Wie wir die nächste Pandemie verhindern - Bill Gates - E-Book

Wie wir die nächste Pandemie verhindern E-Book

Bill Gates

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Beschreibung

Die COVID-19-Pandemie ist noch nicht überstanden. Doch während Regierungen auf der ganzen Welt noch versuchen, sie unter Kontrolle zu bringen, wird bereits diskutiert, wie es weitergehen kann und was als nächstes passieren sollte. Wie können wir verhindern, dass eine weitere Pandemie Millionen von Menschen tötet und der Weltwirtschaft verheerende Schäden zufügt? Können wir das überhaupt schaffen? Bill Gates glaubt, dass das möglich ist, und er legt in seinem zuversichtlichen Buch klar und überzeugend dar, was die Welt von der COVID-19-Pandemie lernen sollte. Er erklärt die Wissenschaft hinter der Pandemiebekämpfung und liefert Vorschläge, was wir alle tun können, um solch eine weitere Katastrophe zu verhindern. Angesichts des weltweiten Erfolgs von »Wie wir die Klimakatastrophe verhindern« (das auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste stand) wird Gates mehr denn je für seinen Beitrag zur Lösung der größten Herausforderungen der Welt respektiert.

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München, unter Verwendung des Designs von Carl De Torres

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Einführung

Kapitel 1 – Aus COVID-19 lernen

Früh genug das Richtige zu tun zahlt sich später enorm aus

Einige Länder zeigen uns, was man nicht machen sollte

In einer Situation, auf welche die Welt besser hätte vorbereitet sein sollen, haben unzählige Menschen heroische Arbeit geleistet

Es sind Varianten, Wellen und Impfdurchbrüche zu erwarten

Gute Wissenschaft ist unordentlich, ungewiss und ändert sich ständig

Es zahlt sich aus, in Innovation zu investieren

Nächstes Mal können wir es besser machen – wenn wir uns ernsthaft auf Pandemien vorbereiten

Kapitel 2 – Ein Pandemie-Präventionsteam aufstellen

Kapitel 3 – Bei der Früherkennung von Ausbrüchen besser werden

Kapitel 4 – Den Menschen sofort beim Selbstschutz helfen

»Wenn es wie eine Überreaktion aussieht, machst du wahrscheinlich das Richtige«

Langfristige Schulschließungen werden vielleicht nicht mehr nötig sein

Was hier funktioniert, funktioniert woanders vielleicht nicht

Für eine Weile war die Grippe fast völlig verschwunden

Durch Kontaktnachverfolgung die Superspreader aufspüren

Regelmäßiges Lüften ist wichtiger als man denkt

Abstandhalten wirkt – aber zwei Meter sind keine Zauberformel

Verblüffend, wie billig und doch wirksam Atemschutzmasken sind

Kapitel 5 – Die Suche nach neuen Wirkstoffen beschleunigen

Kapitel 6 – Die Impfstoffherstellung vorbereiten

Kapitel 7 – Üben, üben und nochmals üben

Kapitel 8 – Die globale Gesundheitslücke schließen

Das Virus verstehen lernen

Lebensrettende Ausrüstungen beschaffen

Neue Impfstoffe entwickeln und erproben

Vakzine kaufen und verteilen

Die Logistik muss stimmen

Kapitel 9 – Pandemieprävention planen und finanzieren

Bessere Tools herstellen und ausliefern

Ein GERM-Team aufbauen

Die Krankheitsüberwachung verbessern

Die Gesundheitssysteme stärken

Nachwort – Wie Corona unsere digitale Zukunft prägt

Glossar

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für die Menschen, die während der COVID-19-Pandemie an vorderster Front im Einsatz waren und ihr Leben riskierten, und für die Wissenschaftler und Entscheidungsträger, die dafür sorgen können, dass diese Helfer nie wieder in so eine Lage kommen.

Und in Erinnerung an Dr. Paul Farmer, der die Welt mit seinem Engagement für die Rettung von Menschenleben inspirierte. Die Autorenerlöse aus diesem Buch werden seiner Organisation Partners in Health gespendet.

Einführung

Als ich 2020 an einem Freitagabend Mitte Februar beim Dinner saß, wurde mir klar, dass sich COVID-19 zu einer globalen Katastrophe auswachsen würde.

Seit einigen Wochen war ich mit Experten[1] der Bill & Melinda Gates Foundation im Gespräch über eine neue ansteckende Atemwegserkrankung, die zuerst in China aufgetaucht war, sich inzwischen aber auch anderswo ausbreitete. Wir haben das Glück, ein Team von hervorragenden Fachleuten mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Erkennung, Behandlung und vorbeugenden Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu haben, und dieses Team hat die Ausbreitung von COVID-19 genau beobachtet. Das Virus war schnell auch in Afrika aufgetaucht, und aufgrund der ersten Lagebeurteilung der Stiftung und entsprechender Anfragen von afrikanischen Regierungen hatten wir Mittel bereitgestellt, um zu helfen, die weitere Ausbreitung des Virus zu bekämpfen, und um die Länder darin zu unterstützen, vorbereitet zu sein, falls die Seuche um sich greifen sollte. Wir hofften zwar, das Virus werde sich nicht über die ganze Welt ausbreiten, doch wir mussten mit dem Schlimmsten rechnen, solange wir es nicht besser wussten.

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch Gründe für die Hoffnung, dass die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden konnte und es keine Pandemie entfesseln würde. Die chinesische Regierung hatte beispiellose Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um die Millionenstadt Wuhan abzuriegeln – die Stadt, in der das Virus erstmals aufgetaucht war. Schulen und öffentliche Plätze wurden geschlossen, und die Bürger erhielten Ausgangskarten, mit denen sie jeden zweiten Tag für jeweils eine halbe Stunde aus dem Haus gehen durften.[1] Die Ausbreitung des Virus war noch so begrenzt, dass die meisten Länder die Menschen ohne Einschränkungen reisen ließen. Ich war noch Anfang Februar nach Südafrika geflogen, um an einem Prominenten-Tennismatch für wohltätige Zwecke teilzunehmen.

Als ich nach meiner Rückkehr aus Südafrika wieder in der Gates Foundation war, wollte ich mich in einem ausführlichen Gespräch über COVID-19 informieren lassen. Ich hatte eine zentrale Frage, an die ich ständig denken musste und über die ich mich gründlich informieren wollte: Konnte COVID-19 eingedämmt werden, oder würde sich die Seuche über die ganze Welt ausbreiten?

Ich griff zu einer bevorzugten Taktik, die ich seit Jahren immer wieder einsetze: das Arbeitsdinner. Eine Agenda ist dafür nicht nötig; man lädt einfach ein paar kluge Menschen ein, vielleicht ein Dutzend oder so, versorgt sie mit Essen und Getränken, stellt ein paar Fragen in den Raum und hört zu, wenn sie anfangen, laut darüber nachzudenken. Ein paar der besten Gespräche meines Arbeitslebens habe ich mit einer Gabel in der Hand und einer Serviette auf dem Schoß erlebt.

Ein paar Tage nach meiner Rückkehr aus Südafrika fragte ich also per E-Mail an, ob es am nächsten Freitag passen würde: »Wir könnten versuchen, uns mit den Leuten, deren Arbeit etwas mit dem Coronavirus zu tun hat, zum Dinner zu treffen, um uns auszutauschen.« Trotz ihrer vollen Terminkalender waren fast alle so nett, zuzusagen, und so kamen an jenem Freitagabend ein Dutzend Experten von der Gates Foundation und anderen Organisationen zum Dinner in meinem Büro etwas außerhalb von Seattle zusammen. Bei Rippchen und verschiedenen Salaten wandten wir uns der Schlüsselfrage zu: Würde COVID-19 sich zu einer Pandemie ausweiten?

Wie ich an diesem Abend erfuhr, ließen die Zahlen nichts Gutes für die Menschheit erwarten. Vor allem, weil COVID-19 durch die Luft übertragen wird – wodurch es ansteckender ist als ein Virus, das durch Körperkontakt übertragen wird wie HIV oder Ebola –, bestand kaum Hoffnung, die Ausbreitung des Virus auf einige wenige Länder beschränken zu können. Innerhalb weniger Monate würden sich viele Millionen Menschen in aller Welt mit der Krankheit infizieren, und Millionen würden daran sterben.

Ich war fassungslos, dass die meisten Regierungen angesichts dieser drohenden Katastrophe nicht stärker beunruhigt waren, und fragte in die Runde: »Warum handeln die Regierungen nicht entschiedener?«

Ein Wissenschaftler im Team, der südafrikanische Forscher Keith Klugman, der von der Emory University zu unserer Stiftung gekommen war, sagte nur: »Eigentlich müssten sie das.«

Ansteckende Krankheiten – sowohl solche, die sich zu Pandemien ausweiten können, als auch solche, bei denen das nicht der Fall ist – sind für mich eine Art Obsession. Im Gegensatz zu den Themen meiner vorigen Bücher, Software und Klimawandel, sind tödliche Infektionskrankheiten im Allgemeinen nichts, worüber die Menschen nachdenken wollen. (COVID-19 ist die Ausnahme, die diese Regel bestätigt.) Ich musste lernen, auf Partys meine Begeisterung für Gespräche über AIDS-Therapien und Malaria-Impfstoffe zu zügeln.

Meine Leidenschaft für dieses Thema nahm vor 25 Jahren ihren Anfang, und zwar im Januar 1997, als Melinda und ich in der New York Times einen Artikel von Nicholas Kristof lasen. Nick berichtete darin, dass jedes Jahr 3,1 Millionen Menschen an Durchfall (Diarrhö) sterben, fast alle von ihnen Kinder.[2] Wir waren schockiert – drei Millionen Kinder pro Jahr. Wie konnten so viele Kinder an etwas sterben, das, soweit wir wussten, kaum mehr als eine unbequeme Lästigkeit ist?

Aus der New York Times. © 1997 The New York Times Company. Alle Rechte vorbehalten. Abgedruckt mit Genehmigung. [3]

 

Aus dem Artikel erfuhren wir, dass die einfache, lebensrettende Medizin gegen Durchfall – eine preisgünstige Flüssigkeit, welche die verlorenen Nährstoffe ersetzt – für viele Millionen Kinder unerreichbar ist. Dies schien uns ein Problem zu sein, das zu lösen wir helfen konnten, und so begannen wir, Hilfsgelder bereitzustellen, um das Mittel in größeren Mengen zu verbreiten und die Entwicklung eines Impfstoffs zu fördern, der Durchfallerkrankungen von vornherein verhindern kann.[2]

Ich wollte mehr wissen. Ich nahm zu Bill Foege Kontakt auf, einem der Epidemiologen, dem wir die Ausrottung der Pocken zu verdanken haben, und ehemaligem Chef der Centers for Disease Control and Prevention (CDC, US-Behörde für Seuchenschutz und -prävention). Bill gab mir einen Stapel von 81 Lehrbüchern und Fachartikeln über Pocken, Malaria und öffentliche Gesundheit in armen Ländern; ich las alles, so schnell ich konnte, und bat ihn um mehr. Eines der Bücher, die mich am stärksten beeindruckten, trug den profanen Titel World Development Report 1993: Investing in Health, Volume 1 (»Weltentwicklungsbericht 1993: Investieren in Gesundheit, Band 1«).[4] Meine Obsession für Infektionskrankheiten – und vor allem Infektionskrankheiten in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen – hatte begonnen.

Wenn man beginnt, sich über Infektionskrankheiten zu informieren, kommt man schnell auf das Thema Ausbrüche, Epidemien und Pandemien. Die Definitionen für diese Begriffe sind weniger genau, als Sie vielleicht denken. Als Faustregel kann man sagen, dass ein Ausbruch vorliegt, wenn eine Krankheit in einem lokalen Gebiet ausbricht, eine Epidemie, wenn sich ein Ausbruch innerhalb eines Landes oder einer Region weiter ausbreitet, und eine Pandemie, wenn eine Epidemie weltweit auftritt und mehr als einen Kontinent betrifft. Und es gibt Krankheiten, die nicht kommen und gehen, sondern ständig in einer bestimmten Region anzutreffen sind – sie sind als endemische Krankheiten bekannt. So ist zum Beispiel Malaria in vielen äquatornahen Regionen endemisch. Falls COVID-19 nie ganz verschwinden sollte, wird es über kurz oder lang als endemische Krankheit klassifiziert werden.

Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein neuer Krankheitserreger entdeckt wird. Laut Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) haben Wissenschaftler in den vergangenen fünfzig Jahren über 1500 davon identifiziert, von denen die meisten zunächst bei Tieren auftraten und dann auf Menschen übergriffen (Zoonose).

 

Einige davon haben kaum Schaden verursacht; andere, etwa HIV, sind zu Katastrophen geworden. Durch HIV/AIDS sind über 36 Millionen Menschen ums Leben gekommen; heute leben über 37 Millionen Menschen mit HIV. Im Jahr 2020 kamen 1,5 Millionen neue Fälle hinzu; allerdings sinkt die Zahl neuer Fälle von Jahr zu Jahr, da Infizierte, die in geeigneter Weise mit einem antiviralen Medikament (Virostatikum) behandelt werden, die Krankheit nicht weitergeben.[5] Und mit Ausnahme der Pocken – der einzigen Krankheit des Menschen, die jemals vollständig ausgerottet wurde – sind die alten Infektionskrankheiten nach wie vor unter uns. Selbst die Pest, welche die meisten von uns mit dem Mittelalter assoziieren, kommt immer noch vor; 2017 zum Beispiel brach sie in Madagaskar aus, infizierte über 2400 Menschen und forderte über 200 Todesopfer.[6] Bei der WHO gehen jedes Jahr Berichte über mindestens vierzig Cholera-Ausbrüche ein. Zwischen 1976 und 2018 kam es zu 24 lokalisierten Ausbrüchen und einer Epidemie von Ebola. Wenn man die kleineren davon mitzählt, treten jedes Jahr vermutlich über 200 Ausbrüche von Infektionskrankheiten auf.

Endemische Killer.HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose haben seit 1990 weltweit über 100 Millionen Todesopfer gefordert. (Institute for Health Metrics and Evaluation) [7]

 

AIDS und andere »stille Epidemien«, wie sie genannt werden – Tuberkulose, Malaria und andere – sowie Durchfallerkrankungen und Müttersterblichkeit stehen im Mittelpunkt der weltweiten Arbeit der Gates Foundation zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit. Im Jahr 2000 forderten diese Krankheiten insgesamt über 15 Millionen Todesopfer, viele von ihnen Kinder, und dennoch wurde erschreckend wenig Geld für ihre Bekämpfung ausgegeben.[8] Melinda und ich erkannten dies als den Bereich, in dem unsere Ressourcen und unser Wissen darüber, wie man Teams aufbaut, um neue Innovationen zu schaffen, die größte Wirkung erzielen können.

Ein Plakat, das zu AIDS-Aufklärung und -Prävention in Lusaka, der Hauptstadt Sambias, aufruft. [9]

 

Dies ist das Thema eines weitverbreiteten Missverständnisses über die Arbeit unserer Stiftung zur Förderung der öffentlichen Gesundheit: Sie konzentriert sich keineswegs darauf, Menschen in reichen Ländern vor Krankheiten zu schützen, sondern hat vielmehr das Ziel, die Lücke in der medizinischen Versorgung zwischen Hoch- und Niedriglohnländern zu verkleinern. Zwar haben wir im Zuge dieser Arbeit eine Menge über Krankheiten gelernt, die auch reichen Ländern zusetzen können, und ein Teil der von uns bereitgestellten Mittel wird zur Bekämpfung dieser Krankheiten beitragen, aber sie stehen nicht im Zentrum unserer Fördertätigkeit. Die Privatwirtschaft, die Regierungen reicher Länder und andere Philanthropen stellen umfangreiche Ressourcen für solche Initiativen zur Verfügung.

Pandemien betreffen natürlich alle Länder, und ich habe viel über dieses Thema nachgedacht, seit ich begann, mich mit ansteckenden Krankheiten zu beschäftigen. Viren, die die Atemwege angreifen, sogenannte »respiratorische Viren« oder »Atemwegsviren« – darunter auch die Influenza-Familie (Grippeerreger) und die Coronavirus-Familie – sind besonders gefährlich, weil sie sich so schnell ausbreiten können.

Und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pandemie ausbrechen wird, steigt ständig. Das liegt unter anderem daran, dass der Mensch infolge des Wachstums der Städte immer weiter in natürliche Lebensräume eindringt, immer häufiger mit Tieren interagiert und dadurch mehr Gelegenheiten für Krankheitserreger entstehen, vom Tier auf den Menschen überzuspringen. Ein anderer Grund ist, dass der internationale Reiseverkehr rapide zunimmt (zumindest bis COVID-19 dessen Wachstum verlangsamte): Im Jahr 2019, also vor COVID-19, gab es 1,4 Milliarden internationale Ankünfte pro Jahr – 1950 waren es nur 25 Millionen.[10] Die Tatsache, dass es seit einem Jahrhundert keine katastrophale Pandemie mehr gegeben hat – die letzte war die Grippe von 1918, die ungefähr fünfzig Millionen Menschen das Leben kostete –, ist zum großen Teil reinem Glück geschuldet.

Im Jahr 2019 war die Möglichkeit einer Grippepandemie relativ gut bekannt; viele Menschen hatten von der Grippe von 1918 zumindest schon einmal gehört, und vielleicht konnten sie sich auch noch an die Schweinegrippe-Pandemie von 2009 bis 2010 erinnern. Als ich mir all dieses Wissen aneignete, in den frühen 2000er-Jahren, wurde über Coronaviren – die eine der drei Virusarten sind, welche die meisten einfachen Erkältungen verursachen – nicht annähernd so oft gesprochen wie über Grippe.

Ein Plakat der US-Regierung, mit dem die Bevölkerung während der Grippepandemie von 1918 zu sorgfältiger Hygiene und Social Distancing aufgefordert wird.

 

Je mehr ich erfuhr, desto klarer wurde mir, wie schlecht die Welt auf eine schwere Epidemie durch Atemwegsviren vorbereitet war. Ich las einen Bericht über die Reaktion der WHO auf die Schweinegrippe-Pandemie von 2009, der mit einer geradezu prophetischen Warnung endete: »Die Welt ist schlecht vorbereitet, um auf eine schwere Influenza-Epidemie oder eine andere, ähnlich globale, anhaltende und bedrohliche Notlage der öffentlichen Gesundheit wirkungsvoll reagieren zu können.« Der Bericht enthielt einen Plan, der Schritt für Schritt aufzeigte, welche Maßnahmen getroffen werden sollten, damit ein Gemeinwesen vorbereitet ist. Nur wenige dieser Schritte wurden tatsächlich umgesetzt.

Im darauffolgenden Jahr begann mein Freund Nathan Myhrvold mir von seinen Forschungen zu den größten Bedrohungen für die Menschheit zu erzählen. Auch wenn eine menschengemachte Biowaffe – eine im Labor erzeugte Krankheit – seine größte Sorge war, standen in der freien Natur vorkommende Viren doch ebenfalls ziemlich weit oben auf seiner Liste.

Ich kenne Nathan seit Jahrzehnten. Er hat Microsofts richtungweisende Forschungsabteilung aufgebaut und ist ein Universalgelehrter, der über Kochen (!), Dinosaurier, Astrophysik und diverse andere Themen geforscht hat. Er neigt nicht dazu, Risiken zu übertreiben. Nachdem er mir erklärt hatte, dass Regierungen in aller Welt praktisch nichts taten, um sich auf Pandemien jedweder Art – seien sie natürlichen Ursprungs oder menschengemacht – vorzubereiten, unterhielten wir uns darüber, wie sich das ändern ließe.[3]

Nathan verwendet eine Analogie, die ich passend finde. Das Gebäude, in dem Sie sich gerade aufhalten (vorausgesetzt, Sie lesen dieses Buch nicht am Strand), ist wahrscheinlich mit Rauchmeldern ausgestattet. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gebäude, in dem Sie sich befinden, heute durch ein Feuer zerstört wird, ist sehr gering – tatsächlich könnten hundert Jahre ins Land gehen, ohne dass es durch einen Brand zerstört wird. Aber dieses Gebäude ist natürlich nicht das einzige, und irgendwo auf der Welt brennt genau in diesem Moment ein Gebäude ab. Diese ständige Erinnerung ist der Grund, warum wir Rauchmelder installieren: Um uns gegen etwas zu schützen, das zwar selten vorkommt, aber dann sehr zerstörerisch sein kann.

Wenn es um Pandemien geht, kann man sich die Welt als ein großes Gebäude vorstellen, das zwar mit Rauchmeldern ausgestattet ist, die aber nicht besonders empfindlich sind und Schwierigkeiten haben, miteinander zu kommunizieren. Wenn in der Küche ein Feuer ausbricht, könnte es aufs Esszimmer überspringen, bevor genügend Menschen es mitbekommen haben, um sich an die Arbeit zu machen und es zu löschen. Und der Alarm geht nur ungefähr alle hundert Jahre los, sodass man leicht vergisst, dass die Gefahr immer präsent ist.

Es ist schwer, sich vorzustellen, wie schnell eine Krankheit sich ausbreiten kann, da exponentielles Wachstum ein Phänomen ist, mit dem die meisten von uns im Alltag nichts zu tun haben. Aber ziehen Sie einfach mal diese Zahlen in Betracht: Wenn am ersten Tag 100 Menschen eine ansteckende Krankheit haben und sich die Fallzahl jeden Tag verdoppelt, wird am 27. Tag die gesamte Weltbevölkerung infiziert sein.

Seit dem Frühjahr 2014 ließ ich mich vom Gesundheitsteam der Gates Foundation per E-Mail über einen Krankheitsausbruch informieren, der sich bedrohlich anhörte: Im Südosten des kleinen westafrikanischen Landes Guinea waren einige Fälle von Infektionen mit dem Ebola-Virus registriert worden. Im Juli dieses Jahres wurden in Conakry, der Hauptstadt Guineas, und in den Hauptstädten von Guineas Nachbarländern Liberia und Sierra Leone Ebola-Fälle diagnostiziert.[11] Am Ende hatte sich das Virus auf sieben weitere Länder ausgebreitet, darunter auch die Vereinigten Staaten, und über 11000 Todesopfer gefordert.

Ebola ist eine furchterregende Krankheit. In vielen Fällen führt sie dazu, dass Patienten aus sämtlichen Körperöffnungen bluten, aber glücklicherweise kann sie wegen ihrer kurzen Inkubationszeit und lähmenden Symptome nicht zig Millionen Menschen infizieren. Ebola wird ausschließlich durch physischen Kontakt mit den Körperflüssigkeiten einer infizierten Person übertragen, und wenn es so weit ist, dass Infizierte wirklich ansteckend sind, sind sie bereits zu krank, um noch herumlaufen zu können. Das größte Infektionsrisiko besteht bei Menschen, die Ebola-Patienten pflegen, sei es zu Hause oder im Krankenhaus, und bei Begräbnissen, wenn jemand den Leichnam einer Person wäscht, die an der Krankheit gestorben ist.

Während der Ebola-Epidemie, die von 2014 bis 2016 in Westafrika grassierte, infizierten sich zahlreiche Menschen auf Begräbnissen mit dem Virus, weil sie in engen Kontakt mit einem kurz zuvor verstorbenen Opfer der Krankheit kamen.[12]

 

Obwohl klar war, dass Ebola nicht allzu viele US-Amerikaner umbringen würde, ermahnte es sie, dass ansteckende Krankheiten weite Entfernungen zurücklegen können. Mit dem Ebola-Ausbruch war ein entsetzlicher Erreger nicht nur in die Vereinigten Staaten gekommen, sondern auch nach Großbritannien und Italien – beliebte Reiseziele amerikanischer Touristen. Die Tatsache, dass es in diesen drei Ländern insgesamt nur sechs Erkrankte und einen Todesfall gegeben hatte, im Vergleich zu über 11000 in Westafrika, spielte keine Rolle, die Aufmerksamkeit der Amerikaner für Epidemien war geweckt – zumindest für eine Weile.

Ich dachte, das könne vielleicht eine Gelegenheit sein, um auf die Tatsache hinzuweisen, dass die Welt nicht darauf vorbereitet war, effektiv mit einer Infektionskrankheit umzugehen, die im Gegensatz zu Ebola tatsächlich eine Pandemie verursachen kann. Wenn Sie glauben, dass Ebola schon schlimm ist, möchte ich Ihnen sagen, was die Grippe anrichten kann. Über die Weihnachtsfeiertage 2014 begann ich, ein Memo zu schreiben, mit dem ich zeigen wollte, wie lückenhaft die von der Welt gegen Pandemien getroffenen Vorkehrungen waren – wie Ebola es gezeigt hatte.

Die Lücken waren enorm. Es gab kein systematisches Verfahren, um die Ausbreitung einer Krankheit in einem Gemeinwesen zurückzuverfolgen. Diagnostische Tests waren entweder überhaupt nicht zu bekommen, oder sie brauchten mehrere Tage, um Ergebnisse zu produzieren – eine Ewigkeit, wenn man Menschen isolieren muss, weil sie sich infiziert haben. Es gab ein Freiwilligennetzwerk von mutigen Experten für Infektionskrankheiten, die in die betroffenen Länder reisten, um dort den Behörden zu helfen, aber es gab kein großes Vollzeitteam bezahlter Experten. Und selbst wenn es so ein Team gegeben hätte, existierte kein Plan, um es dort einzusetzen, wo es gebraucht wurde.

 

Mit anderen Worten: Das Problem war nicht etwa, dass es ein System gab, das nicht gut genug funktionierte, sondern vielmehr, dass es praktisch überhaupt kein System gab.

Ich war immer noch nicht davon überzeugt, dass es für die Gates Foundation sinnvoll sei, dieses Problem zu einer ihrer Top-Prioritäten zu machen. Denn schließlich konzentrieren wir uns auf Bereiche, in denen die Märkte es nicht schaffen, große Probleme zu lösen, und ich dachte, dass die Regierungen reicher Länder, aufgeschreckt durch die Ebola-Epidemie, aktiv werden würden, weil sie verstanden hatten, was auf dem Spiel stand. Im Jahr 2015 veröffentlichte ich einen Artikel im New England Journal of Medicine, in dem ich darauf aufmerksam machte, wie schlecht die Welt vorbereitet sei, und darlegte, was getan werden müsse, um dieses Problem zu lösen. Dann hielt ich auf der Grundlage dieser Warnung einen TED-Talk zu dem Thema »The Next Epidemic? We’re Not Ready« (»Die nächste Epidemie? Wir sind nicht bereit«), komplett mit einer Animation, die zeigte, dass durch eine Grippe-Epidemie, die ebenso ansteckend ist wie jene von 1918, dreißig Millionen Menschen sterben würden. Ich wollte ganz bewusst die Menschen wach rütteln, um dafür zu sorgen, dass die Welt Vorkehrungen traf – ich wies darauf hin, dass es zu billionenschweren wirtschaftlichen Verlusten und massiven Verwerfungen kommen würde. Dieser TED-Talk wurde bisher 43 Millionen Mal abgerufen, doch 95 Prozent dieser Abrufe fanden erst statt, als die COVID-19-Pandemie begonnen hatte.

In einer Partnerschaft mit den Regierungen von Deutschland, Japan und Norwegen sowie dem Wellcome Trust rief die Gates Foundation eine Organisation namens CEPI ins Leben – die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (sinngemäß etwa: »Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung«) –, um die Arbeit an der Entwicklung von Impfstoffen gegen neue Infektionskrankheiten zu beschleunigen und einen Beitrag zu leisten, dass diese Impfstoffe die Menschen in den ärmsten Ländern auch erreichen. Darüber hinaus stellte ich Mittel bereit für eine lokale Studie in Seattle, die Seattle Flu Study, um zu untersuchen, wie Grippe und andere Atemwegserkrankungen sich in einem Gemeinwesen ausbreiten.

Obwohl CEPI und die Seattle Flu Study gute Investitionen waren, die sich als nützlich erwiesen, als COVID-19 kam, wurde sonst nicht viel erreicht. Über 110 Länder analysierten ihre Vorkehrungen, und die WHO skizzierte Maßnahmen, um die vorhandenen Lücken zu schließen, aber niemand handelte aufgrund dieser Analysen und Pläne. Verbesserungen wurden zwar gefordert, aber nie umgesetzt.

Sechs Jahre nachdem ich meinen TED-Talk gehalten und den Artikel im NEJM veröffentlicht hatte, breitete sich COVID-19 überall auf der Welt aus, und viele Reporter und Freunde fragten mich, ob ich mir wünschen würde, damals, im Jahr 2015, mehr getan zu haben. Doch ich weiß nicht, wie ich noch mehr Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit hätte erreichen können, bessere Tools zu entwickeln und zu üben, sie zügig flächendeckend einzusetzen. Vielleicht hätte ich dieses Buch schon 2015 schreiben sollen; ich bezweifle aber, dass es allzu viele Leser gefunden hätte.

Anfang Januar 2020 machte sich das Team der Gates Foundation, das wir nach der Ebola-Epidemie aufgebaut hatten, um Krankheitsausbrüche zu beobachten, an die Arbeit, um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 nachzuverfolgen – dem Virus, von dem wir heute wissen, dass es COVID-19 verursacht.[4]

Am 23. Januar erhielten Melinda und ich eine E-Mail von Trevor Mundel, dem Chef unserer globalen Arbeit für öffentliche Gesundheit, in der er die Lagebeurteilung seines Teams zusammenfasste und eine erste Finanzierungsrunde für unsere Arbeit zur Bekämpfung von COVID-19 anforderte. »Leider«, so schrieb er, »greift der Coronavirus-Ausbruch immer weiter um sich und hat das Potenzial, sich zu einer ernsten Pandemie auszuweiten (es ist zu früh, um sicher zu sein, aber es ist entscheidend, unverzüglich zu handeln).«[5]

Melinda und ich haben seit Langem ein System, um Entscheidungen über dringende Anfragen zu treffen, die nicht auf unsere jährliche Strategieüberprüfung warten können. Wer die Anfrage zuerst sieht, schickt sie an den anderen und sagt so etwas wie: »Das sieht gut aus – meinst du, dass wir das bewilligen sollten?« Dann antwortet der andere mit einer E-Mail und genehmigt die Ausgabe. Da wir beide Co-Vorsitzende der Stiftung sind, folgen wir nach wie vor diesem System, um wichtige Entscheidungen im Rahmen der Stiftungsarbeit zu treffen, obwohl wir nicht mehr verheiratet sind und inzwischen mit einem Stiftungsrat arbeiten.

Zehn Minuten nachdem ich Trevors E-Mail erhalten hatte, schlug ich Melinda vor, seine Anforderung zu bewilligen; sie sah die Sache genauso und antwortete ihm: »Wir bewilligen hiermit $5M [5 Millionen Dollar], und wir sind uns darüber im Klaren, dass in Zukunft möglicherweise noch mehr Geld gebraucht wird. Wir sind froh, dass das Team so schnell auf diese Sache reagiert hat. Es ist sehr besorgniserregend.«

Wie wir beide schon vermutet hatten, wurde definitiv mehr Geld gebraucht, was bei dem Dinner Mitte Februar und bei vielen anderen Meetings klar wurde. Inzwischen hat die Stiftung über 2 Milliarden Dollar bereitgestellt, um COVID-19 zu bekämpfen; dazu zählen Initiativen, um die Ausbreitung der Krankheit zu hemmen, Impfstoffe und Medikamente zu entwickeln und darauf hinzuwirken, dass diese lebensrettenden Tools möglichst viele Menschen in armen Ländern erreichen.

Seit Beginn der Pandemie hatte ich Gelegenheit, mit zahllosen Gesundheitsexperten innerhalb und außerhalb der Stiftung zusammenzuarbeiten und von ihnen zu lernen. Einen von ihnen will ich hier ausdrücklich nennen.

Im März 2020 telefonierte ich zum ersten Mal mit Anthony Fauci, dem Chef des Instituts für Infektionskrankheiten der National Institutes of Health (NIH, »Nationale Gesundheitsinstitute«). Ich habe das Glück, Tony schon vor vielen Jahren kennengelernt zu haben (lange bevor er auf den Titelseiten von Popkultur-Magazinen erschien), und ich wollte hören, was er von der ganzen Sache hielt – vor allem seine Meinung zu dem Potenzial der diversen Impfstoffe und Medikamente, die entwickelt wurden. Unsere Stiftung förderte viele dieser Initiativen, und ich wollte sicherstellen, dass unsere Agenda zur Entwicklung und zum Einsatz von Innovationen in die gleiche Richtung ging wie seine. Außerdem wollte ich verstehen, was er über Dinge wie Social Distancing und das Tragen von Masken öffentlich sagte, damit ich das Gleiche sagen konnte, wenn ich Interviews gab.

Wir hatten ein produktives erstes Gespräch, und im weiteren Verlauf des Jahres stimmten wir uns jeden Monat ab, sprachen über die Fortschritte bei der Entwicklung von verschiedenen Medikamenten und Impfstoffen und entwickelten Strategien, wie die in den Vereinigten Staaten gemachte Arbeit der übrigen Welt zugutekommen könnte. Wir gaben sogar ein paar Interviews zusammen. Es war mir eine Ehre, neben ihm zu sitzen (natürlich nur im virtuellen Raum).

Eine Nebenwirkung der Entscheidung, an die Öffentlichkeit zu gehen, ist jedoch, dass sie noch mehr Kritik an der Arbeit der Gates Foundation provoziert hat, wie ich sie schon seit Jahren höre. Die stichhaltigste Version davon geht ungefähr so: Bill Gates ist ein nicht durch demokratische Wahlen legitimierter Milliardär – wer ist er denn, dass er die Agenda zu Fragen der öffentlichen Gesundheit oder sonst was setzt? Diese Kritik wird oft mit drei Argumenten untermauert: Die Gates Foundation habe viel zu viel Einfluss, ich würde zu großes Vertrauen in die Privatwirtschaft als Motor des Wandels setzen, und ich sei ein allzu technikbegeisterter Mensch, der meine, dass all unsere Probleme durch neue Erfindungen behoben werden können.

Es ist zweifellos richtig, dass ich nie in ein öffentliches Amt gewählt wurde, und das strebe ich auch nicht an. Und ich bin auch der Meinung, dass es nicht gut für die Gesellschaft ist, wenn reiche Leute unangebrachten Einfluss haben.

Doch die Gates Foundation macht keineswegs ein Geheimnis daraus, wie sie ihre Ressourcen und ihren Einfluss einsetzt. Wir teilen ganz offen mit, welche Projekte wir fördern und welche Ergebnisse sie gebracht haben – die Fehlschläge ebenso wie die Erfolge. Und wir wissen, dass manche unserer Kritiker nicht an die Öffentlichkeit gehen, weil sie nicht riskieren wollen, Fördermittel von uns zu verlieren. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir besonderen Wert darauf legen, externe Experten zu konsultieren und uns um unterschiedliche Standpunkte zu bemühen. (Im Jahr 2022 haben wir aus ähnlichen Gründen unseren Stiftungsrat erweitert.) Wir verfolgen das Ziel, die Qualität der Ideen zu verbessern, die in staatliches Handeln einfließen, und Mittel für die Ideen bereitzustellen, die vermutlich die größte Wirkung haben werden.

Auch Kritiker haben recht, die sagen, die Stiftung habe sich zu einem sehr großen Förderer einiger großer Initiativen und Institutionen entwickelt, die hauptsächlich die Domäne von Regierungen seien, etwa des Kampfes gegen Polio (Poliomyelitis, spinale Kinderlähmung) und der Unterstützung von Organisationen wie der WHO. Das liegt aber hauptsächlich daran, dass dies Bereiche sind, die großen Bedarf an Fördermitteln haben, aber nicht annähernd genug Geld und Unterstützung von staatlichen Stellen bekommen, obwohl ihre Arbeit, wie diese Pandemie gezeigt hat, eindeutig der Gesellschaft insgesamt zugutekommt. Niemand wäre glücklicher als ich, wenn die Mittel der Gates Foundation in den kommenden Jahren zu einem wesentlich kleineren Anteil der globalen Ausgaben würden, weil es sich – wie ich in diesem Buch zeigen werde – um Investitionen in eine gesündere und produktivere Welt handelt.

In diesem Zusammenhang ist manchmal auch die Kritik zu hören, es sei nicht fair, dass einige wenige Menschen wie ich während der Pandemie reicher wurden, während so viele andere Menschen zu leiden hatten. Das ist völlig richtig. Mein Wohlstand hat mich weitgehend von den Folgen der COVID-19-Pandemie abgeschirmt – ich weiß nicht, wie es ist, wenn das eigene Leben durch die Pandemie zerstört wird. Das Beste, was ich tun kann, ist, mein schon vor Jahren abgegebenes Versprechen zu halten, den größten Teil meines Vermögens auf eine Art und Weise an die Gesellschaft zurückzugeben, die die Welt gerechter macht.

Und ja, ich bin ein Technikfreak. Innovation ist mein Hammer, mit dem ich jeden Nagel, der mir unterkommt, einzuschlagen versuche. Als einer der Gründer eines erfolgreichen Technologieunternehmens glaube ich fest an die Macht der Privatwirtschaft, Innovation voranzutreiben. Aber Innovation muss nicht unbedingt eine neue Maschine oder ein Impfstoff sein, so wichtig diese auch sein mögen; sie kann auch eine neue Art sein, Dinge zu tun, eine neue Politik oder ein cleveres Konzept, um ein öffentliches Gut zu finanzieren. In diesem Buch werde ich von einigen dieser Innovationen berichten, da großartige neue Produkte nur dann den maximalen Nutzen bewirken können, wenn sie die Menschen erreichen, die sie am dringendsten brauchen. Und im Gesundheitswesen erfordert das oft die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, die selbst in den ärmsten Ländern fast immer diejenigen sind, die öffentliche Dienstleistungen erbringen. Darum werde ich dafür plädieren, die öffentlichen Gesundheitssysteme zu stärken, die – wenn sie gut funktionieren – als erste Verteidigungslinie gegen aufkommende Infektionskrankheiten dienen können.

Aber nicht jede Kritik an mir ist so stichhaltig. Im gesamten bisherigen Verlauf der COVID-19-Pandemie musste ich staunen, wie oft ich zum Objekt wilder Verschwörungstheorien gemacht wurde. Das ist zwar keine ganz neue Erfahrung für mich – absonderliche Ideen über Microsoft sind seit Jahrzehnten im Umlauf –, aber heute sind die Angriffe heftiger. Ich wusste nie so recht, ob ich auf solche Ideen reagieren soll oder nicht; wenn ich sie ignoriere, verbreiten sie sich immer weiter. Aber kann ich Menschen, die an solche Verschwörungstheorien glauben, wirklich überzeugen, wenn ich öffentlich sage: »Ich bin nicht daran interessiert, deine Bewegungen zu verfolgen, es ist mir völlig egal, wohin du gehst oder fährst, und in Impfstoffen gibt es wirklich keinen Bewegungstracker«? Jedenfalls habe ich beschlossen, in Zukunft einfach weiter meine Arbeit zu machen und zu hoffen, dass die Wahrheit die Lügen überleben wird.

Vor Jahren hat der renommierte Epidemiologe Larry Brilliant einen denkwürdigen Satz geprägt: »Ausbrüche sind unvermeidlich, aber Pandemien sind es nicht.« Schon immer haben sich unter Menschen Krankheiten ausgebreitet, aber sie müssen sich nicht zu einer globalen Katastrophe ausweiten. Das Thema dieses Buches ist, wie Regierungen, Wissenschaftler, Unternehmen und Einzelpersonen ein System aufbauen können, das die unvermeidlichen Ausbrüche eindämmen kann, sodass sie nicht zu Pandemien werden.

Momentan gibt es aus offensichtlichen Gründen mehr Beweggründe als jemals zuvor, das in Angriff zu nehmen. Jeder Mensch, der eine COVID-19-Infektion überstanden hat, wird das nie vergessen. Ganz so, wie der Zweite Weltkrieg die Weltsicht der Generation meiner Eltern verändert hat, wird COVID-19 verändern, wie wir die Welt sehen.

Aber wir müssen nicht den Rest unseres Lebens in Angst vor einer weiteren Pandemie verbringen. Die Welt kann allen Menschen eine grundlegende medizinische Versorgung bieten und bereit sein, auf neu aufkommende Krankheiten wirkungsvoll zu reagieren und sie einzudämmen.

Wie würde das praktisch aussehen? Stellen Sie sich bitte einmal folgendes Szenario vor:

Wissenschaftliche Forschung ermöglicht es uns, alle Atemwegspathogene zu verstehen, und bereitet uns darauf vor, Tools wie Diagnoseverfahren, antivirale Medikamente und Impfstoffe wesentlich schneller, als es heute möglich ist, zu entwickeln und in großen Mengen zu produzieren.

Universelle Impfstoffe schützen jeden Menschen vor jedem Stamm derjenigen Atemwegspathogene, die am wahrscheinlichsten eine Pandemie verursachen könnten: Corona- und Influenzaviren.

Eine potenziell bedrohliche Krankheit wird im Handumdrehen von den lokalen Gesundheitsämtern erkannt, die selbst in den ärmsten Ländern der Welt effektiv arbeiten.

Alle außergewöhnlichen Erkrankungen werden an kompetente Labors gemeldet, wo der Erreger untersucht wird. Die Ergebnisse werden in eine globale Datenbank hochgeladen, die von einem eigens dafür abgestellten Team überwacht wird.

Wenn eine Bedrohung entdeckt wird, schlagen die betreffenden Regierungen Alarm und leiten staatliche Empfehlungen für Reisen, Social Distancing und Notfallplanung in die Wege.

Regierungen beginnen damit, das grobe Instrumentarium, über das wir schon jetzt verfügen, effektiv einzusetzen – beispielsweise in Form von Quarantänemaßnahmen, antiviralen Medikamenten, die gegen fast alle Virenstämme schützen, sowie diagnostischen Tests, die in jeder Gesundheitsklinik, am Arbeitsplatz oder zu Hause durchgeführt werden können.

Wenn das nicht genügt, machen die Innovatoren der Welt sich unverzüglich an die Arbeit, um Tests, Medikamente und Impfstoffe gegen den Krankheitserreger zu entwickeln. Insbesondere Diagnosetests werden schon sehr bald in großen Mengen produziert, sodass innerhalb kurzer Zeit sehr viele Menschen getestet werden können.

Neue Medikamente und Impfstoffe werden schnell zugelassen, weil wir uns schon vorher darauf verständigt haben, wie entsprechende Versuchsreihen zügig durchgeführt und die Ergebnisse zur Verfügung gestellt werden sollen. Sobald eine Substanz produktionsreif ist, kann sie sofort in großen Mengen hergestellt werden, weil die dafür benötigten Produktionsstätten bereits vorhanden und zugelassen sind.

Niemand wird übergangen, weil wir bereits dafür gesorgt haben, dass wir Impfstoffe schnell genug produzieren können, um alle zu versorgen.

Alles gelangt dorthin, wo es gebraucht wird und sobald es gebraucht wird, da wir Systeme aufgebaut haben, um die Produkte bis zum Patienten selbst zu liefern. Die gesamte Kommunikation über die Lage ist eindeutig und verständlich und vermeidet das Entstehen von Panik.

Und das alles passiert schnell. Vom ersten Alarmsignal bis zur Produktion von genug sicherem und wirksamem

[6]

Impfstoff, um die Bevölkerung der Welt zu schützen, vergehen gerade einmal sechs Monate.

Für manche Leser dieses Buches wird dieses Szenario allzu ehrgeizig klingen. Es sind zweifellos hochgesteckte Ziele, doch wir sind schon auf dem Weg in diese Richtung. Im Jahr 2021 kündigte das Weiße Haus einen Plan an, um in der nächsten Epidemie innerhalb von 100 Tagen einen Impfstoff entwickeln zu lassen, sofern die dafür benötigten Mittel bewilligt werden.[13] Und die Vorlaufzeiten werden schon jetzt kürzer: Von dem Zeitpunkt, da das Coronavirus genetisch analysiert war, vergingen nur zwölf Monate bis zu dem Tag, an dem die ersten Impfstoffe getestet und einsatzbereit waren – ein Prozess, der normalerweise mindestens fünf Jahre in Anspruch nimmt. Und technologische Fortschritte, die während dieser Pandemie gemacht wurden, werden das in Zukunft noch weiter beschleunigen. Wenn wir – Regierungen, Geldgeber, Privatwirtschaft – die richtigen Entscheidungen treffen und die richtigen Investitionen machen, können wir es schaffen. Tatsächlich sehe ich sogar die Chance, nicht nur schlimme Entwicklungen zu verhindern, sondern sogar etwas ganz Außergewöhnliches zu erreichen: ganze Familien von Atemwegspathogenen auszurotten. Das würde das Ende von Coronaviren wie COVID-19 bedeuten – und sogar das Ende der Grippe. Jedes Jahr führt allein die Influenza dazu, dass ungefähr eine Milliarde Menschen erkranken, darunter drei bis fünf Millionen schwere Fälle, bei denen die Betroffenen ins Krankenhaus müssen.[14] Und die Grippe fordert mindestens 300000 Todesopfer jährlich. Wenn man noch die Erkrankungen durch Coronaviren hinzuzählt, von denen manche die normale Erkältung verursachen, wäre der Nutzen einer Ausrottung dieser Pathogene immens.

In jedem Kapitel dieses Buches wird einer der Schritte erklärt, die wir schaffen müssen, um vorbereitet zu sein. Zusammen ergeben sie einen Plan, wie wir Pandemien als Bedrohung für die Menschheit beseitigen und die Wahrscheinlichkeit verringern können, dass jemals wieder ein Mensch eine Coronavirus-Erkrankung durchstehen muss.

Noch ein letzter Gedanke, bevor wir tiefer in die Materie einsteigen: COVID-19 ist eine Krankheit, die sich rapide verändert. Seit ich begonnen habe, dieses Buch zu schreiben, sind etliche Varianten des Virus aufgetaucht, zuletzt Omikron, und andere sind wieder verschwunden. Einige Medikamente, die in frühen Studien vielversprechend aussahen, erwiesen sich als weniger wirkungsvoll, als manche Menschen (auch ich) gehofft hatten. Es gibt Fragen zu Impfstoffen – etwa, wie lange sie vor einer Infektion schützen können –, die erst nach einer gewissen Zeit beantwortet werden können.

In diesem Buch habe ich mein Möglichstes getan, um das festzuhalten, was zum Zeitpunkt des Erscheinens richtig ist, aber durchaus in dem Bewusstsein, dass sich der Stand der Dinge unvermeidlicherweise in den kommenden Monaten und Jahren ändern wird. Jedenfalls werden die wichtigsten Punkte des Pandemie-Präventionsplans, den ich vorschlage, dennoch relevant bleiben. Die Welt hat noch viel Arbeit zu erledigen, bevor sie hoffen darf, verhindern zu können, dass lokale Ausbrüche sich zu globalen Katastrophen entwickeln.

[1]Anmerkung des Übersetzers: Um den Lesefluss nicht zu stören, wird in diesem Buch der Einfachheit halber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen in den meisten Fällen nur die männliche oder weibliche Form verwendet. Selbstverständlich ist dabei stets die jeweils andere Form gleichrangig miteinbezogen. [2]In Kapitel 3 werde ich berichten, was daraus geworden ist. [3]Schließlich verfasste Nathan einen Beitrag über diese Ideen, der unter dem Titel »Strategic Terrorism: A Call to Action« (»Strategischer Terrorismus: ein Aufruf zum Handeln«) in dem Blog Lawfare erschien. Sie können den Text hier finden: https://papers.ssrn.com. Ich würde empfehlen, ihn nicht vorm Schlafengehen zu lesen – er ist ernüchternd. [4]Ein Wort zur Terminologie. »SARS-CoV-2« ist die Bezeichnung für das Virus, das die Krankheit »COVID-19« verursacht. Die Abkürzung »SARS« steht für den englischen Begriff »Severe Acute Respiratory Syndrome« (»Schweres akutes Atemwegssyndrom«), »COVID« steht für »Corona Virus Disease« (»Coronavirus-Krankheit«). Formal gesehen bezieht sich »COVID« also auf alle Krankheiten, die von Coronaviren verursacht werden, von denen »COVID-19« lediglich eine ist. (Die »19« bezeichnet das Jahr 2019, in dem dieses Virus entdeckt wurde.) Wenn ich im Folgenden um der besseren Lesbarkeit willen von dem »Coronavirus« schreibe, meine ich damit »SARS-CoV-2«. [5]In dieser Einführung habe ich die Gates Foundation bereits mehrfach erwähnt, und ich werde sie im ganzen Buch hier und da erwähnen. Und zwar nicht etwa, weil ich prahlen will, sondern weil unsere Teams bei einem großen Teil unserer Projekte, um Impfstoffe, Therapie- und Diagnoseverfahren für COVID-19 zu entwickeln, eine wichtige Rolle spielen. Es wäre schwierig, diese Geschichte zu erzählen, ohne ihre Arbeit hier und da zu erwähnen. [6]In der Medizin haben die Wörter »Effektivität« (effectiveness) und »Wirksamkeit« (efficacy) unterschiedliche Bedeutungen. »Wirksamkeit« misst, wie gut ein Impfstoff in einer klinischen Versuchsreihe wirkt. »Effektivität« ist dagegen eine Kennzahl, die besagt, wie gut er in der realen Welt funktioniert. Der Einfachheit halber werde ich für beide Bedeutungen den Begriff »Wirksamkeit« verwenden.

Kapitel 1Aus COVID-19 lernen

Es sagt sich leicht, dass wir Menschen nicht aus der Vergangenheit lernen – aber manchmal tun wir das durchaus. Warum hat es noch keinen Dritten Weltkrieg gegeben? Unter anderem, weil 1945 die Staats- und Regierungschefs der Welt einen Blick auf die Geschichte warfen und beschlossen, dass es bessere Wege gebe, um ihre Differenzen beizulegen.

Das ist die Perspektive, aus der ich die Lektionen aus COVID-19 betrachte. Wir können aus der Pandemie lernen und beschließen, uns in Zukunft besser vor tödlichen Krankheiten zu schützen – tatsächlich ist es zwingend geboten, einen Plan zu entwickeln und ihn schon jetzt zu finanzieren, bevor COVID-19 zu Schnee von gestern wird, das Gefühl der Dringlichkeit schwindet und die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sich anderen Dingen zuwendet.[7]

Viele Berichte haben die guten und die schlechten Seiten der Reaktion der Welt auf COVID-19 dokumentiert, und ich habe eine Menge aus ihnen gelernt. Ich habe auch eine Reihe von zentralen Lektionen aus meiner Arbeit für globale Gesundheit zusammengetragen – etwa Projekte wie das Ausmerzen von Polio – und aus der täglichen Beobachtung der Pandemie mit Experten der Gates Foundation und von Regierungen, aus der akademischen Welt und dem Privatsektor. Ein Schlüsselaspekt ist, sich die Länder genauer anzusehen, die besser abgeschnitten haben als andere.

Früh genug das Richtige zu tun zahlt sich später enorm aus

Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber meine Lieblingswebsite ist eine Datenfundgrube, die Zahlen und Statistiken über Krankheiten und Gesundheitsprobleme in aller Welt bereitstellt. Sie heißt Global Burden of Disease (GBD, »Globale Krankheitslast«)[8] und bietet einen ganz erstaunlichen Detailreichtum. (In dem Jahresbericht 2019 sind 286 Todesursachen und 369 Krankheits- und Verletzungsarten in 204 Ländern und Hoheitsgebieten erfasst.) Wenn Sie wissen wollen, wie Menschen leben, was sie krank macht und wie diese Dinge sich im Laufe der Zeit verändern, ist diese Website die beste Quelle. Ich kann Stunden damit verbringen, mir dort die Daten anzusehen.

Die Website wird vom Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME, »Institut für globale Gesundheitsstatistik und Wirkungsevaluierung«) betrieben, das an der University of Washington in meiner Heimatstadt Seattle angesiedelt ist. Wie der Name schon vermuten lässt, hat sich das IHME auf die Erfassung und Auswertung von Gesundheitsdaten in so gut wie allen Ländern und Regionen der Welt spezialisiert. Außerdem entwickelt es Computermodelle, um damit Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung zu erforschen: Welche Faktoren können erklären, warum die Zahl der Erkrankungen (Inzidenz) in einem bestimmten Land steigt oder fällt? Wie sieht die Prognose aus?

Seit Anfang 2020 habe ich das Team am IHME mit Fragen zu COVID-19 bombardiert. Ich wollte herausfinden, welche Gemeinsamkeiten die Länder haben, die am erfolgreichsten mit COVID-19 fertigwerden: Was machen sie alle richtig? Sobald wir diese Frage einigermaßen sicher beantwortet haben, werden wir wissen, welche Maßnahmen am effektivsten sind, und dann können wir andere Länder ermutigen, sie ebenfalls umzusetzen.

Zu diesem Zweck müssen wir aber erst einmal definieren, was denn eigentlich »erfolgreich« bedeuten soll – was gar nicht so einfach ist, wie man vielleicht denken könnte. Man kann nicht einfach fragen, wie viele infizierte Menschen in einem bestimmten Land an COVID-19 gestorben sind, denn diese Statistik wird durch die Tatsache verzerrt, dass ältere Menschen häufiger an COVID-19 sterben als jüngere. Das bedeutet, dass Länder mit einer besonders alten Bevölkerung sehr wahrscheinlich schlechter abschneiden werden. (Ein Land, das besonders gut abschneidet, obwohl es die älteste Bevölkerung der Welt hat, ist Japan. Dort wurde die Maskenpflicht besser als in jedem anderen Land befolgt, was Japans Erfolg sicherlich zum Teil erklären kann, aber vermutlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle.)

Was wir eigentlich wollen, um Erfolg zu messen, ist eine Zahl, welche die gesamten Auswirkungen der Krankheit erfasst. Menschen, die an einem Herzinfarkt sterben, weil das Krankenhaus sie aufgrund einer Überlastung durch COVID-19-Patienten nicht behandeln kann, sollten ebenso gezählt werden wie Menschen, die an der Krankheit selbst sterben.

Es gibt eine Kennzahl, die genau das leistet: Sie wird als »Übersterblichkeit« bezeichnet und erfasst sowohl die Menschen, die aufgrund von Folgeerscheinungen der Krankheit sterben, als auch solche, die COVID-19 direkt zum Opfer fallen. (Es handelt sich um die Anzahl der Todesfälle in einem bestimmten Zeitraum und einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, die über die statistisch zu erwartende Sterblichkeit hinausgeht.) Je niedriger die Übersterblichkeit, desto besser; erstaunlicherweise ist sie in einigen Ländern sogar negativ. Das liegt daran, dass in diesen Ländern ohnehin relativ wenige Todesfälle durch COVID-19 zu beklagen waren, und noch hinzukam, dass auch weniger Verkehrsunfälle und andere tödliche Unfälle passierten, weil die Menschen wesentlich mehr zu Hause blieben als sonst.

Der wahre Todeszoll von COVID-19. Die »Übersterblichkeit« erfasst die gesamten Auswirkungen von COVID-19, da sie auch Verstorbene berücksichtigt, deren Tod indirekt durch die Pandemie verursacht wurde. Der obere Balken zeigt die Anzahl der COVID-19-Todesfälle bis einschließlich Dezember 2021. Der untere Balken zeigt die geschätzte Übersterblichkeit, die zwischen 16,5 und 18 Millionen liegen dürfte. (Institute for Health Metrics and Evaluation)[15]

 

Gegen Ende 2021 lag die Übersterblichkeit der Vereinigten Staaten bei mehr als 3200 pro eine Million Einwohner, das liegt etwa auf dem gleichen Niveau wie in Brasilien und im Iran.[1] Im Gegensatz dazu lag sie in Kanada bei etwa 650, in Russland dagegen deutlich über 7000.

Viele der Länder mit den niedrigsten Übersterblichkeiten (nahezu null oder negativ) – Australien, Vietnam, Neuseeland, Südkorea – haben schon früh in der Pandemie drei Dinge richtig gemacht: Sie testeten schnell einen großen Teil der Bevölkerung, isolierten Menschen, die positiv oder einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren, und sie setzten den Plan um, Krankheitsfälle, die über ihre Grenzen ins Land kamen, zu erkennen, nachzuverfolgen und zu behandeln.

Eindämmung von COVID-19 in Vietnam. Die vietnamesischen Behörden ergriffen schon 2020 Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Die Zahl von nur 35 Todesfällen über ein ganzes Jahr in einem Land mit 97 Millionen Einwohnern ist ein großer Erfolg. (Exemplars in Global Health)[17]

 

Leider ist es schwierig, frühe Erfolge aufrechtzuerhalten. Relativ wenige Menschen in Vietnam wurden gegen COVID-19 geimpft – zum einen, weil nicht genug Impfstoff zur Verfügung stand, und zum anderen, weil Impfungen nicht so dringlich zu sein schienen, da es dem Land ja so gut gelungen war, das Virus unter Kontrolle zu halten. Als dann die wesentlich ansteckendere Delta-Variante um sich griff, hatten nur vergleichsweise wenige Menschen in Vietnam eine Immunität aufgebaut, und das Land wurde schwer getroffen. Seine Übersterblichkeit stieg von gut 500 pro einer Million Einwohner im Juli 2021 auf fast 1500 im Dezember – wobei Vietnam selbst bei der höheren Quote noch besser lag als die Vereinigten Staaten.[18] Insgesamt erging es dem Land besser, weil es schon früh jene Maßnahmen ergriffen hatte.

Die Daten des IHME deuten zudem darauf hin, dass der Erfolg eines Landes bei der Bekämpfung von COVID-19 auch in gewissem Maße damit zusammenhängt, inwieweit die Bevölkerung der Regierung vertraut.[19] Das ist plausibel, denn je mehr Vertrauen Sie in Ihre Regierung haben, desto wahrscheinlicher werden Sie deren Richtlinien zur COVID-19-Bekämpfung befolgen. Andererseits wird das Vertrauen in Regierungen durch Umfragen ermittelt, und wenn Sie unter einem besonders repressiven Regime leben, werden Sie bei einer Umfrage wohl kaum sagen, was Sie wirklich von der Regierung halten. Jedenfalls lässt sich diese Erkenntnis nicht ohne Weiteres in einen praktischen Rat ummünzen, der leicht in die Tat umgesetzt werden könnte. Es erfordert jahrelange, zielstrebige Arbeit, um zwischen Menschen und ihrer Regierung Vertrauen aufzubauen.

Eine andere Strategie, um herauszufinden, was funktioniert, besteht darin, das Problem vom anderen Ende her zu betrachten: Man sucht Vorbilder, die bestimmte Verhaltensweisen besonders gut realisiert haben, und untersucht, wie sie das gemacht haben, sodass andere von ihnen lernen können. Eine Gruppe, die durchaus passend Exemplars in Global Health (»Vorbilder in der globalen Gesundheitsfürsorge«) heißt, tut genau das; ihre Mitglieder haben einige faszinierende Verbindungen geknüpft.

So ist es zum Beispiel wahrscheinlicher, dass ein Land, dessen Gesundheitssystem im Großen und Ganzen gut funktioniert, besser auf COVID-19 reagiert, wenn alles andere unverändert bleibt. Wenn ein Land über ein starkes Netz von Kliniken verfügt, die mit gut ausgebildetem Personal ausgestattet sind, das Vertrauen der Menschen in ihrem Gemeinwesen genießen, die benötigte medizinische Ausstattung haben und so weiter, ist es besser in der Lage, sich gegen eine neue Krankheit zur Wehr zu setzen. Das bedeutet, dass jeder Pandemie-Präventionsplan – neben anderen Maßnahmen – auch vorsehen muss, Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen zu helfen, ihre Gesundheitssysteme zu verbessern. Auf dieses Thema werden wir in den Kapiteln 8 und 9 zurückkommen.

Ein weiteres Beispiel: Die Daten deuten darauf hin, dass grenzüberschreitender Güterverkehr für einen nennenswerten Teil der Verbreitung des Virus verantwortlich war. Also sollten wir uns ansehen, welche Länder solche Verkehrsströme gut gemanagt haben. Uganda hat schon früh in der Pandemie sämtlichen Lkw-Fahrern, die ins Land kamen, einen COVID-19-Test auferlegt, und bald darauf folgte die gesamte Region Ostafrika diesem Beispiel. Da jedoch das Testverfahren relativ zeitaufwendig und Testkits knapp waren, verursachte diese Vorschrift lange Wartezeiten an den Grenzen – bis zu vier Tage –, und die Infektionsraten schnellten hoch, während die Fahrer in beengten Quartieren auf ihre Testergebnisse warten mussten.

Uganda und seine Nachbarländer ergriffen mehrere Maßnahmen, um den Stau aufzulösen; unter anderem brachten sie mobile Testlabor an die Grenzübergänge, entwickelten ein elektronisches System, um Testergebnisse abzurufen und weiterzuleiten, und sie schrieben Lkw-Fahrern vor, sich in dem Land testen zu lassen, wo sie ihre Fahrt begannen, statt an den Grenzen.[20] Bald floss der Verkehr wieder reibungslos, während zugleich die Infektionszahlen unter Kontrolle gehalten wurden.