Wie man eine Pipeline in die Luft jagt - Andreas Malm - E-Book

Wie man eine Pipeline in die Luft jagt E-Book

Andreas Malm

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Beschreibung

Die wissenschaftlichen Fakten bezüglich der Klimakrise, die Daten, die das Massenaussterben und die Erderwärmung beziffern, liegen auf dem Tisch, an dem führende Politikerinnen und Politiker regelmäßig zusammenkommen, um Klimaziele zu vereinbaren. Auf den Straßen vor den Tagungshotels und Regierungspalästen protestieren nicht erst seit gestern immer mehr Men­schen. Sie starten Petitionskampagnen und sammeln Unterschriften. Trotz­dem haben wir es mit einer nach wie vor boomenden Industrie für fossile Brennstoffe zu tun, die Gewinne steigen kontinuierlich. Ist es also an der Zeit, das kaputt zu machen, was uns kaputt machen wird? In diesem mitreißen­den Manifest fordert Andreas Malm nichts weniger als die Eskalation: Wir müssen die Förderung fossiler Brennstoffe zum Stillstand bringen – mit unserem Handeln, unseren Körpern, mit allem, was uns zur Verfügung steht. In seiner historisch fundierten Lesart der Geschichte erfolgreicher sozialer Bewegungen – für das Frauenwahlrecht, gegen die Apartheid – zeigt Andreas Malm, dass jeder dieser Kämpfe Grenzen überschritten hat: Eigentum wurde zerstört, Infrastruktur angegriffen. Nur so konnte der notwendige Druck aufgebaut werden, um Veränderung voranzutreiben. Mit der Leidenschaft eines Aktivisten und dem Wissen eines Forschers diskutiert Andreas Malm das Spannungsfeld zwischen Gewaltfreiheit und direkter Aktion, Strategie und Taktik, Demokratie und sozialer Veränderung. Und zeigt uns, wie wir in einer Welt kämpfen können, die längst in Flammen steht.

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Andreas Malm

Wie man eine Pipeline in die Luft jagt

Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen

Aus dem Englischen von David Frühauf

Inhalt

Keine Entschuldigung mehr für Passivität

1.

Aus vergangenen Kämpfen lernen

2.

Den Bann brechen

3.

Der Verzweiflung einheizen

Anmerkungen

Dank

Keine Entschuldigung mehr für Passivität

Das Manuskript zu diesem Buch wurde fertiggestellt, noch bevor das Coronavirus, das die Krankheit COVID-19 hervorruft, um sich zu greifen begann. Während ich nun diese Zeilen schreibe, fallen der Pandemie weltweit etwa 2000 Menschen pro Tag zum Opfer. Doch auch politische Opfer zählt sie bereits – eines der ersten: die Klimabewegung, deren höchst erfolgreiche Mobilisierung durch den Ausbruch unmittelbar zum Erliegen gebracht wurde. Die 2019 noch über den Globus fegenden Klimastreiks sind auf Eis gelegt. Kurz bevor in weiten Teilen Europas der Lockdown verordnet wurde, traf ich mich in Amsterdam mit Genoss*innen, die das letzte Jahr damit zugebracht hatten, sich auf eine der bisher spannendsten Massenaktionen vorzubereiten, »Shell Must Fall«: eine militante Störaktion der jährlichen Aktionärshauptversammlung von Shell, die von den Aktivist*innen als die Beendigung jeder weiteren Aktionärsversammlung angekündigt worden war. Betrübt mussten sie feststellen, dass die Aktion nicht stattfinden würde. In Berlin, wo ich diese Worte schreibe, musste der im Zentrum der Bewegung stehende Zusammenschluss Ende Gelände, der ähnlich große Pläne für das Jahr 2020 gefasst hatte, seine Versammlungen ausfallen lassen; und auch das von Extinction Rebellion geplante zweiwöchige Camp im Zentrum der Stadt wurde abgesagt. Vor SARS-CoV-2 stieg die Klimabewegung dank Massenbeteiligung in immer luftigere Höhen auf, doch gerade das, was den Treibstoff jeglicher sozialen Bewegung liefert – Menschenmengen –, schien plötzlich dermaßen unheilvoll, dass ihm Einhalt geboten werden musste. Es wäre verzeihlich, den Eindruck zu gewinnen, die Geschicke des Planeten lägen in den Händen einer böswilligen Himmelsmacht.

Aber auch der globale Kapitalismus musste in nie zuvor dagewesenem Ausmaß seine Ansprüche herunterschrauben. Und genau hierin liegt eine Chance. Emissionen sinken rapide – wie schon nach der Finanzkrise 2008, und zwar wieder einmal aus Gründen, die nichts mit der Klimapolitik zu tun haben –, was an und für sich bereits eine gute Sache ist. Eingriffe in das Privateigentum werden enttabuisiert. Wenn eine Pandemie Regierungen also dazu veranlassen kann, Notfallmaßnahmen zu ergreifen, könnte ein Klimakollaps, der ebenjene Lebenserhaltungssysteme des Planeten zu zerstören droht, dann nicht gleichermaßen Anlass dazu geben? Eine Entschuldigung für Passivität scheint zumindest nicht mehr länger möglich.

Das heißt nicht, dass es automatisch zu offensiven Klimamaßnahmen kommen wird, dass die Ausgangsbeschränkungen, die dichtgemachten Industrien und die zum Erliegen gebrachten Flughäfen zwangsläufig in einer Bewegung weg von den fossilen Brennstoffen münden werden. Vielmehr sollten wir das genaue Gegenteil erwarten: ein Wiedererstarken des business as usual, sobald die Pandemie abgeklungen sein wird. Die Automobilhersteller werden begierig darauf sein, die Produktion wieder anzukurbeln, die Fluglinien darauf, wieder zu fliegen, die Öl- und Gaskonzerne darauf, abermals von steigenden Preisen zu profitieren. Sollte die Coronakrise also eine realistische Chance zugunsten des Klimaschutzes darstellen, dann nur, wenn auch entsprechend gehandelt wird.

Nun mag sich die Klimabewegung momentan wie alles andere auch im quarantänebedingten Winterschlaf befinden, doch sobald dieses derzeitige Ausnahmeregime gelockert wird, muss sie mit geballter Kraft wieder vorpreschen. Unabhängig davon, ob unterm Strich Zeit verloren gegangen ist oder gewonnen wurde, der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist so dringlich wie eh und je. Und ja, es ist gut möglich, dass die Pandemie ihre Kreise noch einige Jahre über die Welt ziehen wird, wie es ebenso gut sein könnte, dass sie langsam abklingt. Vielleicht lässt sie sich sogar mittels eines Impfstoffes bekämpfen. Ganz sicher aber wird die globale Erwärmung zusehends schlimmere Ausmaße annehmen, solange Treibhausgasemissionen nicht unterbunden und die Reduktion des CO2s aus der Atmosphäre nicht in die Tat umgesetzt werden. Dass das von selbst geschehen wird – dass also das fossile Kapital eines natürlichen Todes sterben wird –, bleibt kaum anzunehmen, was bedeutet, dass die Klimabewegung in ein, zwei oder fünf Jahren von noch größerer historischer Notwendigkeit sein wird als jetzt. Und auch die taktischen Überlegungen, denen dieses Buch nachgeht, werden dann ihre Berechtigung wieder vollends erlangen.

Ich glaube fest daran, dass die hier vorgebrachten Argumente mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nach dieser Pandemie für eine wiedererstarkte Bewegung relevant sein werden. Denn dass der Bedarf an Militanz abnimmt, ist kaum vorstellbar. Und daher hoffe ich, dass die Auseinandersetzung auf den folgenden Seiten für die Bewegung in ihrer Post-Corona-Phase von Nutzen sein wird – oder sogar in einer Phase zeitgleich mit COVID-19 oder einer anderen zukünftigen Pandemie. Schließlich ist Sabotage keineswegs unvereinbar mit Social Distancing.

Berlin, Ende März 2020

1. Aus vergangenen Kämpfen lernen

Am letzten Tag der Verhandlungen rüsteten wir uns für unsere bisher gewagteste Aktion. Eine Woche lang hatten wir in einer schäbigen Sporthalle im östlichen Teil der Stadt gezeltet. Dort angekommen waren meine Freund*innen und ich in einem klapprigen Bus – mitten in der Nacht war auf der Straße das Auspuffrohr abgefallen –, doch als wir uns auf dem Hof des Sportzentrums verteilt hatten, überkam uns ein regelrechter Taumel: Wir tauchten ein in eine andere Welt, einen Ort, an dem das business as usual vorübergehend aufgehoben worden war. Eine Gemeinschaftsküche bot veganes Essen an. Versammlungen standen allen offen, die etwas zu sagen hatten. Während eines Workshops skizzierte ein Mann aus Bangladesch die verheerenden Folgen des steigenden Meeresspiegels für sein Land; bei einem anderen brachten Abgesandte kleiner Inselstaaten sowohl ihren Unmut als auch ihre Unterstützung für die Bewegung zum Ausdruck. Meine Freund*innen und ich sicherten uns eine Audienz bei unserer Umweltministerin und forderten sie auf, ihre Ziele höherzustecken. Schließlich waren die Erkenntnisse der Wissenschaft seit Langem unmissverständlich.

An einem Tag strömten wir aus den U-Bahn-Stationen auf eine viel befahrene Kreuzung mitten in der Stadt und blockierten den Verkehr mit Transparenten, auf denen zur drastischen Reduktion der Emissionen aufgerufen wurde. Einige Aktivist*innen spielten Gitarre oder Geige, während andere tanzten; manche jonglierten; manch andere händigten den aufgebrachten Autofahrer*innen Sonnenblumenkerne aus. Wir hatten nicht die Absicht, es zur Konfrontation mit der Polizei oder sonst jemandem kommen zu lassen; eher noch wollten wir verhaftet werden, als eine Flasche oder einen Stein zu werfen. An einem anderen Tag brachten wir den Verkehr auf einer Durchgangsstraße mit einem unmissverständlichen Straßentheater zum Erliegen. Als Bäume, Blumen und Tiere verkleidet, legten wir uns auf den Asphalt, um von einem aus Pappe und Holz gezimmerten Fahrzeug überrollt zu werden, das den gewohnten Gang der Dinge symbolisieren sollte. Demonstrierende in UN-Delegiertenkostümen schritten gemächlich über die platt gewalzte Menge hinweg, mit Schildern, auf denen »Bla, bla, bla« zu lesen stand, und ohne irgendetwas zu unternehmen.

Und dann war auch schon der letzte Tag der Verhandlungen gekommen. Mietbusse brachten alle 500 Aktivist*innen in die Nähe des Veranstaltungsorts. Auf ein Zeichen hin marschierten wir auf das Gebäude zu und versuchten, den Delegierten den Ausweg zu versperren, indem wir uns an die Ausgänge ketteten, uns auf den Boden legten und dabei beständig skandierten: »Kein weiteres Blablabla … Handeln! Jetzt! Kein weiteres Blablabla … Handeln! Jetzt!«

Das alles geschah 1995. Den Schauplatz bildete die COP1, die allererste der jährlich stattfindenden UN-Klimakonferenzen, in Berlin. Und die Delegierten schlichen sich durch einen Hinterausgang hinaus. Seitdem sind die jährlichen CO2-Emissionen weltweit um rund 60 Prozent gestiegen. Im Jahr des Gipfeltreffens wurden durch die Verbrennung fossiler Treibstoffe mehr als sechs Gigatonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre gepumpt; im Jahr 2018 lag die Zahl bereits bei über 10 Gigatonnen. In den fünfundzwanzig Jahren, seitdem die Delegierten sich heimlich aus dem Staub gemacht hatten, wurde mehr Kohlenstoff aus unterirdischen Vorräten freigesetzt als in den fünfundsiebzig Jahren vor ihrem Treffen.1 Seit der COP1 haben die USA einen Boom in der Förderung fossiler Brennstoffe ausgelöst und sich einmal mehr zum weltweit größten Öl- und Gasproduzenten emporgeschwungen; dieses Land, das bereits zuvor über das am weitesten verzweigte Pipelinenetz verfügte, hat ebendieses zusätzlich um mehr als 1,3 Millionen Kilometer aufgestockt und so die Hochdruckschläuche vervielfacht und verlängert, mit denen Öl ins Feuer gegossen wird.2 Deutschland hat währenddessen weiterhin beinahe 200 Millionen Tonnen Braunkohle jährlich abgebaut – den schmutzigsten aller fossilen Brennstoffe. Unerbittlich fressen sich die Tagebaue in das Land; Wälder werden abgeholzt und Dörfer abgerissen, nur damit sich die rußigen Kessel über den Horizont hinaus erstrecken und die Bagger weiteres weiches Gestein aufschaufeln können, das dann in Brand gesetzt wird. Und mein Heimatland Schweden hat seit der COP1 eines der größten Infrastrukturprojekte seiner Geschichte in die Wege geleitet: einen gewaltigen Stadtautobahnring. Nichts Außergewöhnliches also, bloß eine weitere Autobahn. Sie soll sich um Stockholm schlängeln und noch mehr Autos fassen, die etliche weitere Millionen Tonnen schädlicher Emissionen ausspeien. Im April 1995, jenem Monat, in dem die COP1 zu Ende ging, lag die atmosphärische CO2-Konzentration bei 363 parts per million, im April 2018 bereits bei über 410 ppm.3

Während ich dies schreibe, zieht eine Rauchwolke über Sibirien hinweg. Sie rührt von Bränden in beispiellosem Ausmaß und nie dagewesener Heftigkeit innerhalb des Polarkreises her. Seit Wochen fegen die Flammen durch Wälder, die eigentlich zu den kältesten der Erde zählen sollten, und befördern Rauchschwaden in Form einer gigantischen Rußformation in die Luft. Die Wolke ist mittlerweile größer als das gesamte Gebiet der Europäischen Union.4 Noch bevor sie sich auflösen wird, fangen weite Teile des Amazonas Feuer und verwandeln sich in einer nie zuvor dagewesenen Geschwindigkeit in Asche.

Nun zu behaupten, die Signale seien bei der Führungsschicht auf taube Ohren gestoßen, wäre eine Untertreibung. Sollte diese Klasse nämlich jemals die Fähigkeit zur Wahrnehmung besessen haben, so ist sie ihr längst vollends abhandengekommen. Der Geruch lodernder Bäume beunruhigt sie nicht sonderlich. Sie sorgt sich nicht beim Anblick untergehender Inseln, sie flieht nicht das Tosen herannahender Wirbelstürme, ihre Finger müssen nie die Stängel verdorrter Ernte berühren, und ihr Mund ist nicht klebrig und trocken nach einem Tag ohne Wasser. An ihre Vernunft, an ihren Common Sense zu appellieren, wäre augenscheinlich vergebens. Denn letztlich siegt ein aufs andere Mal ihr Engagement zugunsten grenzenloser Kapitalakkumulation. Nach den letzten drei Jahrzehnten kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Führungsklasse geradezu gesetzmäßig untauglich ist, auf die Katastrophe anders zu reagieren, als sie immer weiter anzustacheln; aus eigenem Antrieb vermag sie nichts anderes zu tun, als sich den Weg bis zum bitteren Ende zu brennen.

Und aus genau diesem Grund sind wir nach wie vor hier. Wir errichten unsere Lager für nachhaltige Lösungen. Wir kochen unser veganes Essen und halten unsere Versammlungen ab. Wir marschieren, wir blockieren, wir führen Theaterstücke auf, wir überreichen Minister*innen Listen mit Forderungen, wir ketten uns an und marschieren auch am nächsten Tag wieder. Wir sind immer noch absolut und mustergültig friedlich. Zahlenmäßig sind wir mehr geworden und in unseren Stimmen liegt eine größere Verzweiflung. Wir sprechen vom Aussterben und davon, dass es keine Zukunft mehr gibt. Aber das business as usual geht unbeirrt seines Weges.

Wann also eskalieren wir? Wann gelangen wir zu der Einsicht, dass es an der Zeit ist, auch zu anderen Mittel zu greifen? Wann fangen wir an, die Dinge, die unseren Planeten ruinieren, physisch anzugreifen, mit unseren Körpern, sie mit unseren eigenen Händen zu zerstören? Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, der uns so lange zögern ließ?

Im Sommer 2017 lagerte sich im Golf von Mexiko eine rekordverdächtige Hitzemenge ab.5 Nie zuvor waren seine Oberflächengewässer so warm gewesen. Als dann die saisonalen Wirbelstürme heraufzuziehen begannen, die Winde sich drehten und spiralförmig aufwirbelten, gewannen sie einen Teil dieser überschüssigen Energie als Treibstoff für ihre Bewegung und ihren Regen. Am 18. September intensivierte sich der achte, auf den Namen Maria getaufte Hurrikan der Saison plötzlich und explosionsartig von einem Sturm der Kategorie 1 zu einem der Kategorie 5 und nahm, wie Satellitenbilder verzeichneten, die Form eines monströsen Sägeblattes an. Er fegte über die karibische Insel Dominica hinweg und mähte sie nieder.6 Die Regenwälder, die zuvor noch die Hügel bedeckt hatten, waren abgeholzt, die Bäume ausgerissen und ins Meer geschleudert, innerhalb weniger Stunden wurde die Insel ihres emblematischen Grüns beraubt. Ganze Gebäude wurden weggefegt, als ob es sich dabei um bloße Strohhütten handeln würde. Der geschätzte Anteil der verschwundenen oder stark beschädigten Häuser bewegte sich zwischen 60 und 97 Prozent. Trümmerhaufen bedeckten die Insel – Dächer, Ziegel, Möbel, Kabel, Abwasserleitungen –, die Infrastruktur einer ganzen Nation. Einer derjenigen, der sein Zuhause verloren hatte, war der dominicanische Ministerpräsident, Roosevelt Skerrit, der vier Tage nach Marias Landung das Podium der Generalversammlung der Vereinten Nationen betrat.

Selten zuvor hatte man ein Staatsoberhaupt dermaßen erschüttert bei seiner Rede vor dieser Versammlung gesehen. Skerrit sprach von sich, als käme er soeben von der vordersten Front eines Krieges. »Wir haben heute Gräber in Dominica ausgehoben!«, rief er. »Wir haben gestern geliebte Menschen begraben, und ich bin sicher, dass wir bei meiner morgigen Rückkehr weitere Todesfälle zu betrauern haben werden. Unsere Häuser sind abgetragen! Unsere Gebäude haben keine Dächer mehr! Unsere Ernte ist entwurzelt! Wo es zuvor noch grün war, erblickt man nur noch Staub und Schmutz.«7 Die Wissenschaft bündig auf den Punkt gebracht, erläuterte Skerrit den versammelten Führungskräften der Welt, dass die im Ozean gespeicherte Hitze den Stürmen als Treibstoffladung diene, sie übermäßig stimuliere und zu Massenvernichtungswaffen werden lasse. Nicht die Menschen der Karibik waren der Grund für diese Hitze. Dominica ist eine Insel, die beinahe ausschließlich von Nachkommen von Sklav*innen und einem Bruchteil der indigenen Bevölkerung bewohnt wird und nach wie vor als einkommensschwach gilt; es handelt sich um eine Welt fernab von New York City oder London, eine Welt, die für ein dermaßen geringes Maß an Verbrennungen fossiler Treibstoffe verantwortlich zeichnet, dass ihr Ausstoß allein keinerlei Spur auf unserem Planeten hinterließe. »Der Krieg ist zu uns gekommen!«, schrie Skerrit, während er sich darum bemühte, seinen Schmerz zurückzuhalten. »Wir tragen die Konsequenzen der Handlungen anderer. Handlungen, die unsere Existenz gefährden … und das alles, damit sich anderswo ein paar wenige bereichern können.« Er richtete einen verzweifelten Appell an sein Publikum: »Wir brauchen Taten« – sprich Maßnahmen, um die Emissionen zu senken –, »und wir brauchen sie JETZT!!« Vermutlich wusste er, auf was für Ohren seine Worte stoßen würden. Doch die von ihm benutzte Kriegsmetaphorik war angemessen; wie eine präzisionsgelenkte Rakete hatte der Hurrikan Maria Dominica hinter sich gelassen und steuerte nun geradewegs in Richtung Puerto Rico, wo sich die Szenen wiederholen sollten: geflutete und von Schlammlawinen zerstörte Dörfer, in Scharen getötete Menschen. Die Regierung bezifferte die Zahl der Todesopfer auf vierundsechzig, doch wiesen mehrere unabhängige Forscherteams nach, dass sich die tatsächliche Zahl auf drei- bis sechstausend belief.8 Für Dominica wurde keine vergleichbare Auswertung vorgenommen.

Zwei Wochen vor Maria holte die London Review of Books, eine Zeitschrift, deren Interesse schon lange vorher dem Klimawandel galt, als Kommentar zur andauernden, hyperaktiven Hurrikansaison thematisch passende Essays aus ihrem Archiv und verschickte sie an ihre Abonnent*innen. Der erste Essay stammte aus der Feder des britischen Schriftstellers und Essayisten John Lanchester. Er beginnt so:

Es ist seltsam und erstaunlich, dass Klimaaktivisten bisher noch keinen einzigen Terrorakt verübt haben. Schließlich stellt Terrorismus für den Einzelnen die bei Weitem effektivste Form des politischen Handelns innerhalb der modernen Welt dar und der Klimawandel einen Sachverhalt, zu dem die Menschen eine ebenso entschiedene Meinung haben wie beispielsweise zu den Rechten von Tieren. Besonders augenscheinlich wird das, wenn man bedenkt, wie einfach es ist, Tankstellen in die Luft zu jagen oder SUVs mutwillig zu beschädigen. SUVs werden innerhalb der Städte von allen verabscheut, außer von jenen Menschen, die sie fahren; und in einer Stadt der Größe Londons könnten ein paar Dutzend Menschen in kürzester Zeit den Besitz dieser Autos effektiv unmöglich machen, einfach indem sie Schlüssel über die Fahrzeugseiten zögen, was den Besitzer jedes Mal mehrere Tausend Pfund kosten würde. Nehmen wir an, jeden Monat demolieren fünfzig Menschen pro Nacht vier Autos: sechstausend zerkratzte SUVs innerhalb eines Monats, und die »Hausfrauenpanzer« würden bald schon von unseren Straßen verschwinden. Warum also passieren diese Dinge nicht? Liegt es daran, dass die Menschen, denen der Klimaschutz ein wichtiges Anliegen ist, einfach zu nett sind, zu gebildet, um etwas Derartiges zu tun? (Aber sind nicht auch Terroristen häufig hochgebildet?) Oder liegt es daran, dass selbst jene Menschen, die eine dezidierte Meinung zum Klimawandel haben, sich auf irgendeiner Ebene nicht dazu durchringen können, wirklich an dessen Folgen zu glauben?9

Verfasst wurden diese Worte zehn Jahre vor der Hurrikansaison 2017. Sie wurden geschrieben, bevor ein Hochwasser ein Fünftel Pakistans überschwemmte und das Leben von rund 20 Millionen Menschen ruinierte, bevor der Zyklon Nargis mehr als hunderttausend Menschen in Myanmar dahinraffte und bevor der Taifun Haiyan in den Philippinen mehr als sechstausend tötete; sie wurden geschrieben, bevor der Zyklon Idai Zentralmosambik verwüstete, noch vor Matthew, Isaac, Irma, Dorian, noch bevor die Dürreperioden in Zentralamerika einsetzten und bis in den Iran und nach Afghanistan schwappten, geschrieben, bevor Schlammlawinen mehr als tausend Menschen in der sierraleonischen Hauptstadt unter sich begruben und monsunartige Regenfälle Hunderte peruanische Dörfer wegspülten und das Thermometer im Persischen Golf regelmäßig Werte erreichte, die für den menschlichen Körper kaum noch zu ertragen sind, und auch noch vor etlichen anderen Desastern – einige davon erstreckten sich sogar weit hinein in den Globalen Norden: Hitzewellen, die Europa zwei aufeinanderfolgende Sommer lang rösteten und zu den fürchterlichsten Waldbränden in der Geschichte Kaliforniens führten. All das bildete sich in der Brutstatt einer überhitzten Welt. Und dennoch hat sich an der Taktik, mit der auf diese Verhältnisse reagiert wird, nichts geändert. Was wahrlich verwundern mag, bedenkt man die folgenden fünf Faktoren.

Erstens den Umfang dessen, was auf dem Spiel steht: nahezu alle Lebewesen im Himmel und auf der Erde. Zweitens die Allgegenwart potenzieller Ziele innerhalb eines entwickelten kapitalistischen Landes: Eine Tankstelle oder ein SUV ist kaum je mehr als ein Steinwurf entfernt – ein Faktor übrigens, der in Ländern wie Dominica, in denen Emissionsquellen oftmals nur spärlich gesät sind, weitgehend fehlt. Drittens die Mühelosigkeit, mit der solcherlei Ziele angegriffen werden könnten; es müsste noch nicht einmal sonderlich kompliziertes Werkzeug dafür eingesetzt werden. Viertens das Bewusstsein für die Struktur und die Dimension der Krise (das heute in erheblichem Maße größer ist als zu jenem Zeitpunkt, da Lanchester seinen Essay veröffentlichte), das die Menschen vermutlich weitaus stärker belastet als ein Thema wie beispielsweise Tierrechte. Diesen leicht nachweisbaren Faktoren stellte Lanchester einen fünften, durchaus spekulativeren zur Seite: die Effektivität einer Kampagne zur Beseitigung der emissionsintensivsten Gerätschaften. Wir können uns der Gewährleistung der Resultate nicht sicher sein, schließlich wurden bis zum Zeitpunkt der Niederschrift noch keine derartigen Kampagnen unternommen. Darüber hinaus ließe sich auch noch ein sechster Faktor anführen, der allzeit offenkundig ist: die enorme Tragweite des begangenen Unrechts.

Alles in allem mag es in der Tat seltsam und erstaunlich sein, dass die von Lanchester beschriebenen Maßnahmen noch nicht ergriffen wurden. Es ist ein Paradoxon: Nennen wir es schlicht das »Lanchester-Paradoxon«. Es verzeichnet einen Teil des allgemeinen Defizits an Maßnahmen gegen den Klimakollaps. Es impliziert eine Form der Untätigkeit innerhalb der aktivistischen Welt selbst. Und allem Anschein nach besteht eine Verbindung zwischen ihm und dem Blablabla der Politiker*innen.

Im Globalen Norden hat die Klimagerechtigkeitsbewegung mittlerweile mehrere Stadien intensiver Aktivität durchlaufen, jeder Zyklus von noch größerem Ausmaß als der vorhergehende.10 Der erste walzte zwischen 2006 und 2009 durch Nordeuropa. In Großbritannien etwa organisierten Aktivist*innen damals die ersten Klimacamps: Zeltstädte dienten als Veranstaltungsorte vorbildlichen Lebens und Lernens, als Ausgangspunkte für Massenaktionen gegen nahe gelegene Emissionspunktquellen – ein Flughafen, ein Kohlekraftwerk, ein Finanzviertel. Eine Gruppe namens »Plane Stupid« besetzte landesweit Flughafenrollfelder und wagte sich bis auf die Start- und Landebahnen vor. Im Vorfeld der COP15 in Kopenhagen wiederum, wo ein umfassendes Abkommen ausgehandelt werden sollte, liefen in Dänemark, Schweden und Deutschland die Vorbereitungen der jungen Bewegung auf Hochtouren; es gelang uns, 100 000 Menschen für einen Tagesmarsch zum Veranstaltungsort auf die Straße zu bringen. Fünfzigtausend davon nahmen am »People’s Climate Summit« in einem Sport- und Kulturzentrum teil, mehrere Tausend an verschiedenen Blockaden und anderen Aktionen. Geführt aber hat all das zu weniger als Nichts. Die COP15 endete damit, dass die Delegierten aus den USA und ihre Verbündeten die Idee einer verpflichtenden Emissionssenkung im Keim erstickten. Und das Aufkommen der Austeritätspolitik im Zuge der Finanzkrise 2008 zog die gesamte Energie der britischen Aktivist*innen auf sich, sodass der erste Zyklus des 21. Jahrhunderts im Jahr 2009 nach dem COP15-Debakel sein jähes Ende fand.

2011 nahm schließlich der zweite Zyklus seinen Ausgang, diesmal in den Vereinigten Staaten. Nachdem Barack Obama daran gescheitert war, das vereinbarte Gesetz zum Emissionsrechtehandel mit festen Obergrenzen im eigenen Land durchzusetzen, und der COP15 damit endgültig den Todesstoß versetzt hatte, kehrte eine frustrierte Bewegung den Hallen politischer Gestaltung den Rücken und setzte eine nicht nachlassende Kampagne des zivilen Ungehorsams in Gang. Ihr Fokus galt dabei Keystone XL. Dieses Projekt, eine geplante Pipeline für den Transport von Öl aus den kanadischen Teersanden zu den an der Golfküste gelegenen Raffinerien, bedurfte der Zustimmung Obamas, der die »Macht des Volkes« sogleich ein wenig zu spüren bekommen sollte: Im August 2011 wurden mehr als eintausend Menschen während eines einwöchigen Sit-ins vor dem Weißen Haus verhaftet. Infolgedessen versammelten sich Zigtausende, um eine Menschenkette um das Gebäude zu bilden und sich mit Plastikbändern an den Zäunen festzuschnallen. Zur gleichen Zeit leiteten Aktivist*innen eine ausgiebige Desinvestitionskampagne (Divestment) in die Wege und überzeugten Universitäten, Kirchen sowie andere Institutionen mit dem Hauch eines Gewissens, ihre Öl-, Gas- und Kohlekonzernanteile zu verkaufen, sodass diese Unternehmen ihrer Legitimität beraubt und ihr kollektiver Untergang herbeigeführt würde. Angespornt durch Hurrikan Sandy, brach New York City im September 2014 den Rekord von Kopenhagen, als vierhunderttausend Menschen an der bis dahin größten Protestkundgebung, dem People’s Climate March, teilnahmen; und tatsächlich schien sich das Blatt zu wenden. Bereits im darauffolgenden Jahr erteilte Obama Keystone XL endgültig eine Absage. Und auch die letzten Monate seiner Präsidentschaft waren von einem weiteren Mobilisierungshöhepunkt gekennzeichnet, als die Sioux-Nationen während eines andauernden Protests gegen die geplante Dakota Access Pipeline immer größere Scharen von Unterstützer*innen anzogen und in ihrem Camp im Standing-Rock-Reservat versammelten. Wie bei den Kämpfen gegen Keystone XL und Dutzende andere nordamerikanische Pipelineprojekte standen indigene Aktivist*innen an der Spitze einer Bewegung, die Zigtausende bis dahin nicht politisierte Menschen anzog. Doch dann kam Donald Trump an die Macht. Noch in seiner ersten Woche im Weißen Haus kündigte er an, beide Pipelines mit maximaler Geschwindigkeit bauen zu lassen. Und damit war auch dieser Zyklus an sein Ende gelangt.

Die Krise selbst ebbte indes niemals ab. Im Sommer 2018 legte sich eine Hitzeglocke über den europäischen Kontinent, verhinderte monatelang die Wolkenbildung und entfachte Feuerstürme bisher ungesehenen Ausmaßes; in Schweden setzte man Militärjets zur Bombardierung der Feuersbrünste ein – nicht um Wasserbomben abzuwerfen, sondern tatsächlichen Sprengstoff. Das ganze Land schien zu verkümmern. Gegen Ende jenes Sommers stieg ein fünfzehnjähriges Mädchen namens Greta Thunberg auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zum Schwedischen Reichstag. Sie hockte sich auf den Bürgersteig und rief einen Schulstreik für das Klima aus. Mit diesem Bild der Verletzlichkeit und des Trotzes traf sie den Nerv ihrer Generation – ein einzelnes jugendliches Mädchen, das ein Leben auf einem sich erwärmenden Planeten vor sich hat, gegen die stumpfsinnigen Mauern eines ganzen politischen Systems. Kinder und Jugendliche fingen an, freitags nicht mehr zur Schule zu gehen. Wellen des Schulstreiks, bekannt unter dem Namen »Fridays for Future«, rollten über Westeuropa und andere Teile der Welt hinweg und erreichten am 15. März 2019 ihren ersten Höhepunkt, als anderthalb Millionen Schüler*innen in dem wahrscheinlich größten koordinierten Jugendprotest der Geschichte ihren Unmut streikend und marschierend zum Ausdruck brachten.

Wenige Wochen später legte Extinction Rebellion beziehungsweise XR, ein weiterer Sprössling des Hitzesommers 2018, einen Großteil der Londoner Innenstadt lahm, als Tausende Aktivist*innen Plätze und Brücken besetzten und sich in aller Ruhe von der Polizei davontragen ließen. Die größte Aktion zivilen Ungehorsams, die Großbritannien seit Jahrzehnten erlebt hatte und die ohne einen einzigen gewaltsamen Vorfall über die Bühne ging, beförderte XR an die Speerspitze des dritten Zyklus des 21. Jahrhunderts. Von New York City bis Sydney fanden sich reihenweise Nachahmer*innen auf den Straßen. XR hatten mit ihrem Symbol, das visuell markant und so einfach zu reproduzieren war wie das Friedens- oder Anarchiezeichen, den Nagel auf den Kopf getroffen: eine stilisierte, innerhalb eines an den Globus erinnernden Kreises gezeichnete Sanduhr, die die schwindende Zeit repräsentiert.

Anfang September 2019 nahm ich an einer XR-Aktion in meiner Heimatstadt Malmö teil. Die Sanduhr-Banner flatterten in der morgendlichen Brise des Meeres, das, einem kürzlich veröffentlichten Bericht zufolge, bei gleichbleibender Entwicklung noch in diesem Jahrhundert weite Teile der Stadt unter sich begraben wird.11 Auf den Plakaten stand »Handeln! Jetzt!« und »Keine leeren Worte mehr«. Scharen von Aktivist*innen marschierten von Kreuzung zu Kreuzung und blockierten diese für ein paar Minuten, indem sie sich ihrer Kleidung entledigten und vorgaben, im ansteigenden Gewässer zu schwimmen. Manche von ihnen beschwichtigten den Ärger der Autofahrer*innen mit mitgebrachten Snacks. Im Oktober – mittlerweile klatschen die Wogen der Mobilisierung mit der Regelmäßigkeit von Gezeiten gegen die Mauern – besetzte XR mehrere Kreuzungen in Berlin Mitte. Einige Aktivist*innen waren als Pinguine, Tiger oder Bären verkleidet; andere wiederum jonglierten; manche händigten vegane Suppe aus. Als ich die Szenen am Tiergarten und am Potsdamer Platz schließlich genauer betrachtete, stellte ich fest, dass sie allein schon zahlenmäßig wenig gemein hatten mit den Aktionen rund um die COP1. Und in der Politik sind Zahlen nun einmal alles. Eine Arbeiterin, die zu Hause bleibt, ist eine Drückebergerin, tausend sind ein Streik; Greta allein ist ein Mädchen in Stockholm, eine Million Mädchen und Jungen eine Kraft, mit der zu rechnen ist. Die Zeltlager und Picknicks, die Ende 2019 den Verkehrsfluss in Berlin zum Erliegen brachten, zählten nicht Hunderte, sondern mehrere Tausend Teilnehmer*innen; XR verzeichnete einen explosiven Zuwachs und erhob nun Anspruch auf 485 Ableger in der ganzen Welt. Der »Herbstaufstand« begann mit der aufgehenden Sonne – wie die Rebell*innen von XR schwärmerisch verkündeten – in Sydney und zog sich weiter über die Städte Europas und Nordamerikas, wo in den Stadtzentren, wie in einem streng durchchoreografierten Tanz, die gleichen Sanduhren, Slogans und Störaktionen ins Rampenlicht gerückt wurden.

Die Wachstumskurve setzte sich fort, als die Teilnehmer*innenzahl der Fridays-for-Future-Demonstrationen Ende September einen neuen Höchstwert erreichte: Mittlerweile waren es an einem Freitag vier, am nächsten immerhin zwei Millionen Menschen, die an 4500 Orten auf allen Kontinenten protestierten – einschließlich der Antarktis, wo Klimaforscher*innen ihre Messwerkzeuge niederlegten. Die Bilder reichten von einer jungen, auf eigene Faust streikenden Frau in der belarussischen Hauptstadt Minsk bis hin zu fünfzigtausend Kindern, die in ihren Schuluniformen durch Luanda, die Hauptstadt Angolas, marschierten. Schüler*innen des niedrig gelegenen Inselstaats Kiribati skandierten: »Wir sinken nicht, wir kämpfen.« Das Epizentrum der Mobilmachung aber bildete am 20. September 2019 Deutschland, Heimat von mehr als einem Drittel aller weltweit Streikenden, ein großer Teil davon Erwachsene, einige sogar mit dem Einverständnis ihrer jeweiligen Gewerkschaft.

In Teilen des Globalen Nordens schien die Bewegung nun den quantitativen Sprung hin zu einem Massenphänomen geschafft zu haben. Zwar würde auch dieser Zyklus wie schon die beiden vorhergehenden aufgrund eines exogenen Schocks – ein Krieg im Persischen Golf, ein neuer Finanzcrash – oder durch Fehltritte sein unrühmliches Ende finden können, aber noch deutete nichts auf den Wendepunkt der Mobilisierung hin. Er barg Potenzial für weiteres Wachstum, und möglicherweise würde es diesem Zyklus gelingen, sich in immer höhere Gefilde zu schrauben, allein schon, weil sich das ihm zugrunde liegende Problem selbst immer weiter intensivierte. Dieses Mal würde er nicht einfach sang- und klanglos verschwinden.

Zum ersten Mal hatte sich die für ihre jugendlichen, fröhlichen, überschwänglichen, respektvollen und gesitteten Manifestationen bekannte Klimabewegung zur dynamischsten sozialen Bewegung im Globalen Norden aufgeschwungen. Und das, obwohl bei alldem ein dunklerer Unterton nicht zu überhören war: ein schwelender Zorn. Ein Zorn, den Greta Thunberg versinnbildlichte. Ihre Silhouette schwebte als Zeichen der im Zentrum des Klimakollapses liegenden intergenerationellen Ungerechtigkeit über Millionen von jungen Menschen. Sie war gnadenlos offen, als sie die führenden Politiker*innen der Welt ihrer Passivität wegen schalt. »Wenn die Emissionen aufhören müssen, dann müssen wir die Emissionen stoppen«, sagte sie mit zwingender, kompromissloser Logik, aber »[n]iemand verhält sich so, als ob wir in einer Krise steckten«.12 Sie begab sich auf eine ausdauernde Tour durch die Fridays-for-Future-Demonstrationen, XR-Blockaden, in die Buchen- und Eichenhaine des Hambacher Forsts – der letzte Rest eines Primärwalds, umgeben von einem Braunkohletagebau in Westdeutschland, dessen Besitzer*innen ihn abholzen wollten – bis zum Rasen des Weißen Hauses. Pünktlich zu einem weiteren Klimagipfel hatte sie das Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York erreicht, wo ihr Gesicht sich vor Wut beinahe verzerrte: »Wie konntet Ihr es wagen, mir mit Euren leeren Worten meine Träume und meine Kindheit zu stehlen? Und dabei bin ich noch eine der Glücklichen. Menschen leiden. Menschen sterben«, warf sie ihrem Publikum vor, das es weiterhin vorzog, allein über Geld und wirtschaftliches Wachstum zu sprechen, bevor sie ihre Rede schließlich mit einer geradezu überraschend unheilvollen Bemerkung schloss. »Aber die Jugend begreift langsam, wie schwerwiegend Euer Verrat ist. Die Augen aller zukünftigen Generationen sind auf Euch gerichtet. Und solltet Ihr Euch entscheiden, uns im Stich zu lassen, dann sage ich: Niemals werden wir Euch das verzeihen«, und weiter: »Die Veränderung ist auf dem Weg, ob es Euch gefällt oder nicht.«13 Einige Kommentator*innen bemerkten den neu angeschlagenen Ton. In Schweden warnte deshalb eine von ihnen, dass, wenn die um ihre Zukunft flehenden Millionen auf den Straßen ein weiteres Mal enttäuscht würden, »ein Zorn, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, entfesselt« werde.14

Alle drei Zyklen des 21. Jahrhunderts sind aus einer stetig verbreiteteren Einsicht hervorgegangen: Die Führungsschicht wird sich tatsächlich nicht zum Handeln überreden lassen. Sie ist unempfänglich für Bekehrung. Je lauter die Sirenen heulen, desto beflissener schleudert sie immer mehr Material ins Feuer – und so versteht es sich von selbst, dass ihr die Veränderung aufgedrängt werden muss. Die Klimagerechtigkeitsbewegung muss lernen, das business as usual zu stören. Auf ein beeindruckendes Repertoire kann sie zu diesem Zweck bereits zurückgreifen: Blockaden, Besetzungen, Sit-ins, Divestment, Schulstreiks, Stilllegung eines Stadtzentrums, die Signalwirkung der Klimacamps. Spätere Zyklen knüpften an vorangegangene an und lernten von ihnen, wenn etwa gegen Ende des zweiten und stark beeinflusst von den nordamerikanischen Pipelinekämpfen der deutsche Teil der Bewegung dem Bild des Klimacamps einen neuen Anstrich verpasste und es damit auf die nächste Stufe des Massenungehorsams hievte: Ende Gelände war geboren.

Bei Ende Gelände schlagen die Aktivist*innen ihre Zelte rund um einen mit Zirkuszelten und Küchen ausgestatteten zentralen Bereich auf.15