Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam? - Benjamin Idriz - E-Book

Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam? E-Book

Benjamin Idriz

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Beschreibung

Eine inspirierend moderne Erklärung des Islam

Seit 25 Jahren ist Benjamin Idriz der Imam der islamischen Gemeinde im oberbayerischen Penzberg. Einem Ort, in dem auf einzigartige Weise das Miteinander der Kulturen und Religionen gelebt wird. Dieses Miteinander ist auch möglich, weil Benjamin Idriz bei aller Treue zur Tradition eine zeitgemäße Auffassung davon vertritt, wie der Islam heute verstanden werden kann. In diesem Buch legt er die Grundlinien seiner Deutung dar. Eine inspirierend aufregende Sicht auf eine zu oft missverstandene Religion.

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»Wer die Auslegungen der früheren Korangelehrten als absolut und allein richtig für alle Zeiten auffasst und keine neuen Interpretationen zulässt, der ist wie tot, denn er lebt in einer Zeit, die nicht mehr existiert. Dieser Mensch hat der Menschheit in der Gegenwart nichts mehr zu sagen.«

Imam Benjamin Idriz

Das Plädoyer für einen neuen Umgang mit dem Koran in der Gegenwart – traditionsbewusst und weltoffen; spirituell und vernunftgeleitet.

Benjamin Idriz, geboren 1972 in Skopje/Mazedonien ist Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg und Vorsitzender des »Münchner Forum für Islam«.

BENJAMIN IDRIZ

Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam?

GRUNDGEDANKEN FÜR EINEN ISLAM HEUTE UND HIER

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Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © imago images / Astrid Schmidhuber

ISBN 978-3-641-24064-6V002

www.gtvh.de

INHALT

EINLEITUNG: DER KORAN – EIN BUCH, DAS MEINEN HORIZONT ERWEITERT UND MICH VOR EXTREMEN SCHÜTZT

TEXT UND KONTEXT: DREI KRITERIEN, UM DEN KORAN BESSER ZU VERSTEHEN

1. Sabab-an-nuzul: Den Text des Korans in seinem Kontext verstehen

2. Tadabbur: Den Koran reflektierend lesen

3. Maqasid: Den Sinn entdecken – was hat Gott mit seiner Offenbarung gewollt?

DIE SIEBEN SÄULEN DES KORANS

1. Fünf Säulen des Islam? – Eine Anfrage

2. Die erste Säule: Wissen als Grundlage von Aufklärung und gesellschaftlicher Entwicklung

3. Die zweite Säule: Freiheit als Bedingung für Ehrlichkeit und persönliche Entwicklung

4. Die dritte Säule: Frieden stiften, Gewalt vermeiden

Exkurs: Die vier Elemente der Philosophie des Dschihad und des Friedens im Koran

5. Die vierte Säule: Menschen gleich und gerecht behandeln, Diskriminierung bekämpfen

6. Die fünfte Säule: Die Ressourcen der Welt gerecht verteilen, Armut bekämpfen

7. Die sechste Säule: Umwelt bewahren, ökologisches Bewusstsein schärfen

8. Die siebte Säule: Das Leben durch die Religion nicht erschweren

DER ISLAM: EIN WEG ZU GOTT – VERMITTELT DURCH VERSCHIEDENE PROPHETEN

1. Was ist »der Islam« und wer ist »der Muslim«?

2. Die Bedeutung des Wortes islam

3. Umgang mit Differenzen

DER IMÂN: MEHR ALS GLAUBE

1. Der Glaube und die Vernunft

2. Der Glaube und das Herz

3. Der Glaube und die rechtschaffene Tat (amel-salih)

4. Imân statt aqida

DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN GOTT UND MENSCH

1. Gott ist dem Menschen näher als seine Halsschlagader

2. Der Mensch im Fokus der Wertschätzung Gottes

GNADE IST DIE GRUNDLAGE ALLER LEHRE

1. Gnade als das Paradigma für das Verständnis des Islam

2. Die Barmherzigkeitsvergessenheit des Islam – Ursache für Fanatismus und Gewalt

DIE TÄGLICHEN GEBETE ALS TRAINING FÜR MITMENSCHLICHKEIT

1. Das Gebet soll Menschen einander annähern

2. »Allahu Akbar« ist keine Kampfparole, sondern Gottesdienst in Demut

3. Nicht jeder Betende ist Gott gefällig

4. Wer sind die, die den »geraden Weg« beschreiten?

GEBOTE UND VERBOTE – ZWISCHEN GOTT UND MENSCHEN UNTEREINANDER

1. Nur Gott hat die Kompetenz, Dinge für »haram« zu erklären

2. Sünden, Fehlverhalten und Verbote im Koran

3. Zwei Arten von Sünden: die Gott und die den Menschen gegenüber

ISLAMISCH BEGRÜNDETER ANTISEMITISMUS? – EINE NOTWENDIGE REFLEXION ÜBER DIE KORANVERSE ZU DEN JUDEN

1. Alles begann mit dem Wunsch nach einem dauerhaften Bündnis

2. Religiöse, politische und soziale Spannungen mit den Juden in Medina

3. »Nicht alle sind gleich!« – Das Bündnis mit Christen und Juden gilt ungebrochen

»MUHAMMAD-KARIKATUREN«: WIE SOLLTEN DIE MUSLIME MIT BELEIDIGUNGEN UMGEHEN?

1. Ibn Salul als Prototyp des Muhammad-Karikaturisten

2. Warum reagierte der Prophet auf Hetze und Spott so gelassen?

3. Was also tun?

LITERATUR

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG: DER KORAN – EIN BUCH, DAS MEINEN HORIZONT ERWEITERT UND MICH VOR EXTREMEN SCHÜTZT

Es ist die 27. Nacht des Monats Ramadan, in der ich diese Einleitung schreibe. Muslimen gilt sie als »Nacht des Schicksals und der Bestimmung«, »Lailatu-l-Qadr«, als die segensreichste Nacht des Jahres, tausend Monaten gleich (Sure 97). Diese Nacht war Zeugin einer Veränderung und des Anfangs einer neuen Ära in der Geschichte der Menschheit, denn in dieser Nacht begann die Offenbarung des Korans mit dem Befehl: Iqra, »Trag vor, lies (bilde dich)!« Der Ramadan ist darum nicht einfach nur der »Fastenmonat«, er ist der Monat, in dem das Buch namens Koran den Menschen als Rechtleitung gegeben und anvertraut wurde (2/al-Baqara, 185). Aber: Fühlen sich die Menschen durch den Koran angesprochen? Hat dieses eintausendvierhundert Jahre alte Buch den Menschen in der heutigen Zeit noch etwas zu sagen? Ich versuche, im Folgenden auf diese Frage zu antworten, aber ohne den Anspruch zu haben, dies in einer abschließenden Weise tun zu können.

In diesen Tagen des Ramadan sitze ich jeden Nachmittag in der Penzberger Moschee vor der Kamera und rezitiere 20 Seiten aus dem Koran. Bis zum Ende des Fastenmonats werde ich auf diese Weise den ganzen Koran vorgetragen haben, coronabedingt nicht vor Zuhörern in der Moschee, sondern via livestream. Einzelne, Eheleute, viele Familien sitzen gemütlich auf dem Sofa, haben YouTube oder Facebook geöffnet und lauschen eine Stunde lang der melodischen Rezitation. Wie viele von ihnen das Arabisch des Korans beherrschen, ist schwer zu sagen, doch Übersetzungen helfen dabei, die Botschaft Gottes zu verstehen. Aber so sehr geht es gar nicht um die Bedeutung der Worte. Was die Herzen der Zuhörenden berührt und manchmal Gänsehaut und Tränen hervorruft, ist der melodische Klang, in der die »beste aller Lehren« (ahasanu-l-hadith) hier zum Ausdruck kommt: »Gott erteilt von droben, Schritt für Schritt, die beste aller Lehren in Gestalt einer göttlichen Schrift, völlig in sich stimmig, jede Aussage der Wahrheit in vielfältiger Form wiederholend – (eine göttliche Schrift) ob derer die Haut aller erschauert, die Ehrfurcht vor ihrem Erhalter haben: (aber) am Ende erweichen ihre Haut und ihr Herz beim Gedenken (der Gnade und des Wortes) Gottes …«1 (39/az-Zumar, 23).

Schon seit meiner Kindheit rezitiere ich den Koran im Ramadan vor Menschen und dank der Jahre, in denen ich Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger Jahre in Damaskus lebte und die arabische Sprache erlernen konnte, verstehe ich, wenn auch nicht immer ganz leicht, das, was ich rezitiere. Immer wieder entdecke ich dabei zu meinem eigenen Erstaunen etwas Neues, und es kommt mir vor, als hätte ich manche Stellen noch nie zuvor gelesen. Der Koran prägt mein Leben seit genau 40 Jahren. Als ich 8 Jahre alt war, las ich ihn zum ersten Mal ganz. Später traf ich dann die Entscheidung, den ganzen Koran auswendig zu lernen. Vor meinem Vater auf dem Boden sitzend übte ich und es gelang mir innerhalb von 17 Monaten. So bekam ich mit 11 Jahren den Ehrentitel »Hafiz« – jemand, der den ganzen Koran auswendig beherrscht. Die wundervolle Feier, die meine Familie zu diesem Anlass ausrichtete, ist in meinen Gedanken immer noch ganz lebendig gegenwärtig. Als damals jüngster Hafiz in Skopje im damals jugoslawischen Makedonien, begann ich, in der Moschee meines Vaters den Koran im Ramadan zu rezitieren. Seitdem prägt mich diese schöne Tradition, die in den Balkanländern und in der Türkei als mukabela bekannt ist. Mukabela heißt so viel wie »Begegnung«; die Begegnung zwischen dem Koranrezitator und den Zuhörenden sowie zwischen beiden und dem Wort Gottes. Diese Tradition fasst jetzt auch in Deutschland Fuß. In vielen Moscheen hierzulande rezitieren die Imame den ganzen Koran einmal während des Ramadan.

Und nicht nur im Ramadan spielt der Koran für mich eine große Rolle. Ich stehe täglich in der Gebetsnische der Moschee, arab. mihrab, die mir Ruhe und Freude beschert, um das Gebet in der Gemeinschaft zu leiten. Die Koranrezitation ist die wichtigste Voraussetzung für die Gültigkeit des Gebetes. Ich stehe wöchentlich auf der Kanzel, arab. minbar, um die Inhalte der Lehre des Korans mit der Gemeinschaft zu teilen. Meine zentrale Aufgabe als Imam ist durch diese beiden Pole bestimmt: mihrab und minbar, durch die Rezitation und die Erklärung dessen, was ich vom Koran wie verstanden habe, ohne dass ich je behaupten würde, mein Verständnis sei das allein gültige und richtige. In diesem Buche teile ich einige meiner Grundgedanken, wie wir als Gesellschaft den Koran verstehen können und vielleicht auch sollten, im Hier und Heute.

Der Koran stellt für mich die primäre Quelle für mein Islamverständnis dar. Er hat eine Korrekturfunktion für die Überlieferungen und die Interpretationen, die nach seiner Offenbarung aufkamen. Diese verdienen nur dann Beachtung, wenn sie mit dem Koran und seinem universellen Geist übereinstimmen. Keine Instanz kann über dem Koran stehen, nicht einmal die Sunna, die dem Propheten Muhammad zugeschriebene Überlieferung, geschweige denn die Interpretationen der Gelehrten.

Der Koran sagt, dass die Torah (5/al-Maida, 44) und ebenso das Evangelium (5/al-Maida, 45) Lichter seien. Das letzte Licht, welches Gott der Menschheit geschenkt hat, aber ist der Koran: »Glaubt denn (o Menschen,) an Gott und Seinen Gesandten und an das Licht (der Offenbarung), das Wir (euch) von droben erteilt haben!« (64/at-Taghabun, 8). Die Metapher des Lichts bestimmt auch einen der schönsten, berühmtesten und wirkmächtigsten Verse des Korans, den so genannten Lichtvers (35/an-Nur, 24): »Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis seines Lichtes ist das einer Nische, die eine Lampe enthält. Die Lampe ist in einem Glas eingeschlossen, das Glas leuchtend wie ein strahlender Stern: Eine Lampe, entzündet von einem gesegneten Baum, einem Olivenbaum, der weder vom Osten noch vom Westen ist, dessen Öl ist so hell, dass es beinahe von sich aus Licht geben würde, selbst wenn das Feuer es nicht berührt hätte. Licht über Licht. Gott leitet zu Seinem Licht, wer geleitet werden will, und zu diesem Zweck legt Gott den Menschen Gleichnisse vor, da Gott allein volles Wissen von allen Dingen hat.« Generationen von Korangelehrten zerbrachen sich den Kopf über die Bedeutung dieses Verses. Mit dem »Licht Gottes«, verstärkt formuliert als »Licht über Licht«, ist die Liebe Gottes, Seine Fürsorge, kurzum, Seine Botschaft an uns gemeint. Gott hat jedem Menschen Verstand und Herz gegeben, um dieses Licht zu sehen, zu spüren und ihm zu folgen. Jeder Mensch kann von Seinem Licht profitieren, so weit, wie sein Herz sich öffnet und das Licht hineinlässt. Aber es gibt vieles, das Menschen daran hindert, das Licht zu sehen. Darum sollten Muslime, wenn es um Vorurteile und Unkenntnis gegenüber dem Islam geht, die heute sehr verbreitet sind, nicht nur »die Anderen« beschuldigen, sondern auch das eigene Fehlverhalten und die eigene Unkenntnis erkennen und korrigieren.

Den Koran als leuchtendes und beleuchtendes Buch zu betrachten, bedeutet, in ihm ein Buch zu sehen, das den Horizont erweitert und nicht einschränkt. Er hat eine Korrekturfunktion; alle anderen im Islam und im Namen des Islam entstandenen Werke sind abhängig von ihm, er ist die erste und authentische Quelle. Viele Muslime bauen ihr Islamverständnis aber nicht nur auf dem Koran auf, sondern auf die Überlieferungen und Interpretationen von Gelehrten, die in anderen Zeiten und Umständen gelebt haben, wie auch auf Traditionen und kulturelle Gepflogenheiten, die manchmal der Haltung des Korans diametral entgegenstehen. Je mehr wir Muslime unser Islamverständnis vom Koran her entwickeln, desto mehr wird es uns gelingen, mit unserer eigenen Identität in einer pluralen Welt erfolgreich und – als Musliminnen und Muslime – anerkannt zu sein.

Den Koran verstehe ich dabei nicht als erstarrten und eingefrorenen Text, sondern vor allem als ein offenes und dynamisches Gespräch. Und die in diesem Buch niedergeschriebenen Gedanken kommen aus diesem Gespräch, wie ich es mit meiner Moscheegemeinde in Penzberg in meinen Predigten führe. Ich teile diese Gedanken auch mit der nichtmuslimischen Gesellschaft. Denn der Koran, wie ich ihn verstehe, verpflichtet mich, nicht in einem Getto, abgeschottet, realitätsfern, am Rande der Gesellschaft, sondern im Zentrum und aufgeschlossen zu wirken. Ein Vers bringt das schön auf den Punkt: »Und so haben Wir euch zu einer in der Mitte (wasat) stehenden Gemeinschaft gemacht, auf dass ihr Zeugen seid über die Menschen« (2/al-Baqara, 143). Der Begriff wasat in diesem Vers kann als Zentrum übersetzt werden und bezeichnet hier den Ort einer Gemeinschaft, die weder extremistisch noch schwach, weder isoliert noch assimiliert, sondern souverän, moderat, integriert, aber mit einer erkennbaren Identität Teil des Ganzen ist. Diese Gemeinschaft (der Muslime) hält sich von Extremen fern: von Assimilation ebenso wie von Isolation, von einer Religiosität, der Vernunft, Offenheit und Modernität fehlen, ebenso wie von einer Modernität, der religiöse Identität und Spiritualität fehlen.

In der Mitte zu wirken bedeutet, dort zu sein, wo ganz unterschiedliche Menschen sind: Arbeiter und Akademiker, Junge und Alte, Frauen und Männer, Gläubige, Andersgläubige und Nichtgläubige. Die Menschen wurden beauftragt, inmitten dieser Verschiedenheit durch friedliche Mittel gemeinsam das Konstruktive zu bewirken und das Destruktive zu vermeiden: »Auf dass aus euch eine Gemeinschaft (von Leuten) erwachsen möge, die einladen zu allem, was gut ist, und das Tun dessen fördern, was recht ist, und das Tun dessen verhindern, was unrecht ist: und es sind sie, sie, die einen glückseligen Zustand erlangen werden.« (3/Al ‘Imran, 104). Das Gebot, Gutes zu fordern und zu fördern und das Böse zu verhindern, verlangt eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, um ein gemeinsames Bewusstsein dafür zu schärfen, alles, was gut und recht ist, zu verwirklichen.

So hat sich auch der Prophet Muhammad, nachdem er die Offenbarung am Lichtberg erhalten hatte, nicht in die Abgeschiedenheit zurückgezogen, sondern in der Mitte der Gesellschaft gewirkt. Muslime sollen darum nicht isoliert und realitätsfern leben, auch nicht als Gemeinschaft. Es ist längst die Zeit gekommen, dass sie in Deutschland aus abgeschotteten Hinterhofmoscheen herauskommen, um sichtbare Strukturen aufzubauen. Und dabei geht es nicht nur um eine zeitgemäße, attraktive Architektur der Moscheegebäude, sondern auch um die Art und Weise der Moscheearbeit: zeitgemäß, offen, frauen- und fremdenfreundlich und mit Deutsch als Kommunikationssprache. Der Koran betont, dass »Gott niemals einen Gesandten/Propheten anders als in der Sprache seines eignen Volkes entsandt (hat), auf dass er ihnen die Botschaft klarmachen möge.« (14/Ibrahim, 4). Dieser Vers verpflichtet vor allem Imame und islamische Theologen, denen die Funktion zukommt, den Islam zu deuten und zu erklären, die Sprache des Landes zu lernen und in dieser Sprache zu lehren. Und in Deutschland ist das eben Deutsch. Wenn sie das nicht tun, können sie nicht von sich behaupten, sie seien »die Erben des Propheten«2, wie es in einer Überlieferung von Muhammad heißt. Die Sprache und eine offene Kommunikation sind die Schlüssel, um den Koran bzw. den Islam zu entgettoisieren.

Und das gilt auch für den Diskurs. Die Auseinandersetzung des Propheten Muhammad mit den »Leugnern des Korans« war immer von einer Kultur des Dialogs, des Gesprächs und des Austausches geprägt. Er forderte die andere Seite auf, ihre Argumente vorzulegen. Dutzende Beispiele im Koran belegen die kontroversen Diskussionen, die zwischen Muslimen und Nichtmuslimen stattgefunden haben. Der Koran lädt zu einer Streitkultur ein. Auch wenn der Koran ein »erhabenes« Buch ist, ist er doch kein »unantastbares«, über das nicht gesprochen und debattiert werden darf. Seine Auslegung ist eine offene und nicht abgeschlossene Materie. Eine Streitkultur über seine Inhalte ist nicht nur erlaubt, sondern auch erwünscht und sogar notwendig, denn nur so kann das Wort Gottes seine Lebendigkeit bewahren. Selbstverständlich haben die Menschen ein Anrecht darauf, kritische Fragen über den Koran zu stellen. Wenn ein Muslim sich bei solchen kritischen und manchmal provokanten Fragen über die Inhalte des Korans beleidigt fühlt und darauf emotional und aggressiv reagiert oder offenen Dialog verweigert, dann entzieht er sich der Verantwortung. Wer die Auslegungen der früheren Korangelehrten als absolut und allein richtig für alle Zeiten auffasst und keine neuen Interpretationen zulässt, der ist wie tot, denn er lebt in einer Zeit, die nicht mehr existiert. Dieser Mensch hat der Menschheit in der Gegenwart nichts mehr zu sagen.

Dieses Buch versucht, eine Antwort auf Fragen, die Muslime und Nichtmuslime heute stellen, zu geben. Wenn einige Gedanken in diesem Buch ein Streitgespräch in Gang setzen – ob innerhalb der muslimischen Gemeinschaft oder auch innerhalb der nichtmuslimischen Gesellschaft –, dann hat dieses Buch sein Ziel erreicht. Herr Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, – dem ich sehr herzlich für sein beharrliches Interesse an diesem Projekt danken möchte –, hat mich mit seiner Wahrnehmung, dass es in Deutschland ein neues Leserpublikum für islamische Themen gibt, ermutigt: die Generation junger Muslime, die in Deutschland geboren wurde, die hier aufgewachsen ist und sich mit diesem Land identifiziert. Mein erstes Buchprojekt mit dem Gütersloher Verlagshaus »Der Koran und die Frauen – Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam« (2019), hat bewiesen, dass tatsächlich ein großer Bedarf an Büchern besteht, die sowohl muslimische als auch nichtmuslimische Leser ansprechen. Die junge Generation der Muslime in Deutschland unterscheidet sich von der älteren Generation, die aufgrund sprachlicher Barrieren keine intensiven Berührungspunkte mit der breiten nichtmuslimischen Gesellschaft hatte. Diese neue Generation der deutschen Muslime ist aufgeschlossen, gebildet und interessiert, dieses Land in allen Hinsichten des Lebens mitzuprägen und zu seiner Entwicklung, intellektuell und kulturell, das ihre beizutragen. Sie sind Brückenbauer zwischen Sprachen, Kulturen, Religionen, zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Dieses Buch ist vor allem an die heranwachsende Generation der Muslime einerseits und an die Nichtmuslime anderseits gerichtet, die an einer lebhaften Diskussion über den Islam und nicht nur an einer Konfrontation interessiert sind. Die nichtmuslimischen Leser können ihr potenziell stereotypes Bild des Islam hinterfragen und korrigieren und differenzierte Informationen über den islamischen Glauben bzw. den Koran erwerben, die Muslime können den Horizont ihres ererbten oder gelernten Islamverständnisses erweitern und ihrerseits mögliche Fehlinterpretationen korrigieren.

Meine Frau Nermina hat mich maßgeblich in meiner Arbeit unterstützt. Ihr will ich hier meinen Dank in Demut aussprechen. Ich bin nicht in Deutschland geboren, nicht primär hier sozialisiert worden. Jedoch haben mich unsere Söhne Ammar und Emir, die dieses Land geprägt hat, mit ihren reflektierenden Ansichten immer wieder neu zum Nachdenken gebracht. Für ihre vielfältigen Impulse will ich hier ebenfalls meinen Dank aussprechen. Die Vorstandsmitglieder wie auch die Mitglieder meiner Moscheegemeinde haben die innovative Arbeit der Gemeinde maßgeblich vorangetrieben. Ohne deren Unterstützung, für welche ich mich recht herzlich bedanke, hätte die Penzberger Moscheegemeinde wie auch meine Person nicht das erreicht, was wir in 25 Jahren gemeinsam bewirkt haben. Mein geschätzter Freund, Prof. Dr. Stefan Jakob Wimmer (LMU), verdient meinen Dank – auch dafür, dass er mich während der Arbeit an diesem Buch konstruktiv begleitet hat. Nicht zuletzt geht mein herzlicher Dank an alle muslimischen Kollegen und Mitstreiter, wie auch an christliche und jüdische Partner im interreligiösen Dialog, und schließlich auch ganz besonders an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der unsere Arbeit anerkannt und bei seinem Besuch der Penzberger Moschee im Dezember 2019 Folgendes gesagt hat: »Von Journalisten bin ich gefragt worden, was wir an dieser Gemeinde so bewundern, warum wir gerade hierher gekommen sind. Es gibt ja noch die eine oder andere muslimische Gemeinde in Deutschland. Sie dürfen ruhig wissen: Das, was Sie hier tun, ist weit über die Grenzen Penzbergs hinaus bekannt, und ich freue mich wirklich sehr, dass es dieses eine und hoffentlich bald noch viele mehr Beispiele gibt, in denen sich die Menschen muslimischen und nichtmuslimischen Glaubens mit so viel Neugier und so viel Respekt begegnen, wie wir das hier heute in Penzberg erlebt haben. Ihnen allen herzlichen Dank.«3

Dieses Buch widme mich meinem Koranlehrer: meinem Vater – möge Gott seiner Seele gnädig sein.

Benjamin Idriz

Penzberg, Ramadan 1442 n. H./Mai 2021.

TEXT UND KONTEXT: DREI KRITERIEN, UM DEN KORAN BESSER ZU VERSTEHEN

Der Koran (so die eingedeutschte Form des arabischen al-Qur’ān) bedeutet wörtlich: »Lesung, Rezitation, Vortrag« und ist die offenbarte Rede und Botschaft Gottes an die Menschheit durch den letzten Gesandten Gottes: Muhammad – mögen Gottes Segen und Frieden auf ihm sein (sallallahu alaihi wa sallam).1 Der Koran wurde nicht in einem Moment offenbart, sondern Stück für Stück, step by step, in unterschiedlichen Lebenssituationen des Gesandten Muhammad und der damaligen Bevölkerung um ihn herum. Manchmal antwortete Gott auf die konkrete Frage eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen,2 oft reagierte er auf ein bestimmtes Ereignis. Der Koran war für seine ersten Adressaten ganz unmittelbar verständlich, weil sie selbst Zeugen der Herabsendung der Verse waren und wussten, welcher Vers zu welchem Anlass und aus welchem Motiv offenbart wurde. Sie erlebten ihn als Richtschnur und als Medium eines lebendigen Gesprächs zwischen Gott und Mensch und nicht primär als einen offenbarten Text. Der türkische Koranexeget Hasan Elik, dem es gelungen ist, den Koran in einer das Arabische hervorragend aufnehmenden Übertragung ins Türkische zu übersetzen, drückt es so aus: »Der Koran ist nicht vor allem ein Text, sondern ein Gespräch.«3 Ein ewiges Gespräch Gottes mit den Menschen.

Der Koran ist, wie die Arabistin Angelika Neuwirth festhält, »in der altarabischen Dichtersprache (’arabiya) gehalten, einer überregionalen, ausschließlich literarischem und formellem Gebrauch vorbehaltenen Hochsprache.«4 Auch nichtarabische Muslime wachsen mit dieser Sprache auf, auch wenn sie sie – außer in ihren Gebeten und bei der Rezitation – in ihrem Alltag nicht zu gebrauchen mächtig sind. Die unnachahmliche arabische Textgestalt des Korans bringt seine hohe literarische Qualität und seinen poetischen Charakter in besonderer Weise zum Klingen. Der harmonische Klang und die Phonetik des Korans berühren den Verstand und das Herz gleichermaßen. Darum gibt es viele Menschen, die den ursprünglichen arabischen Text nicht verstehen, und dennoch, wenn sie ihn lesen und seiner Rezitation lauschen, in ihrem Herzen so tief berührt und bewegt werden, dass Tränen fließen. Dabei kann die Emotion die Vernunft ausblenden.

Umgekehrt gibt es auch solche, die bei der Lesung des Korans das Herz verschließen, um ihn nur durch die Brille ihres eigenen Verstandes aufzunehmen. Dabei kann die Vernunft die Emotionen ausblenden. Je mehr der Leser des Korans zu nur einer dieser Wahrnehmungsweisen tendiert, desto mehr entfernt er sich von etwas Wesentlichem.

Genauso verhält es sich bei jemandem, der den Koran sozusagen nur »mit den Augen«, vielleicht sogar ohne Grund- und Hintergrundwissen, liest, und dabei den Klang der Worte nicht hört und das Herz verschließt. Die Botschaft wird so nicht ankommen. Das ist oft der Fall bei Menschen, die dem Koran »skeptisch« begegnen, und nicht gewillt sind, sich dem Koran unvoreingenommen zu nähern, sondern sich von Vorurteilen leiten lassen und durch selektive Lesart ihre Vorurteile bestätigt sehen. Leider führt das auch bisweilen zu antiislamischer Agitation.

Es kommt aber auch bei muslimischen Koranlesern vor, dass sie bei der Lesung ihren Verstand aus- und ihr Herz verschließen, Verse aus der Gesamtheit des Korans wie auch aus dem Kontext seiner Offenbarung herausreißen und sie für ihre eigene Position oder für ideologische und politische Interessen missbrauchen.

Diese drei Gruppen spricht wohl dieser Vers an: »Doch, wahrlich, es sind nicht ihre Augen, die blind geworden sind – sondern blind geworden sind ihre Herzen, die in ihren Brüsten sind!« (22/al-Hadsch, 46).

Vor allem für die Leser, die sich auf den Koran einlassen möchten, ist es wichtig zu betonen: Ein Gleichgewicht des Herzens mit dem Verstand soll herbeigeführt werden; zwischen der Phonetik bzw. dem Klang, der das Herz berührt, und dem Verstand bzw. der Bedeutung der Worte, die zum Nachdenken anregen. Wer sich der Phonetik und der richtigen Aussprache des arabischen Originals im Übermaß widmet, kann Gefahr laufen, sich von der Bedeutung des Inhalts zu entfernen. Je besser in der Rezitation das arabische Original korrekt vorgetragen wird und je schöner die Modulation und die Stimme des Rezitators klingt, desto intensiver wird das Herz berührt und der Hörende begeistert. Oft wird allerdings der Verstand dann zum Opfer der Phonetik, und die Emotion dominiert über die Ratio. Was in diesem Fall von einer (Zeremonie der) Koran-Rezitation haften bleibt, ist die schöne Stimme des Hafiz (desjenigen, der Koran auswendig beherrscht) und des Qari (des professionellen Rezitators). In den muslimischen Gesellschaften weltweit finden »Koran-Wettbewerbe« statt, in manchen sogar mit staatlicher Förderung. Bei solchen Wettbewerben gibt es in der Regel drei Kriterien: das auswendige Beherrschen von einzelnen Teilen oder des ganzen Korans; die richtige Betonung und korrekte Aussprache des arabischen Textes; den Sprachrhythmus und die Modulation des Rezitators. Es wird also rein auf die »Rezitation« fokussiert. Es geht ausschließlich um die Frage nach dem besten Vortrag.

Gott offenbarte sein Buch allerdings nicht nur, damit es rezitiert wird, sondern auch, damit seine Botschaft verstanden und umgesetzt wird. Mir ist nicht bekannt, dass Wettbewerbe veranstaltet werden, in der es um die Frage geht, wer den Koran am besten verstanden hat? Oder wer seine beste Übersetzung erarbeitet und seine Bedeutung am besten erschließt? Oder um die Frage, in welchen Ländern und Gesellschaften die Maßstäbe und Werte des Korans, wie z. B. Gerechtigkeit, Religionsfreiheit, Bildung, Wissenschaft, Umweltschutz oder Frauenrechte, am besten umgesetzt werden?

Dieser Befund wird noch durch eine weitere Beobachtung unterstrichen: Eine der Traditionen in muslimischen Gesellschaften – sie ist einzigartig in der Welt – ist das Memorieren des Korans, vor allen im jüngeren Lebensalter. Millionen von Männern und Frauen und sogar Kindern weltweit haben Anspruch auf den Ehrentitel Hafiz, jemand, der den Koran auswendig beherrscht. Es dürfte nahezu unmöglich sein, eine Stadt, in der das muslimische Dasein sichtbar ist, zu finden, wo keine Koran-Schule betrieben wird, in der vor allem Kinder und Jugendliche den Koran teilweise oder ganz auswendig lernen. Das ist eine wunderbare Tradition, die die Kontinuität des Korans mündlich bewahrt! Woran es allerdings solchen Schulen zumeist mangelt, sind besondere Lehrpläne, die den Schülerinnen und Schülern die Bedeutung und die Übersetzung des Korans programmatisch vermitteln. Hier besteht ein dringender Nachholbedarf.

Diejenigen, die den Koran im arabischen Original lesen und rezitieren können, sind heute allerdings auch unter den Muslimen in der Minderheit. Dank der Tatsache, dass der Koran in fast alle Sprachen der Welt übersetzt wurde, kann die ungefähre Bedeutung des Textinhalts den Menschen überall vermittelt werden. Weil die Sprache des Korans aber so komplex ist, wurden Übersetzungen schon sehr früh kritisch gesehen.5 Im europäischen Raum sind Übersetzungen des Korans und der Diskurs über seine Bedeutung und Auslegungen ein relativ neues Phänomen. Durch die zunehmenden Diskussionen um den Islam und Muslime in Europa, aber auch unabhängig davon, steigt auch das Interesse am Koran: Welche Botschaft will der Koran den Menschen vermitteln? Was hat er uns heute zu sagen? Wie sollen wir ein Buch, das in einem anderen Kulturraum und in einem ganz anderen Kontext offenbart wurde, im Hier und Heute verstehen? Auf diese Fragen versuche ich hier einzugehen.

Der Koran ist über 1400 Jahre lang ohne jegliche Änderung bewahrt und erhalten geblieben. Der Prozess der Offenbarung selbst ist abgeschlossen und der Wortlaut somit auf ewig unveränderlich. Der Prozess des Nachdenkens über den Text ist dagegen mitnichten abgeschlossen. Die Worte Gottes bzw. seine Botschaft sind größer als alles, was in einem Buch niedergeschrieben und fixiert werden kann. Der Koran selbst betont diesen breiten Horizont des Wortes Gottes: »Sag: ›Wenn das ganze Meer Tinte wäre für die Worte meines Erhalters, wäre das Meer fürwahr erschöpft, ehe die Worte meines Erhalters erschöpft sind!‹ (18/al-Kahf, 109); ›Wenn alle Bäume auf Erden Schreibfedern wären und das Meer Tinte wäre, mit sieben weiteren Meeren noch danach ergänzt, die Worte Gottes wären nicht erschopft.‹ (31/Luqman, 27).« Diese beide Versen deuten an, dass die Worte Gottes viel unerschöpflicher sind, als der Mensch sich vorstellen kann oder das sie alle in einem Buch niedergeschrieben sein könnten. Daher würde man Gott auf einen Ort und eine bestimmte Zeit reduzieren und einschränken, wenn man die Worte Gottes bzw. den Koran auf eine bestimmte Region und auf eine bestimmte Zeit reduziert, und Seine Worte nur aus dem Blickwinkel dieser Zeit liest. Den Koran dürfen wir darum nicht als erstarrten Text verstehen, sondern müssen ihn vielmehr als ein »offenes und interaktives Gespräch« zwischen Gott und Menschen in allen Zeiten begreifen. Um die Intention des Wortes Gottes zu verstehen, die über den Text hinaus bzw. »im tiefen Meer« gesucht werden soll, benötigt man zweierlei: eine Reinheit der Absicht und Wissen. Wenn die Vernunft aber aufhört, über den Sinn des Textes nachzudenken, verliert der Text selbst seinen Wert.

Wie also soll die göttliche Botschaft verstanden werden, im Hier und Heute?Der iranisch-amerikanische Islamwissenschaftler und PhilosophSeyyed Hossein Naser (geb. 1933) antwortet: »Womit soll sich die moderne Hermeneutik befassen? Sie gibt die gleichen Antworten, die sowohl Christentum als auch Islam geben können: Unterschiedliche Religionen und deren Angehörige leben immer häufiger und intensiver zusammen mit Andersgläubigen, zusammen nehmen sie an den Ereignissen der modernen Welt teil. Dieser Prozess ist immer noch im Gange. Jedoch, wird er von einer gemeinsamen Hermeneutik zum Verständnis unserer Weltreligionen begleitet? Diese Frage soll heute gestellt werden. Vor den Augen unserer traditionell ausgerichteten Theologien, vor den Blicken unserer traditionellen Religionen, richtete sich ein vollkommen neues Element auf: Wir interpretieren unsere Religion nicht mehr nur für uns selbst, nicht nur für unsere Gläubigen. Wir erklären unsere Religion auch den anderen, mit denen wir zusammenleben. Tatsache ist, dass wir nicht mehr in einer isolierten Welt leben, daher hat unsere Religionsinterpretation viele Konsequenzen nicht nur für uns, für unser eigenes religiöses Universum, sondern auch für Angehörige anderer Religionen. Hier liegen die wichtigsten Gründe dafür, warum es heute enorm wichtig ist, vorsichtig hinsichtlich der Konsequenzen unserer Interpretation und unserer Hermeneutik und der Exegese unseres Glaubens oder unseres religiösen Buches vorzugehen. Diese Konsequenzen müssen wir heute viel mehr berücksichtigen, als die Geistlichen, Theologen, Theosophen und Philosophen der früheren Epochen, damals, als die Kulturen noch in ihren ziemlich isolierten traditionellen Universen lebten, es taten oder verpflichtet waren, es zu tun. In diesem Zusammenhang zu der gemeinsamen Hermeneutik der Verständigung möchte ich die Frage stellen: Was haben wir heute gemeinsam? Und ich möchte gleich antworten: Erstens, der Frieden ist uns gemeinsam. Im Frieden wird viel gewonnen, Frieden bietet viele Chancen, entfaltet viele gute Initiativen. Zweitens, uns ist die Welt heute gemeinsam. Unsere unterschiedlichen Horizonte haben sich angenähert. Diese Horizonte werden gemeinsame Horizonte, wir beteiligen uns an ihnen, tauschen sie aus, arbeiten zusammen in Bezug auf sie. Drittens, in dieser Epoche der Begegnungen der Religionen sind uns die allgemeinen Werte des Menschen und der Menschheit gemeinsam: Leben und das Recht auf Leben, Freiheit, Würde, Eigentum, Kommunikation, etc. Unsere heutige Hermeneutik unserer heiligen Texte sollen wir im Auge behalten, wir sollen sie sogar auf den ersten Platz setzen. Kurzgefasst, unsere heutige Interpretation der Religion, unsere heutige Hermeneutik, soll vielfältige Rücksichtnahme den anderen gegenüber einschließen.«6

Wenn wir, als Muslime, dem Islam ein Mitspracherecht im Hier und Heute geben wollen, so müssen wir dies tun, indem wir uns von den früheren Interpretationen nicht abkoppeln, aber sie auch nicht dogmatisieren, sondern unser Islamverständnis im Lichte des Korans immer wieder hinterfragen, es mit alten Methoden neu begründen und dabei den Wurzeln treu bleiben. Dass die früheren Gelehrten historisch nahe an der ersten Generation der Muslime waren, bedeutet nicht, dass ihre Deutungen absolute Gültigkeit für sich beanspruchen können. Die Interpretationen der früheren Koranexegeten für die heutige Zeit absolut zu setzen und sie als unantastbar darzustellen, ist ein Hindernis für die Weiterentwicklung der Wissenschaft und der Menschheit. Sie haben ihre Gedanken und ihre Interpretationen im Horizont ihrer Zeit und nicht für alle Zeiten zum Ausdruck gebracht, so wie auch die neuen Theologen ihre Gedanken und Interpretationen für die heutigen Zeit anbieten und nicht für die Zeiten und Generationen, die nach uns kommen werden.

Die islamische Aufklärung in unserer Zeit setzt voraus, bei der Interpretation der Koranverse wie auch der Hadith-Überlieferungen diese drei Elemente zu berücksichtigen und miteinander zu verbinden: Sabab, Tadabbur und Maqasid. Das soll im Folgenden erläutert werden.

1. Sabab-an-nuzul: Den Text des Korans in seinem Kontext verstehen

Ohne den Menschen hätte es auch keine Offenbarung gegeben, denn die Botschaft Gottes ist für den Menschen gedacht. Der Koran ist die Sendung, und der Mensch ihr Adressat. Diese wechselseitige Interaktion ist nicht nach Zeit und Ort begrenzt, auch wenn der Text der Offenbarung in einer bestimmten Zeit (610–632) und an bestimmten Orten (Mekka und Medina) entstanden ist. Der Prozess der Koranoffenbarung, der gleichzeitig die erste Phase in der Entwicklung der islamischen Theologie darstellt, vollzog sich in den sozialen Umständen der damaligen Zeit. Diese waren von arabischen Einflüssen ebenso bestimmt, wie von den Nachbarkulturen im vorderasiatischen und Mittelmeerraum, von muslimischen und nichtmuslimischen Faktoren, von der Gestalt der Gesellschaft in Mekka und in Medina. Der Koran verwendet Ausdrücke und Begriffe sowie eine Rhetorik, die den Menschen in Mekka und Medina damals vertraut waren, und er bezieht sich auf Sitten und Gewohnheiten, die die Menschen an diesen Orten damals pflegten. Daher war (und ist) der Koran nicht nur ein Gespräch Gottes mit den Menschen, sondern auch ein Gespräch der Menschen mit Gott, Ausdruck ihrer Sorgen, Wünsche, Fragen, die sie an Gott durch den Propheten richteten. Der Koran ist ein Resultat der Interaktion zwischen Gott und Menschen. Jede Aussage im Koran ist absolut göttlichen Ursprungs, jedoch übermittelt Gott uns Menschen auch die Kommunikation der Menschen und Völker aus der Zeit vor der Entsendung des Propheten Muhammad und zur Zeit der Offenbarung mit ihm.

Der Koran enthält Begriffe von universellem Charakter, die zeitlos sind, wie z. B. Glaube, Gerechtigkeit oder Vergebung. Aber im Koran werden auch Begriffe verwendet und Traditionen angesprochen, die die Menschen ausschließlich zu jener Zeit gekannt und gepflegt haben. Ein solcher Begriff ist zum Beispiel dhihar.Bezeichnet wird damit ein Rechtsakt, der zustande kommt, wenn ein Mann zu seiner Frau sagt: »Du bist für mich so ungesetzlich wie meine Mutter«, und so die Scheidung ausspricht.7 Die Offenbarung Gottes zu diesem Sachverhalt erfolgte, nachdem eine Frau diesen Umstand angeprangert und ihre Unzufriedenheit dem Propheten vorgetragen hatte. Diese Formulierung entstammte einer Rechtstradition der nomadischen Araber der damaligen Zeit, wird aber in unserer Zeit, auch bei heutigen Arabern, nicht mehr verwendet – und doch kommt sie im Koran vor.

In manchen Fällen reagiert der Koran auch auf ein bestimmtes Ereignis. Ein Beispiel dafür ist ein Fall von Verleumdung, sog. ifk, die eine Gruppe von Menschen gegen Aischa, die Ehefrau des Propheten vorbringt, als dieser von einem Feldzug zurückgekehrt ist. Damals blieb Aischa hinter dem Heer zurück, um nach ihrer Halskette zu suchen, die sie verloren hatte. Aischa wird von einem Mann namens Safwan entdeckt. Er lässt sie auf seinem Kamel reiten und geleitet sie heim, wobei er selbst das Kamel führt. Nach der Ankunft in Medina wird diese Begebenheit von den Gegnern des Propheten benutzt, um Aischa unzüchtiges Verhalten zu unterstellen. Der Prophet reagierte, indem er auf eine Offenbarung Gottes zu dem Vorfall wartete. Diese Offenbarung findet sich in den Versen 11–20 der Sure 24/an-Nur, in denen Aischas Unschuld bestätigt wird.8 Auch der Vers 53 der Sure 33/al-Ahzab ist ein Beispiele dafür, wie der Koran auf die konkreten Verhältnisse zwischen den Menschen damals lenkend Bezug genommen hat. Er regelt Fragen zum Betreten der Wohnstätten des Propheten und wie man sich in seinem Haus zu verhalten hat, wie auch das Verbot, eine seiner Ehefrauen nach ihm zu heiraten.

Als ein anderes Beispiel, in dem auf ein akutes Problem der damaligen Gesellschaft Bezug genommen wird, findet sich in den Versen 107–111 der Sure 9/at-Tawba, in denen es um die »Zerstörung einer Moschee« geht. Als nämlich eine Gruppe von Menschen eine Moschee außerhalb des Wirkungskreises des Propheten und seiner Gemeinschaft baute, teilte Gott dem Propheten mit, dass diese Moschee mit dem Ziel errichtet werde, Spaltung unter den Muslimen hervorzurufen. Der Prophet ordnete daraufhin an, die Moschee abzureißen und die Trümmer zu verbrennen.

Diese und unzählige andere Reaktionen des Korans auf den Alltag in der Anfangszeit bedeuten, dass die Offenbarung nicht nur vom Himmel herabstieg, sondern auch in der Gegenrichtung verlief: von der Erde in die Höhe. Manche Verse im Koran sind Reaktionen auf das menschliche Verhalten oder Antworten auf ihre Fragen und Probleme. Fast jeder Vers hat einen Offenbarungsanlass. Der Grund, Anlass oder das Motiv einer Offenbarung wird in der Koranwissenschaft als sabab-an-nuzul bezeichnet. Al-Wahidi (gest. 1076), einer der ersten Gelehrten, der diese Disziplin in der Koranwissenschaft begründete, sagt: »Es ist unmöglich einen Vers zu deuten, ohne dass man seine Geschichte kennt und den Offenbarungsanlass erklärt.«9 Zum Verständnis des koranischen Textes ist es also notwendig, nach dem Motiv und Anlass, nach dem sabab (plural: asbab), der Herabsendung (nuzul) eines Koranverses zu suchen. Gleiches gilt auch für die Überlieferungen der Hadithe, also der Aussagen des Propheten; hier gilt es, den sabab-al-wurud, den Grund der Überlieferung, offenzulegen.

Es ist nämlich notwendig herauszufinden, in welchem Kontext ein Text ausgesprochen wurde, um eine pauschale Beurteilung, Missverständnisse oder Fehldeutungen eines Verses oder Hadithes außerhalb des Kontexts zu vermeiden. Diesen Kontext – sabab-an-nuzul – nicht zu kennen führt zu Fehlinterpretationen. Leider ist das immer wieder bei Extremisten zu beobachten, die Verse auslegen, die Götzendienern – muschrikun – offenbart worden waren und sie auf die heutigen friedlichen Nichtmuslime beziehen. Solche bewussten Fehlinterpretationen sind zu verurteilen, weil sie das Wort Gottes verfälschen und missbrauchen.

Deshalb ist das Wissen von sabab-an-nuzul die Voraussetzung für das richtige Verständnis der Texte. »Jeder Text stellte eine Antwort dar auf die Frage, welche ihn veranlasst hatte, oder die Festlegung eines bestimmten Prinzips, einer Vorschrift oder Institution. Das Wissen über die Anlässe der Offenbarung hilft zu entdecken, was in dem entsprechenden Text historisch, temporär, räumlich, bedingt und was dauerhaft ist; was die Lösung einer konkreten Frage und was ein Prinzip oder eine Ansicht ist. Besonders wichtig ist, zu wissen, welche Bedeutung ein bestimmtes Wort oder ein Begriff aus dem Koran in der Gemeinschaft, auf die es/er sich bezog, hatte.«10

Wenn wir einen gesellschaftlich und rechtlich relevanten Vers verstehen wollen, müssen wir diese sechs W-Fragen im Auge behalten: Was wurde gesagt, wo wurde es gesagt, wann wurde es gesagt, wie wurde es gesagt, warum wurde es gesagt und zu wem wurde es gesagt? Diese Fragen zu stellen und eine angemessene Antwort zu finden, ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig, um Pauschalisierung zu vermeiden und die Bagatellisierung des Wortes Gottes und des Wortes des Propheten zu verhindern.

Um den Missbrauch des koranischen Textes zu verhindern, muss an erster Stelle die wichtige Tatsache akzeptiert werden, dass der Koran ein Buch ist, auf das die geschichtlichen Ereignisse zur Zeit des Propheten Einfluss genommen haben. »Wenn das Wort nuzul bedeutet ›das, was von oben nach unten absteigt‹, dann ist das Wort sabab ein Hinweis, der bedeutet ›das, was von unten nach oben aufsteigt‹. Wenn ein Vers erst nach einem bestimmten Ereignis beziehungsweise aus einem bestimmten Anlass herabgesandt wurde, dann bedeutet das in gewisser Weise, dass der Grund für etwas, was von oben nach unten herabgesandt wurde, in dem Geschehen, das unten passierte, lag. Das heißt, dass sabab-an-nuzul, das Ereignis bzw. der Kontext vor dem Text existierte. Die Gesellschaft oder ein Ereignis in der Gesellschaft sind an erster Stelle, dann folgt die Offenbarung, was heißt, dass zuerst die Erfahrung des Menschen und erst dann der koranische Text kommt. Das Leben kommt zuerst und dann später der Gedanke, die Antwort oder die Lösung«, so der ägyptische Islamwissenschaftler Hasan Hanafi.11

Gott sprach zu den Arabern nicht nur in ihrer Sprache, sondern Er nutzte auch ihre Kultur und Denkweise. Er hörte die Probleme der verschiedenen Gruppen von Menschen: Muslime, Juden, Christen, Muschrikun (Götzendiener) und Munafiqun (Heuchler), und gab allen Seine Anweisungen. Der türkische Koranwissenschaftler Mevlüt Erten ist der Ansicht, dass der Koran weder einer unbestimmten Gesellschaft offenbart wurde, noch das Ziel hatte, die bestimmenden Faktoren dieser Gesellschaft einzuebnen, sondern im Gegenteil: Er wurde einer Gesellschaft offenbart, die in einem bestimmten Gebiet lebte, eine bestimmte Sprache sprach, einem Volk, das seine eigenen kulturellen Errungenschaften, Sitten, Traditionen, Gewohnheiten und Mentalität hatte. Deshalb beeinflussten die Probleme dieser Gruppen und ihre Forderungen den Inhalt des koranischen Textes. Obwohl wir nicht sagen können, dass in der Offenbarung die bestehende Situation des Volkes eine vorrangige Rolle spielte, spiegelt sie sich doch deutlich in ihr wider.12 Ein Beispiel dafür sind die Verhaltensweisen gegenüber Nichtmuslimen, wie der der Koran sie vorsieht.

Ein Beispiel: Darf ein Muslim mit Juden und Christen kooperieren?