitarbeiterinnen des Jugendamts rollten mit ihrem Auto verzaubert den Berg hinunter.

Die Jugendämter waren und sind wichtige Vertragspartner der Odenwaldschule. Nicht nur, um das Internat möglichst komplett zu belegen, sondern auch, weil die Jugendämter einen höheren Gebührensatz bezahlen als die Selbstzahler. Die Odenwaldschule ist für die öffentliche Hand günstiger als ein Platz in einem Kinderheim. Mitarbeiter eines Kinderheims haben geregelte Arbeitszeiten und dadurch einen günstigeren Personalschlüssel, während die Mitarbeiter der Odenwaldschule praktisch immer im Dienst sind, außer in den Ferien. Selbstausbeutung. Wem nützt das? Und die Eltern? Die gaben ihre Kinder ab. Wird schon gutgehen. Ist ja schließlich teuer genug. Dass sich spätestens seit den 70er Jahren unter dem Etikett der Odenwaldschule keine nennenswert einmalige pädagogische Substanz befand, die im engeren oder weiteren Sinne mit den Kernaufgaben von Schule in Verbindung stand, hat niemand bemerkt oder bemerken wollen.

Der Schulleiter Becker hatte bald nach Beginn seiner Amtszeit mitgeteilt: «So, jetzt ist mal Schluss mit der Schulreformiererei, jetzt wird nur noch Pädagogik gemacht!» Genügend Kinder erzählten trotzdem von ihren Erlebnissen, die eigentlich jeden normal denkenden Menschen hellhörig hätten machen müssen. Machten sie aber nicht. Standen doch mal einzelne Eltern bei Becker auf der Matte, wurde beschwichtigt, gelogen und, wenn gar nichts mehr half, das Kind, das Opfer war, mit fadenscheinigen Begründungen von der Schule verwiesen. Hatte einer der von Becker besonders begehrten Jungs eine Liebesbeziehung oder einfach nur eine intensive Freundschaft mit einer Mitschülerin, lud Becker auch mal die Eltern des betreffenden Mädchens ein und empfahl ein Auslandsjahr in Frankreich oder gleich das Verlassen der Schule. Wegen schwacher schulischer Leistungen.

Wie ist dieses System zu erklären, von dem offensichtlich die Erwachsenen auf sehr unterschiedliche Art profitierten und die Kinder und Jugendlichen, die eigentlich im Zentrum der Bemühungen stehen sollten, auf ebenso unterschiedliche Weise ausgebeutet wurden? Keiner hat was gewusst. Keiner hat was gesehen. Keiner hat was gehört. Keiner wurde angesprochen. Keiner wurde um Hilfe gebeten. Niemand ist für nichts verantwortlich! Und mitten in diesem System spielt sich das Grauen ab. Wieso sind Vierzehnjährige eigentlich dauernd besoffen? Wieso verschwindet ein schwangeres Mädchen? Wieso fangen Jugendliche plötzlich an, sich über die Maßen deviant zu verhalten? Beobachtbare Kriterien, die von den Akteuren und den außenstehenden Beobachtern des Systems ignoriert wurden, verdrängt wurden, bagatellisiert wurden und die keine Konsequenzen hatten, mit denen die Kinder und Jugendlichen geschützt worden wären. Die Betroffenen des kollektiven Versagens ließ man einfach verrecken.

In Ober-Hambach wurde die Spitze des Zynismus erreicht. Dieses System behauptete nämlich von sich, für die Kinder, die zu ihm geschickt wurden, ganz besonders wertvoll und förderlich zu sein. Und der öffentliche Diskurs im Jahr 2010? Egal, mit welchem Journalisten ich gesprochen habe, die Meinung ist einhellig. Mit keinem anderen Thema konnte in diesem Jahr so viel Empörung erzeugt werden wie mit der Berichterstattung über die sexualisierte Gewalt, die an Kindern begangen wurde. Jetzt wissen wir aber alle, dass dies kein exklusives Problem von Internaten und kirchlichen Einrichtungen ist, sondern dass unsere Gesellschaft von sexualisierter Gewalt durchdrungen ist. Die Familien seien hier zuallererst genannt. Wer applaudiert eigentlich? Wer schaut weg? Wer ist in der Verantwortung, handelt aber nicht? Haltet den Dieb? Oder doch ein Riss in unserer Gesellschaft, der die Täter von den Unwissenden trennt?

Von alldem hatte ich bei unserer Fahrt nach den Sommerferien nach Ober-Hambach noch keine Ahnung. Die Lebensrealität eines Jungen, der in den 80er Jahren die Odenwaldschule besuchte, war erst mal eine ganz andere.

Ich kam zu Dietrich Dreher in die Familie, der genauso neu auf der Odenwaldschule war wie ich und auch nur dieses eine Jahr bleiben sollte.

Am Morgen nach der Aufnahme folgte das alljährliche Ritual. Die gesamte Schulgemeinde strömte hinter das Laborgebäude zur Freilichtbühne, die etablierte Schulgemeinschaft saß auf den Rängen, die Neuen unten auf den Stühlen. Becker hielt eine Rede, rief die Schülerinnen und Schüler namentlich auf und zum Handschlag zu sich. An der Schule waren Mädchen kontinuierlich in der Minderheit, jedes wurde bei seinem Gang nach vorn zum Schulleiter von Pfiffen begleitet. Mal mehr, mal weniger. Einige Jahre zuvor beendete Becker seine Begrüßungsrede mit den Worten: «Ihr seid jetzt auf der Odenwaldschule. Hier ist alles erlaubt.» Zumindest die besorgten Familienoberhäupter der jüngeren Neuankömmlinge versuchten im späteren Gespräch mit ihren neuen Schützlingen, diese Aussage zu relativieren. Einige Schüler mit verminderter Sehkraft pfiffen auch bei mir.

Dass ein Schüler aus der Becker-Familie seiner Freundin in Beckers Schlafzimmer die Vaseline-Dose mit den Kotspuren zeigte, weil jene seinen Erzählungen über seine Erlebnisse mit Becker keinen Glauben schenken wollte, erfuhr ich erst viel später. Das verstand Becker demnach unter «alles».

Dietrich Dreher war jetzt also mein Familienoberhaupt für mein erstes Schuljahr. Ich erinnere mich an ein Gespräch beim Abendessen. «Sagt mal, warum schreit der Klaus eigentlich immer so?», wollte er von uns wissen und stellte seine Frage in die Runde. Wir saßen beim Abendessen zu acht um den Tisch herum. «Na ja», sagte einer aus der Familie, «wir quälen den halt immer, um 17Uhr ist Klaus-Quälzeit.» Betretenes Schweigen? Eher eine gelangweilte Reaktion auf eine blöde Lehrerfrage. Pause. Später wird ein Ex-Schüler der Odenwaldschule im Fernsehen den umstrittenen, weil von manchen als sensationsheischend empfundenen Satz von den «gellenden Schreien im Hambachtal» sagen. Ich habe sie auch gehört, die Schreie. «Kann ich da mal kommen und mir das anschauen?», fragte Dietrich Dreher. Niemand sagte etwas, manche nickten. So kam Dietrich Dreher, Punkt 17Uhr, in Klaus’ Zimmer und schaute, wie der zwölfjährige Junge von mehreren Mitschülern, gleichaltrigen und älteren, gequält wurde.

Ich weiß von einem, der ihm bis heute, fast dreißig Jahre nach diesen Ereignissen, nicht in die Augen schauen kann. Dabei war der nicht einmal eine der treibenden Kräfte, sondern per Zufall sein Zimmerkamerad, der Klaus einmal zu Hilfe eilte, was ihm nicht gut bekam, denn danach quälten die anderen ihn. Wer die Mechanismen dieser Szene verstand, hatte den Grundstein für sein Überleben auf der Odenwaldschule gelegt.

Um ihrem Familienoberhaupt ein eindrucksvolles Erlebnis zu verschaffen, wurde Klaus an diesem Tag besonders heftig gequält, die Schreie des Schülers müssen im ganzen Haus zu hören gewesen sein. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, die Lehrerin, die im Nachbartrakt wohnte, platzte, ohne anzuklopfen, in das Zimmer, offensichtlich ließen die Schreie große Not erkennen. Dietrich Dreher sprang noch in einen Schrank, bekam die Tür aber nicht mehr von innen zu, sodass die Lehrerin ihn sah. Sie schaute den Lehrer an, sie schaute die Schüler an, sie sah den gequälten Klaus, dessen Gesicht von Tränen überströmt war. Sie schwieg. Sie verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Konsequenzen? Wir waren in Ober-Hambach! Ob Dietrich Dreher wegen dieser Ereignisse gehen musste? Ich konnte es nicht herausfinden. Jedenfalls war er nach diesem einen Jahr wieder weg.

Schläge, Kniffe, Ohrenziehen, in den Schwitzkasten nehmen, an den Brustwarzen ziehen und immer wieder alle auf ihn drauf, bis er Angst hatte, zu ersticken oder zerquetscht zu werden. Klaus bekam regelmäßig Fresspakete von seinen Eltern geschickt. Diese packte er in seinen Schrank und dachte nicht daran, sie mit anderen zu teilen. Viele bekamen keine Fresspakete. Nicht alle Eltern hatten ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Kinder auf ein Internat entsorgten. Die anderen Jungs aus Klaus’ Familie bekamen das natürlich mit und sagten zu Klaus: «Du willst dein Fresspaket nicht mit uns teilen? Dann iss es mal schön auf.» Die ganze Mannschaft saß in Klaus’ Zimmer um Klaus herum, der vor dem Paket saß, das die Jungs aus dem Schrank geholt und ihm vor die Nase gestellt hatten. Klaus weinte. Die Jungs schlugen ihn. Klaus fing an zu essen. Flips, Schokolade, Gummibärchen, Chips. Klaus konnte nicht mehr. Er erstickte fast an dem trockenen Zeug. Klaus’ Mutter packte in die Fresspakete immer eine Flasche Lebertran. Das soll gesund sein. Klaus bettelte um etwas zu trinken. Die Jungs grinsten und hielten ihm die Flasche Lebertran hin. Irgendwann erbrach sich Klaus. Ich kann mich nicht erinnern, wie dieser Nachmittag endete. Am nächsten Tag stand die leere Flasche Lebertran auf Klaus’ Fensterbank.

Mein Zimmer teilte ich in diesem ersten Jahr mit einem Jungen aus meiner Klasse, dessen Vater in Saudi-Arabien Meerwasser entsalzte und der nicht nur wegen seiner deutschen Mutter und seines arabischen Vaters aus einer anderen Kultur kam, sondern auch wegen seiner bisherigen Lebensrealität, in der Geld eine nie versiegende Ressource zu sein schien. Es ging nicht lange gut zwischen uns. Dann lebt man zusammen, wie man als Zwölfjährige halt auf acht Quadratmetern zusammenlebt. Wir hatten nicht mal Schreibtische in unserem Zimmer. Zu klein. Dafür brachte er Hunderte illegal produzierter Musikkassetten aus Saudi-Arabien mit, die ich nach und nach mit Thorsten an unsere Mitschüler verkaufte. Umverteilung von oben nach unten oder schlicht total entgrenztes Verhalten zweier Teenies? Beides.

Später planten Thorsten und ich, dem Künstler Joseph Beuys den Hut vom Kopf zu fischen und ein Foto davon zu machen, wenn dieser einmal seinen Sohn auf der Odenwaldschule besuchte. Beuys wollte nicht, dass es ein Foto von ihm ohne Hut gab, und es gab meines Wissens auch keins. Wir haben uns dann aber doch nicht getraut.

Auf groteskere Weise konnten Kinder und Jugendliche aus sozial sehr unterschiedlichen Zusammenhängen nicht gemeinsam zur Schule gehen. Während unsere Mitschüler, die aus deutschen Industriedynastien stammten, von Ferienerlebnissen in St.Moritz oder der Karibik berichteten und mit der S-Klasse vom Chauffeur nach den Ferien ins Internat kutschiert wurden, verbrachten Thorsten und ich unsere schulfreie Zeit mit unseren Müttern in Sozialwohnungen deutscher Großstädte.

Schüler der Odenwaldschule zu sein bedeutete, von heute auf morgen kein Privatleben mehr zu haben. Wir bewohnten unsere Zimmer mit einem Zimmerkameraden, im ersten Jahr eben mit einem, den wir uns nicht aussuchen konnten. Ein Jahr mit einem wildfremden Menschen in einem Hasenkäfig. Fremd war man sich anschließend nicht mehr. Gesprochen haben wir danach allerdings auch nicht mehr miteinander. Also, Adil und ich. Adil war ein Chaot und tägliche Hygiene für ihn ein Fremdwort. Fern von Riad, den Hausangestellten und der strengen Hand des Vaters kam Adil mit der Struktur- und Regellosigkeit in der Odenwaldschule überhaupt nicht klar. Sein Bruder und er flogen später wegen ihres Drogenkonsums von der Schule, zu Beginn hatte ich erst einmal den Verwahrlosungsprozess des kleinen, stämmigen Jungen auszuhalten.

Der schulische Teil der Odenwaldschule war erträglich, die Klassen